als PDF - Zeitzeugenbörse Berlin

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DIE DRITTE SEITE
SONNABEND, 12. JULI 2008 / NR. 19 961
DER TAGESSPIEGEL
3
Die Zeit der Zeugen
Von Kerstin Decker
E
s ist das erste Mal. Noch nie hat
sie so gegen das Gebot verstoßen, das ihre Kindheit und fast
das ganze spätere Leben begleitet hatte: zu schweigen. Kein
Wort in der Familie über ihren toten Bruder Heinz. Eigentlich schwiegen die Eltern über alles, aber Heinz schien das
Schweigegebot gleichsam zu verkörpern.
Nicht einmal den Namen ihres toten Sohnes nannten sie mehr, über Jahrzehnte.
Die Tochter fügte sich. Und schwieg mit.
Und nun sitzt Erika Schroeder vor einer Wandtafel in einem Raum, der fast
aussieht wie ein Klassenzimmer, und
spricht zu wildfremden Menschen über
ihren Bruder, den SS-Mann Heinz Bentz.
Sie zeigt ihnen sogar ihr privatestes, ihr
liebstes Foto: Ein kleines blondes Mädchen – sie selbst – auf dem Arm eines großen jungen Mannes in Uniform. Sie hat
noch ein anderes, da trägt er die Mütze
mit dem Totenkopf. Zwei Meter groß
war er, sagt sie, und 19 Jahre alt, als er
starb. Am 4. Januar 1944.
Erika Schroeder ist dabei, eine ganz
und gar unerhörte Geschichte zu erzählen, ja, womöglich ein Geschichtsbild zu
verändern. Es gab keinen Widerstand in
der SS. So steht es in den Büchern. Das ist
der Konsens der Spezialisten für Gewesenes, der Historiker. Und sie, Erika Schroeder, das Flüchtlingskind aus Oberschlesien, später Kindergärtnerin, heute 67
Jahre alt, will diesen Konsens sprengen?
Ihre Zuhörer in dem Raum, der fast aussieht wie ein Klassenzimmer, sind keine
Schüler, eher ist es eine vierzigköpfige
Prüfungskommission. Zeitzeugen nennen die Anwesenden sich selbst. Manche
sprechen das Wort wie einen Titel aus,
wie den Namen ihrer eigentlichen Identität. Mögen andere mit der Anrede „Senioren“ zufrieden sein.
Ihnen allen ist es irgendwann wie Erika
Schroeder gegangen. Sie wollten reden.
Am Ende vielleicht sogar bei ZDF-Geschichts-Entertainer Guido Knopp. Jetzt
sind sie hier, um die Neue und ihre Geschichte zu testen. Wie spricht sie? Wer
Zeitzeuge werden will, muss Ordnung
halten in seinen Sätzen. Antwortet sie
gut? Nur wenn die Neue und ihre Geschichte standhalten, nehmen die Umsitzenden Erika Schroeder in die Berliner
„Zeitzeugenbörse“ auf, als 176. Mitglied.
Erika Schroeder ist wie ihr toter Bruder sehr groß, sie trägt das graue Haar
betont kurz. Niemand merkt ihr an, wie
klein sie sich oft fühlte. Ein Vorgespräch
mit der Leiterin der
„Zeitzeugenbörse“
ihrem Vorstand
Sie belegen und
hat sie schon hinter
Handykurse. sich. Erika Schroeder hat diesen
Wer nicht
Nachmittag erwarerreichbar
tet und gefürchtet
und nun
ist, ist kaum zugleich,
ist sie erstaunt, wie
vermittelbar leicht die Worte zu
ihr kommen. Ohne
ihren
Nachbarn
wäre sie jetzt nicht hier. Der hilft ihr immer, wenn ihr Laptop nicht macht, was
sie will – das passiert öfter –, und einmal
hat sie ihm gesagt, was sie da aufschreibt.
Aber damit müssen Sie doch zur Zeitzeugenbörse!, hat er gesagt.
Der größte Feind des Historikers ist
der Zeitzeuge, glauben bis heute manche
Historiker. Zu viel Einzelnes. Zu viel Zufall. Zu viel Beispiel. Was besagt denn
das Schicksal des Juden, der das KZ überlebte, nur um von den Russen gleich wieder ins Lager gesteckt zu werden? Weil
er zu gute Papiere hatte: Du schlau! Wir
schlauer! Du Spion!
Oder das Schicksal jener jungen Frau
im Nachkriegsberlin, die von der Straße
weg in ein russisches Zwangsarbeitslager
verschleppt wurde? Sie ist wieder ausgetreten aus der „Zeitzeugenbörse“. Gerade die schwersten Schicksale sind oft
am wenigsten verallgemeinerbar. Sie
sind nicht „repräsentativ“. Trotzdem
glauben die Zeitzeugen, dass die Geschichte viel zu wichtig ist, um sie den
Historikern zu überlassen. Zeitzeugen
müssen etwas eigentlich Paradoxes können: das eigene Schicksal ganz ernst nehmen und zugleich mit der Kühle eines Außenstehenden darauf blicken.
Wahrscheinlich hat Erika Schroeder
den Namen Ingeburg Seldte noch nie gehört. Ingeburg Seldte hat vor 15 Jahren in
Berlin den Zeitzeugen neuen Typs erfunden und die „Zeitzeugenbörse“ gegründet. Ich will meine Erinnerungen nicht
mit ins Grab nehmen!, hat sie gesagt.
Ingeburg Seldte gehörte zur Generation von Erika Schroeders Eltern, zur
„Hitler-Generation“. Aber ihr Schweigen
war nie freiwillig gewesen. Nicht zuletzt
die Kinder der „Hitler-Generation“ hätten es erzwungen mit ihrer Verachtung.
Seldte konnte ihren Kindern nicht erzählen, wie das war 1936 bei der Eröffnung
der Olympischen Spiele, als sie – eine
von vielen tausend Schülerinnen – im Stadion tanzte, und ihr kam es vor als
umarme sie die ganze Welt. Es sei nach
dem Krieg bei ihr und vielen anderen ein
Verstummen aus Trauer und Scham gewesen und dann, viel später, eine merkwürdige Erfahrung: Mit ihren Enkeln
konnten sie reden!
Der Zeitzeuge neuen Typs arbeitet
nicht mehr nur in Stadtteilmuseen, Ge-
Sie geben der
Geschichte ein Gesicht,
im Fernsehen
und in Schulen.
Zeitzeugen verändern
unser Bild von
der Vergangenheit –
manchmal zum Ärger
der Historiker.
Sie sind inzwischen
so gefragt,
dass spezielle Börsen
sie vermitteln.
Die Auslese ist streng
Neue Urteilskraft. Eva Geffers von der Berliner Zeitzeugenbörse (li.) und Zeitzeugin Erika Schroeder, vor dem einstigen Reichskriegsgericht in der Witzlebenstrasse.
denkstätten oder Geschichtswerkstätten
mit. Der Zeitzeuge neuen Typs will auftreten. Er belegt, wie der Börsen-Jahresbericht 2007 vermerkt, Handykurse und
schafft sich einen Anrufbeantworter an.
Denn ein Zeitzeuge mit Anrufbeantworter wird viel öfter vermittelt als einer
ohne Anrufbeantworter. Und man muss
noch nicht einmal Zeuge der großen Katastrophen gewesen sein. Die börseneigene Datenbank registriert ebenso den
„ersten Vater der DDR im Mutterjahr“,
Spezialisten für „50 Jahre Koboldstaubsauger“ und den „Solidaritätseinsatz der
Busfahrer 1961–1963“ sowie Zeitzeugen
einer Pferdedroschkenfahrt 1914 in Berlin. Um Zeitzeuge zu werden, gibt es
keine starren Altersgrenzen. Nur sollte
der Zeitabschnitt, der bezeugt werden
soll, zumindest einigermaßen abgeschlossen sein.
Kaum war die „Zeitzeugenbörse“ 1993
gegründet, meldete sich schon die BBC.
Sie drehte einen Film über Churchill und
wollte wissen, ob das Friedensangebot
Hitlers vor dem Zweiten Weltkrieg ernst
gemeint war. Inzwischen hat die Zeitzeugenbörse schon Schwesterbörsen in
Hamburg und Köln, und nicht nur die
Knoppschen ZDF-Historiker haben ihre
Nummer. 2005, 60 Jahre nach Kriegsende, gingen 250 Anfragen bei der Börse
ein, im vergangenen gedenktagarmen
Jahr knapp 200. Am häufigsten melden
sich nach wie vor die Schulen.
Auftretende sind nicht unbedingt die
besten Zuhörer, jeder Künstler kann das
bestätigen, auch die Leiterin der Zeitzeugenbörse, die Psychologin Eva Geffers.
Doch jetzt hören alle zu. Erika Schroeder
sagt, dass sie immer das Kleine-Mädchen-Gefühl für ihren Bruder behalten
hat. Ein sehr warmes Gefühl, so eins, wie
sie es für keinen sonst aus der Familie
hatte, schon gar nicht für ihren autoritären Vater, den nationalsozialistischen
Förster von Kupp, Oberschlesien, auch
nicht für ihre Mutter, die BDM-Führerin
auf dem Nürnberger Reichsparteitag. Sie
haben Heinz Bentz noch als Wachsoldat
vor der Münchener Feldherrnhalle gesehen. Die ganze Familie hatte Freifahrkarten nach München bekommen. Später,
so glaubten die Eltern, habe er zu Hitlers Leibstandarte in Berlin gehört. Die
Umsitzenden machen professionelle Gesichter.
Erika Schroeder sagt den Zeitzeugen
nicht, dass es eine Krankheit und eine
tiefe persönliche Krise waren, die sie Anfang 2006 dazu brachten, den Spuren dieses Bruders nachzuforschen. Sie stellte einen Antrag bei der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen
deutschen
Wehrmacht
(WASt)“. Wie ist er gestorben? Wo ist er
begraben? Erika Schroeder weiß nicht,
ob sie wirklich mit einer Antwort rechnete. Sie wollte es einfach getan haben.
Darum war sie so überwältigt: Ihr Bruder – für sie längst zu einer unwirklichen
Gestalt geworden – war für die Akten
ganz real: Heinz Bentz, SS-Panzer-Grenadier-Ausbildungs- und Ersatzbataillon,
Standort Rastenburg, Ostpreußen, verstorben am 4.1.1944 infolge Selbsttötung im Wald bei Reichenwalde, Dienstgrad: SS-Panzergrenadier, Grablage:
Kupp, Oberschlesien.
Kupp? Aber das war doch ihr Heimatort. Die Eltern haben ihn also zu Hause
begraben, anonym, ohne Grabstein, ohne
dass jemals jemand etwas erfuhr, nicht
einmal die eigenen Kinder. War die
Schande zu groß? Aber welche Schande?
In den Gesichtern der Umsitzenden
steht Interesse, gemischt mit fachmännischer Reserve. Ihnen erzählt so schnell
keiner Geschichten. Aber Erika Schroeder ist nicht mehr zu irritieren, sie berichtet, wie sie nun überall versuchte, Näheres zu erfahren, selbst beim Volksbund
für Kriegsgräberfürsorge. Dort hinterließ sie auch ihre Adresse.
Und dann, sagt sie, kam der Brief. Genau am 8. Mai 2007.
Sie kann ihn nicht selbst vorlesen, sie
hat Angst, die Stimme zu verlieren. Erika
Schroeder weiß, Zeitzeuge kann nur werden, wer Herr seiner Gefühle ist. Er darf
sie zeigen, hat die Zeitzeugenbörsen-Leiterin gesagt, aber sie dürfen nicht stärker
sein als er. Zumindest nicht so, dass der
Auftritt abgebrochen werden muss.
Erika Schroeder wird es beim nächsten
Mal versuchen. Jetzt liest die „Börsen“-Leiterin Geffers diesen Brief, geschrieben auf einer alten Schreibmaschine. Er beginnt einfach mit „Frau
Schröder“, keine Anrede davor. Und
dann: „Bei einem Treffen der alten Kameraden des SS-Panzerbataillons 1 aus Rastenburg erfuhr ich, daß Sie Nachforschungen über den Tod ihres Bruders anstellen. Da ich im Krieg viel Schuld auf
mich geladen habe, daher nenne ich auch
meinen Namen nicht, will ich versuchen
etwas gut zu machen. Ihr Bruder hatte in
der Sylvesternacht 1943/44 Wachdienst
am Tor des äußeren Ringes. Wachhabender war der Uscha (Unterscharführer)
Twist. Beide gehörten der Widerstandsgruppe von Major Schmolke an und sollten diesem und seinen Männern den Zugang zur Wolfsschanze ermöglichen. Die
Gruppe wurde verraten und verhaftet.
Ihr Bruder und Twist konnten fliehen …“
Der Absender berichtet, wie er selbst
die Suche aufnahm und den Flüchtigen in
einer Waldhütte, 80 Kilometer von der
„Wolfsschanze“ entfernt, stellte: „Er kam
heraus, hielt sich eine Pistole an den
Kopf, rief ganz laut Hitler verrecke und
schoß sich in den Kopf.“ Der Brief ist unterzeichnet mit „Ein alter Mann, der versucht seinen Frieden zu finden.“
Die Zeitzeugen schweigen. Einer fragt:
„Die SS trifft sich also immer noch?“, –
„Und wie die sich trifft!“, antwortet es
aus der hinteren
Reihe. Binnen weniger Minuten ist klar,
Und dann
dass die meisten
dieser Brief
hier ihre Erfahrungen mit dieser Orgaohne
nisation gemacht haAnrede,
ben, die zum Inbegriff des Schreckens
ohne
geworden ist. Eine
Absender
unerwartete Alltäglichkeit klingt da
mit. Ein früherer
Schuldirektor und ein Ex-Stadtrat vergleichen, wie sie zuletzt der aggressiven Werbung der SS ausgewichen sind. „Eigentlich half da nur, sich schon für eine andere Waffengattung gemeldet zu haben.“
Und sie bedauern Grass, Lenz, Strittmatter und die anderen. Deren situative Intelligenz habe sie offenbar im Stich gelassen. Da hält es einen früheren Gewerkschafter, auch „der SS-Mann der Zeitzeugenbörse“ genannt, nicht länger auf seinem Platz: „Ich habe mich freiwillig gemeldet, mit 16! Man brauchte die Unterschrift der Eltern nicht mehr. Die hätte
ich nie bekommen.“
Durch jeden Satz des Ex-Gewerkschafters klingt noch das Erschrecken über
sich selbst. Seine Mutter hat ihm später
gestanden, Angst vor ihm gehabt zu ha-
ben. Erika Schroeder sieht ihn an, als ob
seine Züge etwas von ihrem Bruder verraten müssten, vielleicht sogar von jenem
„Mann, der versucht seinen Frieden zu
finden“.
Seit einem Jahr passt manches zusammen, was vorher rätselhaft war: Warum
ging ausgerechnet Heinz, der Eigensinnige, der, den man nie in HJ-Uniform gesehen hatte, zur SS? Die Familie hatte das
nie verstanden. Und auch Major
Schmolke, von dem der Brief sprach, war
kein Unbekannter. Er war in Kupp ihr
Nachbar
gewesen,
Obergerichtsrat
Schmolke. Sollte hier tatsächlich ein Geschichtsbild zu berichtigen sein, diese
Aussage: Es gab keinen Widerstand bei
der SS!?
Doch der Satz gilt schon jetzt nur mit
Einschränkung: Kurt Gerstein, bekannt
geworden durch RolfHochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“, war SS-Obersturmführer. Er hatte versucht, Informationen über den Massenmord an den Juden an den Vatikan weiterzugeben.
„Zuerst müssen wir doch fragen: Was
verstehen wir überhaupt unter Widerstand?“, sagt später am Telefon Jana
Foto: Uwe Steinert
Leichsenring, mit der gefürchteten
Grundsätzlichkeit ihres Fachs. Der Brief
liegt jetzt bei der Historikerin von der
Universität Münster. Sie hält ihn für
echt. Sie hält auch das, wovon er berichtet, „für gar nicht ausgeschlossen“. Noch
steht Leichsenring am Beginn der Untersuchung.
Auch Erika Schroeder steht an einem
Anfang. Ab sofort ist sie die 176. Zeitzeugin der Berliner „Zeitzeugenbörse“. Sie
wird wohl ihren Anrufbeantworter vom
Hängeboden holen. Denn Zeitzeugen mit
Anrufbeantworter werden öfter gefragt.
Unendlich lange
telefonieren
und im Internet
surfen.
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