In der Mitte entsteht ein Fluss - Renaturierung der Emscher im
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In der Mitte entsteht ein Fluss - Renaturierung der Emscher im
Politik FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG M I T T WO C H , 1 2 . AU G U S T 2 0 1 5 · NR . 1 8 5 · S E I T E 3 In der Mitte entsteht ein Fluss Einst war sie die stinkende Kloake des Ruhrgebiets. Nach ihrer Renaturierung soll die Emscher von 2020 an ein grünes Band durchs Revier bilden. Ein Mammutvorhaben. Von Reiner Burger GELSENKIRCHEN/ESSEN/ BOTTROP, im August an kann nach Hamburg fahren oder an die Stadtgrenze von Berlin, wenn man Prestigeprojekte wie ein Konzerthaus oder einen Flughafen sehen will, die einfach nicht fertig und viel teurer werden als versprochen. Man kann nach Stuttgart fahren, um die Baustelle eines Tiefbahnhofs zu betrachten, der die Bürger tief gespalten hat in Befürworter und Gegner. Wenn man sich aber ein Bauwerk anschauen will, das ein Jahrhundertprojekt ist, trotzdem im Zeit- und Kostenrahmen bleibt und obendrein auch noch so viele Leute glücklich machen wird wie vielleicht kein anderes Großprojekt derzeit, dann muss man in den tiefen deutschen Westen kommen. Schnurgerade, träge und stinkend fließt die Emscher in ihrem Betonkorsett in Gelsenkirchen vor sich hin – so wie an vielen Orten im Ruhrgebiet seit mehr als 100 Jahren. Am anderen Ufer erhebt sich die schmucke Arena „Auf Schalke“, die gefühlte und geographische Mitte der Stadt, die so polyzentrisch ist wie die ganze Region. Diesseits der Emscher lässt sich Björn Bauckhage mit einem stählernen Korb in einen rohen Betonschacht abseilen. Bauckhage sieht mit seinem Helm ein wenig aus wie ein Steiger, der in seine Zeche einfährt. Aber in Gelsenkirchen ist schon vor vielen Jahren das letzte Steinkohlebergwerk stillgelegt worden. Und dann ist die Fahrt ja auch schon in 40 Meter Tiefe zu Ende, an zwei Röhren, die so groß sind, dass ein Kleinwagen gerade so hindurchfahren könnte. Bauingenieur Bauckhage will den Baufortschritt des größten Abwasserkanals Europas begutachten. Der Abwasserkanal Emscher (AKE) verläuft 51 Kilometer von Dortmund bis kurz vor die Emscher-Mündung in den Rhein bei Dinslaken. Er wird von 2017 an die täglichen Abwasserfluten des nördlichen Ruhrgebiets sammeln und abtransportieren. Um das viele Wasser im ständigen Fluss zu halten, sind drei gigantische Pumpwerke in Gelsenkirchen, Bottrop und Oberhausen nötig. Die Abwasser-Autobahn ist das Herzstück des Jahrhundertprojekts Emscher-Umbau. „Hier wird künftig getrennt, was nicht zusammengehört“, sagt Bauckhage, als er in eines der 35 000 Kanalrohre gestiegen ist, um eine Fuge zu kontrollieren. „Hier unten wird das Abwasser transportiert, oben in der Emscher wird nur noch sauberes Flussund Regenwasser fließen.“ Das Ruhrgebiet wird aufatmen nach der Wiedergeburt der Emscher, die eigentlich namensgebend sein müsste für die ganze Region. Denn die Ruhr durchquert nur den südlichen Zipfel des Ruhrgebiets, während die Emscher mitten hindurchfließt. Bevor die Gegend links und rechts der Emscher zu einem der Zentren des großen industriellen Zeitensturms wurde, mäanderte der Fluss in vielen Windungen durch den damals weithin ländlichen Raum zwischen Castrop-Rauxel und Dinslaken. Langsam schlängelte er sich durch Wälder und Sümpfe. Das ökologische Sterben der Emscher und ihrer Nebenflüsse begann mit dem rasanten Bevölkerungswachstum im neunzehnten Jahrhundert. Zwischen 1871 und 1905 versechsfachte sich die Zahl der Einwohner allein im Emschertal. Nicht nur immer mehr Abwasser der Bevölkerung wurde in die Emscher geleitet, sondern auch das Grubenwasser der Bergwerke. Durch den immer rasanteren Steinkohleabbau unter Tage kam es zu Bergsenkungen: Großflächig sackte der Boden um mehrere Meter ab. Das wirkte sich dramatisch auf das System der Emscher und ihrer Zuflüsse aus. Immer häufiger hieß es nun: Still ruht der Fluss. Fast das ganze Jahr über waren ganze Stadtteile überschwemmt – mit übelriechendem Wasser, in dem Fäkalien schwammen. Es war eine morastige Jauche. Schnell breiteten sich Krankheiten wie Typhus, Cholera, Diphterie und Malaria aus. Ende des 19. Jahrhundert galt das Emschertal als „wassertechnisches Notstandsgebiet“, als „cloaca maxima“. Zunächst versuchten einige Städte, die leidige Sache auf eigene Faust in den Griff zu bekommen. Das musste scheitern. Das „Emscher-Problem“ war einfach zu groß für Kirchturm-Politiker. Auf Geheiß Preußens schlossen sich schließlich im Dezember 1899 Bergbau, Industrie und Anliegerkommunen in Bochum zur Emschergenossenschaft zusammen. Sie war nicht nur der erste deutsche Wasserwirtschaftsverband, sondern auch die erste administrative Klammer des so verwirrend vielgestaltigen, ungebremst wuchernden Ruhrgebiets. Die Genossenschaft begradigte den Fluss, legte ihn bis zu drei Meter tiefer und befestigte ihn mit Betonsohlschalen. Es war eine technische und hygienepraktische Großtat. Zugleich war der Umbau ein Eingriff von ungeheu- M Cloaca Maxima: Oft sank der Boden ab, Abwässer stauten sich – wie hier am Duisburger Beeckbach, um 1900. Streng begradigt: Die Emscher bei Bottrop Fotos Edgar Schoepal Ingenieurskunst: Der neue Kanal wird das Abwasser tief unter dem Ruhrgebiet ableiten. erlicher Brutalität. Die alte Emscher gab es nun nicht mehr. Man hatte sie dem Bergbau geopfert, sie zum Werkzeug der Industrialisierung, zur offenen Kloake degradiert. „Köttelbecke“ (Kotbach) nannten die Leute die Emscher und ihre vielen einstmals so schönen Nebenläufe wie die Berne, die Boye oder Läppkes Mühlenbach. Eine andere Lösung als eine oberirdische Kloake kam nicht in Frage. Denn die fortwährenden Bergsenkungen legten immer wieder ganze Städte tiefer. Unweigerlich wären unterirdische Abwasserkanäle dabei dutzendfach zerborsten. So erhöhte man die Dämme der Emscher mehrfach. Auch die Mündung der größten Kloake Europas, längst so etwas wie der künstliche Darmausgang des Ruhrgebiets, musste wegen der Senkungen zweimal nach Norden verlegt werden. Sonst wäre die Brühe nicht weiter in den Rhein abgeflossen. „Auch wenn der offene Abwasserkanal direkt hinterm Haus verlief und fürchterlich stank, akzeptierten die Leute das als Preis für die florierende Industrie“, sagt der Vorstandsvorsitzende der öffentlich-rechtlichen Emschergenossenschaft, Jochen Stemplewski. Und doch litt man im Ruhrgebiet immer an seiner „schwarzen Emscher“. Der zweite Umbau der Emscher wurde erst durch die Nordwanderung des Steinkohlebergbaus und das Ende der Bergsenkungen möglich. Anfang der neunziger Jahre begann die Emschergenossenschaft mit ihrer zweiten technischen Großtat. Seit 25 Jahren baut die Emschergenossenschaft an einem grünen Wunder. In einem ersten, abgeschlossenen Schritt investierte die Genossenschaft rund 500 Millionen Euro in den Bau oder die Modernisierung von vier Großklärwerken in Dortmund-Deusen, Bottrop, Duisburg und an der Emschermündung. Im zweiten Schritt bekommt jedes Gewässer bis zum Jahr 2020 ein unterirdisches Pendant: Rund 290 von insgesamt 400 Kanalkilometern sind schon verlegt. er zweite Emscher-Umbau wird rund 4,5 Milliarden Euro kosten – weniger als für den noch immer nicht fertigen Hauptstadtflughafen mittlerweile veranschlagt wird. Und anders als in Berlin ist man im Ruhrgebiet auch nach beinahe drei Jahrzehnten des Planens und Bauens im Kostenund Zeitplan. Man habe das durch eine ehrliche und präzise Kalkulation erreicht, erfolgreich gegen Kostensteigerungen wie etwa drei Mehrwertsteuererhöhungen angearbeitet und vorausschauend auch Unwägbarkeiten mit einfließen lassen, sagt Stemplewski. „Im Projektbudget waren von Beginn an zehn Prozent des Kostenrahmens für Risiken und absehbare Entwicklungen eingeplant.“ Der Vorstandsvorsitzende der Emschergenossenschaft findet, dass das bei Projekten mit langen Planungs- und Bauzeiten grundsätzlich geschehen sollte. „Deutschland kann auch Großprojekte – dafür muss man nur ins Emschertal blicken“, sagt Stemplewski selbstbewusst. Finanziert wird das Projekt Emscher-Umbau überwiegend aus den Abwassergebühren der 150 Gemeinden und Unternehmen am Flusslauf, nur ein Fünftel stammt vom Land Nordrhein-Westfalen und der EU. „Der Emscher-Umbau ist eines der symbolträchtigsten Projekte im Rahmen des Strukturwandels dieser Region“, sagt Stemplewski. Das klingt ein wenig verwegen. Denn im Kern geht es doch um eigentlich Selbstverständliches: die größte zusammenhängende europäische Industrieregion endlich mit einer zeitgemäßen Kanalisation auszustatten. Doch der Umbau verändert das Revier: Auf einer Länge von 350 Kilometern wird sich eine neue Flusslandschaft erstrecken, die Großstädte wie Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen, Essen, Duisburg und Oberhausen verbindet. „Aus dem Hinterhof des Reviers wird sein Vorgarten“, formuliert Stemplewski. Das spektakulärste Beispiel für den Wandel ist bisher der Phoenix-See im Dortmunder Stadtteil Hörde. Mitte des D Statt Korsett freier Lauf: Der Borbecker Mühlenbach mitten in Essen Neue Röhren: Erst jetzt bekommt das Ruhrgebiet eine moderne Kanalisation. NORDRHEIN-WESTFALEN Emschermündung Bottrop Oberhausen Duisburg scher Em Herne Gelsenkirchen Bottrop Bottrop - EssenRhein- Herlne Fulerum Kana Essen Oberhausen ein Rh Mülheim Duisburg Baldeneysee Ru h r Gelsenkirchen CastropRauxel DortmundDeusen Emscherquelle Dortmund Bochum Großprojekt Abwasserkanal Emscher Pumpwerk Kläranlage Phoenixsee Bernepark DortmundHörde R u hr 10 km F.A.Z.-Karte lev. Dinslaken Foto Emschergenossenschaft neunzehnten Jahrhunderts war das damals verschlafene Nest im Emschertal mit einem Schlag ins Zentrum der industriellen Revolution geraten, als der Unternehmer Hermann Diedrich Piepenstock auf einer Wiese neben der alten Hörder Burg sein Stahl- und Eisenwerk Hermannshütte gründete. In Hörde begann Dortmunds stählernes Zeitalter. So stürmisch entwickelte sich die später unter dem Namen „Phoenix“ firmierende Hütte, dass sie kurz vor dem Ersten Weltkrieg Rang vier der größten deutschen Unternehmen belegte. Als nach jahrzehntelangen Krisen im April 2001 die Stahlzeit in Dortmund zu Ende ging, nutzte die Stadt den heftigen Strukturbruch für einen beherzten Neubeginn. Auf dem westlichen Teil des Phoenix-Geländes siedelten sich Hightech-Unternehmen an, Phoenix-Ost ließ die Stadt Dortmund zu einem See umbauen, den manche mit der Hamburger Binnenalster vergleichen. Mittlerweile sind am neumodellierten Ufer viele Einfamilienhäuser und Villen entstanden, die Straßen heißen Seehöhe, Seehang oder Seeblick. Seit 2010 sind in Dortmund die Emscher und ihre Nebenflüsse wieder abwasserfrei. Um den mit Grund- und Frischwasser gefluteten Phoenix-See macht die Emscher trotzdem unter normalen Umständen einen eleganten Bogen. Nur bei Starkregen dient der See als eines von vielen neuen Rückhaltebecken entlang des Flusses. Mit dem EmscherUmbau soll auch der Hochwasserschutz im Revier verbessert werden. Vor wenigen Jahren noch galt Hörde als das „Bitterfeld des Westens“, weil sich alle 20 Minuten der Himmel über Phoenix verdüsterte, wenn eine neue Charge Stahl erblasen wurde. Heute wird an den Hängen des Emschertals wie einst im Mittelalter sogar wieder Wein angebaut: 99 Rebstöcke hat die Emschergenossenschaft gepflanzt. Vor zwei Jahren durften Hörder Schulkinder die ersten Trauben der Sorte „Phoenix“ pflücken. Auch in Essen lässt sich das neue Ruhrgebiet schon bestaunen. Mario Sommerhäuser, der im Vorstand der Genossenschaft als Biologe tätig ist, steht auf der Wienenbuschbrücke im Stadtteil Fulerum. Sommerhäuser hat ein großes Foto mitgebracht, um zu zeigen, wie gnadenlos der Borbecker Mühlenbach noch vor kurzem als Teil des „Köttelbecke“-Systems der Emscher in ein Betonkorsett gezwungen war. Heute sucht sich der vom Abwasser befreite Bach an vielen Stellen seinen Weg wieder allein. „Die Artenvielfalt an Morgen auf der Seite Bildungswelten Warum die Kinderbetreuung in der DDR oft bleibende Spuren hinterlassen hat. Ein Plädoyer gegen die Betreuungseuphorie. Stellen wie hier ist erstaunlich“, sagt Sommerhäuser. Sogar der Eisvogel sei schon wieder gesichtet worden. Eine überraschende Entdeckung machten die Biologen der Emschergenossenschaft 2006 in der Boye, einem Emscher-Zufluss in Bottrop. Im Oberlauf der Boye hatte die Emschergroppe die mehr als 100 Jahre währende „Köttelbecke“-Katastrophe überlebt. Die Fischart gibt es nirgends sonst. Nun will Sommerhäuser die Groppe wieder nach und nach in der gesamten Emscher heimisch machen – als Botschafterin des sauberen Wassers. Auch große Tiere möchte der Biologe zurückholen. Früher gab es im Emscher-Bruch Wildpferde, die auf den Märkten der Region verkauft wurden. Gemeinsam mit Fachleuten des nordrhein-westfälischen Umweltministeriums überlegt der Biologe, welche Standorte für eine kleine Pferderasse in Frage kommen. Sommerhäuser ist auf dem Weg zu einem seiner Lieblingsorte des Projekts Emscher-Umbau: die ehemalige Kläranlage in Bottrop-Ebel. Es ist ein verblüffendes Ensemble. Ein Klärbecken hat die Emschergenossenschaft in ein üppig bepflanztes Amphitheater umgestaltet, im zweiten schwimmen Goldfische. Zwischendrin im sogenannten Berne-Park thront wie ein kleines Wasserschlösschen das denkmalgeschützte Maschinenhaus. Koch Johannes Lensing ist das Wagnis eingegangen, in einer ehemaligen Kläranlage moderne deutsche Küche anzubieten. Mit Erfolg: Regelmäßig buchen Brautpaare mittlerweile sein „Restaurant im Maschinenhaus“ für ihre Hochzeitsfeiern. Übernachten kann man im Bernepark auch. Fünf Betonröhren, wie sie für die Abwasser-Autobahn unter dem Ruhrgebiet verwendet werden, hat ein österreichischer Künstler zu originellen Hotelzimmern umgebaut. Die Röhren-Suiten, in denen man sich ein wenig fühlt wie Diogenes in der Tonne, sind beinahe immer belegt. Ein Wermutstropfen ist allerdings, dass es von der kleinen Berne nebenan vor allem an heißen Tagen doch recht streng nach faulen Eiern herüberstinkt. „Ich freue mich schon, wenn auch hier die Köttelbecke-Zeit endlich vorbei ist“, sagt Lensing. Ganz vorübergehen soll sie dann aber doch nicht. Damit sich künftige Generationen wenigstens ein ungefähres Bild von der „Köttelbecke“-Zeit im Ruhrgebiet machen können, wird es in Bottrop ein kleines Kloaken-Denkmal geben. Unweit vom Berne-Park soll die Berne auf 150 Metern ihr Korsett aus Betonsohlschalen behalten, bevor sie in die Emscher plätschert. Nur den Gestank werde man natürlich nicht konservieren können, sagt Lensing. „Was ein Glück.“ Gefährliches Veracruz Gouverneur vernommen in Journalisten-Mordfall Von Matthias Rüb SÃO PAULO, 11. August. Schon wenige Tage nach der Bluttat vom 31. Juli in Mexiko-Stadt wurde ein „üblicher Verdächtiger“ festgenommen. Der Mann sei wegen Vergewaltigung und Körperverletzung vorbestraft, teilte die Polizei mit. Zudem seien die Fingerabdrücke des Verhafteten am Tatort gefunden worden, hieß es. Der Verdächtige habe zugegeben, in die Wohnung eingedrungen zu sein, in der die fünf Leichen gefunden worden waren. Er habe jedoch bestritten, etwas mit den Morden zu tun zu haben. Die Ermittlungen in der Sache dauerten an. „Das ist so ein alter Hut“, sagte Emily Edmonds-Poli, Politik-Professorin an der Universität von San Diego, dem Rundfunksender BBC kurz nach dem raschen „Fahndungserfolg“ der mexikanischen Polizei: „Man verhaftet den nächstbesten Kriminellen und beschuldigt ihn des Verbrechens.“ Immerhin behaupten die Behörden nicht, der fünffache Mord sei aufgeklärt. Vielmehr soll an diesem Dienstag Javier Duarte, Gouverneur des Bundesstaats Veracruz, vernommen werden. Duarte ist Mitglied der auch in Mexiko-Stadt regierenden „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI) von Präsident Enrique Peña Nieto. Duarte regiert seit 2010 in dem Südost-Staat am Golf von Mexiko. Seit seinem Amtsantritt wurden in Veracruz 14 Journalisten ermordet, so viele wie in keinem anderen Bundesstaat. Das letzte Opfer war Rubén Espinosa, ein 31 Jahre alter Fotoreporter aus Veracruz. Seine Leiche, die Folterspuren aufwies, wurde am 1. August in einem von Angehörigen der Mittelschicht bewohnten Viertel im Süden von Mexiko-Stadt gefunden. In der Wohnung fanden die von Nachbarn alarmierten Polizisten außerdem die Leichen der ebenfalls aus Veracruz stammenden Menschenrechtsaktivistin Nadia Vera sowie von drei weiteren Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren. Polizei und Staatsanwaltschaft teilten mit, drei der vier Frauen seien vergewaltigt worden. Die Opfer waren außerdem mit Klebeband gefesselt und offenbar gefoltert worden. Alle fünf Leichen wiesen mehrere Schusswunden auf, unter ihnen jeweils einen Kopfschuss. Espinosa war unter anderem für das in Mexiko-Stadt erscheinende Wochenblatt „Proceso“, die lokale Nachrichtenagentur AVC und die Fotoagentur „Cuartoscuro“ tätig. Er berichtete als Fotojournalist vor allem über soziale Proteste gegen Behördenwillkür und über Machenschaften der Drogenkartelle. Nachdem er in Veracruz mehrfach bedroht und in der Öffentlichkeit tätlich angegriffen worden war, floh Espinosa im Juni in die mexikanische Hauptstadt. Auch die Aktivistin Nadia Vera hatte sich nach Drohungen in die Hauptstadt abgesetzt. „Wir sehen mit Besorgnis, dass Mexiko-Stadt kein sicherer Zufluchtsort mehr für vertriebene Journalisten ist“, heißt es in einer Mitteilung von „Artículo 19“, der mexikanischen Sektion der internationalen Organisation zur Verteidigung der Menschenrechte und der Meinungsfreiheit, „Article 19“. Nach Angaben von „Artículo 19“ wurden seit 2000 in Mexiko 88 Journalisten ermordet, und 90 Prozent dieser Morde werden niemals aufgeklärt. Dass die Mörder Espinosas und der vier Frauen zur Rechenschaft gezogen werden, muss man deshalb bezweifeln. Mindestens ebenso zweifelhaft erscheint es, dass ausgerechnet Gouverneur Duarte zur Aufklärung der Morde vom 31. Juli beitragen kann. Duarte zeigte sich zwar bereit, vor den Ermittlern aus Mexiko-Stadt auszusagen und alle relevanten Dokumente zur Verfügung zu stellen. Er wies aber jeden Verdacht einer Mitverantwortung für die Morde zurück: „Ich werde aussagen, um zu bekräftigen, dass ich nichts mit dieser Affäre zu tun habe“, sagte der Gouverneur im örtlichen Rundfunk. Duarte hat seine Abneigung gegen renitente Journalisten nie geleugnet. Es sind mehrere Aussagen des Gouverneurs überliefert, wonach Journalisten keine Recherchen über Machenschaften von Drogenkartellen und Verbrecherbanden anstellen sollten, weil ihnen dabei etwas zustoßen könnte. Deshalb gebe er Journalisten den Rat, „sich zu benehmen“. Ganz ohne Eigennutz erteilte der Gouverneur den Ratschlag freilich nicht: „Wenn euch etwas zustößt, dann bin ich es, der ans Kreuz geschlagen wird. Also benehmt euch!“ Vor drei Jahren wurde die prominente Journalistin Regina Martínez, die wie Espinosa für das Wochenblatt „Proceso“ gearbeitet hatte, erdrosselt in ihrem Haus in Xalapa, der Hauptstadt von Veracruz, aufgefunden. Auch damals wurde rasch ein Verdächtiger festgenommen und für den angeblichen Raubüberfall verantwortlich gemacht. Der Mann widerrief später vor einem Richter sein Geständnis und gab zu Protokoll, er sei durch Folter zu seiner Aussage gezwungen worden. Dennoch wurde er zu 38 Jahren Gefängnis verurteilt. „Die wirklich Schuldigen wurden nicht ermittelt“, kommentierte das Wochenmagazin „Proceso“ nach der Urteilsverkündung zum gewaltsamen Tod seiner Mitarbeiterin Martínez.