Überbewertetes Risiko: der Mythos Cholesterin
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Überbewertetes Risiko: der Mythos Cholesterin
Spezial Gesundheit Überbewertetes Risiko: der Mythos Cholesterin Die Warnung vor dem Herzkiller Cholesterin hat Millionen von Deutschen die Butter auf dem Brot und das Frühstücksei vermiest. Doch viele Studien zeigen: Das Fett im Blut taugt nicht viel als Risikofaktor. D er bundesweite „Tag des Cholesterins“ ist immer Mitte Juni. Erfunden hat dieses Ereignis die Deutsche Gesellschaft zur Bekämpfung von Fettstoffwechselstörungen und ihren Folgeerkrankungen, kurz Lipid-Liga genannt, im Jahr 2003. Sie will damit die Bevölkerung über die Gefahren hoher Cholesterinspiegel im Blut aufklären. So heißt es im Flyer zum Tag des Cholesterins 2010: „Einer der bedeutendsten Risikofaktoren für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind erhöhte LDL-Cholesterinkonzentrationen. Dieses Risiko steigert sich zusätzlich um ein Vielfaches, falls weitere Risikofaktoren hinzukommen, wie Rauchen, erbliche Vorbelastung, Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus), Übergewicht und Bluthochdruck.“ Zur Begründung verweisen die Professoren im Vorstand der Fachgesellschaft auf zahlreiche Studien, die diesen Zusammenhang eindeutig belegt hätten. In Filmen und Broschüren klärt die Lipid-Liga Ärzte und Laien über das Cholesterinrisiko auf, gefördert von den Herstellern cholesterinsenkender Medikamente und dem Margarineproduzenten Unilever. Die Lipid-Liga steht nicht alleine. Auch die Deutsche Herzstiftung warnt vor zu hohen Cholesterinwerten. „Eine überwältigende Anzahl von genetischen, experimentellen, pathologischen und epidemiologischen Untersuchungen hat übereinstimmend ergeben, dass Was ist eigentlich Cholesterin? info Cholesterin ist ein für den Menschen lebensnotwendiger Fettstoff (Lipid). Es schützt die Zellwände, hilft beim Aufbau von Nerven und Gehirnzellen und ist die Ausgangssubstanz für Gallensäure und Sexualhormone. Der Mensch stellt jeden Tag ein bis eineinhalb Gramm Cholesterin selbst her, vor allem in der Leber und im Dünndarm. Ein weiteres halbes Gramm nimmt er mit der MUM Nahrung zu sich. Nur wenig Cholesterin schwimmt im Blut, der weitaus größere Teil lagert in den Zellen. Im Blut wird das Cholesterin von Eiweißstoffen transportiert. Zu den Zellen ist es als LDL-Cholesterin unterwegs, von den Zellen zurück zur Leber wird es als HDL-Cholesterin transportiert. Der Gehalt an Cholesterin wird in Milligramm je 100 Milliliter Blut angegeben (mg/dl). ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Zusammensetzung der Nahrung, dem Serum-Cholesterinspiegel und der Häufigkeit der koronaren Herzkrankheit besteht“, schreibt Professor Helmut Gohlke, Chefarzt im Herz-Zentrum Bad Krozingen und Vorstandsmitglied der Stiftung in deren aktueller Broschüre „Wie gefährlich ist Cholesterin?“. Unter den 65.000 Mitgliedern der Stiftung befinden sich über 100 Herzkliniken. Im Vorstand und im wissenschaftlichen Beirat sind namhafte Kardiologen und Herzforscher versammelt. Diese sind meist auch Mitglied in einer der großen medizinischen Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung (DGK). Auch in deren Leitlinien steht, dass es einen klar belegten Zusammenhang zwischen dem Gehalt an LDL-Cholesterin im Blut und dem Risiko von Herz- und KreislaufErkrankungen gibt. Kurz gesagt: Das ist die herrschende Meinung in der Schulmedizin. „Nicht nur auf den Cholesterinwert starren“ Doch es gibt auch Gegenstimmen. „Wir wissen noch sehr wenig darüber, warum manche Menschen einen Herzinfarkt bekommen und andere nicht“, sagt Professor Peter Sawicki, der langjährige Leiter des Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG). „Die einfache Erklärung, dass das an zu viel LDL- und zu wenig HDL-Cholesterin liegt, ist nicht belegt, es ist nur eine Hypothese. Es ist zu kurz gesprungen, nur auf den Cholesterinwert zu starren. Die Zukunft lässt sich aus Blutwerten so wenig herauslesen wie aus Kaffeesatz.“ Der Schweizer Pathologie-Professor Jan-Olaf Gebbers hat Studien ausgewertet, bei denen bei Toten im Rahmen der Autopsie die Cholesterinwerte bestimmt und mit dem Zustand der Blutgefäße verglichen wurden. Sein Fazit: Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Cholesterinwerten und Arterienverkalkung. Anders ausgedrückt: Es gibt auch viele Herzinfarkttote mit niedrigen Cholesterinwerten. In der Fachzeitschrift Arzneiverordnung in der Praxis wandte sich der Pharmakologie-Professor Frank P. Meyer gegen die Praxis vieler Ärzte, Gesunden vorbeugend cholesterinsenkende Medikamente zu verschreiben. Selbst für Menschen mit HerzKreislauf-Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall seien die Cholesterinwerte „relativ belanglos“. Er verwies dabei auf die sogenannte Heart-Protection-Studie von 2002, die bisher größte Untersuchung zur Wirksamkeit cholesterinsenkender Medikamente. Die hatte anhand von 20.000 Teilnehmern zwar positive Effekte der Medikamente nachgewiesen, allerdings unabhängig vom Cholesterinspiegel. Damals sei „die Cholesterollegende definitiv widerlegt worden“, predigt Meyer seither seinen Kollegen. „Jedoch können Legenden sehr zählebig sein.“ Januar 2011 100 Jahre Angst vor dem bösen Cholesterin Ihren Anfang nahm die Hypothese vom bösen Cholesterin 1908, als der russische Wissenschaftler Alexander Ignatovski Kaninchen mit einer Cholesterinbombe aus Eiern und püriertem Hirn fütterte. Die meisten der an pflanzliche Nahrung gewohnten Tiere entwickelten eine Arteriosklerose und starben an Herzinfarkt. Auch Menschen, die an erblich bedingten Fettstoffwechselstörungen leiden, bekommen in jungen Jahren häufiger Herzinfarkte und Schlaganfälle. Die Wahrscheinlichkeit für solche Erkrankungen beträgt etwa 1:500, und die damit verbundenen Cholesterinwerte liegen weit über den 200 Milligramm, die offiziell als bedenklich gelten. Seit den 70er-Jahren unterscheiden die Verfechter der Cholesterinhypothese zwischen „bösem“ LDL-Cholesterin, das die Arterien-verkalkung fördert, und „gutem“ HDL-Cholesterin, das die Blutgefäße schützt. Dieser Einschätzung liegt zugrunde, dass in den Ablagerungen in den Arterien vor allem LDL-Cholesterin gefunden wurde. Ein hoher LDL-Spiegel wurde so interpretiert, dass die Zellen ausreichend mit dem Fettstoff versorgt waren und sich nun überschüssige Mengen im Blutkreislauf tummelten und gefährliche Ablagerungen an den Gefäßwänden – die Plaques – bildeten. Demnach würden niedrige LDL-Werte solchen Ablagerungen entgegenwirken. Hohe HDL-Werte hingegen werden positiv gesehen, weil diese Cholesterinmoleküle bereits auf dem Weg zurück in die Leber sind, um dort zu anderen Stoffen umgebaut zu werden. So argumentieren die meisten Kardiologen bis heute.