"Fürchte dich nicht!!"- Offb. 21,5 - Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost

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"Fürchte dich nicht!!"- Offb. 21,5 - Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
Evangelische Schloßkirche
der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn
Akademische Gottesdienstreihe
„Siehe, ich mache alles neu!“
Semestereröffnungsgottesdienst – Wintersemester 2015/2016
Johann Sebastian Bach (1685 - 1750)
Fantasie g-moll BWV 542 für Orgel
Votum –
Wochenspruch: Lass Dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das
Böse mit Gutem.
Begrüßung:
Zum ersten akademischen Gottesdienst im Studienjahr 2015/16 begrüße ich Sie
alle sehr herzlich, ob Erstsemester oder Seniorenstudentin, ob Gast aus diesem
festlichen Anlass der Eröffnung, ob altvertrautes Gemeindeglied, - und
besonders heiße ich die Mitglieder der großen Musiziergemeinschaft an der
Schloßkirche willkommen, die uns auch heute wieder begleiten und den
Gottesdienst festlich gestalten wird.
„Siehe, ich mache alles neu!“ ist der Titel der Gottesdienstreihe in diesem
Wintersemester. Eine herausfordernde Parole für Institutionen, die sich dem
Neuen seit bald fünf Jahrzehnten verschrieben haben– und dabei den
Alterungsprozess von Reformforderungen oft übersehen.
In Universitäten wie in Kirchen, von den Schulen ganz zu schweigen, wurde seit
den 1960er Jahren unablässig nach Erneuerung gerufen und eine Reform nach
der anderen geplant und auch durchgeführt. Sicher vieles vernünftig oder
notwendig, aber die Frage nach dem Geist der Erneuerung stellte sich immer
weniger, denn die Antwort war selbstverständlich: Des Menschen Geist bewirkt
die Erneuerung, plant, steuert, zielt. In diesen Tagen aber, da die Steuerung
unserer Gesellschaft einer großen Belastungsprobe ausgesetzt ist, wird die Frage
wieder lauter gestellt, was eigentlich der tragende Grund unseres Lebens sei.
Und deshalb fragen wir in dieser Akademischen Gottesdienstreihe nicht nach
dem Geist, der stets das Vergangene verneint, sondern nach dem Geist, der die
immer wieder notwendigen Reformen mit dem Geist der Liebe und Achtung
erfüllt.
Diesen Geist rufen wir in unsere Mitte, wenn wir nun singen: Gelobt sei Deine
Treu …
Lied 681
Psalm 19, 10-15
Kyrie
Ein neues Studienjahr haben wir begonnen im Vertrauen auf Deine Güte, Gott.
Wir bitten Dich, dass Du uns leitest durch Deinen Geist, dass Du unser Planen
und Denken, unser Studieren und Probieren, unsere Ansätze und Abschlüsse
segnest. Lass uns wirken zum Wohle der Menschen, die uns anvertraut sind.
Wir rufen Dich an: Herr, erbarme Dich
Gloria – Herr, Deine Güte reicht, soweit der Himmel ist, und Deine Wahrheit,
soweit die Wolken gehen.
Kollektengebet – Durch Dein Wort sammelst Du uns, barmherziger Gott, wirkst
an uns, erneuerst uns. Lass dies auch in dieser Stunde an uns geschehen. Amen.
Lesung: Mt. 5, 38-48
Johann Sebastian Bach (1685 - 1750)
Motette „Fürchte dich nicht“
BWV 228 für zwei vierstimmige Chöre und Instrumente
Fürchte dich nicht, ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott!
Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand
meiner Gerechtigkeit. Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöset; ich habe
dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!
Choral: Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden, du bist mein, ich bin dein:
niemand kann uns scheiden. Ich bin dein, weil du dein Leben und dein Blut mir
zu gut in den Tod gegeben. Du bist mein, weil ich dich fasse und dich nicht, o
mein Licht, aus dem Herzen lasse! Laß mich hingelangen, da du mich und ich
dich lieblich werd umfangen.
Fürchte dich nicht, du bist mein!
Glaubensbekenntnis
Lied 351, 1-4,7.8.
Liebe Gemeinde,
die Nachrichten aus dem Osten klingen beunruhigend, die Menschen in der
wunderbar fruchtbaren Landschaft zwischen Euphrat und Tigris leben in heller
Aufregung. Die Macht, die sich unter den Herrschern Kyros I. und Kambyses
im persischen Hochland entwickelt hat, ist unter Kyros II. weiter gewachsen und
bedroht die Königreiche in der Region. Lydien, das Herrschaftsgebiet des
sprichwörtlich reichen Krösus am Ägäischen Meer haben die Perser vor
wenigen Jahren erobert und sind nun drauf und dran, die stolze Metropole des
neubabylonischen Reiches, Babylon, in Besitz zu nehmen. Das Reich, das der
mächtige König von Babylon, Nebukadnezar, vor einem halben Jahrhundert bis
ans Mittelmeer und nach Ägypten ausgedehnt hatte, ist gefährdet, die Perser
sind dabei, es ihrer Herrschaft zu unterwerfen. Viele Jahrzehnte hatten die Heere
der babylonischen Könige die Völker in weitem Umkreis immer wieder zu
Tributzahlungen gezwungen oder ihre Gebiete ihrem Reich einverleibt, sicher
auch Jerusalem, wann auch immer, wir haben gelernt 586/7 v.Chr. sei das Jahr
der Zerstörung der Stadt und der Deportation der Bevölkerung gewesen und
andere Forscher sagen es war schon 607 – und auch eine vollständige
Zerstörung Jerusalems habe es damals nie gegeben, … aber darüber mögen die
Kollegen der Fächer Altes Testament und Altorientalistik differenziert
nachdenken und urteilen, wir nehmen das Szenario so, wie Israel seine
Geschichte in der Bibel erzählt, und dabei finden wir in der Mitte des sechsten
Jahrhunderts das Volk in der Verbannung in Babylon und stoßen auf die
Bedrohung Babylons aus dem Osten, und lesen dazu Prophetenworte, die Neues
ankündigen und eine geradezu unglaubliche Zuversicht verbreiten.
Zwei Abschnitte aus dem Buch des Propheten Jesaja, des zweiten Jesaja hat J.S.
Bach in seiner Motette vertont hat: Jes. 41,10
Fürchte dich nicht, ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott!
Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand
meiner Gerechtigkeit.
Und Jes. 43,1
Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen
gerufen, du bist mein!
Wem galten diese Prophetenworte damals? Der kleinen Gruppe von Israeliten,
die ihre Identität in Babylon bewahrt hatten? Man kann ja davon ausgehen, dass
auch sie von den Nachrichten aus dem Osten beunruhigt waren. Würden sie in
die bevorstehenden Auseinandersetzungen hineingezogen werden? Würden sie
überhaupt als eine eigene Gruppe erkannt werden? Sie hatten doch mit den
Herrschern Babylons wenig zu tun gehabt – oder hatten Sie sich schon bis zur
Unerkennbarkeit integriert? Die Botschaft des zweiten Jesaja spricht dagegen,
denn sie gilt einem Volk, das offenbar noch eine identifizierbare Größe
geblieben ist.
Diese Worte sind im sechsten Jahrhundert v.Chr. geschrieben worden, daran
gibt es keinen Zweifel, aber sie wären längst vergessen, wenn sie nicht immer
wieder Menschen angesprochen hätten, berührt, bewegt, gestärkt, getröstet …
Fürchte dich nicht, ich bin bei dir; weiche nicht, denn ich bin dein Gott!
Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich durch die rechte Hand meiner
Gerechtigkeit.
Und noch weitergehend: Jes. 43,1 Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!
Liebe Gemeinde,
Der Zuspruch „Fürchte Dich nicht“ oder „fürchtet euch nicht“ markiert eine
Wende im Gottesbild der Menschheit. Nicht erst in der Begegnung Marias mit
dem Engel oder in der Weihnachtsgeschichte, als der Engel zu den Hirten auf
dem Felde sprach: Fürchtet Euch nicht, nein, schon über 500 Jahre früher spricht
Gott durch seinen Propheten, schon damals kommt der Gedanke auf, dass die
höchste denkbare und in unserem Leben wirkende Macht, die wir Gott nennen,
den Menschen gerade nicht Angst und Schrecken einjagen will, sondern ihnen
freundlich entgegenkommt, um ihnen zum Leben zu helfen.
Ich könnte nahtlos anknüpfen bei dem, was ich am Ende des Sommersemesters
in meiner letzten Predigt auf dieser Kanzel über den Taufbefehl nach Matthäus
gesagt habe: „Da leben Menschen vor zwei- und dreitausend Jahren und spüren,
dass alle Versuche scheitern, ihre Mitmenschen zu einem Leben aus der Kraft
der Liebe und Güte zu bewegen … und sehnen sich doch so sehr nach einer
friedlichen und freien Lebensweise, die die Gemeinschaft schont und nicht
zerstört.“
Aber wenn ich den Bogen der Gedanken schlage über die drei Monate, die seit
dem letzten akademischen Gottesdienst vergangen sind, dann bleibt mir nichts
anderes übrig, als festzustellen: Gewalt beherrscht unser Leben, ob wir sie nur
medial miterleben und sie uns auf diesem Weg Furcht einflößt oder ob wir selbst
davon betroffen sind. Die Nachrichten aus dem Nahen Osten klingen auch heute
zum Fürchten – und es ist kaum jemand da, der sagt: Fürchtet euch nicht! Und
wer doch öffentlich sagt: Wir schaffen das! der gilt vielen als blauäugig.
Die Hoffnung auf Frieden und Gewaltlosigkeit erleidet immer wieder schlimme
Niederlagen, und die Stimmen, die zur Verständigung raten oder gar zur
Versöhnung rufen, werden auch in unserem Land immer leiser; vielleicht ist es
aber auch so, dass andere immer lauter rufen, nach Abgrenzung und Ausschluss,
ob sie nun aus Angst rufen oder aus der Überzeugung, dass nur Gewalt zur
Lösung der komplexen Probleme führe.
Liebe Gemeinde, war er also wirklich nur ein Rufer in der Wüste, der Prophet,
der seinem Volk einen Gott verkündigte, der den Müden Kraft gibt und Stärke
genug den Unvermögenden?
Man könnte schon resignieren, wenn man als Prediger des Evangeliums merken
muss, wie wenig die Worte der eigenen Predigt in der Öffentlichkeit bewirken.
Aber gegen alle Resignation müssen wir uns immer wieder daran erinnern:
Die Macht, mit der Christus die Welt regiert, also unsere Gedanken beeinflusst,
hat eine Eigenart, die wir alle kennen – und doch gerne ändern würden: Diese
Kraft, der Geist Gottes unter uns, ist flüchtig, wie Worte flüchtig sind, man muss
jeden Tag neu darum bitten, man muss sie jeden Tag neu bekommen, die Worte,
die zur Güte lenken! Diese Kraft ist völlig verständlich, gut erfahrbar und
zugleich alles andere als selbstverständlich unter uns wirksam. Sie wirkt wenig
in der Welt der Kriege und Konflikte, aber sie wird auch in der Welt der
Kompetenzen und Konkurrenzen schnell übersehen oder übergangen, und die
Wissenden und Weisen fürchten ihre Flüchtigkeit, ihre geringe Stabilität nicht
von ungefähr, und viele achten die Güte deshalb auch gering. Dabei ist sie es,
die Kraft der Liebe und Güte, die Leben hervorbringt und erhält.
Viele Künstler, Ton-Dichter und Wortschöpfer, Maler und Musiker haben sich
in den Dienst dieser Kraft gestellt und gaben und geben ihr Gestalt. So auch
J.S.Bach in seiner wunderbaren Motette „Fürchte Dich nicht!“
Liebe Gemeinde,
es spricht viel dafür, dass sich das Bewusstsein des Menschen an der Frage
nach der Zukunft entfaltet hat, ja entfalten musste: Was kommt da auf mich zu?
Worauf muss ich mich einstellen? Wie kann ich mein Leben sichern? Und später
dann: Worauf kann ich mich in Zukunft verlassen? Was wird mich tragen?
Die Vorhersage der Zukunft ist eine uralte Praxis der Menschheit. Die Frage
nach der Zukunft wurde als lebensnotwendig empfunden, und war es ja auch.
Sie wurde in vielen verschiedenen Formen praktiziert: Den Stand der Sterne
beobachten, Wettererscheinungen registrieren, Orakel befragen, aus dem
Vogelflug oder aus den Eingeweiden von Opfertieren lesen, auf die Worte von
Propheten hören. Dies alles sind Kulturtechniken zur Vorhersage des
Kommenden. Und je weiter entwickelt eine Kultur, umso differenzierter und
komplexer ihre Prognose-Praxis.
Auch die modernen Wissenschaften sind nichts anderes als eine einzige Frage
nach der Zukunft und ihrer Bewältigung in vielen komplexen Gestalten.
Ob als Klima- oder Demenzforscher, ob als Historiker oder Physiker, sie alle
befragen das Vorliegende oder Zurückliegende mit ihren Methoden nach dem,
was kommt oder kommen könnte, der Befund soll Auskunft geben über das, was
zu erwarten ist.
Auch der christliche Glaube und die christliche Theologie als Wissenschaft
befragen das gegebene Leben unter einem ganz spezifischen Blickwinkel zur
Deutung vergangener Erfahrung. Sie blicken zum Himmel und denken an den
vergangenen und an den Tag, der angebrochen ist, sie schauen auf die kleinen
Kinder – und sagen: „Siehe, er macht alles neu!“
Es ist ein riskantes Modell, aber man kann seine prinzipielle Zukunftsfähigkeit
durchaus plausibel machen: Mit anderen Worten: Man kann demonstrieren,
worin es sich von anderen Modellen unterscheidet und was seine besondere
Zukunftsfähigkeit ausmacht.
Der Prophet, der im Auftrag Gottes spricht: „Fürchte Dich nicht, denn ich habe
dich erlöst, Du bist mein!“ - dieser Prophet sagt mit diesen Worten über die
Zukunft: Es liegt letztlich nicht in der Macht der Menschen, die eigene Zukunft
positiv zu gestalten. Vernichten kann sich die Menschheit mit ihren
Handlungsmöglichkeiten durchaus, und auch neues Leben zu synthetisieren ist
inzwischen denkbar und wird auch praktiziert … eine lebensvolle und
lebenswerte Zukunft hingegen findet der Mensch nur, wenn er sich von seiner
angeborenen Selbstbezogenheit und der Furcht um sich selbst lösen lässt, wenn
er sich Gott – und damit der Kraft der Liebe anvertraut.
Du kannst die Zukunft nicht vorhersehen und hast sie nicht selbst in der Hand,
und niemand kann das. Aber wer sich auf Gottes Zusage verlässt, ich stehe Dir
bei, der macht sich nicht von Menschenmacht abhängig und auch nicht von
seiner Furcht– und geht gerade deshalb der Zukunft freier entgegen.
Gott gebe uns die Kraft gegen alle Sorge vor dem Neuen und Ungewissen zu
vertrauen, dass sein Geist uns gemeinsam in die Zukunft führt. Amen.
Lied: 351, 9+13
Abkündigungen
Lied: 461 (zweimal)
Abendmahl
Friedensbitte: 421
Nachspiel: Johann Sebastian Bach (1685 - 1750)
Choralbearbeitung zu „Jesus Christus, unser Heiland, der von uns
den Gotteszorn wandt“ BWV 665 für Orgel
Chor der Apostelkirchengemeinde
Kantorei und Orchester der Schloßkirche
Leitung und Orgel: Miguel Prestia
Liturgie und Predigt: Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost