04.05.1960 - Marlene Dietrich
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04.05.1960 - Marlene Dietrich
Nürnberger Nachrichten, Nürnberg, vom 04.05.1960 Marlene Dietrichs großer Auftritt Beifallsstürme im Berliner Titania-Palast / Tumultszenen während der Pressekonferenz Im Berliner Titania-Palast begann gestern Abend die Deutschland-Tournee Marlene Dietrichs. Die Konzertagentur hatte das Konzert als einen „großen Gala-Abend“ plakatiert; die Preise waren auch danach: die billigste Karte kostete 10, die teuerste 100 Mark. Das Publikum reagierte auf die hohen Preise mit einer niedrigen Kauflust: der große „Gala-Abend“ – „Dunkler Anzug erbeten“ – begab sich in einem Saal, der nur zu dreiviertel gefüllt war. Aus dem mürrischen Gesicht des Veranstalters, der das Arrangement des Konzerts übernommen hatte, war zu schließen, dass es um den Kartenverkauf für die beiden folgenden Abende nicht viel besser bestellt ist. Düstere Prophezeiungen Die Pessimisten unter den Verehrern Marlene Dietrichs hatten dem Unternehmen nicht nur ein finanzielles, sondern auch ein künstlerisches Fiasko prophezeit Am Vortag, als sich Marlene Dietrich im Berliner Hilton-Hotel der Presse stellte, schien es noch, als sollten sie recht behalten. Die Pressekonferenz war, worüber reichlich gebotener Sekt und Fruchtsaft nicht hinwegtäuschen konnten, völlig desorganisiert. Die Photographen stürzten wie eine Meute hungriger Wölfe auf die Schauspielerin los, keilten sie ein und ließen 20 Minuten lang erbarmungslos ihre Blitzlichter auf Marlene Dietrich niederblitzen. Gelegenheit, Fragen zu stellen und beantwortet zu bekommen, ergab sich nur für die Journalisten, deren Ellenbogen aus Gusseisen sind. Die anderen zogen sich teils erzürnt, teils resigniert zurück und überließen Marlene der Sensationspresse. Davon, dass man eine Pressekonferenz auch organisieren und derlei Szenen vermeiden kann – wie es beispielsweise die Leitung der Berliner Filmfestspiele beim Empfang Sophia Lorens fertiggebracht hat – schien man im Hilton-Hotel nichts zu wissen. Auch das Konzert war nicht ausschließlich gut organisiert. „Norman Granz und Kurt Collien bringen Ihnen direkt aus Paris die große Marlene-Dietrich-Show“ tönte es aus einem anonymen Lautsprecher. Aber es kam keine Marlene Dietrich, jedenfalls bis zur Pause nicht, sondern bloß eine Musik-Show, dargeboten von einem erstklassigen Pariser Orchester und einer zweitklassigen englischen Girl-Truppe. Das Konzert bot hübsch arrangierten Salon-Jazz und entsandte einen drolligen Musical-Clown, der sich damit beschäftigte, den Taktstock mit dem Messer zu spitzen und schlafende Posaunisten aufzuwecken; die Girl-Truppe bot hübsche Beine und ein paar adrett einstudierte Tänze. Als das Licht anging, rätselte das Publikum lange an der Frage herum, ob das nun die Pause sei. Es war tatsächlich die Pause, was der hinausgefeuerte ehemalige künstlerische Leiter des KurfürstendammTheaters, Rudolf Noelte, mit der Bemerkung quittierte: „Pause, na ja, aber Pause wovon?“ 1 Nach der Pause gewann der „große Gala-Abend“ endlich das Format, das allein die hohen Eintrittspreise rechtfertigen konnte. Helmut Käutner, der Freund Marlene Dietrichs, betrat die Bühne des Titania-Palastes, bezeichnete sich als „Schatten, den Marlene vorauswirft“, nannte die Dietrich die „charmanteste Großmutter der Welt“ und bat, nicht auf die Sensation, sondern auf die Leistung zu achten. So eingeführt, erschien dann die „Vielgefeierte“, über deren Geburtsdatum sich die Boulevard-Zeitungen zanken und über deren Faszinationskraft sich alle Kenner von Jean Cocteau bis zu Kenneth Tynan einig sind. Schon mit den ersten Takten ihren Erkennungsmelodie „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ hatte sie das Publikum für sich gewonnen. Sie sieht noch jünger aus, als es ihr Geburtsdatum eigentlich zulässt, und ihr Organ ist noch tiefer, als es dem Organ einer Frau gestattet sein sollte. Ihre Stimme kann schmachten, drohen, locken und schmeicheln, sie kann kess und traurig, ordinär und hoheitsvoll und alles zugleich und ganz sein. Kein Zweifel, diese Frau ist auf ihrem Gebiet eine ganz große Künstlerin; der „Blaue Engel“, die „Tolle Lola“, die „Zeugin der Anklage“ ist, wie Kenneth Tynan einmal schrieb, noch immer eine „Venus im Pelz, mit schwarzem Leder in der Stimme, vom Applaus überschüttet wie eine Sphinx von einem Wolkenbruch“. Als sie zum Schluss, nachdem sie ihre Lieblingslieder, darunter „Wer wird denn weinen“, „Peter“, „Johnny, wenn Du Geburtstag hast“ vorgetragen hatte, den BerlinSchlager „Ich hab noch einen Koffer in Berlin“ sang, gab es im Zuschauerraum kein Halten mehr. Das Publikum stürzte an die Bühne vor und verhängte sozusagen den Belagerungszustand über den Weltstar aus Berlin-Schöneberg. Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis Marlene Dietrich sich vor den Gunstbezeigungen ihrer Verehrer hinter den eisernen Vorhang retten konnte. Unverbesserliche Schreier Vor dem Titania-Palast hatte sich unterdessen, von der Polizei argwöhnisch beobachtet, eine größere Gruppe von Menschen zusammengefunden, die unter allen Umständen gegen Marlene Dietrich zu protestieren entschlossen war. In der Menge befanden sich einige Unverbesserliche nazistischer und nationalistischer Einstellung, einige Krakeeler, deren Sprache, Redeweise und Kleidung die Herkunft aus dem östlichen Teil der Stadt nur allzu deutlich verrieten, und sehr viele Halbstarke, die bekanntlich immer grölen, wenn es irgendeine Möglichkeit zum Grölen gibt „Marlene, raus aus Deutschland“ lautete ein Satz, den ein junger Schreier, von noch jüngeren Schreiern sekundiert, gegen die Fassade des Titania-Palastes schmetterte. Zwei Leute trugen an Stangen Pappschilder mit der Aufschrift „Marlene go home“ und „Marlene, hau ab“. Die Polizei reagierte mit bemerkenswerter Langmut Es gab dennoch einige wutverzerrte Gesichter und einige zerrissene Mäntel. Am persönlichen Erfolg Marlene Dietrichs vermochten die Schreier nichts zu ändern. Gelänge es den Veranstaltern, die Ansage und die Gliederung des Programms den deutschen Verhältnissen anzupassen, dann könnte sich der Berliner Antritts-Erfolg Marlene Dietrichs in einen Triumph bei den „großen Gala-Abenden“ in den anderen deutschen Städten verwandeln. 2