Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve

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Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve
Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav Struve und die
Demokratie in Deutschland und Amerika (= Transatlantische
Historische Studien; Bd. 15), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2004,
501 S., ISBN 3-515-08371-5, EUR 68,00
Rezensiert von:
Frank Engehausen
Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Die beiden bekanntesten Figuren des südwestdeutschen Radikalismus in
der Revolution von 1848/49, Friedrich Hecker und Gustav Struve, sind
erst spät durch umfassende wissenschaftliche Biografien gewürdigt
worden. Nachdem zum 150. Revolutionsjubiläum Sabine Freitag den
populäreren der beiden auf seinem politischen Weg porträtiert hat [1],
liegt nun auch eine gewichtige Studie zu Gustav Struve vor, die in der
gleichen, wenn auch in ein neues Gewand gekleideten Reihe
"Transatlantische Historische Studien" erschienen ist. Wie im Falle
Heckers sind die Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts
Washington, D.C. auch für diese Biografie ein gut geeigneter
Erscheinungsort, denn Struve verbrachte nach der Niederschlagung der
Revolution mehr als ein Jahrzehnt in Amerika, bevor er nach seiner
Amnestierung 1863 nach Deutschland zurückkehrte. Struves Werdegang
im amerikanischen Exil widmet sich Reiß in seiner Untersuchung auf
ähnlich breitem Raum wie seiner Entwicklung als politischer Publizist im
Vormärz und als linker Parteiführer in der Revolution.
Die Arbeit von Reiß ist keine Biografie im herkömmlichen Sinne, denn sie
verzichtet auf eine detaillierte Schilderung von Struves Lebensweg - dies
ist schon daran ersichtlich, dass die wichtigsten Daten und
Karriereschritte vorab in einem Anhang der Einleitung mitgeteilt werden
(29-43). Reiß blendet nicht nur das Privatleben Struves weitgehend aus,
das man mit Recht als historisch weniger bedeutsam betrachten kann,
sondern verzichtet häufig auch - was in einer politischen Biografie
ungewöhnlich anmutet - auf die genaue Schilderung des Verhaltens
seines Protagonisten in wichtigen Entscheidungssituationen. Wer neue
Informationen zum Beispiel über die Kontroversen im Vorparlament und
den Heckerzug im April 1848 oder die badische Mairevolution von 1849
erwartet, an denen Struve durchaus bedeutenden Anteil hatte, wird von
Reiß' Untersuchung enttäuscht sein, denn diese Themen werden eher
nebenher behandelt, und selbst der Putsch vom September 1848, der
unter Struves Namen bekannt geworden und geblieben ist, wird auf sehr
knappem Raume abgehandelt (146-151). Dies erklärt sich zum Teil wohl
durch die problematische Quellenlage, mit der Reiß konfrontiert wurde:
Struves im Bundesarchiv in Koblenz aufbewahrter Nachlass enthält
nämlich überwiegend Material aus der Zeit nach seiner Rückkehr aus dem
amerikanischen Exil, die jedoch relativ uninteressant ist, weil Struve
zwischen 1863 und seinem Todesjahr 1870 nur noch geringe politische
Wirksamkeit entfaltete - er verstrickte sich in einen langwierigen Konflikt
mit Fedor Streit, dem Protagonisten des linken Flügels des Deutschen
Nationalvereins, setzte seine publizistische Karriere mit mäßigem Erfolg
fort, engagierte sich vorübergehend in den Reihen der demokratischen
Gegner einer preußischen Reichsgründung und zog sich 1868 ganz von
der politischen Bühne zurück.
Im ersten Teil seiner Studie, die eine "politische und intellektuelle
Biographie" Struves und zugleich einen Beitrag zur "Demokratie in
Deutschland und (Nord-)Amerika um die Mitte des 19. Jahrhunderts" (11)
darstellen soll, schildert Reiß "Gustav Struves Radikalismus im Vormärz
und in der Revolution" (47-205) und skizziert zunächst seine politische
Vorstellungswelt, die durch verschiedenartige Einflüsse geprägt war: Aus
Versatzstücken der liberalen Theorien der Zeit schuf sich Struve eine
eigene Staatsphilosophie, die weniger durch innere Stringenz
ausgezeichnet war als durch mancherlei Kuriositäten wie Einsprengsel der
damaligen Modewissenschaft der "Phrenologie", der Struve mit großem
Engagement anhing. Sein häufig am Beispiel der Vereinigten Staaten
illustriertes politisches Ideal war schon zu einem frühen Zeitpunkt die
Demokratie, allerdings ohne dass er ein konkretes republikanisches
Ordnungskonzept entwarf. So gewann Struve denn auch nicht als
origineller politischer Denker Einfluss, sondern als rastloser Publizist, der
seit 1845 massive Kritik an den Zuständen in Deutschland übte. Die
Nichterfüllung des Artikels 13 der Bundesakte, der für alle deutschen
Staaten Verfassungen in Aussicht gestellt hatte, die durch die Karlsbader
Beschlüsse eingeführte Pressezensur und die Religionsfreiheit waren die
Themen, die im Vordergrund seiner Agitation standen. Sie zielte noch
nicht auf einen Umsturz der bestehenden Ordnung, sondern wollte einen
bei der Neuordnung Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts
intendierten und teilweise früher auch schon verwirklichten Rechtszustand
wiederherstellen. Dass er vielfach vorgab, für altes Recht zu streiten,
bewahrte ihn nicht vor Konflikten mit der Zensur, die Struve öffentlich
auszutragen versuchte, indem er seine Repressionserfahrungen
publizierte. Wie Reiß zu Recht hervorhebt (95 f.), handelte es sich dabei
um eine effektive Form der Selbstinszenierung: Struve wurde, wie er
selbst es ausgedrückt hat, zu einem "Freund des Volkes", der "sich selbst
der Verfolgung und dem Hasse der Machthaber bloßstellt, um dem Volke
zu seinem Rechte zu verhelfen" (124).
Am Vorabend der Revolution und vollends dann in ihrer Anfangsphase im
Frühjahr 1848 gewann für Struve das Konzept einer
Versammlungsdemokratie an Bedeutung: Anders als die Gemäßigten, die
politische Reformen in den Parlamenten auf den Weg bringen wollten,
strebte Struve - wohl auch, weil ihm selbst der Einzug in den badischen
Landtag nicht geglückt war - direkte Aktionen an. Der Anspruch, die
Interessen des Volkes zu vertreten, wurde nun mit Verweis auf die
Massenveranstaltungen erhoben, auf denen Struve selbst und seine
radikalen Mitstreiter als Redner auftraten. Dabei ging es nicht darum, den
Willen des Volkes zu ermitteln, denn den kannte man ja bereits: Das Volk
bildete nur den "inszenatorischen Rahmen" für die Konstituierung einer
"Partei der gesinnungstreuen Aktivisten" (117) - dies war eine politische
Strategie, die in Kenntnis späterer Formen totalitärer Volksbeglückung
problematisch erscheinen mag und die Struve als Vorkämpfer einer
freiheitlich-demokratischen Ordnung, als der er häufig gepriesen wurde,
untauglich erscheinen lässt. Wie groß Struves Vorbehalte gegenüber
einem parlamentarischen System waren, zeigt auch ein im Juli 1848
veröffentlichter Verfassungsentwurf, in dem er sich erstmals präzise über
die Gestalt der von ihm angestrebten deutschen Republik äußerte: An der
Spitze sollte zwar ein von einer aus freien Wahlen hervorgegangenen
Volksvertretung eingesetzter Präsident stehen; die höchste Autorität
sollte aber weiterhin das Volk sein, das in monatlichen Urversammlungen
die Arbeit von Regierung und Parlament kontrollieren sollte und auch
Gesetze beschließen konnte (145 f.).
Struves Vertrauen in die revolutionäre Energie des Volkes, die in dieser
hohen Wertschätzung von Massenversammlungen zum Ausdruck kommt,
wurde in den Revolutionsmonaten mehrfach enttäuscht, besonders bei
dem Aufstandsversuch im September 1848, bei dem sich Struve nach
Reiß' Auffassung "nicht nur als unfähiger, sondern darüber hinaus als
keineswegs konsequenter Putschist" erwies (147). Selbstzweifel
beschlichen ihn allerdings nicht; vielmehr bestand die
Revolutionsbewältigung für Struve in erster Linie darin, die Unreife des
Volkes zu beklagen. Nur unter günstigen Verhältnissen sei es der "kleinen
Minderzahl von aufgeklärten und charakterfesten Männern"
vorübergehend gelungen, "die gedrückten Völker für sich und ihre
Bestrebungen zu gewinnen. Allein schon bald erschlaffte die Kraft der
Begeisterung", konstatierte er 1852 im Rückblick auf die Revolution
(202). Zu diesem Zeitpunkt befand sich Struve bereits in den Vereinigten
Staaten, wohin er 1851 ausgewandert war - nicht weil er sie als das
gelobte republikanische Land betrachtete, sondern weil ihn die materielle
Not dazu zwang, nachdem seine Versuche, in England Fuß fassen, unter
anderem als Führer einer Agrarkommune, gescheitert waren.
In den Vereinigten Staaten versuchte Struve, so wie er es am Vorabend
der Revolution in Deutschland getan hatte, sich ein Auskommen als
Publizist zu sichern. Dies gelang allerdings eher schlecht als recht: Eine
von ihm herausgegebene deutschsprachige politische Wochenzeitung ging
schon nach kurzer Zeit ein; er publizierte danach mit mäßigem
finanziellem Erfolg eine Weltgeschichte, die er im Abonnement in
Einzellieferungen vertrieb. Ebenso misslich wie die Fortdauer der
bedrängten persönlichen wirtschaftlichen Lage war der Umstand, dass
Struves politische Ambitionen ins Leere liefen. Struves Kernproblem in
den Vereinigten Staaten war, so urteilt Reiß, "die Öffentlichkeit nicht
mehr wie im Vormärz initiieren zu können, wobei ihm dann ihre
Repräsentation wie die Bestimmung der Inhalte von selbst in die Hand
fielen. Er fand die Medien der Öffentlichkeit vielmehr schon besetzt, die
Agenda festgelegt" (384). Anders formuliert: Struve konnte in den
Vereinigten Staaten nur noch eine politische Nebenrolle spielen, wobei er
sich auf verschiedenen Bühnen versuchte - Ende der 1850er-Jahre
kurzzeitig als Redakteur der Vereinszeitschrift des "Allgemeinen ArbeiterBundes", als Wahlkampfhelfer Abraham Lincolns oder als Kriegsfreiwilliger
auf Seiten der Union im amerikanischen Bürgerkrieg. Allerdings nahm er
frühzeitig seinen Abschied; der Tod seiner Frau und die Nachricht von
einer Amnestie für die badischen Revolutionäre boten den Anlass, den
Vereinigten Staaten, in denen er offensichtlich nie heimisch geworden
war, den Rücken zu kehren.
Dass Reiß nicht der Versuchung erlegen ist, Heldenverehrung zu
betreiben, wie sie in der älteren Struve-Literatur gang und gäbe war, wird
in seiner Zusammenfassung hinreichend deutlich: Weder als politischer
Praktiker noch als Theoretiker könne er "allzu große Bedeutung
beanspruchen" (448), konstatiert Reiß, der seinem Protagonisten auch als
Person wenig abgewinnen kann. "Seine Figur rief schon bei Zeitgenossen
Unwillen hervor und mag auch in der heutigen Zeit je nach
Betrachtungsweise bisweilen unlieb oder lachhaft erscheinen" (455), heißt
es am Schluss der Studie, die mit ihren Einblicken in die politischen
Gedankenwelt eines deutschen Radikalen des 19. Jahrhunderts
verdienstvoll ist, auch wenn sie für die Geschichte der Revolution von
1848/49, die ja zweifellos den Höhepunkt der politischen Wirksamkeit
Struves markierte, keine wichtigen neuen Erkenntnisse zu Tage fördert.
Anmerkung:
[1] Sabine Freitag / Friedrich Hecker. Biographie eines Republikaners,
Stuttgart 1998.
Redaktionelle Betreuung: Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Frank Engehausen: Rezension von: Ansgar Reiß: Radikalismus und Exil. Gustav
Struve und die Demokratie in Deutschland und Amerika, Stuttgart: Franz Steiner
Verlag 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 4 [15.04.2005], URL: <http://www.
sehepunkte.historicum.net/2005/04/4769.html>
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