Literatur als Mythenfabrik : I.V. Stalin als literarische Figur in
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Literatur als Mythenfabrik : I.V. Stalin als literarische Figur in
Literatur als Mythenfabrik I.V. Stalin als literarische Figur in ausgewählten Werken der Stalinzeit Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät der RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM vorgelegt von Ursula Justus Danksagung Ich möchte allen danken, die mich bei der Vorbereitung und Fertigstellung meiner Promotion unterstützt haben. Mein Dank gilt meinen Betreuern Prof. Dr. Bernd Uhlenbruch und Prof. Dr. Karl Eimermacher. Mein persönlicher Dank gilt meinen Freunden und meiner Familie. Mein besonderer Dank gilt Dr. Isabelle Guntermann und Dr. Henrike Schmidt für die kritische und zugleich freundschaftliche Betreuung nicht nur der Arbeit. Ohne Peter Brüggemann wäre diese Arbeit nicht erschienen. Die Promotion ist durch ein Stipendium des Landes Nordrhein-Westfalen und der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert worden. 1 Einleitung 1.1 Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Ästhetik 1.2 Monopolisierung des literarischen Wortes 1.2.1 Kulturrevolution und 1. Fünfjahresplan 1.2.2 Die Kanonisierung der Widerspiegelungstheorie 1.2.3 Realisierung eines literaturpolitischen Programms 1.2.4 Sozialistisch-realistische Fiktion 1.2.5 RAPP 1.2.6 Sozialer Auftrag 1.2.7 Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie 1.2.8 Realismus als formale Strategie einer ideologischen Ästhetik 1.2.9 Die Resolution von 1932 – die endgültige Verstaatlichung der Literatur 1.2.10 Gor’kij als Gründervater des sozialistischen Realismus 1.2.11 «Символ» und «образ» 1.2.12 Literatur und Propaganda 1.2.13 Die Diskussion um die Sprache 1.2.14 Kanonisierung des sozialistischen Realismus 1.2.15 Erster Schriftstellerkongreß 1.2.16 1936 – Wechsel des Kulturmodells 1.2.17 Literaturkritik 1.2.18 Normierung der Rezeptionsprozesse 1.2.19 Kanonisierung der literarischen Biographie 2 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб (Оборона Царицына) oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 2.1 Zur Funktion des historischen Romans 2.2 Literarische Fiktion als Geschichte 2.3 Der ideale Leser 2.4 Die literarische Transformation: das historische Objekt wird zum literarischen Subjekt 2.5 Entstehungsgeschichte versus Entstehungslegende 2.5.1 Rekonstruktionsversuch 2.5.2 Die Legende vom fehlenden historischen Material 2.5.3 Die historischen Ereignisse: Stalins Einsatz in Caricyn 2.5.4 Faktische versus literarische Rekonstruktion der Vergangenheit 2.5.5 Die Inszenierung historischer Authentizität 2.6 Die Erzählung als literarischer Text 2.6.1 Повесть oder Roman: Die bedeutungsstiftende Funktion des Genres 2.6.2 Die ästhetische Funktion der Erzählung 2.6.3 Erste Ansätze einer Mythopoetik 2.7 Zur Funktion realistischer Schreibverfahren 2.7.1 Lineare Sujetfügung 2.7.2 Panoramisierung der Geschichte 2.7.3 Zeitraffung und szenische Darstellung 2.7.4 Die Abwesenheit einer narrativen Instanz 2.7.5 Abstrakter Erzähler 2.7.6 Nachträglich fingierte Handlungsgegenwart 1 1 6 6 8 10 13 14 17 19 21 22 23 24 25 26 27 29 31 32 33 33 35 35 45 48 49 51 51 55 58 60 64 66 66 70 74 79 82 83 84 86 87 89 Inhaltsverzeichnis 2.7.7 Realistische Motivierung der literarischen Fiktion 2.7.8 Kontingente Details 2.8 Literarische Wirklichkeitsillusion 2.8.1 Wirklichkeitsillusion durch metonymische Repräsentation 2.8.2 Wirklichkeitsillusion durch Orts- und Zeitangaben 2.8.3 Wirklichkeitsillusion durch Sprache und Stilebenen 2.8.4 Erzählperspektive 2.8.5 Erzählhorizont 2.8.6 Erzählsicht 2.8.7 Narrative Distanz 2.8.8 Stalin als literarische Figur 2.8.9 Die Erkenntnisfunktion der literarischen Erzählung 2.9 Der Mythos vom Verschwinden des Autors 2.10 Versuch einer Erzählanalyse 3 Stalin an der Südfront: Textanalyse 3.1 Ein Fall für zwei: Lenin, Stalin und der Mythos von der gleichberechtigten Führerschaft 3.1.1 Die Inszenierung des Privaten: Der private Raum als Mittel der Figurengestaltung 3.1.2 Das Führerporträt: die äußere Beschreibung der Figur als Mittel der Figurencharakteristik 3.1.3 „Ohne Worte“: Zur Bedeutung der Figurenrede 3.2 Polit-Büro: Die politische Führerschaft Lenins und Stalins 3.2.1 Stalin ergreift das Wort: Rollenkonfiguration und Figurenrede 3.2.2 Stalin ergreift die Initiative: Figurenrede und innere Handlung 3.2.3 Der Mythos von der Allwissenheit Stalins: Figurenrede und äußere Handlung 3.3 Gruppenbild mit Stalin: Die endgültige Hierarchie der literarischen Charaktere 3.4 Der Mythos vom Oberbefehlshaber oder Der militärische Konflikt 3.4.1 Der Smol’nyj als Kommandozentrale: Narrative Figurenexposition 3.4.2 Stalin als militärischer Führer:Diskrepante Informiertheit als Verfahren der literarischen Figurengestaltung 3.5 „Umzug“: Die Uniform als Maske 3.6 Die historische Mission: Stalin rettet die Revolution 3.6.1 Endgültige Figurenkonstellation 3.6.2 Stalins Plan zur Rettung Caricyns: Seine Entsendung an die Front 3.6.3 Das Bild des Führers 3.7 „Tat-Orte“: Stalin in Caricyn 3.7.1 Figurenexposition und literarischer Konflikt 3.7.2 Lizenz zum Handeln: Indirekte Figurenexposition 3.7.3 Ankunft und narrative Figurenbeschreibung 3.7.4 Die Aura der Undurchdringlichkeit 3.7.5 Stalin als Sonderbevollmächtigter der Regierung: Erzähler- und Figurenrede 3.7.6 Stalin in Aktion: Dialogische Figurengestaltung II 90 92 93 93 94 96 99 100 101 104 105 109 109 112 121 121 121 127 129 134 134 138 138 141 143 143 145 150 152 152 159 163 164 164 167 171 172 175 180 Inhaltsverzeichnis III 3.7.7 Erster Sieg: Stalin regelt die Lebensmittelversorgung 3.8 Rollenwechsel: Stalin als Sonderbevollmächtigter an der militärischen Front 3.8.1 Ein weiterer Lebensmitteltransport: äußere Handlung und Figurencharakteristik 3.8.2 Stalin als militärischer Führer 3.8.3 Stalins eiserne Hand 3.9 Rollenwechsel: Stalin als Oberkommandierender an der Südfront 3.9.1 Auftrittsvorbereitung 3.9.2 Der situative Kontext 3.9.3 Indirekte Figurencharakterisierung 3.9.4 Inszenierte Mündlichkeit 3.9.5 Imaginäres Handeln 3.9.6 Gründung der Roten Armee 3.9.7 Rekonstruktion einer mythischen Identität 3.9.8 Literarische Identitätsstiftung 3.9.9 Die nachgeordneten Charaktere 3.9.10 Rede und Befehl 3.10 Stalin und Vorošilov inspizieren die Front 3.10.1 Überfall auf offener Strecke 3.10.2 Lagebericht 3.10.3 Stalin als militärischer Führer 3.10.4 Schauplatzwechsel 3.10.5 Auftrittsvorbereitung und Rätselspannung 3.10.6 Stalin und Vorošilov an der Front 3.10.7 Stalin als Herr der Technik 3.10.8 Stalin als militärischer Taktiker 3.10.9 Stalin und Vorošilov in Gefahr 3.10.10 Ein weiteres Telegramm 3.11 Die Verteidigung Caricyns 3.11.1 Schauplatz und Figur 3.11.2 Legitimation einer Figurenrolle 3.11.3 Stalin reorganisiert den örtlichen Kriegsrat 3.11.4 Stalin deckt den konterrevolutionären Verrat auf 3.11.5 Stalin im Schützengraben 3.11.6 Stalin verkündet den Sieg 4 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 4.1 Entstehung und Vergleich 4.2 Dokumentarische Fiktion 4.3 Zur Funktion des Autors 4.4 Die Bedeutung der Dramen 4.5 Die Dramen im Kontext der sowjetischen Geschichtsschreibung 4.6 Text und Bild 4.6.1 Bühnenbild und Malerei 4.6.2 Die ikonographische Darstellung Lenins und Stalins 4.7 Die Dramen im Kontext der Revolutionsfeierlichkeiten 183 192 192 201 208 211 213 214 215 217 217 218 219 222 224 225 225 225 227 228 229 230 233 234 236 238 243 244 244 246 247 249 251 258 261 261 267 270 273 276 279 284 290 291 Inhaltsverzeichnis IV 4.8 ‚Come back’: Die Rückkehr des realistischen Theaters 4.8.1 Realistisches Theater als Disziplinierung des Blicks 4.8.2 Realistisches Theater als Bildner einer idealen Ich-Identität 4.8.3 Realistisches Theater als Inszenierung einer empirischen Wirklichkeit 4.9 Die Dramentexte als Illusionsmaschine 4.9.1 Die Verknappung des Narrativen 4.9.2 Die Objektivierung von Raum und Zeit 4.9.3 Panoramastruktur 4.9.4 Die Raum-Zeit-Struktur als Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung 4.10 Dialogische Figurengestaltung 4.10.1 Verbale und non-verbale Informationsvergabe 4.10.2 Gegenwart der dramatischen Fiktion 4.10.3 Die Postulate des Sozialistischen Realismus als Agenten der Diskurspolizei 4.11 Stalin als historischer Held 4.12 Dramatischer und historischer Konflikt 4.13 Die Inszenierung der Revolution als politische Legitimation: Theater und Revolutionsfeierlichkeiten II 4.14 Das dramatische Personal 4.14.1 Das Volk als Legitimationschiffre 4.14.2 Der ideale Herrscher 4.15 Die Allgegenwart Stalins 4.15.1 Nachahmung von Handlung versus Nachahmung handelnder Personen 4.15.2 Handlungsstarke versus handlungsschwache Szenen: handlungsorientierte versus dialogisch gestaltete Figurencharakteristik 4.15.3 Die Einheit der dramatischen Handlung 4.16 Zur ästhetischen Funktion 4.17 Die dramatische Figur als szenisch realisierter Charakter 4.17.1 Lenin und Stalin im Vergleich 4.17.2 Die sprachliche Textur der Figuren 4.17.3 Entfiktionalisierungsstrategien 4.17.4 Die Entgrenzung von Rolle, Figur und Person 4.17.5 Die Mehrdeutigkeit des dramatischen Zeichens: Schauspieler und Figur 4.17.6 Der Topos der Undarstellbarkeit 4.17.7 Enigmatische Figur 4.17.8 Happy-End 5 Der Held auf der Bühne: Dramenanalysen 5.1 ‚Stalin is on the line’: Konstantin Trenevs Drama На берегу Невы 5.1.1 Zur Inszenierung 5.1.2 Zusammenfassung 5.1.3 Stalin an der Front 5.1.4 Stalin am Telefon 294 300 301 302 305 305 306 307 308 308 310 311 312 314 315 317 320 323 326 329 331 335 338 340 342 344 348 350 353 355 358 360 360 362 362 362 363 365 366 Inhaltsverzeichnis V 5.2 Stalin verabschiedet die Soldaten: Nikolaj Pogodins Drama Человек с ружьем 5.2.1 Inszenierung und Zusammenfassung 5.2.2 Indirekte Figurenexposition: Stalin am Telefon 5.2.3 Auftritt: Stalin betritt die Bühne 5.3 Stalin garantiert den Sieg: Aleksej Tolstojs Drama Путь к победе 5.3.1 Inszenierung und Zusammenfassung 5.3.2 Kompositionsstruktur 5.3.3 Stalin auf der Bühne: Ernennung zum Oberkommandierenden an der Südfront 5.3.4 Schauplatzwechsel: Stalin an der Front 5.3.5 Der ideale Feldherr 5.4 Eine neue Zeit beginnt: Nikolaj Pogodins Drama Das Glockenspiel des Kreml 5.4.1 Inszenierung und Zusammenfassung 5.4.2 Stalin im Kreml’ 5.4.3 Stalin als politischer Führer 5.4.4 Stalin als dramatische Figur 5.5 Die Apotheose Stalins: Vsevolod Višnevskijs Drama Незабываемый 1919-й 5.5.1 Inszenierung und Zusammenfassung 5.5.2 Prolog: Lenin und Stalin im Kreml’ 5.5.3 Stalin in Petrograd 5.5.4 Stalin als Oberkommandeur der Roten Armee 5.5.5 Stalin an der Front 5.5.6 Epilog 5.6 Baumeister einer neuen Wirklichkeit: Michail Kozakovs und Anatolij Mariengofs Drama Остров великих надежд 5.6.1 Literaturpolitischer Kontext und Figurenkonzeption 5.6.2 Zusammenfassung 5.6.3 Stalin in Gorki 5.6.4 Stalin als militärischer Führer 5.6.5 Stalin als politischer Führer 5.6.6 Stalin im Kreml’ 5.6.7 Stalin als Baumeister einer neuen Wirklichkeit 6 Über sowjetische Folklore 6.1 Die Kanonisierung der sowjetischen Folklore 6.2 Das Postulat der Volkstümlichkeit 6.3 Folklore als Ideal einer ursprünglichen Literatur 6.4 Folklore als ursprünglicher Realismus 6.5 Folklore als ursprüngliche Chronik 6.6 Folklore als Ausdruck einer ursprünglichen Erinnerung 6.7 Die ursprüngliche Gemeinschaft als Kontrollinstanz literarischer Texte 6.8 Das Zeichenverständnis der sowjetischen Folklore 6.9 Die Mündlichkeit der sowjetischen Folklore 6.10 Die Institutionalisierung der sowjetischen Folklore 372 372 374 379 382 382 385 386 394 402 406 406 409 413 416 423 423 427 438 452 461 468 475 475 478 481 485 487 493 505 510 510 511 513 514 515 517 518 519 520 521 Inhaltsverzeichnis VI 6.11 Die Vereinheitlichung der sowjetischen Folkloreforschung 6.12 Die Vereinheitlichung der Folklore 6.13 Folkloristische Mimesis 6.14 Authentifizierungsstrategien 6.15 Literarische Erlösung 6.16 Verklärung Stalins 6.17 Norm versus Inspiration 7 Mythische Transfiguration: Stalin in der Folklore der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts 7.1 Einleitung 7.2 Epos und Epen 7.3 Mündlichkeit versus Schriftlichkeit 7.4 Die Huldigung Stalins als Eintrag in das historische Gedächtnis 7.5 Die Sänger aus den kaukasischen und mittelasiatischen Republiken 7.6 Erstellen eines Bilder- und Formelkatalogs 7.7 Stalin als ewige Sonne 7.8 Stalin als Adler 7.9 Stalin als Vater 7.10 Stalin und die Natur 7.11 Der Blick auf die eigene Geschichte 8 Literatur- und Abbildungsverzeichnis 8.1 Primärliteratur 8.2 Besprechungen, Rezensionen und Monographien 8.3 Sekundärliteratur 8.4 Abbildungsverzeichnis 521 523 524 525 525 527 527 529 529 532 533 536 539 541 543 550 551 552 552 554 554 554 560 581 1 Einleitung 1.1 Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Ästhetik Nicht nur der grundlegenden Studie Ernst Auerbachs über den mimetischen Realismus liegt ein Realismuskonzept zugrunde, das von einem soziologisch-inhaltlichen Ansatz getragen wird.1 Auch das Literaturverständnis von Karl Marx und Friedrich Engels setzt sich darüber hinweg, daß die von ihnen bevorzugte Darstellung der Wirklichkeit keine Übertragung der außerliterarischen Realität in den literarischen Text meint, sondern die Schaffung einer Wirklichkeit, die durch bestimmte literarische Verfahren überhaupt erst in Szene gesetzt wird.2 Da erkenntnistheoretischer und ästhetischer Realismus in der sich auf Marx und Engels berufenden Ästhetik zusammenfallen, gibt der literarische Realismus in seiner Interpretation durch die marxistische Literaturwissenschaft einen ästhetischen Normbegriff vor, dessen vornehmlich ideologisch begründetes Abbildungsverhältnis die Bedeutung der Form in den Hintergrund drängt.3 Denn obwohl Friedrich Engels in seinem vielzitierten Brief an Margaret Harkness Detailtreue und eine möglichst genaue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Bedingungen fordert, und damit solche literarischen Verfahren wie Detailgenauigkeit, Plausibilität, Kausalität und Linearität des Sujets vorwegzunehmen scheint, verbleibt die gesamte marxistisch-leninistische Literaturtheorie auch in ihrer sozialistisch-realistischen Lesart bei einer rein inhaltlichen Bestimmung von Literatur: „[T]he spokesmen for socialist realism make no attempt to distinguish the socio-political content of a work from its aesthetic merits; unlike Marx, they do not admit the existence of an autonomous aesthetic component of art.“ (Bullitt 1976, 74) Dieses Ignorieren des Poetischen dient in erster Linie dazu, die Illusion einer außerliterarischen Wirklichkeit zu erzeugen und die Konstruktion der literarischen Textwelt zu verdecken. Dabei wird der Blick darauf verstellt, daß der literarische Realismus nicht rein inhaltlich zu bestimmen ist, sondern immer auch eine formale Sprache spricht, deren literarische Verfahren den Eindruck einer mimetischen Repräsentation von Wirklichkeit überhaupt erst hervorrufen: „Sie [die Literatur, U.J.] ist viel komplexer, Produktion einer bestimmten Realität, die keineswegs autonom und ursprünglich ist (darauf kann man gar nicht genug insistieren), vielmehr Produktion einer materiellen Realität und zugleich eines bestimmten gesellschaftlichen Effekts [...]. Literatur ist daher nicht Fiktion, vielmehr Produktion von Fiktionen, oder besser: Produktion von fiktionalen Effekten (zunächst von materiellen Mitteln, um fiktionale Effekte zu produzieren). Entsprechend ist Literatur als ‚Produkt der Widerspiegelung des Lebens einer gegebenen Gesellschaft im Bewußtsein’ [...] keine ‚realistische’ Wiedergabe, selbst wenn sie das sein möchte und sich so ausgäbe, denn auch in diesem Fall ließe sie sich nicht auf die Simplizität des Abbildes reduzieren. Sondern der literarische Text produziert in Wahrheit einen Realitätseffekt.“ (Balibar/Macherey 1974, 214f., Hervorhebungen im Original, U.J.) Um eine marxistische Ästhetik zu generieren, werden zu Beginn der dreißiger Jahre die analektisch zusammengetragenen Zitate von Marx und Engels sowie die Äußerungen Auerbach, Erich * 9. 11. 1892 Berlin, † 13. 10. 1957 Wallingford, Connecticut/USA, Literaturwissenschaftler. Zu der Bedeutung der Studie Auerbachs für die Definition des literarischen Realismus vgl. Gebauer/Wulf 1992, 18ff. 2 Hüttel 1977, 58f. 3 Aust 1977, 8 und 11. 1 Einleitung 2 Lenins zu Kunst und Literatur aus ihrem kontextuellen Zusammenhang herausgerissen und in einem tautologischen Verfahren zu einer sich selbst erfüllenden Theorie verdichtet.4 In dieser Theorie ist nicht mehr die unterschiedliche Inhaltlichkeit der ästhetischen Konzepte von Bedeutung, sondern ihre nach jeglicher Entkontextualisierung vermeintlich identische Aussage.5 Alle Versuche der sowjetischen Literaturwissenschaft, die von ihr geforderte Parteilichkeit von Kunst und Literatur in einer marxistischen Literaturtheorie zu begründen, scheitern an der Tatsache, daß Marx in der Einleitung zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie die Theorie einer zweckfreien Kunst entwirft, die keinerlei Anspruch darauf erhebt, erkenntnistheoretische oder wissenschaftliche Aufklärung zu leisten.6 Die ideale Kunst, die für Marx durch die griechische Antike repräsentiert wird, übernimmt keine explizit heuristische oder wahrheitsstiftende Funktion und unterliegt allein den Gesetzen der Kunst.7 Die so definierte Freiheit der Kunst steht der im Zusammenhang einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie geforderten Erkenntnisfunktion literarischer Texte entgegen: Während die Wissenschaft für Marx mit dem ihr eigenen System logischer Schlüsse die Wahrheit zu erkennen sucht, gesteht er der Kunst ein freies Spiel der Gedanken zu, ohne daß diese auf Folgerichtigkeit und Schlüssigkeit ihrer Argumente achten müsse. Einzig aus dem Verhältnis von wissenschaftlicher Erkenntnis und künstlerischer Produktion ergibt sich ein Bezug von Wahrheit und Kunst, der in der nachträglichen Kanonisierung einer marxistischen Ästhetik dann vereinnahmt werden kann. So zerfällt die Kunst nach Marx in Kunstwerke, welche die in der Wissenschaft entdeckten Wahrheiten veranschaulichen und bebildern und solche, welche sie verschleiern, idealisieren oder verzerren. Damit wird eine erste Verknüpfung von Kunst und Wahrheit hergestellt, die für den gesamten Diskurs des Sozialistischen Realismus bestimmend bleibt.8 Seinen Ansatz weitet Marx in seinem Brief an Ferdinand Lasalle zu einem Literaturverständnis aus, das sich auch auf die Wahl der künstlerischen Mittel bezieht. Deren Auswahl richtet sich, so Marx, danach, mit Hilfe welcher ästhetischer Verfahren die Wahrheit des dargestellten Gegenstandes am besten zur Geltung gebracht werden kann.9 Dieser Verflechtung von literarischer Produktion und formaler Gestaltung liegt jedoch noch kein realistisches Kunstverständnis zugrunde. Im Mittelpunkt steht vielmehr ein Kunstbegriff, der in erster Linie durch die Kategorie des Schönen bestimmt wird und nicht selten Anklänge einer idealistischen Kunstkonzeption erkennen läßt. Der aus seinen Schriften abgeleitete Wirklichkeitsbezug von Kunst und Literatur ist ein rein ideologisches Konstrukt.10 Kunst hat nach Marx weder die Aufgabe, die Wirklichkeit zu erkennen, noch Ausdruck einer ideologisch vorgeschriebenen Wirklichkeit zu sein. All dies sind Eigenschaften einer marxistischen Ästhetik, die nachträglich in Vgl. hierzu Kemp-Welch 1991, 153ff. sowie Mänicke-Gyöngyosi 1979, 83f. und Klark 2000, 352f. Daß auch dadurch keine einheitliche Auffassung der marxistischen Ästhetik entsteht, zeigt Klark 2000, 358. 6 Vgl. hierzu Jodl 1989, 36ff. 7 Jodl 1989, 42ff. Eine Verbindung von Produktionsverhältnis und Kunstproduktion besteht dabei nur insofern, als daß die ideale Kunst nach Marx auf zweckfreie Produktionsverhältnisse angewiesen ist, die es seiner Meinung nach einzig in der griechischen Antike gegeben hat. 8 Vgl. hierzu Jodl 1989, 48ff. 9 Jodl 1989, 82ff. 10 Jodl 1989, 27 sowie Bullitt 1976, 53, die gleich zu Beginn ihres Artikels schreibt: „There is strong evidence, moreover, to suspect, that the theory of socialist realism fundamentally corrupts a genuinely Marxist approach to cultural activity.“ 4 5 Einleitung 3 die theoretischen Ansätze hineingetragen worden sind.11 Aus dem von ihm beschriebenen Verhältnis von Kunst und Wahrheit läßt sich noch keine marxistische Ästhetik ableiten. Sie legt lediglich einen Referenzrahmen von Kunst und Wirklichkeit fest, der später dann zu einem erkenntnistheoretischen Literaturverständnis ausgebaut wird.12 Erst in den Ausführungen Friedrich Engels zu Kunst und Literatur kommt es zu einer ersten Verknüpfung von Literatur und außerliterarischer Wirklichkeit, die zu einem realistischen Literaturverständnis umgedeutet werden kann.13 Anders, als von der sowjetischen Literaturwissenschaft behauptet, ist das von Engels formulierte Verständnis künstlerischer Texte nicht mit den Ausführungen von Karl Marx identisch, sondern steht diesem in vielen Punkten entgegen.14 In seinem Verständnis von Kunst und Literatur steht nicht länger das Verhältnis von Text und innerer Wahrheit des Kunstwerks im Mittelpunkt, sondern die Darstellung der historischen Realität im literarischen Text. Er bewertet das literarische Kunstwerk nach dem Blick, den es auf die außerliterarische Wirklichkeit wirft, und fordert damit eine Ausrichtung der Literatur auf außerliterarische Ziele, die von der sowjetischen Literaturwissenschaft zu einem erkenntnistheoretischen Literaturverständnis ausgebaut wird. Indem Engels von der Literatur erwartet, daß sie das Typische der außerliterarischen Realität zeige, verfolgt er ein literarisches Programm, das zugleich die zu einem der zentralen Momente der marxistisch-leninistischen Literaturtheorie avancierenden Ideologisierung der Wirklichkeit vorwegnimmt und die Rückbindung des literarischen an den ideologischen Text erlaubt.15 Mit dieser Festlegung der Kunst auf eine außerliterarische Darstellungsfunktion begründet Engels aber auch eine Dominanz des Inhalts über die Form, die mit der abschließenden Kanonisierung des Sozialistischen Realismus zum bestimmenden Merkmal der gesamten sowjetischen Literatur werden wird.16 Dadurch, daß das literarische Wort von Engels an seiner Übereinstimmung mit der außerliterarischen Wirklichkeit gemessen wird, erhebt er den Begriff der historischen Wahrheit zu einem der zentralen literaturtheoretischen Begriffe und ordnet ihr die Form als eine Funktion des Textes unter, die lediglich dazu dient, die historische Wahrheit zum Ausdruck zu bringen.17 In den Ausführungen von Friedrich Engels erscheint Literatur als Instrument, mit dessen Hilfe die objektiven historischen Zusammenhänge aufgedeckt und unabhängig von der ideologischen Weltanschauung des Autors dargestellt werden können.18 Damit weist er der Kunst jene mimetische Funktion zu, die zu Beginn der dreißiger Jahre zu einem der wichtigsten Paradigmen der marxistisch-leni- Jodl 1989, 85f. Jodl 1989, 59ff. 13 Jodl 1989, 91ff. 14 Jodl 1989, 89. 15 Zur Bedeutung des Typischen vgl. Günther 1984, 32ff. sowie Kneip 1995, 79ff. 16 Vgl. hierzu Jodl 1989, 111 sowie Hüttel 1977, 19ff., der das in der marxistischen Ästhetik festgelegte Verhältnis von Form und Inhalt so beschreibt, daß der Inhalt als Abstraktum fungiert, das durch die Form lediglich konkretisiert wird. 17 Vgl. hierzu Hüttel 1977, 30ff. sowie Jodl 1989, 111, die darauf hinweist, daß in den theoretischen Schriften Engels stets das Was über das Wie dominiert und die formale Seite des Kunstwerks lediglich als Vehikel zur Darstellung des Inhalts dient. 18 Vgl. hierzu Jodl 1989, 120. Hier ist vor allem der Brief an Margret Harkness zu nennen, in dem Engels sich über den Roman Comédie humaine von Balzac äußert. Er beschreibt den Text als realistischen Roman, in dem Balzac entgegen seiner eigenen Weltanschauung den Untergang des Adels beschreibt. 11 12 Einleitung 4 nistischen Literaturtheorie wird.19 Indem sich Engels in der Auseinandersetzung mit Eugene Sue’s Roman Les mystères de Paris gegen eine literarische Praxis wendet, in der die Darstellung der Wirklichkeit von der moralischen Bewertung des Autors überlagert wird, verschiebt er den literarischen Blick von der ästhetischen Seite der Texte zu der in ihnen vorgestellten Wirklichkeit.20 Damit begründet er einen Realismusbegriff, der sich in erster Linie auf den Inhalt des Kunstwerks bezieht und realistisches Schreiben als Form ignoriert. Die Kanonisierung einer marxistischen Literaturtheorie findet ihren Abschluß in der Vereinheitlichung der ästhetischen Ansichten Lenins und ihrer Ausweitung zu einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie. So ist es der von Lenin in Auseinandersetzung mit den rein philosophischen Thesen Hegels und Feuerbachs geforderte Praxisbezug, der die Literatur in ein Instrument zur Ästhetisierung der Wirklichkeit verwandelt.21 Begründen Marx und Engels in ihren Texten eine Ästhetik, in welcher der Inhalt die Form dominiert, ist es vor allem die Ende der zwanziger Jahre einsetzende Kanonisierung der Schriften Lenins, die das Postulat der Widerspiegelung zusammen mit dem der Parteilichkeit in den literarischen Diskurs der zwanziger Jahre überträgt und die auf die Ausführungen von Friedrich Engels zurückgehende Kanonisierung eines utilitaristischen Literaturverständnisses vervollständigen.22 In seiner Auseinandersetzung mit dem Empiriokritizismus des frühen 20. Jahrhunderts, der jedwede Objektivität verneint und davon ausgeht, daß die Welt nur in Abhängigkeit der menschlichen Erfahrung erkennbar ist, erneuert Lenin in seiner 1908 verfaßten Rede „Materialismus und Empiriokritizismus“ die Theorie einer objektiven, dem menschlichen Denken vorgängigen und den Gesetzen des historischen Materialismus folgenden Wirklichkeit.23 In seiner Interpretation des historischen Materialismus stellt er eine Identität des Objekts mit einer ihm vorgängigen Wirklichkeit her, aus dessen Erkenntnisprozeß die Subjektseite vollständig ausgegrenzt ist.24 Damit formuliert er einen erkenntnistheoretischen Determinismus, in dem die von ihm formulierte Theorie der Widerspiegelung zum grundsätzlichen Prozeß menschlicher Erkenntnis wird und nicht nur das literarische Kunstwerk bestimmt. Dieses Konzept schließt die Unmöglichkeit pluraler Auffassungen über ein und denselben Gegenstand mit ein und führt so zu einer Verengung des literarischen Schaffens, das Anfang der dreißiger Jahre zu einer Entwertung aller anderen literarischen Programme führt.25 Lenin formuliert die Theorie eines dialektisch begründeten Weltverständnisses, in dessen Zusammenhang die Wirklichkeit als objektive, dem menschlichen Denken immer schon vorgängige und allein den Gesetzen des histori- Vgl. hierzu Jodl 1989, 125 sowie Hüttel 1977, 25 und 36. Bisztray 1978, 24. In Anlehnung an Schriftsteller wie Flaubert, Balzac oder Otto Ludwig und die von ihnen geführten Diskussionen um einen literarischen Realismus werden solche Merkmale wie genaue Beobachtung, Wahrhaftigkeit der Darstellung und die Abwesenheit des Autors zu zentralen Kategorien einer auf Marx und Engels rekurrierenden Literatur. Im Gegensatz zu dem zu Beginn der dreißiger Jahre kanonisierten Konglomerat sehen diese Autoren die Funktion einer realistischen Literatur in der Wiedergabe einer bestimmten sozialen Wirklichkeit, die frei von jedem vorgeordneten Ziel und jeder vorgefertigten Meinung des Autors sein soll: vgl. hierzu Bisztray 1978, 28. 21 Vgl. hierzu Hüttel 1977, 16. 22 Vgl. hierzu Jodl 1989, 123ff. 23 Vgl. hierzu Jodl 1989, 157ff. sowie Klingender 1975, 38ff. 24 Jodl 1989, 163. 25 Vgl. hierzu Jodl 1989, 168 sowie Hüttel 1977, 41. 19 20 Einleitung 5 schen Materialismus unterworfene Realität erscheint.26 In seinen Schriften konstatiert er eine von der menschlichen Wahrnehmung unabhängige Wahrheit, womit er den Erkenntnisprozeß von dem erkennenden Subjekt auf das zu erkennende Objekt verschiebt.27 In seiner Theorie bedeutet jede nicht auf den Gegenstand selbst gerichtete Erkenntnisleistung eine Verfremdung des Objekts und damit einer Verfälschung der Wirklichkeit selber: Da seine Interpretation der literarischen Widerspiegelung die Frage nach den der Erkenntnis zugrundeliegenden Instrumentarien ausschließt, wird durch die Kanonisierung seiner Schriften ein Literaturverständnis rekrutiert, das die Frage nach der literarischen Form auf die Frage nach der Übereinstimmung von Text und Wirklichkeit verschiebt.28 In diesem Verständnis von Literatur wird die materialistisch fundierte Erkenntnis der Realität zur wichtigsten Voraussetzung künstlerischen Schaffens und die als jeder Literatur vorgängig gedachte Wirklichkeit zum zentralen literarischen Gegenstand.29 Da die leninistische Literaturtheorie davon ausgeht, daß die Welt erkennbar und beschreibbar ist, legt sie den Grundstein zu einer Literaturtheorie, in der Kunst und Literatur nicht länger als sekundäre Wirklichkeitsproduzenten erscheinen, sondern zum Abbild einer ihr vorgängigen Realität umgedeutet werden. Mit der Kanonisierung der Leninschen Orthodoxie wird die ästhetische Überhöhung der Wirklichkeit in ein System ästhetischer Zeichenhandlungen überführt, in dem sie als Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit erscheint und so die Fiktion einer objektiven Widerspiegelung begründet.30 Da künstlerische Produktivität im Zusammenhang der von Lenin vor allem in seinen Artikeln über die Texte Lev Tolstojs vermittelten Widerspiegelungstheorie nichts anderes meint, als die Herstellung von Artefakten, vermittels derer objektive Erkenntnisse über die Wirklichkeit fingiert werden können,31 entsteht zusammen mit der Kanonisierung einer Widerspiegelungstheorie zugleich die Illusion eines literarischen Schaffens, das den Anschein erweckt, als ob die außerliterarischen historischen wie sozio-ökonomischen Prozesse in den literarischen Text übertragen werden können. In der Festlegung auf eine primär erkenntnisstiftende Funktion verliert das literarische Wort seine sekundär modellierende Funktion und wird stattdessen zur ideogrammatischen Repräsentation einer Wirklichkeit, in der jede ästhetische Überhöhung die mimetische Widerspiegelung der außerliterarischen Wirklichkeit verzerrt.32 Mit der zur zentralen literarischen Kategorie erhobenen Widerspiegelungstheorie wird eine Entsemiotisierung der Welt betrieben, welche die arbiträre Zeichenhaftigkeit von Kunst und Literatur aufheben soll. So wird mit der Etablierung einer leninistischen Literaturtheorie ein Literaturverständnis offizialisiert, dessen Normen den literarischen Diskurs vereinheitlichen und seine Indienstnahme für eine zentral gelenkte Fiktionalisierung der Wirklichkeit vorbereitet. Jodl 1989, 157ff. Vgl. hierzu Jodl 1989, 163 sowie Klingender 1975, 38ff. 28 Daß es sich auch hierbei um eine nachträgliche Kanonisierung handelt zeigt Bullitt 1976, 66. 29 Hüttel 1977, 53. 30 Vgl. hierzu auch Balibar/Macherey 1974, 200ff. 31 Hüttel 1977, 53ff. 32 Zur sekundär modellierenden Funktion künstlerischer Text vgl. Lotman 1973, 22ff. und Lotman 1978, 67ff sowie Obrecht 1990, 41ff. Zur ideogrammatischen Repräsentation der Wirklichkeit: Jakobson 1923, 377. 26 27 Einleitung 6 Entgegen den Behauptungen der sowjetischen Literaturwissenschaft ist Realismus jedoch nicht das wahrheitsgetreue Abbild der Wirklichkeit, sondern ihr literarisches Konstrukt.33 Da sich Realismus nicht aus der Übereinstimmung zwischen literarisch vermittelter Realität und empirischer Faktizität ableiten läßt, beruht sie auf der Indienstnahme literarischer Verfahren, die die formale Seite des Kunstwerks verdecken und die mimetische Fiktion realistischer Literatur erzeugen. Sie dienen dazu, die Fiktionsschwelle literarischer Texte zu verwischen und die Vorstellung einer beschreibbaren Welt zu bekräftigen.34 Die Dominanz eines inhaltlich bestimmten Realismus soll dabei die Tatsache verschleiern, daß zwischen historischen Fakten und literarischer Fiktion eine Medialisierung liegt, die das sprachlich vermittelte Kunstwerk immer auf seine formale Gestalt verweist.35 Erst dadurch, daß die realistische Literatur die strukturell offene Wirklichkeit in eine stimmige Textwelt überführt und diese dann zur außerliterarischen Wirklichkeit erklärt, entsteht jenes Bezugssystem zwischen Realismus und Realität, das in der sowjetischen Literaturtheorie der dreißiger Jahre dann als historisch-konkrete Widerspiegelung einer außerliterarischen Realität ausgegeben werden kann.36 So ist es nicht zuletzt die grundsätzliche Verschiedenheit von Kunst und Wirklichkeit, die durch die Kanonisierung einer einheitlichen Literaturtheorie außer Kraft gesetzt werden soll.37 Mit der Veröffentlichung der Ansichten von Marx, Engels und Lenin über Kunst und Literatur wird dazu eine Materialgrundlage geschaffen, welche die Illusion einer weitgehend entformalisierten Literatur begründen kann.38 Mit der so entworfenen Ästhetik versucht die sowjetische Literaturwissenschaft darüber hinwegzutäuschen, daß es letztlich keine explizit marxistische Ästhetik gibt.39 Die von ihnen erstellte Ästhetik dient vor allem dazu, einen theoretischen Kontext zu entwerfen, der die an anderer Stelle vorgegebene Literaturpolitik theoretisch untermauert: «Публикация и обсуждение мнений Маркса, Энгельса и Ленина по литературным и эстeтическим вопросам, процес, достигший своего апогея в Советской России между 1931 и 1934 годами, должен рассматриваться в более широком контексте, нежели учреждение Союза писателей в 1934 году и необходимость в формулировании теории соцреализма после того, как в том же году появился сам термин.» (Klark 2000, 354) 1.2 Monopolisierung des literarischen Wortes 1.2.1 Kulturrevolution und 1. Fünfjahresplan Nachdem Stalin in seiner Rede auf dem XV. Parteitag im Dezember 1927 den Grundstein zu einer Kulturrevolution gelegt hat, deren Ziel es war, eine neue sowjetische Gesellschaft zu schaffen, beginnt die Vereinnahmung von Kunst und Literatur gleichzeitig Kohl 1977, 207. Auf die Verfahren wird ausführlicher in den einleitenden Kapiteln der nachfolgenden Abschnitte eingegangen. 35 Vgl. hierzu Eisele 1987, 539ff. sowie Hamon 1973, 416 und Sławiński 1975, 183f. 36 Kohl 1977, 193. 37 Kohl 1977, 188. 38 Siegel 1981, 145 sowie Mänicke-Gyöngyösi 1979, 83f., die darauf hinweist, daß mit dieser Kanonisierungsleistung zum ersten Mal Textmaterial zur Verfügung gestellt wird, das die Ansichten Marx und Engels systematisch zusammenträgt. Da viele dieser Texte zum ersten Mal veröffentlicht worden sind, wird mit ihnen ein Wissen zur Verfügung gestellt, auf das die Diskussion einer marxistischen Ästhetik in den zwanziger Jahren noch weitgehend verzichten mußte. 39 Vgl. hierzu Jodl 1989, 21ff. sowie Klark 2000, 352, die – ebenso wie Bullitt 1976, 56 – darauf verweist, daß es sich bei den Äußerungen Marx’, Engels’ und Lenins zu Kunst und Literatur eher um persönliche Vorlieben handelt, als um konsistente theoretische Konzepte. 33 34 Einleitung 7 mit der Umgestaltung der gesamten sozialen wie ökonomischen Wirklichkeit.40 Mit dem ein Jahr später in Kraft tretenden Fünfjahresplan setzt ein forcierter Umbau der sozioökonomischen Produktionsbedingungen ein, dem auch Kunst und Literatur unterworfen werden. Der im Dezember 1929 von Stalins geäußerte Vorwurf, Kunst und Literatur blieben hinter dem Aufbau der sozialistischen Wirklichkeit zurück, ermöglicht es der Partei, die künstlerische Produktion zu kontrollieren und Kunst und Literatur ihrem administrativen Zugriff zu unterstellen.41 Durch die Forderung, Kunst und Literatur müßten sich am Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft beteiligen, werden sie zu einem notwendig zu kontrollierenden Gegenstand, der jeden Anspruch auf künstlerische Eigenständigkeit verliert.42 Georg Lukács schreibt rückblickend über die Literatur der Stalinzeit: „All science and all literature had to serve exclusively the propagandistic demands formulated above [...]. The understanding and spontaneous elaboration of reality by means of literature was more and more strictly prohibited. ‘Party’ literature must no longer creatively reflect objective reality, but must illustrate in literary form the decisions of the Party.” (Lukács 1963, 110) Mit dem Beginn der Kulturrevolution und dem Einsetzen des 1. Fünfjahresplans geht so eine Politisierung der Literatur einher, die alle künstlerischen Texte auf den offiziellen Diskurs der Partei ausrichtet. Die Partei formuliert zum ersten Mal ihren Anspruch auf die direkte Vorherrschaft über Kunst und Literatur und stellt damit jedes literarische Kunstwerk in den Dienst ihrer parteipolitischen Propaganda.43 Die Aufgabe der Literatur besteht von nun an darin, die industrielle Aufbauleistung darzustellen, den Neuen Menschen zu portraitieren, die reaktionären Kräfte aufzudecken und die Menschen für den Aufbau des Sozialismus zu mobilisieren.44 Mit dieser politischen Vereinnahmung wird die Literatur zu einem jener Propagandainstrumente, über die Stalin bereits am 06. Mai 1923 in einem Brief an die Правда schreibt, daß er sie nicht als Diskussionsorgan betrachte, sondern als „Transmissionsriemen“, dem keine agitatorische Aufgabe zukommt, sondern eine organisatorische.45 Nachdem Stalin 1929 die politische Opposition endgültig ausgeschaltet hat, wird eine Generallinie in Politik und Wirtschaft etabliert, die auch auf den Bereich von Kunst und Literatur übertragen wird.46 Mit ihr wird ein Tausch von Wirklichkeit und Fiktion eingeleitet, der zum eigentlichen Gegenstand der neuen sowjetischen Literatur gerät. Die Vereinheitlichung des literarischen Diskurses geht so mit einer Fiktionalisierung der Wirklichkeit einher, die die Überwindung der Meinungsvielfalt durch den Sieg einer neuen Wirklichkeit signalisieren soll. Die Funktion der Literatur besteht nach ihrer Vereinnahmung durch die Politik vor allem darin, die faktische Realität an ihr offizielles Ideal anzugleichen und die von ihr geschaffene Fiktion an den Leser weiterzuvermitteln.47 Ende der zwanziger Jahre steht damit weniger die Darstellung der faktischen Vgl. hierzu Götz 1989, 27 sowie Ermolaev 1963, 55ff. und Tucker 1990, 7ff. Vgl. hierzu die Rede Stalins „Zu Fragen der Agrarpolitik in der UdSSR“: Stalin 1954, Bd. 12, 125ff. Zur Vereinnahmung der Literatur vgl. Brown 1971, 87ff., Struve 1971, 221ff. und Günther 1984, 2. Zu ihrer Kontrolle durch Zensur-, Verlags- und Redaktionsinstanzen vgl. Bljum 1999 sowie Ermolaev 1997, Chapter I. 42 Wosdwischenski 1991, 249 sowie Groys 1988, 39f. 43 Vgl. hierzu Brown 1971, 87ff., Struve 1971, 221ff. und Günther 1984, 1f. 44 Götz 1989, 27. 45 Stalin 1952, Bd. 5, 246ff. 46 Zur Parteilinie als politisches Programm Stalins vgl. Tucker 1990, 70f. 47 Zu dieser Funktion der Literatur vgl. Dobrenko 1993, 37f. sowie Günther 1993, 184ff., Clark 1985, 40 41 Einleitung 8 Realität im Mittelpunkt, als ihr offiziell propagiertes Klischee. Die revolutionäre Umgestaltung des Landes wird von einer Institutionalisierung der Literatur begleitet, die Kunst und Literatur darauf verpflichtet, den offiziell propagierten Umbau in eine literarisch zu dokumentierende Wirklichkeit zu verwandeln. Boris Eichenbaum kommentiert diesen Prozeß dieser literarischen Umgestaltung in seinem 1929 erschienenen Almanach Mein Zeitgenosse: „Bei uns gibt es keinen literarischen Kampf, sondern eine Gliederung nach Fachgebieten – wie in der Medizin. [...] Da sind z.B. Spezialisten für das moderne Dorf. Sie schreiben Romane, die eigentlich Chrestomathien literarischen Rohmaterials sind – niemand weiß, zu welchem Gebrauch. Sie schreiben, ohne auf die literarische Eignung des Materials zu achten, auf seine korrelativen Eigenschaften, auf die Methoden seiner Präsentation. [...] Im Zentrum der obligate Kommunist mit neuen Ideen und guten Absichten, und am Rande stilisierte Landschaften, die offenbar das literarische Gefühl des Lesers erwärmen und den Roman vor dem Zerfall bewahren sollen. Vergebliche Hoffnungen. Zwischen der literarischen Manieriertheit und der wirklichen Literarität besteht ein ungeheurer Abstand.“ (Eichenbaum 1929, 143f.) Durch die politische Instrumentalisierung werden aber nicht nur die einzelnen Schriftsteller sondern auch die Texte selbst auf den hoheitlichen Monolog der Partei verpflichtet. Kunst und Literatur werden von nun an zur Organisation einer öffentlichen Meinung herangezogen, die nicht länger unabhängig ist, sondern auf ein offiziell gestiftetes Weltbild verweist, das Kunst und Literatur zu propagieren haben: „In a totalitarian system art performs the function of transforming the raw material of dry ideology into the fuel of images and myths intended for general consumption. The precise nature of the raw material – whether it is the cult of the Führer or of the Leader, dogmas of race or of class, laws of nature or of history – is of no more importance than whether one uses beet or wheat when distilling alcohol: the raw material lends a specific flavour to a final product that is identical; the means of preparation (totalitarian aesthetics) and the technology of production (totalitarian organization) turn out to be equally similar.” (Golomstock 1990, XII) 1.2.2 Die Kanonisierung der Widerspiegelungstheorie Während die 1925 vor allem auf Drängen der proletarischen Schriftstellerorganisationen verabschiedete Resolution О политике партии в области художественной литературы keine explizit formale Festlegung der neuen Literatur vorschreibt, wird Ende der zwanziger Jahre mit der Kanonisierung der Widerspiegelungstheorie ein Literaturverständnis eingesetzt, das die Schriftsteller nicht nur auf ein gemeinsames inhaltliches, sondern auch auf ein gemeinsames formales Programm verpflichtet.48 Die Etablierung eines für alle Schriftsteller gleichermaßen verbindlichen Schreibverfahrens findet in einer von I. Laz’jan im März 1928 gehaltenen Rede statt, in der er die Beschlüsse des XV. Parteitags in ein literarisches Programm umformuliert, das die Schriftsteller dazu auffordert, die „Fakten und Ideen“ des XV. Parteitages „aus der politischen Sprache der Parteidirektiven in eine künstlerische Bildersprache [zu] übertragen“.49 Mit dieser Rede, die zugleich den Übergang von einer administrativen zu einer normativen Literaturpolitik markiert, wird nicht nur ein literarisches Konzept in den literarischen Diskurs der zwanziger Jahre eingesetzt, in dem die von den proletarischen Schriftstellerorganisationen seit Mitte der zwanziger Jahre immer wieder geforderte Ideologisierung der Literatur zur offiziellen Literaturpolitik erhoben wird. Wenn Laz’jan in seiner Rede über alle inhaltlich-thema146f. und Papernyj 1985, 212ff. Daß die Resolution von 1925 trotz ihrer offiziell dekretierten freien Wahl der künstlerischen Mittel letztlich eine Einschränkung der literarischen Form mit sich gebracht hat zeigt Eimermacher 1994, 70ff. 49 Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1994, 608. Zur Bedeutung der Rede Laz’jans vgl. Eimermacher 1994, 77f. 48 Einleitung 9 tischen Festlegungen hinaus fordert, daß „Ereignisse von derartig großem Ausmaß, wie die chinesische Revolution, die gewaltigen Aufstände in den unterjochten Kolonialländern und die riesigen Arbeiteraufstände und -streiks [...] untersucht und mit all den in ihnen aktiven Personen [...] widergespiegelt werden [müssen]“50, erklärt er die Literatur nicht nur inhaltlich „halboffiziell zum Propagandawerkzeug der Partei und des Staates“51 sondern gibt zugleich den zukünftigen Rahmen für die formale Gestaltung der Texte vor. Wenn Laz’jan am Ende seiner Rede über die Aufgaben der neuen sowjetischen Literatur sagt, „daß es in erster Linie notwendig wäre, die Prozesse des Zunehmens der Elemente des Sozialismus und die konkreten Resultate der Industrialisierung des Landes in unserer Literatur hervorzuheben und in den literarischen Werken widerzuspiegeln“52 holt er damit nicht nur den für die sowjetische Literatur der nächsten Jahre verbindlichen Komplex literarischer Themen ein, sondern ordnet ihnen ein Abbildungsverhältnis zu, das für den gesamten ästhetischen Diskurs der Stalinzeit bestimmend bleibt. Mit der von ihm geforderten Widerspiegelung nimmt er eine erste Verschränkung von Form und Inhalt vor, die eine indirekte Übereinstimmung von Darstellungsform und Kommunikationsabsicht vorschreibt. Sie stellt eine interne Verweisstruktur von Inhalt und Form her, die den gesamten nachfolgenden literarischen wie metaliterarischen Diskurs regelt und aus der am Ende dann auch die Form des Sozialistischen Realismus hervorgeht. Daß mit der offiziellen Propagierung der Widerspiegelungstheorie eine Regulierung des literarischen Diskurses einhergeht, zeigt Gerhard Plumpe in seinem Artikel über ästhetische Programme und literarische Praxis: „Ästhetik ist philosophisch determinierte Rede über Kunst, die im Spiel der Instanzen von ‚Innen’ und ‚Außen’, - wie den Sequenzen ihrer Substitution – starr reglementierende Kausalitätsbeziehungen installiert, mit dem Effekt, die manifesten literarischen oder künstlerischen Formationen zu zensieren, zu verknappen, zu normalisieren.“ (Plumpe 1976, 4) Da Laz’jan in Fortführung einer marxistisch geprägten Ästhetik von der Prämisse ausgeht, daß „Kunst gegenüber der Ideologie eine sekundäre Formation darstellt“53 und ihr als erkenntnisstiftendes und die gesellschaftlichen Verhältnisse stabilisierendes Moment nachgeordnet ist, fungiert das Kunstwerk in seiner Rede nicht länger als eigenständige Interpretation von Welt, sondern wird zur Widerspiegelung einer Wirklichkeit, in der es seinen Status als autonomes Kunstwerk verliert und statt dessen zum zentralen Bestandteil der herrschenden Ideologie gerät.54 So wird mit der Rede Laz’jans ein Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und Wirklichkeit eingesetzt, das im folgenden dann als vermeintlich realistisches ausgegeben wird.55 Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1994, 609f. Eimermacher 1994, 78. 52 Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1994, 616. 53 Kneip 1995, 31f. 54 Vgl. hierzu Kneip 1995, 31f. sowie Günther 1984, 28f. und Dobrenko 1993, 33ff., der den Sozialistischen Realismus als Machtdiskurs bezeichnet, der über eine eigene politisch-ideologische Sprache verfügt. 55 Daß es sich bei der Einsetzung der Widerspiegelungstheorie um einen Eingriff in die diskursive Realität der sowjetischen Literatur handelt, die zusammen mit dem Diskurs auch dessen Regeln ändert, zeigt Foucault 1995, 70f., wenn er darauf hinweist, daß nicht die Gegenstände selbst zur Disposition stehen, sondern „das Inbeziehungsetzen der Oberflächen“. 50 51 Einleitung 10 1.2.3 Realisierung eines literaturpolitischen Programms Dadurch, daß Laz’jan den Begriff der Widerspiegelung aus dem Bereich der Literatur in den offiziellen Diskurs einer staatlich sanktionierten Literaturpolitik überführt, etabliert er eine ästhetische Kategorie, die zusammen mit der Forderung nach einer neuen proletarischen Literatur auch deren formale Gestalt normiert: „All diese Fragen [einer Industrialisierung des Landes, U.J.] stellen äußerst vielseitige und für den Schriftsteller wertvolle Prozesse dar, deren Untersuchung dem Künstler die richtige Einstellung zum Leben, zu dessen Wahrnehmung und Widerspiegelung gibt. Die Untersuchung dieser Fragen wird in dem Künstler die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Leben mit all seiner Farbigkeit, Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit entwickeln.“ (Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1990, 614) Obwohl Laz’jan in seiner Rede immer wieder die künstlerische Eigenständigkeit der einzelnen Schriftsteller hervorhebt,56 setzt er mit der Widerspiegelung ein literarisches Programm ein, das zusammen mit den aus dem ideologischen Diskurs übertragenen Themen auch die formale Gestalt der literarischen Texte reguliert. Denn auch, wenn die sowjetische Literaturwissenschaft immer wieder auf die organische Einheit von Form und Inhalt verweist, lehnt die moderne Literaturwissenschaft einen so verstandenen Widerspieglungsbegriff ab. Sie weist immer wieder darauf hin, daß kein Inhalt ohne Form existiert und auch die These von der Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit letztlich das Ergebnis einer literarischen Manipulation ist:57 „Die soziologisch-genetische Interpretation bezieht das Werk auf die es bedingenden Erscheinungen und stellt den Grad von deren ‚Spiegelung’ im Werk fest, wobei sie den Umstand ignoriert, daß sich das Werk auf was immer nur durch die Vermittlung der Literatur beziehen kann. Welcher Art auch immer seine Verbindungen mit dem ‚Leben’ sein mögen, sie sind immer mediatisiert durch die Muster und Normen des Systems.“ (Sławiński 1975, 183f.) Definiert man die Widerspiegelung also nicht anhand ihrer Übereinstimmung mit der außerliterarischen Wirklichkeit, sondern versteht sie als Kodifizierungssystem, das eigenen Gesetzmäßigkeiten und Traditionen folgt,58 so zeigt sich, daß der Begriff der Widerspiegelung eine implizite Poetik transportiert, welche die formale Seite der Texte dominiert. Mit seiner Forderung nach einer wahrheitsgetreuen und historisch-konkreten Wiedergabe der Wirklichkeit nimmt Laz’jan einen realistischen Literaturbegriff vorweg, der mit der Einsetzung des Sozialistischen Realismus dann offizialisiert wird.59 Er bezieht sich auf eine literarische Tradition, die davon ausgeht, daß Literatur die soziale Wirklichkeit wahrheitsgetreu abbilden könne. Tatsächlich werden jedoch eine Reihe literarischer Verfahren in Dienst genommen, die den Realitätseffekt der Texte produzieren.60 Die Behauptung, Text und Wirklichkeit könnten in ein unmittelbares Abbildungsverhältnis treten, offenbart also lediglich den Versuch, den Diskurscharakter der Texte zu negieren und damit die Differenz zwischen fiction und fact zu löschen.61 Dabei weisen Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1990, 612f. Vgl. hierzu auch Brinkmann 1966, 309f., Kohl 1977, 188f., Piontek 1989, 15f., Lotman 1992, 244f. sowie Zeller 1987, 561f. 58 Vgl. hierzu Gebauer/Wulf 1992, 33ff. sowie Brinkmann 1966, XVII und 309ff., Wellek 1987, 403 und Jakobson 1921, 374ff., der als erster darauf hinweist, daß sich in dem Begriff Realismus formale wie literaturhistorische Definitionen überlagern. 59 Vgl. hierzu Tschižewskij 1967, 9f., der in seiner Arbeit zum russischen Realismus darauf hinweist, daß fast allen realistischen Kunst- und Literaturtheorien die Vorstellung einer Widerspiegelungstheorie zugrundeliegt. Vgl. hierzu auch Zeller 1987, 561f. sowie Balibar/Machererey 1974, 200ff.. 60 Zu dem Begriff des Realitätseffekts vgl. Barthes 1968, 178ff. 61 Dieses Ignorieren der diskursiven Realität realistischer Texte ist aber nicht nur in der Diskussion um den Sozialistischen Realismus von Bedeutung, sondern bestimmt auch die literaturwissenschaftliche 56 57 Einleitung 11 bereits Begriffe wie «выразить», «показат», oder «изображать», die den Diskurs der sowjetischen Literaturkritik bestimmen, auf Verfahren hin, welche die Grenze zwischen Text und Wirklichkeit einreißen und das Dargestellte authentifizieren sollen.62 Die Widerspiegelungsillusion sozialistisch-realistischer Texte beruht also, ebenso wie der Abbildungsanspruch aller anderen realistischen Texte, auf einem Bestand künstlerischer Mittel, die in der realistischen Schreibtradition begründet und von der zeitgenössischen Literaturwissenschaft beschrieben worden sind.63 Sie dienen dazu, die literarische Fiktion zu realisieren und die narrativen, poetischen oder dramatischen Instanzen der Texte zu verheimlichen. Ein Teil dieser Verfahren wird von der sowjetischen Literaturwissenschaft selbst in den literarischen Diskurs eingesetzt.64 Während sich die programmatischen Texte zu den Fragen der neuen sowjetischen Literatur in einer rein inhaltlichen Definition verlieren, die immer wieder darauf hinweist, daß die Widerspiegelung die außerliterarische Realität in ihrer revolutionären Entwicklung zeige, lassen die Kritiken und Rezensionen erkennen, daß der so definierten Widerspiegelungstheorie auch ein formaler Kanon zugrunde liegt. Durch die Ausgrenzung bestimmter literarischer Verfahren kanonisiert die sowjetische Literaturkritik einen positiven Bestand literarischer Formen, der für die sowjetische Literatur verbindlich wird.65 Wenn in einigen der Kritiken solche Stilmittel wie Symbol, Allegorie oder Metapher aus dem literarischen Diskurs ausgegrenzt werden66 und in anderen die lyrischen Abschweifungen des Autors kritisiert werden, da sie seinem Werk einen sentimentalen Charakter verleihen,67 wird damit beispielsweise ein literarischer Stil normiert, der von der gegenwärtigen Literaturwissenschaft als ‚neutraler Stil’ bezeichnet wird. Mit diesem Begriff wird die Inszenierung einer ‚objektiven Erzählerstimme’ umschrieben, welche die Glaubwürdigkeit der realistischen Fiktion erhöhen und sie von allen Zeichen befreien soll, die ihre Wirklichkeitsillusion brechen und die literarische Konstruktion des Erzählten offenlegen können.68 Weitere Punkte, die in den Kritiken und Rezensionen kritisiert werden, sind die fehlende Einheit von Handlung und Figur,69 fehlende Detailgenauigkeit,70 eine zu stark stilisierte Sprache (sowohl die des Erzählers als auch die der Figuren)71 sowie die nicht motivierte Abfolge einzelner Handlungselemente.72 All diese Kritikpunkte verweisen auf einen impliziten Formenkatalog, der durch das Prinzip der permanenten Kommentierung in den literarischen Diskurs eingeschrieben wird. Er verweist auf künstlerische Mittel, die den tradi- Diskussion um den Begriff Realismus überhaupt. Wie Ulf Eisele in seinem Überblick über die Forschungssituation zu diesem Problem zeigt, wird Realismus auch heute noch als philosophische (oder ideologische) und inhaltliche Kategorie literarischer Texte diskutiert, ohne auf das formale Inventar der Texte einzugehen: Eisele 1987, 519ff. 62 Vgl. hierzu auch Heller 1995, 703f. 63 Vgl. hierzu Jakobson 1921, 385ff., Tschižewskij 1967, 10ff. sowie Kohl 1977, 190f. und 204ff., Hamon 1973, 414f. und Zeller 1987, 565ff. 64 Vgl. hierzu Fast 1999, 35. 65 Zu dieser Funktion des Kommentars vgl. Foucault 1974, 16ff. 66 Vgl. hierzu Rozental’ 1933, 22 sowie Cholodovič 1935, 232. 67 Vgl. hierzu Glebov 1928, 264 sowie Dynnik 1928, 224. 68 Vgl. hierzu Tschižewskij 1967, 11 sowie Tomaševskij 1967, 141, Barthes 1968, 175, Doležel 1972, 386f. und Booth 1974, Bd.1, 158. 69 Dieser Vorwurf findet sich ziemlich häufig in den Kritiken und Rezensionen: vgl. hierzu beispielsweise Maznin 1933, 213 sowie Nel’s 1933, 210 und Ajchenval’d 1931, 184. 70 So in Rossolovskaja 1931, 147 oder Nel’s 1933, 210. 71 Vgl. hierzu Mašbic-Verov 1928, 220 oder Krasil’nikov 1928, 221. 72 Vgl. hierzu Nel’s 1933, 211 sowie noch einmal Krasil’nikov 1928, 221. Einleitung 12 tionellen Formenbestand der realistischen Literatur ausmachen. Durch die implizite Kanonisierung werden Verfahren wie die realistische Motivation von Handlungselementen, die Inszenierung kontingenter Details, die Einheit von Handlung und Figur und die Illusion eines objektiven Erzählers eingefordert, die durch das Prinzip einer negativen Poetik aktualisiert werden.73 Wie die theoretischen Einleitungen der nachfolgenden Kapitel zeigen, sind dies jedoch noch nicht alle Verfahren, die die sozialistisch-realistischen Texte aus dem Formbestand der realistischen Erzähltradition erben. In ihnen finden sich auch solche Verfahren wie die Inszenierung realer Schauplätze, die szenische Gestaltung narrativer Texte, unmittelbare Handlungseinsätze oder das Spiel mit verschiedenen Erzählperspektiven. Sie alle sollen den Eindruck erwecken, als wären Text und Wirklichkeit äquivalent und ließen sich aufeinander abbilden. Daß die implizite Poetik der Texte nicht zufällig ist, sondern entscheidend dazu beiträgt, die literarische Fiktion einer mimetischen Widerspiegelung zu schaffen, wird in den anschließenden Analysekapiteln ebenfalls gezeigt. Sie weisen nach, daß gerade die literarische Inszenierung Stalins auf die Verwendung realistischer Schreibstrategien angewiesen ist. Die immer wieder beklagte Uneinheitlichkeit des sozialistisch-realistischen Formenbestands ist dabei kein spezifisches Problem des Sozialistischen Realismus, sondern ein grundsätzliches Problem einer mit realistischer Literatur konfrontierten Literaturwissenschaft.74 So gut wie alle Texte des literarischen Realismus weisen Verfahren auf, die mit ihrem literarischen Programm kaum in Einklang zu bringen sind. Mit dem Hinweis darauf, daß die Texte das Abbild einer außerliterarischen Wirklichkeit seien, können auch solche Verfahren als realistisch ausgegeben werden, die den poetischen Ursprung der Texte offenbaren. Ihre auf der formalen Ebene offensichtliche Literarizität wird durch den philosophischen Überbau des literarischen Realismus außer Kraft gesetzt und zu Widerspiegelungen der Wirklichkeit umgedeutet.75 So kann das Erstellen einer impliziten Poetik auch nur der Hinweis darauf sein, daß die Texte durch eine Reihe von Verfahren bestimmt werden, die sich mehrheitlich an realistische Schreibtraditionen anlehnen. Die Behauptung, daß sie überhaupt keine Poetik besitzen, scheint dagegen von einem Literaturverständnis geprägt zu sein, das den blinden Fleck der sowjetischen Literaturwissenschaft in den eigenen theoretischen Diskurs überträgt. Die mit dem Einsetzen der Widerspiegelungstheorie implizierte Poetik markiert zugleich den ideologisch vorgeprägten Objektbereich eines literaturpolitischen wie literaturtheoVgl. hierzu auch Fast 1999, 58ff., der die gleichen Verfahren als kanonischen Formenbestand des Sozialistischen Realismus analysiert, ohne sie jedoch aus einer realistischen Schreibtradition abzuleiten. Auch Hans Günther zählt einen Teil dieser Verfahren in dem von ihm erstellten Katalog literarischer Normen auf. Er leitet sie aus den literarischen Texten selber ab. Der Unterschied, den er zwischen den sozialistisch-realistischen Texten und ihren realistischen Vorgängern herstellt, ist dabei durchweg wertend. Sein Vergleich bewegt sich eher auf der Ebene der Interpretation als auf der formalen Ebene der Texte: Günther 1984, 107ff. 74 Zu dieser These vgl. Kneip 1995, 71ff. sowie Jäger 1987, 594f., Heller 1995, 697f. und Geldern 1995, XVIII, der das Ziel des Sozialistischen Realismus nicht in der Schaffung eines einheitlichen Stils sondern in der Legitimation der Vereinheitlichung der Kultur sieht. Lahusen 1995, 662ff. beschreibt den Sozialistischen Realismus als „ästhetisch offenes System“, ohne darauf einzugehen, daß jedes ästhetische System offen ist und seine Geschlossenheit nie mehr sein kann, als eine diskursimmanente Fiktion. 75 Vgl. hierzu etwa Percov 1933, 181, der die Metapher in den Formenbestand sozialistisch-realistischer Texte einholt, da sie lediglich das Potential einer noch nicht realisierten Wirklichkeit aufzeige. 73 Einleitung 13 retischen Diskurses, der wenig später dann über die Ein- bzw. Ausgrenzung bestimmter literarischer Texte abschließend konstituiert wird.76 Indem Laz’jan die Literatur immer wieder auf die Darstellung einer ihr vorgängigen Wirklichkeit verpflichtet, hebt er die Distanz zwischen Text und Wirklichkeit auf und setzt das eine mit dem anderen gleich. So wird zusammen mit dem Begriff der Widerspiegelung ein künstlerischer Code institutionalisiert, in dem die Diskrepanz zwischen Text und Wirklichkeit überwunden und im künstlerischen Artefakt aufgehoben wird. Indem die sowjetische Literaturpolitik nicht länger zwischen der Wirklichkeit und ihrer künstlerischen Reproduktion unterscheidet, sondern beide im Begriff der Widerspiegelung aufeinander bezieht, kanonisiert sie ein Verhältnis von literarischer und außerliterarischer Realität, das die vollkommen fiktiven Wirklichkeitsentwürfe literarischer Texte zur objektiven Darstellung einer außerliterarischen Wirklichkeit erhebt. Die von Laz’jan erstmals offiziell eingeforderte Widerspiegelung der Wirklichkeit wird so zu jener zentralen ästhetischen Kategorie, mit deren Hilfe die spätere Kanonisierung einer einheitlichen literarischen Methode vorbereitet wird. Das in ihr festgelegte Abbildungsverhältnis wird zum „kulturellen Signifikanten“77 der neuen sowjetischen Literatur, mit dessen Hilfe die Texte nicht nur inhaltlich sondern auch formal auf ein literarisches Programm verpflichtet werden, das in der anschließenden Kanonisierungsphase dann ausformuliert und zum offiziellen Literaturverständnis ausgebaut werden kann. So kann die von Laz’jan eingesetzte und anschließend dann offiziell kanonisierte Widerspiegelungstheorie als normstiftende Diskurseinheit begriffen werden, deren Manifestation ein Diskurssystem antizipiert, das mit der autoritativen Einsetzung des Sozialistischen Realismus auf dem 1. Schriftstellerkongreß 1934 in einen einheitlichen und für alle Texte gleichermaßen verbindlichen Normenkanon überführt wird. Damit wird das Auftauchen der Widerspiegelungstheorie in der Rede Laz’jans zum „ereignishaften Hereinbrechen“78 eines literaturtheoretischen Dogmas, mit dem die bis dahin existierenden Widerspiegelungsbegriffe abgelöst und durch ein offiziell vorgeschriebenes Abbildungsverhältnis ersetzt werden. Das Ziel einer so betriebenen Literaturpolitik besteht nicht nur darin, die thematische Vielfalt der Texte zu verknappen, sondern auch darin, die freie Wahl der literarischen Mittel einzuschränken. 1.2.4 Sozialistisch-realistische Fiktion Daß es sich bei der Einführung der Widerspiegelung als zentrale ästhetische Kategorie der neuen sowjetischen Literatur nicht um die objektive Darstellung der Wirklichkeit in ihrem revolutionären Umbau handelt, sondern um die Imagination einer parteipolitisch gestifteten Wirklichkeitsfiktion, zeigt sich spätestens in dem Moment, in dem Laz’jan in seiner Rede immer wieder darauf verweist, daß die von den Schriftstellern geforderte Darstellung der neuen sowjetischen Wirklichkeit durch ein ‚marxistisches Prisma’ hindurchgesehen werden müsse.79 Damit verpflichtet er die literarischen Texte auf eine Mimesis, die nicht länger im Bereich der Wirklichkeit selbst begründet liegt, sondern in ihrer ideologisch vorgeprägten Interpretation. Es entsteht eine mythopoetische Mimesis, Vgl. hierzu Foucault 1995, 62ff. Zur Kanonisierung der Widerspiegelungstheorie vgl. Günther 1984, 25ff. 77 Vgl. hierzu Lachmann 1987, 127. 78 Foucault 1995, 39. 79 Laz’jan 1928, z.n. Eimermacher 1990, 617 und 619. 76 Einleitung 14 über die Boris Groys schreibt: „Die sozrealistische Mimesis ist [...] auf das verdeckte der Wesen der Dinge gerichtet, nicht auf ihre Erscheinung – insofern erinnert sie eher an den mittelalterlichen Realismus und seine Polemik gegen den Nominalismus als an den Realismus des 19. Jahrhunderts. Doch der mittelalterliche Realismus kannte kein Parteilichkeitsprinzip und verstand sich nicht als politisch richtungsweisend – selbst wenn von der Politik des Widerstands gegen teuflische Versuchungen die Rede war -; er orientierte sich an dem, was ist, am wahren Wesen der Dinge. Der sozialistische Realismus hingegen orientiert sich an etwas, das noch nicht ist, aber geschaffen werden soll, und insofern ist er der Erbe der Avantgarde, für die das Politische und das Ästhetische ebenfalls zusammenfallen.“ (Groys 1988, 58) Die Widerspieglungstheorie wird neben dem Postulat der Parteilichkeit und dem Typischen so zur diskursiven Formationsregel, die einen durchgehend wertenden Zugang zur darstellenden Wirklichkeit fordert.80 Sie ermöglicht damit sowohl im metaliterarischen wie im ästhetischen Diskurs jene Anbindung an die immer wieder neu formulierten Parteirichtlinien, welche die Literatur zum Instrument einer von der Partei vorgeschriebenen Ästhetisierung der Wirklichkeit werden läßt. Der Kanonisierung des Sozialistischen Realismus geht so die Festlegung einer literarischen Norm voraus, die sowohl als restringierender als auch als generierender Code die Entwicklung der neuen sowjetischen Literatur bestimmt. Während die Forderung nach einer Parteilichkeit „das zentrale ideologische Postulat des sozialistischen Realismus“81 darstellt und die Texte an den offiziellen ideologischen Diskurs angleicht, entsteht mit der Widerspiegelungstheorie ein erster formaler Code, der die Literatur auf eine unmittelbare Wiedergabe der Wirklichkeit verpflichtet. Mit ihrer Kanonisierung wird jener „totale Realismus“82 vorbereitet, der mit der Resolution des 1. Schriftstellerkongresses dann zur einzig möglichen Form künstlerischen Schaffens erhoben wird. Im Zusammenspiel mit der Literaturkritik, die die von Laz’jan eingeforderte Widerspiegelung schon 1928 zum neuen zentralen Bewertungsmaßstab literarischer Texte erhebt, wird die Widerspiegelungstheorie zur formalen Kategorie, die nicht länger allein den literaturpolitischen Diskurs bestimmt, sondern auch die literarischen Texte selbst. Der Begriff der Widerspiegelung wird so noch vor jeder theoretischen Fundierung zum „hierarchisch prominenten Kern“83, der den gesamten literarischen Diskurs begründet. Das in ihm festgelegte Abbildungsverhältnis von Text und Wirklichkeit wird zur ästhetischen „Minimalbedingung“, der alle literarischen Texte zu folgen haben.84 1.2.5 RAPP Um ihre kanonisierte Literaturpolitik durchzusetzen, bedient sich die Partei in den Jahren 1928-1931 vor allem der RAPP (Российская ассоциация пролетарских писателей).85 Diese definiert den Begriff der proletarischen Literatur von Anfang an als ideologische Literatur und verwandelt die Losungen der Partei in eigene literarische und literaturpolitische Forderungen.86 Mit der Kulturrevolution erhält die RAPP einen neuen Status: sie muß ihren Kampf um die Vorherrschaft in der sowjetischen Literatur nicht länger allein Vgl. hierzu Günther 1984, 19 sowie Kneip 1995, 70ff., der die Widerspiegelung zu den fakultativen ästhetischen Kunstprinzipien des Sozialistischen Realismus zählt. 81 Günther 1984, 19. 82 Golomstock 1990, 198 83 Hahn 1987, 28. 84 Zum Begriff der „Minimalbedingung“ vgl. Hahn 1987, 29. 85 Vgl. hierzu Brown 1971, 60f., Götz 1989, 27, Kemp-Welch 1990, 106 und Wosdwischenski 1991, 249. 86 Brown 1971, 87ff. sowie Klark 2000, 209 und Eimermacher 1994, 76, 80 Einleitung 15 in ihrem eigenen literarischen Programm begründen, sondern kann den von Stalin geforderten Klassenkampf mit Billigung und Unterstützung der Partei in den Bereich der Literatur übertragen.87 Die Führung der RAPP setzt die von der Partei veröffentlichten Appelle und Aufrufe in konkrete literarische und politische Handlungsanweisungen um und kann so die parteipolitisch geforderte Vereinheitlichung der Schriftsteller vorantreiben.88 Hatte die RAPP die auf dem XV. Parteitag in der Rede Stalins eingeleitete Kulturrevolution als Legitimation gesehen, ihre literaturpolitische Hegemonie zu verstärken und ihren Druck auf die nichtproletarischen Schriftsteller zu erhöhen, gelingt es ihr aufgrund ihres administrativen Einflusses in der FOSP (zuvor FSP) (Федерация объединений советских пистателей) zugleich, die kulturrevolutionären Ziele des XV. Parteitags im November 1927 zu den offiziellen Zielen aller proletarischen Schriftsteller zu erklären.89 Indem die RAPP ihre eigenen literarischen und politischen Positionen immer wieder an die der Partei angleicht, entsteht eine Annäherung zwischen Partei und RAPP, die die gesamte literarische Entwicklung der folgenden Jahre bestimmt.90 Während die RAPP ihre eigene Machtposition durch diese Kollaboration zu stärken sucht, ermöglicht sie es der Partei, eine Parteilinie in der Literatur zu etablieren, die ihr eigenes literaturpolitisches Programm realisiert und ihren Anspruch auf eine Zentralisierung und Vereinheitlichung des Literaturbetriebs geltend macht.91 So macht sich die Partei das hegemoniale Streben der RAPP zunutze, um ihre eigene parteipolitische Linie im Bereich der Literatur durchzusetzen und gegen jede Form der Abweichung anzukämpfen.92 Durch diese Koalition setzt sich die Vorstellung einer Literatur durch, die der Führung und der Kontrolle durch die Partei (beziehungsweise der RAPP) bedarf und sich dieser freiwillig unterordnet. Ein Brief, den Stalin am 28.02.1929 an die Führung der RAPP schickt zeigt, daß es sich bei der Unterstützung der RAPP durch die Partei um eine politische Vereinnahmung handelt, mit der diese ihren Einfluß auf die Literatur zu stärken sucht. In diesem Brief gesteht er der RAPP die uneingeschränkte Führungsrolle innerhalb der proletarischen Schriftstellerorganisationen zu und fordert sie auf, die Literatur auf die offizielle Generallinie der Partei auszurichten.93 Als Reaktion auf diesen Brief gibt die RAPP ihre tolerante Haltung gegenüber den Mitläufern und allen anderen Schriftstellerorganisationen auf. Sie erhöht ihren politischen, administrativen und ideologischen Druck auf die noch verbleibenden Organisationen und Autoren und in den Jahren 1929 bis 1931 gelingt es ihr, fast alle noch bestehenden Schriftstellerorganisationen aufzulösen und ihre Mit- Klark 2000, 217 sowie Eimermacher 1994, 76f. und Kemp-Welch 1991, 47. Eimermacher 1994, 91ff. Dieser sieht das Verhältnis zwischen RAPP und Partei als inneres Kräfteverhältnis, das von der Partei überwacht wird. 89 Vgl. hierzu Eimermacher 1994, 77 sowie Rogačevskij 2000, 267ff. 90 Vgl. hierzu Eimermacher 1994, 77 sowie Brown 1971, 89ff. 91 Eimermacher 1994, 88 sieht das Verhältnis zwischen RAPP und Partei als Gleichgewicht, in dem die Partei permanent darüber wacht, ob die RAPP ihr die Monopolstellung im Bereich der Literatur streitig macht und sich zu einer unabhängigen Literaturorganisation entwickelt, deren Programm die Dominanz des parteipolitischen Diskurses nicht anerkennt. Kemp-Welch 1991, 107ff. weist darauf hin, daß Averbach, Libedinskij und Kiršon häufiger im Parteisekretariat des Kreml’ waren. Wie Archivmaterial, auf das sich Kemp-Welch bezieht, belegt, sollen sie immer wieder versucht haben, eine Sanktionierung ihres literaturpolitischen Kurses durch die Partei zu ereichen. 92 Vgl. hierzu Brown 1971, 96ff. 93 Zu diesem Brief vgl. Kemp-Welch 1991, 58f. 87 88 Einleitung 16 glieder zu einem Beitritt in die RAPP zu bewegen.94 1930 formiert sich eine literarische Opposition innerhalb der RAPP. Die als ‚Litfront’ bezeichnete Opposition, die von der Partei unterstützt wurde, fordert eine stärkere Anbindung der Literatur an den gesellschaftlichen Umbau sowie die Umsetzung eines ästhetischen Konzepts, das die literaturpolitischen Vorgaben der Partei stärker berücksichtigt.95 In der Auseinandersetzung mit dieser Opposition wird die RAPP gezwungen, ihr eigenes literarisches Konzept zu ändern und sich den Forderungen der Partei anzunähern.96 Nachdem die Opposition im November 1930 aufgelöst wird, treten viele der noch verbleibenden Schriftsteller und Schriftstellerorganisationen der RAPP bei.97 Es entsteht eine weitgehend einheitliche Organisation der proletarischen Schriftsteller, die 1931 mehr als 10.000 Autoren umfaßt.98 Im Herbst 1931 gerät die RAPP jedoch selbst in die öffentliche Kritik.99 Ihr wird vorgeworfen, daß ihre Literatur hinter dem Umbau der sowjetischen Wirklichkeit zurückbleibe, sie die Schriftsteller zu stark unter Druck setze, ungenügend Selbstkritik übe und ein ästhetisches Konzept verfolge, das den gesellschaftlichen und industriellen Umbau nicht angemessen repräsentiere.100 Obwohl die Führung der RAPP versucht, diese Kritik abzuwenden, indem sie ihr eigenes Programm noch einmal revidiert, gelingt es ihr nicht, die Kampagne gegen sie zu stoppen.101 Mit der Resolution vom 23. April 1932 wird die RAPP offiziell aufgelöst. Nachdem die RAPP einen großen Teil der konkurrierenden Literaturorgansiationen vereinnahmt und die offiziellen Forderungen der Partei in ihr eigenes literarisches Programm übernommen hat, kann die Kritik an ihr als erster Schritt auf dem Weg zu einer totalen Verstaatlichung der Literatur interpretiert werden. Sie erscheint als Vorspiel, das der staatlich organisierten Vereinnahmung der Schriftsteller vorausgeht und die Etablierung einer offiziellen Literaturpolitik vorbereitet.102 Indem die RAPP der Abweichung von der Generallinie der Partei bezichtigt wird, kann die Partei die Etablierung ihrer eigenen Literaturpolitik als literaturpolitische Notwendigkeit in Szene setzen, die alle anderen Organisationen von dem literaturpolitischen Diktat der RAPP befreit.103 Vgl. hierzu Eimermacher 1994, 79ff. sowie Ermolaev 1963, 98ff., Kemp-Welch 1991, 75ff. und Brown 1971, 98f. In dieser Entwicklung sieht Kemp-Welch die Wende von der pluralistischen Kulturauffassung der NEP zu dem monopolistischen Kulturverständnis der dreißiger Jahre: Kemp-Welch 1991, 69. 95 Ermolaev 1963, 102ff. sowie Kemp-Welch 1991, 87f., Brown 1971, 150ff. und Eimermacher 1994, 95. 96 Brown 1971, 161ff. sowie Ermolaev 1963, 104. Die Führung der RAPP gibt ihre eigene, an den ästhetischen Programmen Plechanovs orientierte Ästhetik jedoch nicht völlig auf. Es existieren in den nächsten Monaten ‚zwei Strömungen’ innerhalb der RAPP, die in der Auseinandersetzung um ihre Auflösung im Herbst 1931 wieder aufgegriffen werden: Ermolaev 1963, 104f. 97 Vgl hierzu Eimermacher 1994, 93ff. sowie Kemp-Welch 1991, 89. 98 Zu dieser Zahl vgl. Kemp-Welch 1991, 109. Daß damit aber immer noch keine einheitliche sowjetische Literatur entstand, die den Anforderungen der Partei genügte zeigt Eimermacher 1994, 100. 99 Zuvor war es bereits mehrfach zu einer internen Kritik durch die Partei gekommen: Eimermacher 1994, 102. 100 Ermolaev 1963, 108f., Kemp-Welch 1191, 110ff. und Brown 1971, 186ff. Gemeint sind hier vor allem die Konzeption des ‚lebendigen Menschen’ und das Programm des Psychologischen Realismus: vgl. hierzu Brown 1971, 69ff. 101 Vgl. hierzu Ermolaev 1963, 109ff. sowie Brown 1971, 185ff. 102 Ermolaev 1963, 119ff. sowie Kemp-Welch 1991, 115ff. und Brown 1971, 188ff. 103 Eine etwas andere Position formuliert Eimermacher 1994, 104f. Er geht davon aus, daß die Auflösung 94 Einleitung 17 Die Indienstnahme der RAPP beruht aber nicht nur auf ihrer machtpolitischen Hegemonie. Die Unterstützung der RAPP durch die Partei scheint auch darin begründet zu sein, daß sie ein literarisches Programm verfolgt, das von Anfang an realistisch ist. In der von ihr formulierten Literaturtheorie werden proletarische, realistische und ideologische Literatur aufeinander bezogen und zu einer eigenständigen (marxistischen) Literaturtheorie verdichtet.104 Die Zusammenarbeit zwischen RAPP und Partei scheint ihren Ursprung so auch darin zu haben, daß durch die Unterstützung der RAPP ein formaler Kanon in der sowjetischen Literatur installiert werden kann, der wenig später dann zur einzig möglichen Methode literarischen Schaffens erhoben wird. So trägt die RAPP ganz unmittelbar dazu bei, das formale Spektrum der neuen sowjetischen Literatur zu verengen und eine realistische Poetik zu etablieren. Die im Herbst 1931 geäußerte Kritik an der RAPP macht sich jedoch nicht allein an dem Vorwurf fest, daß es ihr nicht gelungen sei, die sowjetischen Schriftsteller in einem übergreifenden Verband zu organsieren. Die Kritik richtet sich auch gegen das poetische Programm der RAPP. Während die Partei in dem Konzept des Typischen und der revolutionären Romantik eine Medialisierung der Wirklichkeit anstrebt, die die außerliterarische Realität in ihr parteipolitisches Ideal verwandelt, verfolgt die RAPP ein literarisches Programm, das auf die ungeschönte Darstellung der Wirklichkeit ausgerichtet ist. Sowohl die Konzeption des ‘lebendigen Menschen’ als auch der psychologische Realismus zielen darauf ab, die Wirklichkeit in ihrer objektiven Realität zu zeigen und die Leser mit einem möglichst genauen Wissen über die Welt auszustatten.105 Die Entmachtung der RAPP kann so nicht zuletzt als Vorsichtsmaßnahme verstanden werden, mit der die Partei jede Gegendarstellung ihrer eigenen Vision der neuen sowjetischen Wirklichkeit zu verhindern sucht.106 Da die Entmachtung der RAPP mit der (symbolischen) Machtergreifung Stalins einhergeht, erscheint sie als Versuch, alle konkurrierenden Systeme einer symbolischen Welterzeugung außer Kraft zu setzen und so die Glaubwürdigkeit ihrer eigenen Mythenproduktion zu erhöhen: „RAPP refused to give an idealized description of the perfect socialist man, who, in RAPP’s opinion, did not yet exist. Instead, the RAPP leaders preferred to delineate the difficult process of the emergence of such man. They insisted on representing complex clash of the old and the new in the psyche of a ‘living man’. The party, on the contrary, desired immediate glorification of its socialist accomplishments through a portrayal of nonexistent socialist heroes. RAPP’s aesthetic theories, influenced by Plekhanov and Voronsky, were not only useless to the Party, but also disturbing, because they included the ‘immediate impression’ which could lead to an undesirably objective cognition of reality.” (Ermolaev 1963, 134) 1.2.6 Sozialer Auftrag In der Verschmelzung von proletarischer und realistischer Literatur findet also zugleich eine erste Normierung des ästhetischen Diskurses statt, die nicht länger allein auf der administrativen Kontrolle der mit Fragen der Literatur betrauten Institutionen beruht, sondern auf einem literaturpolitischen Programm, das mit Hilfe der RAPP in den litera- der RAPP in ihrem eigenen administrativen Versagen begründet liegt und in erster Linie dazu dient, die Partei nicht in Mißkredit zu bringen. Eine ähnliche Position vertreten Brown 1971, 205ff. und Klark 2000, 219. 104 Vgl. hierzu Brown 1971, 69ff. 105 Vgl. hierzu Ermolaev 1963, 134. Daß es sich dabei auch bei diesen Konzepten letztlich nur um eine literarische Stilisierung der Wirklichkeit handelt, zeigt Karlton 2000, 339ff. 106 Vgl. hierzu Brown 1971, 208f. sowie Ermolaev 1963, 134. Einleitung 18 rischen Diskurs eingesetzt wird. Dieses Programm wird unter anderem durch den ‚sozialen Auftrag’ an die Autoren weitergegeben. Dieses Konzept entsteht Mitte der zwanziger Jahre in den literarischen Manifesten des LEF (später Novyj LEF) und bezieht sich auf ein Kunstverständnis, das Kunst und Literatur als Auftragsarbeiten versteht, die nach dem Prinzip der industriellen Fertigung hergestellt werden. Die so entstandenen Texte haben keinen Markt-, sondern lediglich einen Gebrauchswert. Die Vertreter der RAPP übernehmen diesen Begriff Ende der zwanziger Jahre und erheben ihn zu einem der zentralen Dogmen der neuen sowjetischen Literatur. Sie lehnen seine Definition durch LEF und Novyj LEF jedoch ab. Für sie bedeutet der soziale Auftrag nicht länger die industrielle Produktion künstlerischer Texte, sondern die aktive Teilnahme der Schriftsteller am Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft, die es in der Literatur wahrheitsgetreu abzubilden gilt.107 Indem der soziale Auftrag Ende der zwanziger Jahre zur autoritativen Norm wird, gerät er, so Marietta Tschudakowa, „zur von oben durchgestellten Lektion“ 108 und verengt nicht nur das bis dahin zur Verfügung stehende Spektrum literarischer Motive, sondern auch die freie Wahl der zu ihrer Umsetzung zugelassenen literarischen Verfahren: „Zum Instrument direkter Zwangsausübung auf die Künstler wurde der in den zwanziger Jahren eingeführte Begriff des sozialen Auftrags. Er ignorierte das künstlerische Bewußtsein des Schriftstellers völlig, also gerade jene Sphäre, in welcher der Künstler in die Umstände und Stimmungen seiner Zeit vordringt. Was blieb, war ein linientreues Reagieren auf die Ereignisse und die in der Gesellschaft entstehenden Interessen und Probleme. Das soziale Gewicht des Auftrags wurde dabei unweigerlich höher gestellt als das ästhetische Recht des Künstlers auf eigene Wahl.“ (Wosdwischenski 1991, 248) Mit dem sozialen Auftrag wird also ein hermetischer Code installiert, der Textbedeutung unabhängig vom individuellen Bewußtsein der Künstler kodifiziert. Auf die Darstellung der außerliterarischen Wirklichkeit verpflichtet, besteht die eigentliche Funktion der Literatur nicht länger darin, Wirklichkeit in ihrer Komplexität und Heterogenität darzustellen, sondern darin, sie in klischierten Bildern zu bestätigen und in scheinbar objektiven Beschreibungen zu legitimieren.109 Mit der Etablierung des sozialen Auftrags ist die Literatur nicht länger Teil eines sich selbst organisierenden Systems, sondern wird dem alles dominierenden ideologischen Diskurs untergeordnet. Dabei scheint es gerade die imaginäre Kraft literarischer Texte zu sein, die sie für diesen Auftrag prädestiniert. Sie ermöglicht es, die unterschiedlichen Fragmente der ideologisch normierten Wirklichkeit zu einer einheitlichen Wirklichkeitsfiktion zusammenzuschließen und den Moment der Auftragsarbeit zu verdecken. Nur die Literatur (und die Kunst) kann die disparate Realität der faktischen Ereignisse aufheben und durch die Illusion einer ganzheitlichen Wirklichkeit ersetzen. Denn obwohl die Texte das organische Ganze der sozialen Totalität im vermeintlich autonomen Kunstwerk abzubilden vorgeben, reglementieren sie eigentlich jene Kausalitätsbeziehungen, die sowohl die künstlerischen Texte als auch die ihnen vorgängige Wirklichkeit vereinheitlichen und das eine auf das andere abbilden.110 Vgl. hierzu Brown 1971, 90ff. sowie Struve 1971, 221ff. und Götz 1989, 27. Tschudakowa 1991, 191. 109 Vgl. hierzu Golomstock 1990, 179f. sowie Groys 1988, 62, Papernyj 1985, 221 und Dobrenko 1993, 46, der die totalitäre Kultur der Stalinzeit als Kodifizierungssystem beschreibt, dem jedes individuelle Bewußtsein fehlt. 110 Zu dieser Funktion einer ideologisch dominierten Ästhetik vgl. Plumpe 1976, 4. 107 108 Einleitung 19 Mit dem sozialen Auftrag wird also ein Kontrollmechanismus in den literarischen Diskurs eingesetzt, mit dem die rein fiktionale Wirklichkeit literarischer Texte aufgehoben und zur Abbildung einer außerliterarischen Wirklichkeit umgedeutet werden kann. Indem Literatur als mediale Repräsentation der faktischen Realität negiert wird, wird zugleich negiert, daß das Erzählte vom Akt des Erzählens nicht zu trennen ist und literarische und außerliterarische Realität nie miteinander identisch sind. In einem Brief vom 30. November 1930 schreibt die Schriftstellerin Ol’ga Forš an Maksim Gor’kij: „Die Skizzen der meisten sind wie ein ins Gehirn eingesetztes Sieb. Sie säen und säen, doch im Gedächtnis setzt sich nichts fest. Ich will trotzdem versuchen, ein besonderes ‚kleines Feuilleton’ zu ersinnen. Es ist traurig, daß man bei uns den Humor wenig versteht und schätzt – und ohne ihn wird der erteilte ‚Auftrag’ zur Plage.“ (z.n. Gorki 1984, 165) 1.2.7 Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie Besteht die Aufgabe der sowjetischen Literatur so nicht in der dokumentarischen Widergabe der Wirklichkeit, sondern in ihrer Überführung in ein von vornherein idealisiertes Klischee, erscheint auch die Widerspieglungstheorie nicht länger als ästhetische Kategorie einer auf die urbildliche Darstellung der Wirklichkeit gerichteten Literatur, sondern als Instrument ihrer ästhetischen Manipulation. Mit der endgültigen Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie wird sie in den Stand eines literaturpolitischen Postulats erhoben und reguliert sowohl den literarischen als auch den metaliterarischen Diskurs.111 Mit der Kanonisierung einer Leninschen Etappe in der Literatur wird die ihr zugewiesene Erkenntnisfunktion zur Präskription, mit der die rein fiktive Identität der neuen sowjetischen Wirklichkeit verdeckt und als Widerspiegelung einer außerliterarischen Realität beglaubigt werden soll. Die Etablierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie rekrutiert also ein literaturtheoretisches Instrumentarium, mit dessen Hilfe die von der Partei gestiftete Wirklichkeitsfiktion realisiert und theoretisch untermauert werden kann. Da die in der Literatur beschriebene Realität faktisch jedoch nicht existiert, sind es die literarischen und künstlerischen Texte, deren symbolische Repräsentation eine solche Wirklichkeit inszenieren soll. Wenn Alexandr Rodčenko beispielsweise einen Bildband zum zehnjährigen Bestehen Usbekistans gestaltet, der die Republik mit gefälschten Statistiken und montierten Bildern feiert,112 Maksim Gor’kijs Reportage über das Straflager der Soloveckij-Inseln zur Beschreibung einer Musterkolonie der modernen Umerziehung gerät113 oder Anna Karavaevas Roman Лесозавод dafür gelobt wird, daß er die Harmonie zwischen staatlich betriebener Industrialisierung und traditioneller Dorfstruktur darstelle,114 dokumentieren sie, was sie selber schaffen: die parteipolitisch vorgegebene Vision einer Wirklichkeit, deren faktische Realität vollkommen anders aussieht. Mit der Verfolgung einer Generallinie in der Literatur können aber auch alle von ihr abweichenden literarischen Strömungen denunziert werden. Durch ihre Verfolgung entsteht ein Dissuasionsszenario, mit dessen Hilfe die diffamierten Gruppierungen und Schriftsteller ausgegrenzt und zugleich die von der Partei eingeforderte Widerspiegelung zur einzig möglichen Form literarischen Schreibens erhoben werden kann.115 Vgl. hierzu Günther 1984, 2f. Vgl. hierzu King 1994, 126. 113 Zu Gor’kijs eigenem Blick und der Zensierung seiner Reportage vgl. Kjetsaa 1996, 341 114 Efremin 1928, 218f. 115 Zum Begriff der Dissuasion vgl. Baudrillard 1978, 24ff. Zu der Verfolgung von Schriftstellern und 111 112 Einleitung 20 Da die Gleichsetzung von Ästhetik und Ideologie mit der Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie einhergeht, findet 1929 eine Verschränkung von literarischem und ideologischem Diskurs statt, die den literarischen Text in eine ideologische Formation verwandelt.116 Alle Schreibstile, die nicht im offiziellen literarischen Diskurs normiert sind, werden als ideologisch rückständig oder konterrevolutionär gebrandmarkt. Sie verlieren ihren Status als literarische Zeichen und werden stattdessen zur politischen Äußerung, wobei die formale Textur der Wortkunstwerke gleichzeitig das politische Bewußtsein ihres Autors offenbart. Die Einsetzung einer marxistisch-leninstischen Literaturtheorie wird so zur normativen Grenzziehung, mit der bestimmte literarische Verfahren sanktioniert und andere diffamiert werden. Auf der Grundlage eines so erstellten Formenkanons können dann all jene Schreibverfahren entwertet werden, die als formalistisch, individualistisch oder naturalistisch in den folgenden Jahren aus den literarischen Texten verbannt werden.117 Mit der Etablierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie findet demnach eine Politisierung der Form statt, die diese nicht nur normiert, sondern ideologisiert. In diesem Zusammenhang erscheint auch der literarische Realismus nicht länger als eine Stilrichtung unter vielen, sondern wird zu einer literarischen Doktrin, deren literarische Verfahren zugleich die richtige politische Weltanschauung des Autors dokumentieren.118 Zentrales Moment für die Indienstnahme der Literatur ist dabei nicht das von Stalin konstatierte Zurückbleiben des Bewußtseins hinter dem Umbau der Wirklichkeit, sondern das Zurückbleiben der Wirklichkeit hinter ihrem offiziell propagierten Bild. Diese Differenz soll mit Hilfe der Literatur kompensiert und in ihr Gegenteil verkehrt werden. So erscheint die mit der Kanonisierung einer Leninschen Orthodoxie offizialisierte Unterordnung der Literatur unter den ideologischen Diskurs nicht zuletzt als Versuch, über die Manipulation der Zeichen die Realität (und ihre Wahrnehmung) selbst zu manipulieren.119 Denn erst, wenn die Texte und die sie interpretierenden Instanzen den Eindruck erwecken, als entspräche die in ihnen dargestellte Wirklichkeit einem extrastrukturalen Realen, das die Texte begründet und reguliert, kann die Existenz einer außerliterarischen Wirklichkeit behauptet werden, die unabhängig vom literarischen Kunstwerk existiert. In dem Moment, in dem Staat und Partei miteinander verschmelzen und Stalin über den Parteiapparat zugleich auch den Staatsapparat kontrolliert, setzt eine zeichenhafte Machtergreifung ein, die das Zeichenmonopol des Staates sichert und die von ihr geschaffene Vision zur einzig möglichen Wahrnehmung der Wirklichkeit erklärt.120 Die Übertragung der in den Diskussionen der zwanziger Jahre weitgehend unbeachtet gebliebenen Widerspiegelungstheorie in den offiziellen Organisationen vgl. Eimermacher 1994, 79ff. sowie Ermolaev 1963, 98ff., Kemp-Welch 1991, 75ff. und Brown 1971, 98f. Zu den verschiedenen Kampagnen siehe auch Gjunter 2000, 242ff. sowie Belaja 2000, 249ff. und Lenert 2000, 320ff. 116 Vgl. hierzu Plumpe 1976, 5f. 117 Vgl. hierzu Günther 1984, 48ff. sowie Maksimenkov 1997, 72ff. 118 Zur Doktrin als für alle verbindliches Diskursensemble, mit dem nicht nur die Texte sondern auch die an ihm teilnehmenden Individuen kontrolliert werden vgl. Foucault 1974, 29f. 119 Daß dies nicht gelingt, zeigen die inzwischen veröffentlichten Tagebücher. Sie alle lassen erkennen, daß der Versuch, eine einheitliche Wirklichkeit zu stiften, an dem kommunikativen Gedächtnis jedes einzelnen scheitern kann: vgl. hierzu beispielsweise Garros/Korenewskaja/Lahusen 1989 sowie Hellbeck 1996 oder Druskin 1986. 120 Lev Kopelev schreibt in seiner Autobiographie: „Die Kluft zwischen Bezeichnungen und Wirklichkeit, zwischen Worten und Taten wurde immer breiter und tiefer.“ (Kopelew 1996, 256) Einleitung 21 literaturpolitischen Diskurs der späten zwanziger Jahre121 kommt so dem Innovationsakt einer Primärrezeption gleich,122 deren „konter-evolutionäre Geschehensfigur“123 sie zur fundierenden Verbindlichkeit einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie werden läßt.124 Sie wird zum neuen ‚literarischen Faktum’ mit dessen Einsetzung eine neue literarische Epoche eingeleitet wird.125 1.2.8 Realismus als formale Strategie einer ideologischen Ästhetik Mit der endgültigen Kanonisierung einer marxistisch-leninistischen Literaturtheorie vollzieht sich zugleich eine grundsätzliche Umwertung von Kunst und Literatur. Sie sind nicht länger ihrer eigenen systemimmanenten Entwicklung verpflichtet, sondern werden stattdessen zu Instrumentarien einer totalen Ästhetisierung der Wirklichkeit. Die ästhetische Dimension der Texte wird in den Dienst einer Wirklichkeitskonstruktion gestellt, die durch die literarische Imagination gestaltet und durch die imaginären Praktiken literarischer Sprachkunstwerke realisiert werden soll.126 Die Gleichschaltung von Kunst und Literatur zielt damit nicht allein auf eine Indienstnahme der Literatur als Propagandawerkzeug ab, sondern versucht gleichzeitig, durch die Kontrolle der Literatur die von ihr betriebene symbolische Welterzeugung selbst zu kontrollieren.127 Durch die Indienstnahme eines realistischen Literaturverständnisses können dabei eine Reihe literarischer Verfahren bereitgestellt werden, die zu einer solchen Fiktionalisierung der Wirklichkeit beitragen. Intendiert ist eine „Totalkunst“, die nicht länger zwischen Utopie und Wirklichkeit unterscheidet, sondern Utopie und Realität gegeneinander tauscht:128 «Тоталитарная культура не строит утопии – она в ней живет: для нее уже произошел обещаний Марксом скачок из 'царства необходимости' в 'царство свободы', закончилась предыстория и началась история (или пост-история?). В этом наступившем – вечном теперь уже – царстве и расцветает соцреализм.» (Dobrenko 1993, 62) Aus der direkten Unterordnung der literarischen Produktion unter den ideologischen Diskurs geht eine Literatur hervor, deren Aufgabe es ist, die ‚Stimmigkeit einer fiktiven Welt’ herzustellen und deren ideo-logisches Weltbild zu beglaubigen.129 In der verordneten Übereinstimmung von literarischem und ideologischem Wort wird sie zur affirmativen Bestätigung ihr vorgängiger Parteilosungen herangezogen, die durch die literarische Fiktion authentifiziert werden sollen. Die Text- und Bildproduktion ist nach dem Einsetzen des 1. Fünfjahresplans vor allem damit beauftragt, die in seinem Verlauf gewaltsam herbeigeführte Unterordnung aller Wirklichkeitsbereiche unter das Diktat der Partei zu bestätigen und zu einer nachträglich fingierten Wirklichkeit auszubauen.130 Die zusammen mit der Kulturrevolution eingesetzte Kontrolle über Kunst und Literatur Günther 1984, 140ff. Haug 1987, 259 123 Assmann/Assmann 1987, 16. 124 Zum Begriff der fundierenden Verbindlichkeit vgl. Hahn 1987, 28. 125 Zum Begriff des literarischen Faktums vgl. Tynjanov 1924, 394ff. 126 Zu dieser Funktion des Kunstwerks vgl. noch einmal Golomstock 1990, 179f. sowie Groys 1988, 62 und Dobrenko 1993, 46. 127Shlapentokh1990, 10, beschreibt die Funktion von Kunst und Literatur ebenfalls als Schaltstelle zwischen Ideologie und Wahrnehmung. 128 Zum Begriff der Totalkunst vgl. Brock 1983, 24ff. 129 Vgl. hierzu Brock 1983, 22ff. sowie Günther 1993, 184ff. 130 Günther 1993, 184ff. sowie Tucker 1990, 202 und 242, der den 1. und 2. Fünfjahresplan als Fiktionalisierung der Wirklichkeit beschreibt. Wie weit literarische Fiktion und faktische Realität dabei auseinanderliegen, zeigt Thomas Lahusens Vergleich zwischen Nikolaj Ažaevs Roman Далекo от Москвы und den tatsächlichen Schauplätzen der nachträglich fingierten Handlung: Lahusen 1997. 121 122 Einleitung 22 dient so unter anderem dazu, sich der Zeichen und ihrer Referenten zu bemächtigen und mit ihrer Hilfe eine determinierte und eindeutige Weltordnung zu schaffen.131 Sie soll die Sowjetunion der dreißiger Jahre in ein Gesamtkunstwerk Staat verwandeln, in das am Ende dann auch die mythische Fiktion ‚Stalin’ eingepaßt werden kann.132 Zu den Mitteln dieser Wirklichkeitsfiktion werden die literarischen Verfahren der realistischen Literatur. Spätestens seit Erich Auerbachs Abhandlung über die Mimesis sind mimetische Widerspiegelung und realistisches Schreiben aufeinander bezogen. Doch während Auerbach die realistische Darstellungsweise als Stilmischung definiert, die die rigorose Stiltrennung zwischen tragischem, komischem und idyllischem Stil aufhebt, zum Ausdruck einer alltäglichen Wirklichkeit erklärt,133 versteht die neuere Realismusforschung den Begriff Realismus als Summe von Verfahren, deren Realitätseffekte die in ihnen geschaffene Wirklichkeit beglaubigen und durch eine scheinbar neutrale Stillage objektivieren (soll).134 Die Kanonisierung einer realistischen Erzähltradition geht so nicht zuletzt mit dem Versuch einher, eine Wirklichkeit schaffen, deren vollkommen mythisierte Realität mit den Mitteln der Kunst beglaubigt werden soll. 1.2.9 Die Resolution von 1932 – die endgültige Verstaatlichung der Literatur Mit der am 23. April 1932 erlassenen Resolution О перестройке литературноцхудожественных организаций (Постановление ЦК ВКП(б)), mit der alle noch bestehenden Schriftstellerorganisationen aufgelöst werden, findet die endgültige Vereinnahmung von Kunst und Literatur statt. Obwohl die in der Verordnung vorgeschriebene Auflösung aller literarischen Organisationen formal als Reaktion auf die von der RAPP betriebene Hegemonie beschrieben wird, markiert sie eigentlich jedoch den Beginn einer offiziell betriebenen Literaturpolitik, die zugleich das Ende der bis dahin dekretierten Freiheit der Künste bedeutet.135 Indem sich die Partei mit der Resolution das literaturpolitische Monopol sichert, unterstellt sie die Literatur ihrem unmittelbaren Zugriff und kann alle Schriftsteller in einem einheitlichen Verband organisieren.136 Die Resolution wird damit zum Gründungsakt einer Literaturpolitik, die Kunst und Literatur endgültig dem Gesamtkunstwerk Staat unterordnet.137 Einziger Schreibgegenstand ist von nun an die neue sowjetische Wirklichkeit, einzig mögliche Methode der Sozialistische Realismus.138 Mit dieser Reorganisation des Literaturbetriebs geht nach der Unterdrückung der innerparteilichen Opposition und der damit einhergehenden Machtergreifung Stalins die diskursive Macht auch im Bereich der Literatur auf die Partei über. Die Aufgabe der mit der literarischen Produktion betrauten Institutionen besteht nicht länger darin, die Zum Zusammenhang von diskursiver und faktischer Wirklichkeit vgl. Fleischer 1996, 13ff., der darauf hinweist, daß Diskurse und Interdiskurse semiotische Praktiken darstellen, um konkrete Weltbilder zu generieren. 132 Zum Gesamtkunstwerk Staat (beziehungsweise Stalin) vgl. Groys 1988, 64ff. 133 Aust 1977, 11 sowie Gebauer/Wulf 1992, 18ff. 134 Aust 1977, 11 und 28. 135 Vgl. hierzu Brown 1971, 209 sowie Ermolaev 1963, 135f., Götz 1989, 40f., Maksimenkov 1997, 23ff. und Kemp-Welch 1991, 114f., der die These aufstellt, daß die Verordnung von 1932 auf Stalins Bedürfnis zurückgehe, alle Fragen administrativ zu regeln. 136 In dem Artikel «Советская литература на новом подьеме», der am 15 Mai in der Комсомольская правда erschienen ist, wird der Schriftstellerverband ganz offiziell zum neuen Agenten der Partei an der literarischen Front erklärt: vgl. hierzu Kemp-Welch 1991, 120. 137 Andrej Platonov bezeichnet diese Entscheidung in seinem Tagebuch als «всенародная инценировка» (Platonov 1989, 14). 138 Vgl. hierzu auch Struve 1971, 255. 131 Einleitung 23 Szenarien einer neuen Wirklichkeit zu entwerfen, sondern darin, ihre Übertragung in die literarischen Texte zu überwachen. Ziel ist so nicht länger eine durch die Indienstnahme verschiedener Gurppen und Personen durchgesetzte Literaturpolitik, sondern eine unmittelbare Verstaatlichung von Kunst und Literatur, die in erster Linie dazu dient, die diskursiv geschaffene Wirklichkeit zu bestätigen.139 1.2.10 Gor’kij als Gründervater des sozialistischen Realismus Zum mythischen Gründervater der neuen sowjetischen Literatur wird Maksim Gor’kij stilisiert.140 Dieser kehrt im Mai 1932 nach einem jahrelangen Exil in die Sowjetunion zurück. Er entschließt sich zu diesem Schritt, nachdem sich seine materielle Lage in Europa zunehmend schwieriger gestaltet.141 Zu diesem Zeitpunkt scheint allein in der Sowjetunion eine Ausgabe seiner gesammelten Werke möglich und auch eine umfangreiche Unterstützung seiner literarischen Tätigkeit scheint nur noch in der Sowjetunion gewährleistet zu sein. Nachdem er am 28. Mai 1932 gegen Mittag in Moskau eingetroffen ist und abends als Ehrengast an einer Jubiläumsfeier der Moskauer Universität teilgenommen hat, findet seine offizielle Rehabilitierung einen Tag später in einer Rede Lunarčarskijs statt. Dieser versichert ihm (und allen anderen Zuhörern), daß Stalin Gor’kijs jahrelange Abwesenheit verziehen habe. Gleichzeitig fordert er alle Schriftsteller, die sich noch im Exil befinden, dazu auf, dem Beispiel Gor’kijs zu folgen. Mit seiner Überhöhung zum Übervater der sowjetischen Literatur geht aber nicht nur ein Wechsel von einer institutionellen zu einer personalisierten Literaturpolitik einher. Mit seiner Inszenierung als höchste literarische Autorität vollzieht sich zugleich ein Wechsel in dem öffentlich propagierten Literaturverständnis. Mit seiner Rückkehr in die literarische Szene der Sowjetunion werden alle bis dahin diskutierten Realismusbegriffe entwertet und durch ein Verständnis von Realismus ersetzt, der nicht länger auf die objektive Darstellung der Wirklichkeit ausgerichtet ist, sondern auf die Konzeption eines die Wirklichkeit überhöhenden Schreibstils. Im Unterschied zu den RealismusKonzeptionen Fadeevs oder Ermilovs ist der Realismus-Begriff Gor’kijs in einer romantischen Tradition verwurzelt, die sein gesamtes literarisches Schaffen bestimmt.142 Obwohl er den Begriff der revolutionären Romantik selbst nicht verwendet143 ist sein Literaturverständnis von Anfang an auf eine mythische Überhöhung der Wirklichkeit ausgerichtet. Gor’kij unterscheidet dabei zwischen zwei Arten der Romantik: einer bürgerlichen und einer sozialistisch-realistischen.144 Während die erstere für ihn lediglich der Ausdruck eines bürgerlichen Eskapismus ist, ent-deckt die andere die wahre, hinter den Dingen liegende Realität der Welt.145 Der von Gor’kij vertretene Realismusbegriff mündet so ganz direkt in den Prozeß der sowjetischen Mythenbildung ein. Die von ihm verfolgte Idee einer aktiven Romantik wird zum Bestandteil einer mythisch überhöhten Literaturkonzeption, deren Ziel es ist, die faktische Realität durch ihr literarisch ge- Ermolaev 1963, 123 sieht die Resolution im Zusammenhang mit der nominellen Umwandlung von einer proletarischen in eine sozialistische Kultur, die mit dem Ende des 1. Fünfjahresplans proklamiert wird. 140 Struve 1971, 254, sowie Kemp-Welch 1991, 125, Ermolaev 1963, 148f. 141 Kjetsaa 1996, 312. 142 Bisztray 1978, 76 sowie Günther 1993. 143 Bisztray 1978, 77. 144 Bisztray 1978, 76f. und Günther 1993, 104ff. 145 Bisztray 1978, 77. 139 Einleitung 24 schöntes Ideal zu ersetzen.146 Für Gor’kij ist eine so konzipierte Widerspiegelung der Wirklichkeit allein durch die Methode des Sozialistischen Realismus zu realisieren.147 Tatsächlich werden durch das von Gor’kij vertretene Konzept der Romantik jedoch literarische und epische Schreibverfahren in den literarischen Diskurs eingeholt, welche die Wirklichkeit an ihr politisch vorgeschriebenes Ideal angleichen sollen.148 So ist es die von Gor’kij vertretene Literaturauffassung, welche die in den Auseinandersetzungen der frühen zwanziger Jahre noch unvereinbar scheinenden Verfahren von Romantik und Realismus zusammenführt149 und die Begriffe Mythos und Bild in seiner Konzeption des literarischen Realismus vereinheitlicht.150 Er setzt kurz vor dem 1. Schriftstellerkongreß die Einheit von revolutionärem und realistischem Schreiben durch und kann damit eins der wichtigsten Postulate des Sozialistischen Realismus vorbereiten.151 Es scheint also kein Zufall, daß Gor’kij mit seinem mythisch überhöhten Realismusbegriff genau zu dem Zeitpunkt in die Sowjetunion zurückkehrt, in dem zusammen mit der Widerspiegelungstheorie ein vermeintlich realistisches Literaturverständnis in den literarischen Diskurs eingesetzt wird. Die damit indirekt kanonisierten Schreibverfahren werden zur zentralen Voraussetzung, um das Reale und das Mythische zu verbinden und im Verweis auf die Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit als deren Abbild auszugeben. Nur in einem so angelegten Literaturverständnis kann die poetische Überhöhung des Sozialistischen Realismus als realistische Wiedergabe einer faktischen Wirklichkeit erscheinen.152 Mit der engültigen Verstaatlichung von Kunst und Literatur geht so ein Wechsel von vermeintlich realen zu heroischen bzw. mythischen Schreibverfahren einher, die Katerina Clark als Wechsel von einer realistischen zu einer idealistischen Literatur beschreibt.153 Evgenij Dobrenko schreibt über diese Angleichung von Realismus und Romantik: «Соцреализм трансформировал утопию в 'пост-уропию', соединив 'реализм' с 'романтикой'. [...] Соцреализм устраняет действительность из этого уравнения вовсе, создавая мир, в котором идеал растворяется в действительности (или наоборот).» (Dobrenko 1993, 64) 1.2.11 «Символ» und «образ» Daß die mit der Widerspiegelungstheorie kanonisierten Schreibverfahren auf eine mimetische Wiedergabe der Wirklichkeit ausgerichtet sind, zeigt eine 1932 in verschiedenen (literarischen) Zeitungen geführte Diskussion um die Begriffe 'символ' und 'образ'. In dieser Auseinandersetzung wird ein образ-Begriff kanonisiert, der das literarische Bild nicht länger als Ausdruck einer ideologischen Überzeugung des Autors versteht, sondern als Abbild einer Wirklichkeit, das seinen für alle gleichermaßen verbindlichen Referenten in der gegenständlichen Welt hat.154 Diese Interpretation des образ-Begriffs führt zu einem Literaturverständnis, in dem die sowjetische Literatur ihre Ermolaev 1963, 156ff. sowie Günther 1993, 105ff. Bisztray 1978, 23. 148 Zur Diskussion um die revolutionäre Romantik vgl. Ermolaev 1963, 190ff. sowie Günther 1993, 111ff. 149 Vgl. hierzu noch einmal Günther 1993, 111f. 150 Vgl. hierzu Gjunter 2000, 42. 151 Vgl. hierzu Nike 2000, 475. 152 Inwieweit die Vision des 1. Fünfjahresplans dabei Gor’kijs eigenen Traum von einer neuen sozialen Ordnung und dem in ihr entstehenden neuen Menschen zusammenfällt, zeigen Günther 1993, 130ff. und Kjetsaa 1996, 333ff. 153 Clark 1985, 34ff. 154 Vgl. hierzu auch Ermolaev 1963, 186ff. 146 147 Einleitung 25 fiktive Qualität verliert. Sie ist nicht länger auf eine noch zu schaffende Gesellschaftsordnung ausgerichtet, sondern auf eine hinter der Wirklichkeit liegende Realität, die es in den literarischen Texten abzubilden gilt. Durch die Diskussion dieser beiden Begriffe wird ein Literaturverständnis offizialisiert, das die literarischen Zeichen entfiktionalisiert und als Repräsentanten einer urbildlich gedachten Wirklichkeit versteht. Durch diese Diskussion wird ein realistisches Literaturverständnis in den metaliterarischen Diskurs eingesetzt, das noch vor seiner offiziellen Kanonisierung den literarischen Diskurs bestimmt. 1.2.12 Literatur und Propaganda Indem das literarische Wort auf dieselben Referenten bezogen wird, wie das rhetorische Wort der offiziellen Propaganda, wird seine Möglichkeit einer eigenständigen Sinnkonstitution eingeschränkt und auf die künstlerische Gestaltung des im ideologischen Wortgebrauch bereits hergestellten Bedeutungszusammenhangs festgelegt. Dadurch, daß literarisches und propagandistisches Wort auf die Widergabe derselben Wirklichkeit verpflichtet sind, verliert die Literatur ihre künstlerische Selbstständigkeit und wird zusammen mit der Presse zu einem der wichtigsten Übertragungsinstrumente der parteipolitischen Propaganda.155 Findet die Widerspiegelung der Wirklichkeit so vor allem in den Strukturen bereits vorformulierter Wirklichkeitsentwürfe statt, legt sie die Literatur auf ein Zeichenverständnis fest, das jede eigenständige Interpretation negiert. Damit entsteht eine einheitliche Semantik, in der reale und poetische Welt unmittelbar aufeinander bezogen und zumindest in der übergeordneten Rhetorik des literaturtheoretischen Diskurses aufeinander abgebildet werden können.156 So auf das ideologische Wort der offiziellen Propaganda verwiesen, besteht die Aufgabe der Literatur darin, die von ihr vorgeschriebene Wirklichkeitsfiktion in ihrem eigenen fiktionalen Diskurs zu authentifizieren. Mit dieser Angleichung von propagandistischem, rhetorischem und literarischem Wort kehrt die sowjetische Literatur zu einer „monologischen Äußerung“ zurück, die, so Bachtin, jenen „historisch-aktuellen Kräften“ entspricht, „die die sprachlich-ideologische Welt vereinen und zentralisieren“157. Die immer wieder bestätigte, tatsächlich jedoch negierte Vielfalt der künstlerischen Verfahren erscheint damit nur mehr als Inszenierung einer literarischen Polyphonie. Denn mit dem immer wieder vorgenommenen Verweis auf die mimetische Fiktion der Texte ist es gerade die Polyvalenz des dialogischen Wortes, die durch eine Kanonisierung der Literatur abgeschafft werden soll. Sie wird in eine einheitliche Sprache überführt, deren monologische Rede die politische Zentralisierung legitimiert.158 Das dies nicht immer funktioniert, zeigen die Rezensionen der literarischen Texte. Selbst, wenn die von Michail Jampol’skij vertretene These einer Zeitgleich mit der Verwandlung von Kunst und Literatur in institutionalisierte Übertragungskanäle findet auch im Bereich der Informationspolitik eine Entgrenzung von Fiktion und Information statt. Während zu Beginn der zwanziger Jahre noch zwischen faktographischer und sogenannter schöpferischer Nachricht unterschieden wurde, ging man Ende der zwanziger Jahre zu einer rein schöpferischen Nachrichtenverarbeitung über, bei der nicht länger der Informationsgehalt im Mittelpunkt stand, sondern eine „Agitation durch Tatsachen“, mit der die Pressearbeit vollkommen der Agitation untergeordnet wurde: vgl. hierzu Roth 1980, 84f. 156 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 223 sowie Dobrenko 1993, 36, der darauf hinweist, daß die Sprache des Sozialistischen Realismus permanent bestrebt ist, den konventionalisierten Sprachbereich auszuweiten. Groys 1988, 52 spricht von einem „künstlich eingehämmerten sprachlichen Unbewußten“. 157 Bachtin 1934/35, 89. 158 Vgl. hierzu Bachtin 1934/35, 90 sowie Dobrenko 1993, 46, der von einer ideologischen Sprachmagie der literarischen Texte spricht. 155 Einleitung 26 Karnevalisierung der Zensur nicht zu unrecht darauf verweist, daß die Kontrolle von Kunst und Literatur ein Ritual darstellt, daß die Richtigkeit der Texte garantiert,159 offenbaren die Literaturkritiken trotzdem eine Diskrepanz zwischen Text und Ideologie, die nur durch eine permanente Kommentierung verdeckt werden kann.160 In dieser Überlagerung von ideologischem und literarischem Diskurs sollen die propagierten Massen noch vor der offiziell gefeierten Machtergreifung Stalins von der wirklichen Welt abgeschlossen werden. Sie werden einer Gleichschaltung aller sprachlichen Äußerungen ausgesetzt, die keine alternativen Realitätskonzepte mehr kennt.161 Der damit einsetzende ‚Terror der Indoktrination’, den Hannah Arendt als konstitutives Element aller totalitären Systeme beschreibt, soll den Blick auf die Wirklichkeit so weitgehend okkupieren, daß sie durch eine Gegenpropaganda nicht mehr angreifbar ist.162 Im Kontext der mit dem Fünfjahresplan und der Kulturrevolution angestrebten Vereinheitlichung der Wirklichkeit fungiert die Literatur so als symbolischer Wirklichkeitsersatz, dessen künstlerische Fiktion die mythische Realität der dreißiger Jahre gestaltet. 1.2.13 Die Diskussion um die Sprache Die Einsetzung eines monologischen Wortes wird aber noch in einer weiteren Diskussion reguliert. In der sogenannten ‚Diskussion um die Sprache’ wird ein Schriftvertständnis kodifiziert, das den jeweiligen Text unabhängig vom subjektiven Stil des Autors auf eine (scheinbar) objektive Sprache verpflichtet. Diese, seit Beginn der dreißiger Jahre geführte Diskussion findet ihren Höhepunkt in einer Reihe von Artikeln, die Gor’kij zu Beginn des Jahres 1934 veröffentlicht. Sie erscheinen in den führenden Zeitungen der Sowjetunion und werden durch ihre Kommentierung zu den zentralen Kategorien der neuen sowjetischen Literatur erhoben.163 In diesen Artikeln formuliert Gor’kij seine Vorstellung von einer grammatikalisch wie lexikalisch einwandfreien Sprache. Er fordert einen einfachen, klaren Stil, der weder Regionalismen, noch umgangssprachliche Wendungen oder individuelle Sprachmuster aufweist.164 Durch die unantastbare Autorität Gor’kijs verlieren diese Thesen ihren subjektiven Charakter und werden zur überindividuellen Norm, die für alle Autoren gleichermaßen verbindlich ist.165 Mit ihnen bereitet Gor’kij die Etablierung einer ideologischen Sprache vor, die von den offiziellen Presseorganen dann zum Ausdruck einer außerliterarischen Wirklichkeit umgedeutet wird.166 Die Verwendung nicht zugelassener Sprachelemente erscheint in diesem Zusammenhang nicht länger als Ausdruck einer individuellen Sprachverwendung des Autors, sondern wird zum Beleg seiner abweichenden ideologischen Haltung.167 In dieser Gleichsetzung von literarischer Sprache und Ideologie erscheinen alle von der schriftsprachlichen Norm abweichende Formulierungen als Deformation, die zugleich die ideologische Deformation der Schriftsteller offenbaren. Sprachliche Iampolski 1995, 865ff. Zu dieser Funktion der Literaturkritik vgl. Foucault 1999, 114ff. sowie Günther 1984, 172 und 188 und Kneip 1995, 123ff. 161 Vgl. hierzu Stroínska 1994, 63ff., die Propaganda als perlokutionären Akt beschreibt, der überzeugen und nicht darstellen soll. Zu dieser Funktion der Propaganda vgl. auch Kalnins 1966, 135. 162 Zu dieser Funktion totalitärer Propaganda vgl. Arendt 2000, 733ff. 163 Ermolaev 1963, 143 sowie Günther 1984, 59 und Kemp-Welch 1991, 163. 164 Vgl. hierzu Günther 1984, 57f. sowie Kemp-Welch 1991, 164. 165 Günther 1984, 54. 166 Vgl. hierzu Günther 1984, 62 und Kemp-Welch 1991, 164. 167 Vgl. hierzu Günther 1984, 58ff. sowie Kemp-Welch 1991, 164f. 159 160 Einleitung 27 Stilisierungen erscheinen als lexikalisches Halbwissen, dem ideologisches Analphabetentum unterstellt wird. Damit verlieren diese Verfahren ihren Status als literarische Mittel und werden zum Ausdruck einer defizitären Warhnehmung ihrer Verfasser. Umgangssprachliche Wendungen sind lediglich noch in der direkten Rede literarischer Figuren erlaubt, solange sie die Plastizität der Charaktere unterstreichen und deren Wirklichkeitsbezug erhöhen.168 Durch die öffentliche Auseinandersetzung um die Sprache wird ein Sprachbegriff normiert, der auf der Vorstellung festgefügter, eindeutiger Denotate beruht und nicht durch individuelle Konnotationen unterwandert werden kann.169 Zu den Konventionen der neuen sowjetischen Literatursprache werden Genauigkeit des Ausdrucks, Kürze, Einfachheit und Klarheit. Die Sprache des Sozialistischen Realismus inszeniert sich so als stilistisch nicht markierter Stil,170 mit dem die Autoren zugleich ihre politisch unbedenkliche Weltanschauung unter Beweis stellen. Zur Richtlinie der so stilisierten Sprachnorm wird die Literatursprache des 19. Jahrhunderts erhoben. Auch sie wird in ein Sprachverständnis eingefügt, das keinerlei Mehrdeutigkeit des literarischen Zeichens mehr kennt. Die gerade in den ersten Jahren der literarischen Gleichschaltung immer wieder geforderte Verständlichkeit der neuen sowjetischen Literatur, die in der 1934 einsetzenden Diskussion um die Sprache dann endgültig kanonisiert wird, klingt so das Konzept einer entpoetisierten Sprache nach, deren scheinbar realistische Bildlichkeit ganz im Dienste der Anschaulichkeit und Plastizität der darzustellenden Wirklichkeit steht. So ist es nicht, wie Igor Golomstock glaubt, die konservativste aller Literaturrichtungen, die kanonisch eingesetzt wird,171 sondern diejenige, deren Realitätseffekte die in den Texten entworfene Fiktion auf die Wirklichkeit selbst übertragen können. 1.2.14 Kanonisierung des sozialistischen Realismus Höchste Autorität erhält die im Kontext des Sozialistischen Realismus festgelegte Widerspiegelungstheorie durch ein legendäres Treffen, das am 26. Oktober 1932 in der Wohnung Maksim Gor’kijs stattgefunden hat. Dieses Treffen, an dem Stalin, Gor’kij, Molotov, Vorošilov, Kaganovič sowie etwa 45 Schriftsteller teilgenommen haben, wird in allen sowjetischen Veröffentlichungen zur Geburtsstunde des Sozialistischen Realismus verklärt.172 Während dieser Zusammenkunft soll Stalin selbst den Begriff des Sozialistischen Realismus geprägt und sein literarisches Programm entworfen haben.173 Diese mythische Begründung des Sozialistischen Realismus stattet ihn mit einer unantastbaren Autorität aus und verwandelt sein literarisches Programm in ein endgültiges, nicht mehr hinterfragbares Postulat.174 In den verschiedenen Sitzungen des Organisationskomitees, das nach 1932 mit der Schaffung einer einheitlichen Literaturtheorie beauftragt worden ist, findet eine Formalisierung des bis dahin lediglich termiGünther 1984, 60. Günther 1984, 62. 170 Günther 1984, 65. 171 Golomstock 1990, 3. 172 Zur mythischen Rolle Stalins im metaliterarischen Diskurssystem des Sozialistischen Realismus vgl. Timofejew 1953 sowie Lučšij drug 1939. 173 Vgl. hierzu Ermolaev 1963, 145 und 162ff. sowie Günther 1984, 11f. und Kemp-Welch 1991, 127ff, die darauf hinweisen, daß die Frage nach der tatsächlichen Beteiligung Stalins an einem Umbau der sowjetischen Literatur nach wie vor nicht abschließend geklärt ist. Es ist aber wahrscheinlich ist, daß Stalin von Anfang in die Diskussionen und Entscheidungen einbezogen war. 174 Vgl. hierzu Ermolaev 1963, 145ff. 168 169 Einleitung 28 nologisch vorgegebenen Begriffs Sozialistischer Realismus statt.175 In verschiedenen Referaten und Diskussionen soll der Sozialistische Realismus von einer rein literaturpolitischen Vorgabe in ein offizielles und durch die Autorität Stalins sanktioniertes literarisches Programm umgeschrieben werden. Doch die Vereinheitlichung und Formalisierung des Sozialistischen Realismus erweist sich als äußerst schwierig. Obwohl bereits 1932 die Existenz einer einheitlichen Literatur behauptet wird, dauern die Diskussionen, die im Organisationskomitee um die zukünftige sowjetische Literatur entstehen, bis 1934 an.176 In dieser Zeit findet eine Auseinandersetzung statt, die letztlich dazu führt, daß sowohl die offizielle Gründung des Schriftstellerverbandes als auch der 1. Schriftstellerkongreß verschoben werden mußten.177 Beide waren für das Jahr 1932 geplant, doch es dauerte bis 1934, um die Losung des Sozialistischen Realismus zu kanonisieren und die für ihre Durchsetzung notwendige Vereinheitlichung der Künstler zu realisieren.178 Der ideal gedachte Zusammenfall zwischen der Verkündung des erfolgreich beendeten 1. Fünfjahresplans mit der Vereinigung aller Schriftsteller im offiziellen Schriftstellerverband konnte so nicht realisiert werden. Diese zumindest geplante zeitliche Übereinstimmung weist darauf hin, daß das beabsichtigte Ziel der mit der Resolution von 1932 eingesetzten Literaturpolitik nicht allein in der Befreiung der literarischen Szene von der Hegemonie der RAPP bestand, sondern in einer totalen Vereinnahmung von Kunst und Literatur, deren Kontrolle die notwendige Voraussetzung dafür war, um den mit dem Ende des 1. Fünfjahresplans eingeleiteten Tausch von Fakt und Fiktion zu legitimieren.179 Nachdem die Zeit nach 1932 durch Auseinandersetzungen über die literarische wie organisatorische Arbeit des offiziellen Schriftstellerverbandes geprägt war, setzt 1934 ein abschließender Kanonisierungsprozeß ein. In den Veröffentlichungen dieser Zeit wird nicht nur der Schriftstellerverband zum einzig möglichen Repräsentanten der sowjetischen Literatur, sondern auch der Sozialistische Realismus zur einzig möglichen literarischen Methode erhoben.180 Bereits im Mai 1934 wird der Begriff des Sozialistischen Realismus in den offiziellen Zeitungen und Zeitschriften diskutiert. In den Artikeln und Editorialen finden sich dieselben Formulierungen wie in dem Statut des Schriftstellerverbandes, das auf dem Abschlußplenum des 1. Schriftstellerkongresses verabschiedet wird. Obwohl der Begriff des Sozialistischen Realismus erst auf diesem Plenum zur offiziellen Losung der neuen sowjetischen Literatur erklärt wird, lassen die Der Begriff Sozialistischer Realismus wird zum ersten Mal am 23. Mai 1932 in der Литературная газета veröffentlicht. Er wird auf verschiedenen Sitzungen des Zentralkomitees diskutiert: Ermolaev 1963, 144f., Kemp-Welch 1991, 132, Günther 1984, 10f. und Jäger 1984, 590. 176 Zu den Diskussionen innerhalb der verschiedenen Gremien und Institutionen vgl. Ermolaev 1963, 146f. sowie Kemp-Welch 1991, 145ff. und Günther 1984, 15f. 177 Noch am 30 Mai 1933 schreibt Konstantin Fedin an Maksim Gor’kij: „Inzwischen wurde der Schriftstellerkongreß verschoben. Obwohl hier keinerlei Einzelheiten bekannt sind, glaube ich, daß es sich nicht nur um Wochen, sondern um Monate handelt [...].“ (z.n. Gorki 1984, 127) 178 Im August 1933 soll eine Kommission mit der endgültigen Ausformulierung einer neuen literarischen Methode beauftragt worden sein. Ihr gehörten außer Averbach und Makar’ev nur Parteifunktionäre, Herausgeber sowjetischer Zeitungen, Mitglieder der Kommunistischen Akademie und Mitarbeiter des Marx-Engels-Lenin-Instituts an: Kemp-Welch 1991, 151. 179 Auf diesen Zusammenhang von politischer Fiktion und literarischer Inszenierung weist auch Ermolaev 1963, 159f. hin. 180 Vgl. hierzu Ermolaev 1963, 161 sowie Günther 1984, 16 und Götz 1989, 50ff., der darauf verweist, daß die Diskussion um die Rolle der neuen sowjetischen Literatur zu diesem Zeitpunkt bereits nur noch ihre Simulation ist. 175 Einleitung 29 im Vorfeld veröffentlichten Artikel und Stellungnahmen erkennen, daß sowohl der Begriff als auch die Methode des Sozialistischen Realismus klar konzipierte Programme darstellen, die auf dem wenige Monate später stattfindenden Schriftstellerkongreß lediglich noch sanktioniert und offizialisiert werden sollen.181 Dadurch, daß der Sozialistische Realismus als autoritative Methode der neuen sowjetischen Literatur eingesetzt wird, wird er zur Handlungsanweisung, der alle Autoren zu folgen haben.182 1.2.15 Erster Schriftstellerkongreß Nachdem der Realismusbegriff bereits durch die Kanonisierung der Widerspiegelungstheorie vorbereitet worden ist, wird er auf dem 1. Schriftstellerkongreß endgültig zur überindividuellen Darstellungsnorm sowjetischer Literatur erhoben. Da er nicht länger als eine literarische Strömung unter vielen erscheint, sondern zum einzig möglichen Stil der neuen sowjetischen Literatur avanciert, geht in dieser Universalisierung des Realimusbegriffs auch die Erinnerung daran verloren, daß es sich dabei um einen parteipolitisches Postulat handelt.183 Dabei weist vor allem die nachträgliche Berichterstattung über den Schriftstellerkongreß darauf hin, daß die Bedeutung der auf ihm gehaltenen Reden weniger in ihrer tatsächlichen Stellungnahme begründet liegt, als in ihrer kanonbildenden Funktion. Außer der Rede Gor’kijs wird lediglich die Rede Ždanovs ungekürzt veröffentlicht. Die Reden aller anderen Schriftsteller werden nur in kurzen Auszügen öffentlich gemacht und scheinen lediglich der Inszenierung einer gemeinsamen sowjetischen Literatur zu dienen.184 Der 1. Schriftstellerkongreß dient so vor allem dazu, die den Sozialistischen Realismus begründenden Postulate zu offizialisieren und als zentrale Dogmen der neuen sowjetischen Literatur einzusetzen. Die Bedeutung der zentralen Reden liegt so nicht allein darin, zu einer gemeinsamen sowjetischen Literatur aufzurufen, sondern auch darin, die bereits kanonisierten Vorschriften des Sozialistischen zu wiederholen und durch das autoritäre Wort ihrer Redner zu offizialisieren.185 Die offizielle Kanonisierung des Sozialistischen Realismus wird dabei von einer Reihe Lossage- und Unterwerfunsritualen begleitet, die die autoritative Durchsetzung des literarischen Programms verdecken und stattdessen als freiwillig gewählte Form einer sozialistischen Literatur erscheinen lassen.186 Die Anwesenheit von Vertretern mehrerer Schriftstellerorganisationen, die vor ihrer Auflösung zum Teil verfeindet waren, stattet den Schriftstellerkongreß mit dem Nimbus einer freiwilligen Selbstverpflichtung aller Schriftsteller aus, die der neuen sowjetischen Literatur jenseits aller literarischen und Vgl. hierzu Kemp-Welch 1991, 169 sowie Ermolaev 1963, 197 Vgl. hierzu Kemp-Welch 1991, 170. 183 Vgl. hierzu Götz 1989, 79f. sowie Jäger 1987, 589. 184 Vgl. hierzu Götz 1989, 59f. Dieser weist darauf hin, daß die Berichterstattung in allen großen Zeitungen nahezu identisch ist. Bereits in dieser Berichterstattung gibt es keinerlei Hinweis mehr auf Auseinandersetzungen über verschiedene literarische Konzepte, obwohl zumindest die Diskussionen nach den Reden äußerst lebhaft waren: vgl. hierzu Götz 1989, 79ff. 185 Vgl. hierzu Götz 1989, 51ff. der darauf verweist, daß sich jede der programmatisch wichtigen Reden mit einem anderen Aspekt des Sozialistischen Realismus befaßt die zusammengenommen das Programm der zukünftigen Literatur(politik) ergeben. Kemp-Welch 1991, 172 weist darauf hin, daß bereits am 17.05.1932 eine Kommission eingesetzt worden ist, deren Aufgabe es war, darauf zu achten, daß mindestens eine Rede ein Genre abdeckt. 186 Vgl. hierzu Kemp-Welch 1991, 187ff. 181 182 Einleitung 30 politischen Differenzen zum Durchbruch verhilft.187 Die im Statut des Schriftstellerverbandes beschlossene Neubestimmung der sowjetischen Literatur schreibt dabei jene auf den ersten Blick gegensätzliche Literaturpolitik fest, die die literaturpolitischen Entscheidungen der Partei von Anfang an bestimmt: während auf der einen Seite die Freiheit der Künste und des künstlerischen Schaffens dekretiert wird, wird der literarische Diskurs auf der anderen Seite durch die Kanonisierung einer verbindlichen Methode an den offiziellen literarischen wie ideologischen Diskurs gebunden.188 Mit dem Auftrag ausgestattet, die Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung darzustellen, wird die Literatur auf die Verfahren einer realistischen Literatur verpflichtet, die die revolutionär-utopischen Momente der neuen Wirklichkeit verdecken und in scheinbar reale Versatzstücke einer empirisch erfahrbaren Realität verwandeln sollen. So wird zusammen mit dem Sozialistischen Realismus eine Reihe literarischer Verfahren kanonisiert, die die artifiziell geschaffene Wirklichkeit der dreißiger Jahre bestätigen und zur Widerspiegelung ihrer revolutionären Umgestaltung werden lassen sollen. Auf diese Weise entsteht eine Literatur, die – vollkommen fiktiv – zur Widerspiegelung einer vermeintlich authentischen Realität umgeschrieben werden kann. Das Einholen realistischer Schreibstrategien dient dabei dazu, die Mythenproduktion der sowjetischen Literatur zu entfiktionalisieren und die ihr zugrundeliegende Utopie zu entwerten.189 Gleichzeitig wird mit der Methode des Sozialistischen Realismus ein verbindliches Konzept formuliert, daß alle Autoren an die Mythenproduktion der sowjetischen Literatur anschließt. Mit ihr werden eine Reihe von Postulaten eingesetzt, die es allen Schriftstellern ermöglicht, an der ritualisierten Theatralisierung der Wirklichkeit teilzunehmen.190 Mit der Etablierung des Sozialistischen Realismus werden Text und Wirklichkeit also in ein Referenzsystem überführt, in dessen imaginärem Ideal Literatur und Wirklichkeit nicht länger voneinander unterschieden sind, sondern die Regeln der Kunst als die Regeln der Wirklichkeit erscheinen. Damit wird zugleich die Vorstellung einer ganzheitlichen Außenwelt entworfen, die durch die scheinbar realistische Widerspiegelung bestätigt werden kann. Diese ist insofern erkenntnistheoretisch naiv, als daß sie an die bedingungslose Existenz einer Realität glaubt, die den literarischen Texten vorausgeht und damit implizit die mediale Vermittlung des Kunstwerks leugnet.191 In dieser Vision von Wirklichkeit wird Literatur zum Spiegel, die die von ihr geschaffene Realität objektiviert und als scheinbar faktische darstellen kann.192 Mit dieser Eliminierung der formalen Seite der Texte wird ein Wahrheitsanspruch behauptet, der sie an die empirisch erfahrbare Wirklichkeit anschließt: „The kinship between realism and truth was brought out by all Party spokesmen, including Stalin, in order to increase the prestige of the new literary method by identifying it with a faithful representation of life, by equating the Party’s interpretation of truth with the incorruptible artistic fidelity implicit in the concept of realism.” (Ermolaev 1963, 160) Vgl. hierzu auch die Beschreibung Oskar Maria Grafs vom Schriftstellerkongreß: Graf 1979, 39ff. Vgl. hierzu Götz 1989, 45f. sowie Ermolaev 1963, 200 und Günther 1984, 17. 189 Vgl. hierzu auch Gjunter 2000a, 42. 190 Vgl. hierzu Brooks 1999, 110. 191 Vgl. hierzu Stern 1983, 63. 192 Daß es sich dabei lediglich um einen imaginären Spiegel handelt, zeigt Eco, wenn er darauf hinweist, daß das Spiegelbild kein Zeichen ist, sondern lediglich eine Verdoppelung des Reizfeldes, das das Gezeigte weder interpretiert noch mit Sinn auflädt: Eco 1988, 46f. 187 188 Einleitung 31 1.2.16 1936 – Wechsel des Kulturmodells War die Zeit des 1. und 2. Fünfjahresplans noch die Zeit des offiziell dekretierten Umbaus der Wirklichkeit, hat dieses Paradigma nach 1936 keinen (thematischen) Bestand mehr. In der Verfassung, die im selben Jahr in Kraft tritt, wird die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft nicht länger propagiert, sondern als real existierende deklariert. Nachdem Stalin gleich zu Beginn seiner Rede „Über den Entwurf der Verfassung“ den in der Literatur vorbereiteten Tausch von Fiktion und Wirklichkeit offizialisiert und die neue sozialistische Gesellschaft zur Gegenwart der neuen sowjetischen Wirklichkeit erklärt,193 fallen die symbolische Ordnung der Texte und die symbolische Ordnung der Wirklichkeit zusammen.194 Das, was in den Jahren zuvor noch als Verweis auf die Ankunft einer neuen sozialistischen Gesellschaft interpretiert worden ist, wird nun zum Ausweis ihrer endgültigen Ankunft umkodiert.195 Mit diesem Zusammenfall von epischer und faktischer Realität kommt auch der Literatur eine neue Aufgabe zu. Sie soll die Wirklichkeit nicht länger in ihrer revolutionären Entwicklung widerspiegeln, sondern deren endgültige Verwirklichung dokumentieren. Von nun an steht eine totale Ästhetisierung der Wirklichkeit im Mittelpunkt, die keine Differenz zwischen Text und Wirklichkeit mehr kennt. In diesem endgültigen Tausch von Wirklichkeit und Fiktion geht auch die bis dahin für die gesamte sowjetische Literatur konstitutive Losung der revolutionären Romantik verloren.196 Evgenij Dobrenko schreibt über die neue Wirklichkeit dieser Literatur: «Фактически, из сферы изображения ушли все конфликты между личностью и государством, властью, конфликты, возникающие вследствие насильственной коллективизации, административных ссылок, высылок, произвола при осуждении на принудительные работы, репрессий, реальные конфликты в семьях, в коллективе, на войне, изображение голода, нужды и нищеты.» (Dobrenko 2000, 462) Mit dem Wechsel von einem eschatologischen zu einem mythologischen Zeitverständnis197 wird aber auch jenes außerzeitliche Reale der sowjetischen Literatur begründet, in dem Stalin als Vater und Führer seine mythische Ankunft feiern kann. Mit der Verabschiedung der neuen Verfassung setzt eine ‚Folklorisierung der Wirklichkeit’ ein, in der das Postulat der Volkstümlichkeit zur zentralen literarischen Norm gerät.198 Es wird zur Vorstellung einer reinen, durch keinerlei literarische Tradition von ihren ursprünglichen Anfängen entfremdeten Literatur umgeschrieben.199 Dabei wird mit den nicht-russischen Literaturen eine neue literarische Qualität in den literarischen Diskurs eingeholt. Wie in dem Kapitel über die Stalinfolklore gezeigt wird, verleiht ihre Ankunft einer literarischen Ursprünglichkeit Ausdruck, die - nachträglich Stalin 1976b, Bd. 14, 58ff. Daß Stalin selbst an diesen Tausch von Wirklichkeit und Fiktion glaubt, zeigt ein Brief, den er im September 1935 an Molotov schreibt: „Regarding the Constitution, I think that under no circumstances should it be confused with the party programm. It must contain [only] what has already been achieved.” (Stalin 1995, 238) 195 Hans Günther weist darauf hin, daß sich Mitte dreißiger Jahre der endgültige Wechsel von einem revolutionär-utopischen zu einem totalitären Weltbild vollzieht: vgl. hierzu Gjunter 2000b, 377. 196 Vgl. hierzu Sinjavskij 1966, 146ff. sowie Nike 2000, 476: «С 1936 г. 'субъективный' романтический стиль вытесняется 'объективным' стилем 'большого реализма' [...].» 197 Vgl. hierzu Dobrenko 1993, 67 sowie Papernyj 1985, 222 und Golomstock 1990, 179f. 198 Vgl. hierzu Günther 1984, 47ff. sowie Lehnert 1992, 244, der darauf hinweist, daß die Folklorisierung der sowjetischen Wirklichkeit zugleich das Ende der Utopie bedeutet. 199 Günther 1984, 51. 193 194 Einleitung 32 inszeniert – ebenfalls dazu dient, die offizielle Wirklichkeit an ihr offizielles Ideal anzugleichen. Mit ihrer Kanonisierung holt die sowjetische Literatur ein Literaturverständnis in ihr Diskurssystem zurück, in dem das gesprochene Wort immer zugleich das wahre Wort ist. In diesem Literaturverständnis ist am Ende dann nicht nur die Grenze zwischen Wirklichkeit und Text aufgehoben, sondern auch die zwischen geschriebenem und gesprochenem Wort.200 Die damit einhergehende Mythisierung der Schrift wird zu einer der wichtigsten Voraussetzung für die literarische Überhöhung Stalins. Denn erst im Kontext einer so verstandenen Volkstümlichkeit können die panegyrischen Metaphern und traditionellen Herrscherakklamationen der sowjetischen Folklore zum Ausdruck einer unmittelbaren Verehrung werden, mit der das Volk seine Liebe zu Stalin dokumentiert. Die in den Texten entworfene Fiktion gewinnt dabei in dem Maße Legitimation, in dem die die Literatur kontrollierenden Instanzen ihr eine Partizipation am eigentlichen Sein zuerkennen.201 Sich die institutionelle Macht über Kunst und Literatur zu sichern, bedeutet so nicht zuletzt, sich jene Machtmittel anzueignen, die es erlauben, Stalin selbst zum Herrn über die Zeichen zu erklären. Stalin sichert sich zusammen mit der Kanonisierung von Kunst und Literatur also zugleich die Machtmittel einer autoritären Aneignung von Welt, die am Ende auch die Identität seiner eigenen mythischen Person garantiert. Als ‚zeigendes Sprechen’, das den Rezipienten auffordert, bestimmte Dinge als das zu sehen, als das der Text sie vorführt, wird das mit der Volkstümlichkeit kanonisierte Abbildungsverständnis zum Spektakel, das Wirklichkeit weniger zeigt als inszeniert.202 Die Volkstümlichkeit wird zum „frame effect“203 einer Literaturtheorie, der es weniger um eine Kanonisierung der Texte geht, als darum, mit ihrer Hilfe die Gleichschaltung der Wirklichkeit zu betreiben. Indem sie das Abbildungsverhältnis von Text und Wirklichkeit reguliert, gelingt es ihr, die Wirklichkeit mit einer imaginären Realität auszustatten, die sie am Ende dann zu ihrem eigenen Ideal verklärt. 1.2.17 Literaturkritik Dabei ist es gerade die Literaturkritik, die jenen Referenzrahmen schafft, in dessen Kontext die Wirklichkeitskonstruktion der Texte als Widerspiegelung der außerliterarischen Wirklichkeit gelesen werden kann. Indem ihre Artikel die in den Texten entworfene Fiktion immer wieder auf die außerliterarische Wirklichkeit verweisen, bestätigen sie sowohl die Widerspiegelungstheorie als zentrale Kategorie sozialistisch-realistischer Texte als auch den vermeintlichen Realitätsgehalt der literarischen Produktion.204 Damit liefert gerade die Literaturkritik jene Semantisierungskriterien, welche die Literatur auf die in den offiziellen Parteidekreten und –reden vorgegebene Wirklichkeitsillusion verpflichten. Indem die Kritiker die Literatur immer wieder auf ein quasimimetisches Abbildungsverhältnis festlegen, stellen sie ein Bezugssystem aus Wahrnehmung, Bewertung und Interpretation her, das Literatur nicht nur literarisch sondern immer auch ideologisch interpretiert: „Der Kritiker avancierte zum Polit-Instrukteur des Schriftstellers wie des Lesers.“ (Tschudakowa 1991, 170) Vgl. hierzu Lehnert 1992, 237. Vgl. hierzu Plumpe 1976, 3. 202 Vgl. hierzu Gebauer/Wulf 1992, 14. 203 Zur Bedeutung dieses Begriffs vgl. Luhmann 1986, 623. 204 Zu dieser Funktion der Literaturkritik vgl. Foucault 1999, 114ff. sowie Günther 1984, 172 und 188 und Kneip 1995, 123ff. 200 201 Einleitung 33 1.2.18 Normierung der Rezeptionsprozesse Da Schrift jedoch grundsätzlich mehrdeutig ist, bedarf sie einer ‚Alphabetisierung’, in deren Verlauf eine möglichst eindeutige Semantik hergestellt und an das Bewußtsein jedes Einzelnen weitervermittelt wird.205 Die ebenfalls Ende der zwanziger Jahre einsetzende Normierung literarischer Rezeptionsprozesse fungiert so nicht nur als Kontrollmechanismus literarischer Texte, sondern dient auch dazu, das in den Texten hergestellte Wirklichkeitsideal in eine vermeintlich reale Wirklichkeitserfahrung umzuschreiben.206 Als eins der zentralen propagandistischen Instrumentarien rekrutiert, wird Literatur so zum Ersatz einer Realitätserfahrung, die nicht länger jedem einzelnen überlassen bleibt, sondern als kollektive Erfahrung in das Bewußtsein der sowjetischen Öffentlichkeit eingetragen wird. Sie wird ebenso normiert, wie das in den literarischen Texten vermittelte Bild der Wirklichkeit selbst. Da Realismus, so Gerard Bornet in seiner Analyse der Naiven Semantik, auf eine intersubjektive Welterfahrung zurückgeht, in der mehrere Kulturträger dieselbe Identität zwischen Zeichen und Bezeichnetem bestätigen,207 so ist es diese intersubjektive Wirklichkeitserfahrung, die die sowjetische Literatur der dreißiger Jahre herzustellen und durch die literarischen Zeichen zu fingieren sucht. So wird gleichzeitig mit der Widerspiegelungstheorie eine Rezeptionshaltung kanonisiert, welche die Texte nicht länger fiktional sondern strikt mimetisch interpretiert. Damit erscheint auch die der Literatur zugewiesene pädagogische Funktion nicht länger allein als Erziehungsauftrag, sondern wird zum Versuch, Wahrnehmungsmuster zu etablieren, die die offiziell vorgeschriebene Wirklichkeitsfiktion in das Gedächtnis ihrer Leser einträgt.208 1.2.19 Kanonisierung der literarischen Biographie Daß es sich bei der Einsetzung des Sozialistischen Realismus um die Etablierung eines der zentralen diskursiven Elemente des neuen literarischen wie metaliterarischen Diskurses handelt, zeigt sich nicht zuletzt daran, daß zeitgleich mit seiner Etablierung auch die künstlerischen Biographien der Schriftsteller einer Revision unterzogen werden. Ihr literarisches Schaffen wird bereits seit Ende der zwanziger Jahre auf das Kriterium der Widerspiegelung und der mit ihr verbundenen realistischen Schreibweise festgelegt. Wenn es in den 1928 erschienenen Besprechungen zu Romanen Leonid Leonovs, Marietta Šaginjans oder Aleksandr Fadeevs heißt, daß ihr literarisches Werk seine Vollendung in einem Schreiben findet, das schon immer wesenhaft realistisch verfährt, wird ihr literarisches Œuvre derselben Vereinheitlichung unterworfen wie die ihre Texte selbst. Indem realistisches Schreiben in ihren Biographien zum Höhepunkt ihres literarischen Schaffens verklärt wird, erscheint das zusammen mit der Widerspiegelungstheorie eingeführte realistische Literaturverständnis nicht länger als parteipolitisch verordnet, sondern wird zum festen Bestandteil einer literarischen Entwicklung stilisiert, die mit der Ankunft der neuen sowjetischen Gesellschaft ihren vorläufigen Abschluß findet. Vgl. hierzu Kittler 1993, 199f. sowie Plamper 2001, 530ff., Dobrenko 1993, 49 und Brooks 1999, 115. Vgl. hierzu Dobrenko 1997, 258ff. 207 Bornet 1991, 112. 208 Wie Boris Groys zeigt, ist damit auch die zentrale Differenz zwischen Massen- und Agitationsliteratur benannt: Grojs 2000, 110. Dieser Unterschied stellt auch die These Evgenij Dobrenkos in Frage, daß der Sozialistische Realismus unmittelbar aus der Massenliteratur der zwanziger Jahre hervorgeht: vgl. hierzu Dobrenko 1995, 777ff. Wäre dies der Fall, könnte die sowjetische Literaturpolitik auf alle Kontrollmechanismen verzichten. 205 206 Einleitung 34 Der Rezension von Mariėtta Šaginjans Roman Гидроцентраль wird daher folgende Vita vorangestellt: «Начав с рецензий о концертах и лирических стихтворений, впитавших в себя лучшие традиции символизма и акмеизма, Шагинян быстро перешла к публицистическому роману, к реалистической нoвелле, очерку. Подчеркнутый интерес к общественной тематике, к социальным катастрофам, к борьбе классов, резко определились после Октябрьской революции.» (Rossolovskaja 1931, 140) Durch diese Revision erscheint realistisches Schreiben nicht länger als eine Stilformation unter vielen, sondern wird zur Apotheose einer künstlerischen Entwicklung, der es schon immer um die Darstellung gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse ging. Dabei werden aber nicht nur die künstlerischen Biographien solcher Autoren den Dogmen der neuen Literaturpolitik unterworfen, die wenig später dann zu den zentralen Autoren der neuen sowjetischen Literatur werden. Auch das literarische Schaffen solcher Dichter, kurz darauf verhaftet werden und in den Zeiten des großen Terrors umkommen, werden, auf ein realistisches Schreiben festgelegt, bevor sie als Teil einer vergangenen literarischen Epoche ganz aus dem literarischen Kanon der neuen sowjetischen Literatur ausgegrenzt werden. So heißt es in einer 1928 erschienenen Rezension über die Dichtung Osip Mandel’štams: «В основном его творчество идет по линии рeалистического показа действительности.» (Ruderman 1928, 222) Mit diesem Umschreiben der literarischen Biographien geht eine Rekonstruktion der literarischen Vergangenheit einher, in der die Ankunft des Sozialistischen Realismus zur Apotheose einer literarischen Tradition wird, die schon immer wesentlich realistisch verfährt.209 Daß damit eine Wirklichkeit inszeniert wird, deren imaginäre Realität auch durch die parteipolitische Kontrolle aller mit der Produktion von Kunst und Literatur betrauten Institutionen nicht verdeckt werden kann, zeigen die Tagebucheintragungen Andrej Aršilovskijs. Nachdem er im Februar 1937 die sowjetische Literatur dafür kritisiert, daß sie das Leben nur von außen darstelle und Gladkovs Roman Цемент als Unsinn bezeichnet, schreibt er am 21. Februar über Šolochovs Roman Тихий Дон: „Ich lese mit Unterbrechungen Scholochows ‚Stillen Don’. Schreiben kann er, aber wie wird er das Ende des glücklichen Lebens darstellen? Er wird kaum bis zum Schluß ehrlich bleiben können. Bei soviel Druck und Zwang kann ein Schriftsteller unmöglich objektiv und unvoreingenommen bleiben. Und fängt er erst an, auf einem Bein zu hüpfen, wird es unnatürlich und fesselt nicht mehr.“ (Garros/Korenewskaja/Lahusen 1989, 79) Zur Kanonisierung des literarischen Erbes vgl. Ermolaev 1963, 193ff. sowie Groys 1988, 53ff., Brooks 1999, 117ff. und Friedberg 1962. 209 2 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб (Оборона Царицына) oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 2.1 Zur Funktion des historischen Romans Im Oktober und November des Jahres 1937 erscheinen erste Auszüge aus der Erzählung Хлеб in der Zeitschrift Молодая гвардия. Sie werden anläßlich des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution im November 1937 veröffentlicht und tragen zu einer Gedächtnisarchitektur bei, die den Gedenktag der Oktoberrevolution in einen Feiertag der politischen Führerschaft Stalins verwandelt.210 Zusammen mit einer Reihe von Theaterstücken, die im zweiten Teil dieser Arbeit analysiert werden, nimmt der Text an einer Historisierung der Person Stalins teil, die den Mythos von seinem heldenhaften Einsatz im Bürgerkrieg in das Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit einträgt.211 Die Erzählung übernimmt dabei eine kompensatorische Funktion, die den Einsatz Stalins in Caricyn aus der Faktizität des historischen Diskurses in die literarische Imagination fiktionaler Texte überträgt und das (angeblich) historische Handeln Stalins als vermeintlich authentisches präsentiert. Dabei verwandelt sich dessen im historischen Diskurs angelegte Identität in eine mythische Aussage, die im sekundär modellierenden System literarischer Texte bedeutet und in den Sinnzusammenhang des offiziellen Stalinkults eingefügt wird.212 Die Erzählung nimmt damit an einem mythopoetischen Transformationsprozeß teil, der die Aussage des historischen Diskurses in einer scheinbar empirischen Wirklichkeit begründet und im sekundär semiologischen System der Erzählung zu einem vermeintlich authentischen Bild des Realen umbaut.213 Ziel dieser Substitution ist es, die im historischen Diskurs vermittelte Rolle Stalins zu rechtfertigen und über den Umweg ihrer literarischen Gestaltung zu beglaubigen.214 Zusammen mit allen anderen Texten des offiziellen Stalinkults nimmt die Erzählung dabei an einem Ersetzungsprozeß teil, in dessen Verlauf der reale Stalin gegen seine Stellvertretend für diese Verschiebung in der Gedächtnisarchitektur des Feiertags sei hier auf den Artikel «Литература великого юбилея» von S. Ivanov verwiesen, der im August 1937 in der Zeitschrift Новый мир erschienen ist: Ivanov 1937, 279. 211 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Gleb Struves, der in seiner Monographie über die sowjetische Literatur zwischen 1917 und 1953 schreibt: „Connected with the cult of Stalin and the denigration of his enemies, particularly Trotsky and the alleged Trotskyites, was the falsification of recent history undertaken in literature. A typical example was Alexey Tolstoy’s novel Khleb (Bread, 1937), written obviously for the purpose of glorifying the role of Stalin in the Civil War […].” (Struve 1971, 283) 212 Zur sekundär modellierenden Funktion literarischer Texte vgl. Lotman 1973, 22f. sowie Iser 1991, 36ff. und Assmann 1980, 14f. Zu ihrer Funktion im historischen Roman vgl. Nünning 1995, 59ff. und Ricoeur 1988, Bd.1, 80ff. und 1991, Bd.3, 129f. Daß die literarischen Texte des Sozialistischen Realismus grundsätzlich damit beauftragt sind, eine sekundäre Semantisierung der Wirklichkeit vorzunehmen, zeigen Sinjavskij 1966, 145ff., Groys 1988, 58ff., Dobrenko 1993, 31ff. und Günther 1984, 190ff., dessen Definition einer kompensatorischen Funktion sozialistisch-realistischer Texte hier insofern erweitert werden soll, als daß sie sich nicht nur auf das Verhältnis von Text und Wirklichkeit bezieht, sondern auch auf das Verhältnis von realer und literarischer Figur. 213 Zur mythischen Aussage als sekundär semiologisches System vgl. Barthes 1980, 85ff. 214 Daß die literarischen Texte dabei keine rein illustrative Funktion übernehmen sondern selbst an der Mythenproduktion des offiziellen Stalinkults teilnehmen soll in der hier vorliegenden Arbeit gezeigt werden: Dobrenko 1993, 87ff., vertritt dagegen die These, daß die literarischen Texte die offizielle Darstellung Stalins lediglich bestätigen, ohne selbst an seiner Mythenproduktion teilzunehmen. 210 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 36 artifiziell geschaffene Rekonstruktion ausgetauscht und mit einer zweiten, mythischen Bedeutung aufgeladen wird, über die Roland Barthes schreibt: „Stalin hat als gesprochenes Objekt jahrelang die Wesenszüge der mythischen Aussage im Reinzustand dargestellt: einen Sinn, den der wirkliche, der geschichtliche Stalin hergab; ein Bedeutendes, das die rituelle Anrufung Stalins darstellte, der schicksalhafte Charakter der Beiwörter, mit denen man seinen Namen umgab; ein Bedeutetes, das die Intention der Orthodoxie, der Disziplin und der Einheit war, die von den kommunistischen Parteien einer bestimmten Situation angepaßt wurden; und schließlich eine Bedeutung, die in einem sakralisierten Stalin bestand und deren historische Determinierung als Natur begründet und unter dem Wort Genie sublimiert waren [...].“ (Barthes 1980, 136) Die Übertragung aus dem historischen in den literarischen Diskurs dient so dazu, die Person Stalins mit einer historischen Vergangenheit auszustatten, die ihre Identität im offiziellen Stalinkult rechtfertigt und ihre Darstellung in der sowjetischen Geschichtsschreibung legitimiert. Die Differenz zwischen Faktizität und Fiktionalität führt dazu, daß die im offiziellen Stalinkult angelegte Vorstellung von der heldenhaften Verteidigung Caricyns im Text vergegenwärtigt und durch ihre literarische Verdoppelung verifiziert werden kann: „Wahrheitsgetreu und unter innerster Anteilnahme hat A.N. Tolstoi unserem Gedächtnis das Bild eingeprägt, wie unser Land durch das größte historische Hindernis, den Bürgerkrieg, durch Freud und Leid und alle Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Erneuerung einer ganzen Generation hindurchschreitet. Die Werke Tolstois geben ein monumentales Bild des großen historischen Prozesses, mit dem eine neue Ära im Leben der Menschheit beginnt.“ (Stscherbina 1954, 99) Den theoretischen Vorgaben der offiziellen sowjetischen Literaturwissenschaft zufolge besteht die Differenz zwischen historischem und literarischem Diskurs nicht in dem Unterschied zwischen dem Möglichen und Wahrscheinlichen auf der einen oder dem Tatsächlichen und Partikulären auf der anderen Seite.215 Die Divergenz zwischen literarischem und historischem Diskurs besteht vielmehr in der jeweiligen Funktion, die den beiden Textarten in der diskursiven Ordnung des sowjetischen Textkosmos zugeordnet wird. Während der historische Diskurs die Faktizität der historischen Ereignisse vermittelt, dienen die historischen Romane dazu, die in ihm offizialisierte Vergangenheit zu verlebendigen und über den Umweg der literarischen Darstellung zu konkretisieren: «Вот этот показ законченных исторических событий, это исчезновение в абстрактной закономерности исторических событий всей конкретности исторического лица, - от всего этого нужно отказываться, если мы не хотим превратить исторический роман в обескровленную схему исторического процесса, если мы хотим изображать в своих исторических произведениях действительно историю, а не какую-то абстрактную формацию, оторванную от людей. К этому приводит стремление - минуя наглядный, конкретный, чувственный образ, сразу проникнуть непосредственно в объективный смысл событий.» (Cyrlin 1935, 249) Damit kommt den historischen Romanen der dreißiger Jahre die gleiche Funktion zu, wie den meisten historischen Romanen. Deren Amt besteht, so Hugo Aust, darin, Geschichte zu repräsentieren, Vergangenes zu deuten und Geschehenes zu verlebendigen.216 Die in ihnen entworfene Geschichtsfiktion dient dazu, die in der Geschichtsschreibung kodifizierte Vergangenheit zu vergegenwärtigen und als vermeintlich authentische darzustellen. Sie führen die in der Geschichtsschreibung verfaßte VerganZu dieser Unterscheidung vgl. Aristoteles 1994, 29ff. Vgl. hierzu Aust 1994, VII sowie Ricoeur 1991, Bd.3. 306ff., Schörken 1981, 116ff., Lämmert 1985, 232f. und Nünning 1995, 77, der den historischen Roman in Fortführung der Romantheorie Michail Bachtins als „Orchestrierung von geschichtlichen Epochen und historiographischen Themen“ beschreibt. Für den sowjetischen historischen Roman vgl. Dobrenko 2000a, 886f. 215 216 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 37 genheit auf ein konkretes historisches Geschehen zurück und erwecken dadurch den Anschein, als würden sie die historischen Ereignisse selbst zur Darstellung bringen.217 Der historische Roman dient so vor allem dazu, das Vergangene in der Imagination des literarischen Textes zu aktualisieren und im Bewußtsein seiner Leser zu verankern.218 Erzählte Geschichte soll mit Hilfe narrativer Strukturen vergegenwärtigt und zu einem lebendigen Geschichtsbewußtsein ausgebaut werden.219 Folgt man der offiziellen Darstellung der sowjetischen Literaturwissenschaft, dient auch die Erzählung Tolstojs dazu, die Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit aufzuheben und das vermeintlich authentische Handeln Stalins in der narrativen Struktur des Textes zu wieder-holen: «Толстой мастерски показывает поистине колоссальные масштабы деятельности, котороую развернул Сталин. Мы видим его и в вагоне, работающего дни и ночи, и в арсенале, лично проверяющего запасы оружия, и на заводах, беседующего с рабочими, и в окопах, непосредственно руководяшцего боевыми операциями.» (Čeremin 1950, 11) Während die Historiographie zu den wissenschaftlichen Disziplinen gehört, die das offizielle Weltbild der sowjetischen Wirklichkeit kodifizieren und die symbolische Ordnung einer vermeintlich authentischen Wirklichkeit repräsentieren,220 dient die literarische Rekonstruktion der historischen Ereignisse dazu, die offiziell vorgeschriebene Wirklichkeit zu exemplifizieren und als vermeintlich authentische in Szene zu setzen.221 Die Differenz zwischen historischem und literarischem Diskurs besteht demnach vor allem darin, daß die offizielle Geschichtsschreibung die von ihr eingesetzte Wirklichkeitsfiktion verfaßt, während die Literatur eine historische Wirklichkeit imaginieren kann, die den historischen Diskurs auf seine ursprüngliche Ereignishaftigkeit zurückführt: «В повести отражена самая организация обороны Царицина, проведенная под непосредственным руководством Сталина; изображен легендарный поход 5-й армии под командованием Ворошилова от Луганска к Царицыну; показан первый сильный удар, нанесенный Красной Армией под Царицыном белогвардейским частям Момонтова. [...] Писатель показывает теперь со всей его широтой, как сознательно отстаивает и защищает свое социалистическое отечество революционный народ, руководимый своим авангардом партией.» (Alpatov 1955, 89) Als Teil einer Literatur, die „die Präsenz des ‚Wirklichen’ auf eine halluzinatorische Weise einführt und entwirft“222, dient die Erzählung dazu, eine Illusion des Realen zu inszenieren, welche die offiziell dekretierte Authentizität des historischen Diskurses bestätigt. Ihr Ziel besteht in einer Vergegenwärtigung des Vergangenen, die den historischen Diskurs auf seine scheinbar empirische Realität zurückverweist und eine Handlungsunmittelbarkeit fingiert, die dem historischen Diskurs fehlt.223 Sie wird zum GegenEigentlich wird die Ereignishaftigkeit des Erzählten jedoch erst auf der Textoberfläche hergestellt. Sie ist das Ergebnis narrativer Erzählstrategien, deren Ereignischarakter erst durch die Lektüre aktualisiert werden kann: vgl. hierzu Deleuze 1993, 37ff., der das Ereignis als die vierte Dimension des Satzes bezeichnet und mit der imaginären Sinnstiftung gleichsetzt. Vgl. hierzu auch Gibson 1996, 179ff., der die daraus abgeleitete Ereigniskonstruktion im Kontext einer postmodernen Erzähltheorie analysiert. 218 Vgl. hierzu Schörken 1981, 117ff. sowie Ricoeur 1988, Bd.1, 113ff., der den Akt des Lesens als mimetische Operation der dritten Stufe bezeichnet, mit der die Rekonfiguration historischer Ereignisse erst abgeschlossen ist. 219 Vgl. hierzu Nünning 1995, 113. 220 Zur ordnungsstiftenden Funktion des (narrativisierten) historischen Diskurses vgl. Foucault 1974, 21ff. sowie Foucault 1999, 269ff., Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff. und White 1990, 26ff. 221 Zu dieser Funktion literarischer Texte vgl. Balibar/Macherey 1974, 210. 222 Balibar/Macherey 1974, 215. 223 Vgl. hierzu Koselleck 1979, 144f., der darauf verweist, daß Ereignisse grundsätzlich nur erzählt werden können, da sie durch das Vorher und Nachher, das sie konstituiert, immer schon in narrative Strukturen 217 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 38 stand einer historischen Fiktion, die mittels narrativer Verfahren gestaltet und an die Stelle der faktischen Realität gesetzt werden kann. Folgt man den theoretischen Vorgaben der sowjetischen Literaturkritik, entzieht sich die literarische Darstellung von Geschichte daher ebenso einer individuellen Autorschaft, wie die offizielle Geschichtsschreibung. Auch der historische Roman beruht auf einer literarischen Repräsentation, die durch die Ereignisse selbst vorgegeben wird: «История, подчас ограниченная еще слишком узким для рамками субъективного мира художника, упорно и неуклонно раздвигает, расширяет, ломает эти рамки, учит художника изображению больших эпических тем; невольно для него самого, отвлекает его внимание от слишком узкого, слишком личного, слишком частного.» (Cyrlin 1935, 249) Durch die Konversion der beiden Darstellungssysteme entsteht die Illusion einer empirischen Vergangenheit, die sowohl den historischen als auch den literarischen Diskurs begründet. Sie verpflichtet beide auf die gleiche Imagination des Vergangenen und konstituiert ein Abbildungsverhältnis, das den historischen wie den literarischen Text auf die Widerspiegelung einer scheinbar faktischen Wirklichkeit verpflichtet.224 Die Darstellung der historischen Ereignisse beruht so auf der Illusion einer Vergangenheit, die sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Literatur rekonstruiert werden kann. Sie erlaubt es, die historischen Ereignisse im literarischen Text zu verdoppeln und Text und Wirklichkeit aufeinander abzubilden. Ihre (Re)Konstruktion ist die Voraussetzung dafür, daß die narrativ vermittelte Vergangenheit zu den vermeintlich authentischen Ereignissen ins Verhältnis gesetzt und durch die Widerspiegelungstheorie auf diese zurückbezogen werden kann.225 Die Darstellungsfunktion historischer Romane beruht damit auf einem Abbildungsverhältnis, das die unterschiedlichen Diskurse zueinander ins Verhältnis setzt und durch dieses Verweissystem die darzustellende Vergangenheit überhaupt erst schafft. Da historische Romane nichts abbilden, sondern ein eigenständiges Modell von Geschichte entwerfen, ist das Erstellen historischer Romane – entgegen den Behauptungen der sowjetischen Literaturwissenschaft – damit kein mimetischer, sondern ein poietischer Akt.226 Nicht nur die Geschichtsschreibung, auch der historische Roman konstituiert seinen Referenten selbst: „Allerdings gibt es nie Geschichte pur, stets handelt es sich beim historischen Roman wie bei der Historiographie um Konstruktion, um Umschrift von Geschichte, für die das Original abhanden gekommen ist, oder, genauer, nie vorgelegen hat.“ (Müller 1988, 14) Während das Postulat der Wissenschaftlichkeit historischer Diskurse zum festen Be- eingebunden sind. Eine ähnliche Position vertritt Wolf-Dieter Stempel, der das Ereignis ebenfalls als Ergebnis einer sekundär semantischen Operation bezeichnet, das immer schon narrativisiert ist: Stempel 1973, 327ff. Ähnlich problematisiert Hans Robert Jauß den Begriff des historischen Ereignisses, das er als immer schon bedeutetes beschreibt, das seine Ereignishaftigkeit erst durch eine nachträgliche Wahrnehmung erfährt und ansonsten in dem ungeordneten und nicht zielgerichteten Geschehen historischer Fakten verschwindet: Jauß 1973, 535f. 224 Daß sich beide nicht in ihrem ontologischen Status unterscheiden, sondern lediglich in ihren Referenzbezügen zeigen White 1991, 1990, 8f. sowie Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff. Barthes 1968, 178ff. und Nünning 1995, 129ff., der die Diskussion noch einmal zusammenfaßt. 225 Vgl. hierzu sowohl die literaturwissenschaftlichen als auch die literaturkritischen Analysen, die die literarisch gestalteten Ereignisse der Erzählung alle gleichermaßen als Widerspiegelung einer vermeintlich authentischen Vergangenheit beschreiben: Alpatov 1955, 88ff., Gurštejn 1938, 17, Čeremin 1950, 10f. sowie Sejfullina 1949, 173 und Čarnyj 1939, 84ff. 226 Vgl. hierzu Nünning 1995, 52ff. sowie Müller 1988, 14ff., Schörken 1995, 11f., Ricoeur 1988, 104ff. und Gebauer/Wulf 1992, 18ff., die darauf verweisen, daß letztlich jede mimetische Nachahmung ein poietischer Schöpfungsakt ist. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 39 standteil totalitärer Propaganda gehört, die durch ‚Wahrheit’ überzeugen will,227 dient die Literatur dazu, eine Wirklichkeitsfiktion zu schaffen, deren ästhetischer Schein die soziale wie politische Realität der neuen sowjetischen Wirklichkeit verdeckt.228 Unter dem Dogma des Realen strebt sie danach, die narrativ vermittelte Wirklichkeit als vermeintlich authentische darzustellen und die historischen Ereignisse dem offiziell propagierten Geschichtsbild der dreißiger Jahre unterzuordnen. Ihre Fiktion imaginiert eine Vergangenheit, welche die reale Ordnung (beziehungsweise Unordnung) der historischen Ereignisse aufhebt und durch die chrono-logische Ordnung der literarischen Erzählung ersetzt. Es entsteht ein ästhetisches Modell, dessen Kohärenz durch narrative Muster hergestellt wird und die tatsächlichen historischen Ereignisse durch ihre literarische Fiktion substituiert.229 Die Erzählung ist damit Teil einer Propaganda, die das offiziell gestiftete Geschichtsverständnis der späten dreißiger Jahre auf die Ereignisse des Bürgerkriegs zurückprojiziert und diese dem offiziell gefeierten Stalinkult angleicht.230 Die Erzählung partizipiert damit an einer ideo-logischen Weltordnung, welche die sowjetische Wirklichkeit der dreißiger Jahre durch ihr nachträglich fingiertes Ideal ersetzt und jede Wirklichkeitserfahrung im Sinne ihres eigenen Weltmodells umdeutet.231 Der immer wieder betonte Vergangenheitsbezug der Erzählung dient so lediglich dazu, die allzu offensichtliche Indienstnahme der Erzählung zu verdecken. Damit ist die Erzählung Bestandteil einer Propaganda, welche die historische Vergangenheit in die gewaltsam hergestellte ‚Harmonie aller Lebensbereiche’ integriert und die Stimmigkeit einer fiktiven Welt simuliert, in der alle Widersprüche aufgehoben sind.232 Historisches Subjekt dieser Wirklichkeit ist sowohl im historischen als auch im literarischen Diskurs einzig und allein Stalin: «Советская литература показала товарища Сталина на всех этапах формирования нашей социалистической действительности и вместе с тем на всех этапах формирования характера советского человека, самого передoвого человека нашей планеты.» (Sejfullina 1949, 173) Da jedoch sowohl der historische als auch der literarische Diskurs ein grundsätzlich Abwesendes beschreiben, das erst durch die Anerkennung der offiziellen sowjetischen Geschichtswissenschaft als authentische Vergangenheit sanktioniert wird, findet sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Literatur eine Ersetzung des Realen durch seine Zeichen statt, welche die historische Vergangenheit weder verdoppeln noch imitieren, sondern nachträglich fingieren.233 Dazu bedienen sich beide Diskurssysteme Vgl. hierzu Arendt 2000, 733ff.. Vgl. hierzu Günther 1993, 184ff. sowie Groys 1988, 58ff., Dobrenko 1993, 32ff. und Sinjavskij 1966, 145ff. und 1987, 107f. 229 Zu diesem Substitutionsprozeß des Realen durch seine Fiktion als grundlegender Bestandteil totalitärer Ästhetik vgl. Brock 1983, 28. Zu seiner Ersetzung als Bestandteil der historischen Fiktion vgl. Barthes 1968, 178ff. sowie Nünning 1995, 52ff., Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff., Müller 1988, 16f. und White 1990, 33ff. und 62ff. 230 Vgl. hierzu auch Dobrenko 2000a, 883, 885 und 889, der den historischen Roman als verstaatlichtes Genre beschreibt, das die historischen Ereignisse an den ideologischen Diskurs angleichen soll. 231 Zu dieser Funktion totalitärer Propaganda vgl. Arendt 2000, 762ff., die darauf hinweist, daß totalitäre Propaganda weniger überzeugen als organisieren will. 232 Vgl. hierzu Günther 1993,185ff. sowie Arendt 2000, 745ff. und Sinjavskij 1966, 145ff. 233 Diese Gleichsetzung von Geschichtsschreibung und literarischer Fiktion beruht, so Hayden White, auf der Erkenntnis, daß zwischen historiographischen und fiktionalen Diskursen kein ontologischer Unterschied hinsichtlich ihres realen beziehungsweise imaginären Referenten besteht. Sie fungieren beide als „semiologische Apparate“, die dadurch Bedeutung produzieren, daß sie Signifikate und konzeptuelle Inhalte an die Stelle außerdiskursiver Entitäten setzen, die als Referenten fungieren: vgl. hierzu White 1990, 8f. Noch deutlicher formuliert dies Roland Barthes, wenn er über die Ersetzung des Realen durch 227 228 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 40 einer Narrativisierung der Vergangenheit, welche die reine Faktizität der historischen Ereignisse aufhebt und durch ihre nachträgliche Bedeutung austauscht.234 Die historischen Ereignisse werden aus der Ungeordnetheit ihrer reinen Existenz in die syntagmatische Ordnung der literarischen Erzählung übertragen, deren Fabel die Vorfälle ordnet und die einzelnen Handlungselemente zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügt.235 Sie hebt die reine Abfolge der chronologischen Geschichtsschreibung auf und stattet die in ihr zusammengefaßten Ereignisse mit einem Sinn aus, der sie in eine in sich stimmige Vergangenheit (bzw. deren Fiktion) verwandelt.236 Damit wird die Wirklichkeit einer nachträglichen Symbolisierung unterzogen, die die weder geordneten noch bedeuteten Ereignisse der Vergangenheit in die kontinuierliche Ordnung ganzheitlicher Weltmodelle überführt und in der nachträglichen Re-Konstruktion historischer Ereignisse legitimiert.237 Damit sind Geschichtsschreibung und Literatur gleichermaßen an der Produktion eines ideologischen Weltbildes beteiligt, in dem das historische Faktum zum Bestandteil eines extrastrukturalen Realen wird, das sowohl den historischen als auch den literarischen Diskurs begründet und reguliert.238 Sie nehmen an einem nachträglichen Interpretationsakt teil, der die diskursiv vermittelte Vergangenheit in die formale Struktur narrativer Muster einpaßt und über den Umweg einer sekundären Modellierung zur offiziellen Wirklichkeitsfiktion verklärt.239 Ihre Funktion besteht darin, die historischen Ereignisse einer permanenten Sinnproduktion zu unterwerfen und die so konstituierten Fakten über die Adaption nachträglich verfaßter Sinnzusammenhänge zu deuten:240 «Задача заключается в том, чтобы суметь сквозь документальный материал определенной эпохи уловить конфликт, который раскрывает типичные черты этой эпохи, ее законоseine Zeichen schreibt: „Der historische Diskurs folgt nicht dem Realen, er läßt dieses nur bedeuten, wiederholt unablässig das das ist geschehen, ohne daß diese Behauptung je etwas anderes zu sein vermöchte als die be-deutete Kehrseite der ganzen historischen Erzählung.“ (Barthes 1968, 160) Vgl. hierzu auch Borst 1973, 536ff. sowie Nünning 1995, 60f. 234 Zu der Bedeutung narrativer Muster für die Geschichtsschreibung vgl. White 1990, 41ff. sowie Ricoeur 1988, 104ff. und Nünning 1995, 58ff. 235 Vgl. hierzu Ricoeur 1988, 88ff. sowie White 1990, 33f. und Nünning 1995, 58ff. 236 Vgl. hierzu Barthes 1968, 178f., der über die Funktion historischer Diskurse schreibt: „Im historischen Diskurs unserer Zivilisation zielt der Prozeß der Bedeutung stets darauf ab, den Sinn der Historie ‚aufzufüllen’. Der Historiker ist derjenige, der weniger Fakten als Be-deutendes sammelt und wiedergibt, d.h. es mit dem Ziel ordnet, einen positiven Sinn herzustellen und die Leere der reinen Reihe auszufüllen.“ Vgl. hierzu auch Müller 1988, 14ff. und Nünning 1995, 173ff. 237 Vgl. hierzu Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff., der die symbolische Bedeutung der narrativen Geschichtsschreibung darin sieht, daß ihre plot-Strukturen die historische Vergangenheit deuten und überhöhen. Die chrono-logische Ordnung des historischen Diskurses erscheint damit als nachträglich gestiftete Ordnung, die den historischen Ereignissen nicht inhärent ist, sondern nachträglich aufgeprägt wird: vgl. hierzu auch White 1990, 73ff. 238 Die Illusion eines außerstrukturalen Realen beruht dabei auf einer Verschmelzung von Zeichenausdruck und Zeicheninhalt, über die Roland Barthes schreibt: „Das Bezugsobjekt tritt in direkte Verbindung zum Bedeutenden, und der Diskurs, einzig damit befaßt, das Reale ‚auszudrücken’, wähnt den Fundamentalbegriff imaginärer Strukturen auszusparen - das Bedeutete. Wie jeder Diskurs mit ‚realistischem’ Anspruch, glaubt der historische somit nur ein semantisches Schema mit zwei Begriffen zu kennen: Bezugsobjekt und Bedeutendes.“ (Barthes 1968, 179) 239 Vgl. hierzu Lotman 1973, 22f. sowie 1981, 67ff. sowie Iser 1991, 34ff. und O’Neill 1994, 33ff. Daß auch der historische Diskurs als sekundär modellierendes System verstanden werden kann zeigen White 1990, 65 sowie Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff. und Nünning 1995, 58ff. 240 Historisches Faktum soll in Anlehnung an die Interpretation Roland Barthes demnach als „Terminus eines Diskurses“ verstanden werden, der lediglich linguistisch existiert. Dem historischen Faktum geht so immer ein sprachlicher Konstitutionsprozeß voraus, der die tatsächlichen Ereignisse deutet und durch eine imaginäre Konstruktion ersetzt. Vgl. hierzu Barthes 1968, 179 sowie Ricoeur 1988, Bd.1, 90ff. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 41 мерности. Этот конфликт во всей конкретности его художественного преобразования образует собой то, что можно условно назвать малой темой исторического романа. [...] Но этот конфликт - эта малая тема произведения - должен был подчинен какой-то большой общей идее, одновременно отражающей закономерности не только исторического прошлого, но и современного нам процесса социалистического строительства. Эту идею - опять же условно можно назвать большой темой романа. Специфическая особенность исторического жанра, быть может, именно в том, что он, перекрещивая эти две темы, оперирует, если так можно назвать двумя действительностями - исторической и сегодняшней.» (Cyrlin 1935, 236) Dabei substituieren sowohl die Geschichtsschreibung als auch die Literatur den Referenten durch ein konzeptuell erarbeitetes Signifikat, dessen imaginäre Konstruktion an die Stelle des Realen tritt. Sie erzeugen die Illusion eines außerstrukturalen Realen, in dem die historischen Ereignisse mit ihrer Darstellung zusammenfallen.241 Geschichte ist damit in erster Linie der Effekt eines nachträglich inszenierten Referenzsystems, das Zeichen und Bezeichnetes zueinander ins Verhältnis setzt. Erst in der offiziellen Rezeption von historischem und literarischem Schreiben erscheinen ihre Wirklichkeitsentwürfe nicht länger als imaginär, sondern werden zu Repräsentationen einer Wirklichkeit, die dem literarischen Text ebenso vorgängig ist wie dem historiographischen, und nicht erst im Akt des Schreibens konstituiert werden muß: „Die Autorität der historischen Erzählung ist die Autorität des Wirklichen selbst; die historische Darstellung gibt dieser Wirklichkeit eine Form und macht sie zum Objekt des Begehrens, indem sie ihren Prozessen eine formale Kohärenz einpflanzt, die sonst nur Geschichten besitzen. Die Historie gehört somit zur Kategorie dessen, was man ‚den Diskurs des Realen’ im Gegensatz zum ‚Diskurs des Imaginären’ oder zum ‚Diskurs des Begehrens’ nennen könnte.“ (White 1990, 33f.) Da die historischen Fakten jedoch kein fertiger Stoff sind, den die literarische Erzählung lediglich noch umzuformen braucht und sich sowohl Geschichte als auch Geschichten erst durch das Nebeneinander von Material und Form ergeben, fingieren beide Diskursformationen eine Anwesenheit des Realen, welche die grundsätzliche Abwesenheit des Bezeichneten im Zeichen verdeckt.242 Sie wird durch die Illusion einer Vergangenheit ersetzt, deren vermeintlich authentische Rekonstruktion sowohl die Geschichtsschreibung als auch den literarischen Text mit Sinn befüllt. Tatsächlich stellen jedoch sowohl die historische als auch die literarische Rekonstruktion historischer Ereignisse Konfigurationsvorgänge dar, die zwischen dem Vor- und dem Nachverständnis vergangener Ereignisse vermitteln und den Gesamtzusammenhang ‚Geschichte’ konstituieren.243 Die Bedeutung einer narrativisierten Geschichtsschreibung besteht so darin, eine Verbindung zwischen den historischen Ereignissen, ihren Handlungsträgern, Zielen, Mitteln und Motivationen herzustellen.244 Während die Chronologie lediglich die episodische Dimension der Erzählung darstellt und Geschichte als Aneinanderreihung unterschiedlicher Ereignisse versteht, fügen sowohl der narrativ verfaßte Diskurs der Vgl. hierzu White 1990, 56f. sowie die Kritik Karl Poppers an der Objektivitätsillusion historistischer Geschichtsschreibung: Popper 1979, 12ff. und 119. 242 Vgl. hierzu Aust 1994, 2 sowie White 1990, 11ff. und Barthes 1968, 178ff. Zur grundsätzlichen Abwesenheit des Bezeichneten im Zeichen vgl. Derrida 1990, 78ff. 243 Vgl. hierzu Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff sowie Borst 1973, 536, der über den narrativen Ursprung des historischen Ereignisses schreibt: „Wenn Historiker heute ungern über das ‚geschichtliche Ereignis’ sprechen, dann nicht, weil sie jetzt alle anstelle der ‚Ereignisgeschichte’ nur noch ‚Strukturgeschichte’ treiben möchten. Ihr Unbehagen wurzelt in der Tat, wie H.R. Jauß in seinem Beitrag vermutet, in dem notorischen Zusammenhang zwischen Kunstwerk und historischem Ereignis. Ereignis bezeichnet ja von vornherein mit seiner Etymologie (‚das vor Augen Kommende’) und seiner Frühgeschichte (Synonym für Haupt- und Staatsaction) ein theatralisches Spectaculum [...].“ Zu einer kritischen Diskussion dieser Definition vgl. Jauß 1973, 554ff. sowie Koselleck 1979, 144ff. und Stierle 1973, 530ff. 244 Ricoeur 1988, Bd.1, 106. 241 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 42 sowjetischen Geschichtsschreibung als auch die historische Erzählung Ereignis und Geschichte zusammen und verdichten sie zu einer nachträglich institutionalisierten Wirklichkeit, die alle anderen Entwürfe verdrängt.245 Ihre Bedeutung liegt so darin, daß sie die grundsätzliche Unabgeschlossenheit historischer Prozesse in die illusionäre Endlichkeit der literarischen Erzählung überführen können.246 Kommt den beiden Diskursen damit eine annähernd gleiche Funktion zu (nämlich Geschichte zu repräsentieren und als vermeintlich authentische darzustellen), unterscheiden sie sich in ihrem jeweiligen Aufgabenbereich: Während der historische Diskurs damit beauftragt ist, die Vergangenheit zu rekonstruieren und die einzelnen Ereignisse in die übergreifenden Zusammenhänge einer nachträglich verfaßten Geschichtsschreibung einzufügen, zielt die historische Erzählung darauf ab, das Vergangene zu vergegenwärtigen und in der literarischen Imagination zu re-präsentieren:247 «Этим существенным признаком является, конечно, не столько материал, сколько специфическое, особое отношение автора к своему материалу как к материалу историческому. Это отношение к материалу различно у разных авторов, но исторический роман будет историческим романом только до тех пор, пока он трактует проблемы самой истории, но отнюдь не проблемы, надуманные извне. И так проблематика самой истории отнюдь не однозначна, а многообразна представляет широкое поле для проявления индивидуальноспецифических интересов и манер.» (Cyrlin 1935, 235) Damit besteht zwischen historischem und literarischem Diskurs eine intentionale Differenz, die Rolf Schörken in seiner Arbeit über den außerwissenschaftlichen Umgang mit Geschichte in dem Begriffspaar „Vergegenwärtigung“ und „Rekonstruktion“ zusammenfaßt.248 Die wissenschaftliche Reorganisation historischer Ereignisse besteht in dem Versuch, die Vergangenheit möglichst irrtumsfrei zu erforschen, um sie in ihren inneren Bezügen darstellen zu können.249 Im Gegensatz dazu besteht die Zielsetzung der liteZu den Kanonisierungsprozessen einer offiziell dekretierten Geschichtsauffassung in der Sowjetunion der dreißiger Jahre vgl. Barber 1981, 16ff. sowie Enteen 1978, 156ff. und Mazour 1975, 7ff. 246 Vgl. hierzu Iser 1964, 156 sowie Ricoeur 1991, Bd.3, 254. 247 Rolf Schörken spricht in seiner Arbeit über den außerwissenschaftlichen Umgang mit Geschichte davon, daß die nichtwissenschaftliche Darstellung historischer Ereignisse darauf abzielt, eine imaginäre Gegenwart der vergangenen Ereignisse herzustellen: „Wenn wir die entwordene Welt wiederherstellen, so geben wir den Toten eine Art zweites Leben, kein wirkliches, sondern ein Als-ob-Leben. Man könnte diese Bewußtseinsakte mit dem Begriff der Re-präsentation bezeichnen, wenn man dabei den Wortstamm ‚Präsens’ im Auge hätte und nicht die übliche Bedeutung des Repräsentierens. Es wäre dann gemeint: den vergangenen Dingen ein neues Präsens zu verleihen.“ (Schörken 1995, 13) 248 Schörken 1995, 11. 249 Vgl. hierzu auch Paul Ricoeur, der Geschichtsschreibung und Literatur ebenfalls anhand ihrer Referenzdimension unterscheidet. Während er die Geschichtsschreibung in einem repräsentativen Verhältnis zur Wirklichkeit sieht, das von einer impliziten Ontologie getragen wird, besteht die Bedeutung der Literatur darin, daß sie die historische Wirklichkeit verwandeln und in ihrer imaginären Handlungsgegenwart zeigen kann: Ricoeur 1991, Bd.3, 161ff. Paul Michael Lützeler sieht den Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Literatur ebenfalls in der unterschiedlichen Verfaßtheit der Diskurse begründet. Während sich die Geschichtsschreibung zumindest in ihrem Ideal auf das tatsächliche Geschehen bezieht und überprüfbar, widerlegbar und falsifizierbar sein muß, bedient sich die Literatur „sogenannter Als-ob-Strukturen“, die sich einer solchen Prüfung entziehen: Lützeler 1989, 13ff. Dorrit Cohn weist in ihrem Aufsatz über fiktionale und nicht-fiktionale Texte gleichfalls darauf hin, daß sich beide durch ein grundsätzlich anderes Referenzsystem unterscheiden: während sich der fiktionale Text lediglich aus Fabel und Sujet zusammensetzt, bezieht sich der historische Text auf eine dritte Bezugsebene, die der überlieferten Dokumente: Cohn 1990, 780ff. Vgl. hierzu auch Nünning 1995, 129ff., der die Diskussion noch einmal zusammenfaßt. Diese Unterscheidungen lassen meines Erachtens jedoch unberücksichtigt, daß die historische Erzählung ebenso wie der historische Roman mit dem gleichen Anspruch auf Referentialisierbarkeit auftritt, wie die Geschichtsschreibung und damit jenes „notorisch Zwitterhafte der Gattung“ aufweisen, das Hugo Aust gleich an den Anfang seiner Analyse des historischen Romans vermerkt: Aust 1994, 1. 245 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 43 rarisch inszenierten Vergangenheit darin, die im historischen Diskurs rekonstruierten Fakten mit Hilfe fiktiver Charaktere und imaginärer Szenen zu vergegenwärtigen und für den individuellen Nachvollzug durch den Leser vorzubereiten.250 Ihre Aufgabe besteht damit weniger darin, die historischen Ereignisse zu analysieren und unter der Bürgschaft des Realen zu rekonstruieren, als darin, das Vergangene mit einer neuen Gegenwart zu füllen und zu einem „sekundären Leben“251 zu erwecken, dessen Ort das Bewußtsein des Lesers ist.252 Damit unterscheidet sich die literarische Imagination von derjenigen der Geschichtsschreibung vor allem dadurch, daß der historische Diskurs auf eine möglichst authentische Rekonstruktion der historischen Ereignisse setzt, während die literarische Erzählung darauf ausgerichtet ist, eine zweite, imaginäre Wirklichkeit zu schaffen, die Geschichte im Text wiederauferstehen läßt:253 „Die rekonstruierende Seite der historischen Bemühungen besteht darin, diese vergangene Vergangenheit so realitätsgetreu wie möglich wiederzugeben. Zu diesem Zweck hat die historische Wissenschaft im Lauf ihrer Wissenschaftsgeschichte einen Apparat methodischer Regeln und Normen aufgebaut, der gewährleisten soll, daß die Rekonstruktionen ‚stimmen’, d.h. daß das, was rekonstruiert ist, auch die Gewähr dafür bietet, daß es sich in Wirklichkeit so zugetragen hat. [...] Die Vergegenwärtigung setzt die Schwerpunkte anders. Wenn die Wirklichkeit der wiedererweckten Vergangenheit eine Bewußtseins- oder Imaginationswirklichkeit ist, dann müssen Bewußtsein und Imagination auch ausdrücklich angesprochen werden. Das ist legitim und kann nicht einfach als eine Aufgabe minderen Ranges abqualifiziert werden, auch dann nicht, wenn man das inhaltliche Angewiesensein auf Ergebnisse rekonstruierender Forschung vollständig anerkennt. [...] Die mit Hilfe von Wörtern und Bildern geschaffene sekundäre Wirklichkeit ‚ist’ und ist zugleich nicht. Sie ist keine vorfindbare Realität, sondern eine aus Sprache und Vorstellungsbildern gemachte Bewußtseinsrealität, die der erfahrenen Realität insofern ähnlich ist, als man in sie eintreten, sich von ihr umfangen lassen und gewissermaßen in ihr mitschwimmen und mitagieren kann - aber eben nur mit Hilfe der Vorstellungskraft.“ (Schörken 1995, 13) Der literarische Diskurs arbeitet so mit einer Ästhetisierung des Faktischen, deren sekundäre Fiktionalisierung die im historischen Diskurs vorgenommene Rekonstruktion vergangener Ereignisse ergänzt und in der Imagination einer nachträglich geschaffenen Wirklichkeit vervollständigt.254 Ihre Repräsentation beruht auf der Verschränkung von fiktiven und faktischen Details, die der reinen Beschreibung historischer Tatsachen die Schaffung situativer Kontexte entgegengesetzt.255 Die Imagination des historischen RoVgl. hierzu Iser 1964, 156 sowie Müller 1988, 16f., der den historischen Roman als perspektivisch gebundenes, ästhetisch organisiertes Konstrukt mit einer Akzentuierung situativer, belegbarer Konstellationen beschreibt und damit ebenfalls den darstellenden Aspekt der literarischen Erzählung in den Mittelpunkt seiner Analyse rückt. In seinem „Geschichtsschreibung als Literatur“ überschriebenen Essay bezeichnet Golo Mann diese Funktion der Literatur als Übersetzung der abstrakten Überlieferung ins Unmittelbare bzw. als ihre Übertragung aus dem überlieferten Indirekten ins Direkte: Mann 1973, 111f. 251 Schörken 1995, 12. 252 Vgl. hierzu Schörken 1995, 11f., sowie Barthes 1968, 172, der die Geschichtsschreibung an die Bürgschaft des Realen sowie ihre Sanktionierung durch die historische Wissenschaft gebunden sieht. 253 Auf diesen Unterschied zwischen Literatur und Geschichtsschreibung weist Dietrich Harth in einem Aufsatz über Poetik und Historik hin. Er führt diesen Unterschied auf die grundsätzlich unterschiedliche Bedeutung der beiden Begriffe zurück. Während ‚historein’ beobachten, erkunden oder in Erfahrung bringen bedeutet, meint ‚poiein’ schaffen, handeln, verfahren, zeugen. Daraus leitet er den Schluß ab, daß die Poetik eine ‚Verfahrenslehre des Schaffens’ ist, während sich die Historik als ‚Kunstlehre der Suche’ zeigt: Harth 1990, 13ff. 254 Die Unterscheidung zwischen einer primären und einer sekundären Fiktionalisierung der Geschichte legt Hans Robert Jauß seiner Analyse einer historischen Erzählung Johann Peter Hebels zugrunde. Während die primäre Fiktionalisierung für ihn den Prozeß der eigentlichen Geschichtsschreibung ausmacht, bedeutet die sekundäre Fiktionalisierung ihre Übertragung in den literarischen Text. Sie zeichnet sich durch die Verwendung erfundener Details oder Reden aus, welche die Anschaulichkeit des Dargestellten erhöhen: vgl. hierzu Jauß 1984, 356ff. 255 Vgl. hierzu Jauß 1984, 357f. sowie Nünning 1995, 42ff. 250 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 44 mans beruht so auf einer Verflechtung von Geschichte und Fiktion, die die Grenzen des literarischen Textes insofern überschreitet, als daß sie Referenzen auf reale Elemente in einen fiktiven Kontext integriert.256 Dadurch entsteht ein fiktives Wirklichkeitssystem, in dem die dargestellten Personen als Subjekte ihrer eigenen Vergangenheit agieren und in die Erlebniswirklichkeit einer scheinbar realen Welt zurückversetzt werden können.257 Wie Rolf Schörken zeigt, stellt die fiktionale Erzählung die in ihr repräsentierten Ereignisse damit in einem grundsätzlich anderen Modus dar als die Geschichtsschreibung. Während sich die Historiographie der Sprache als Aussagesystem bedient, mit dessen Hilfe sie Strukturen, Epochen oder Personen beschreibt, besteht die Leistung der literarischen Fiktion darin, eine scheinbar authentische Wirklichkeit zu entwerfen, welche die Vergangenheit der historischen Ereignisse zur Erlebniswirklichkeit ihrer Figuren werden läßt. Sie erzeugt einen Fiktionsraum, in dem die Sprache weniger dazu dient, die dargestellten Ereignisse zu analysieren, als dazu, die historischen Ereignisse zu einer vermeintlich authentischen Vergangenheit zu verdichten:258 „Der Historiker geht dabei von der Voraussetzung aus, daß diesen Epochen, Personen und Strukturen vergangene Wirklichkeiten zugrunde gelegen haben, die von ihm, dem Aussagenden, ungeachtet aller Interpretationsspielräume letzten Endes unabhängig sind. Fiktion dagegen leistet etwas anderes: Sie erzeugt den Schein von Wirklichkeit. Das ist etwas anderes als eine bloß vorgetäuschte Wirklichkeit. Der Leser oder der Zuschauer tritt in die Fiktion in der Weise ein, daß er im Akt des Lesens oder des Sehens aus seiner alltäglichen Wirklichkeit für eine bestimmte Zeitspanne ein fiktives Wirklichkeitsfeld imaginativ aufbaut. Beim historischen Roman oder Film wird der Leser (Zuschauer) nicht einfach in die Vergangenheit versetzt, sondern in eine Wirklichkeit eigener Art. In dieser fiktiven Wirklichkeit sind die dargestellten Personen, Ereignisse usw. ‚jetzt und hier’ gegenwärtig.“ (Schörken 1981, 118) In dieser nachträglichen Vergegenwärtigung wird die Subjekt-Objekt-Struktur des historischen Diskurses aufgehoben. Die empirische Wirklichkeit erscheint nicht länger als Objekt der historischen Darstellung, sondern avanciert zum Subjekt der literarischen Erzählung.259 Die Wahrheit historischer Ereignisse wird im literarischen Diskurs nicht an die empirische Überprüfbarkeit historischer Tatsachen gebunden, sondern durch die Stimmigkeit einer nachträglich verfaßten Wirklichkeit ersetzt. Sie schafft einen Realitätsersatz, der die Ganzheitlichkeit einer realen Vergangenheit fingiert, tatsächlich jedoch durch die syntagmatische Organisation der einzelnen Erzählelemente hergestellt wird.260 Vgl. hierzu Nünning 1995, 46 sowie Müller 1988, 13 und Geppert 1976, 34ff. Geppert sieht die Besonderheit des historischen Romans darin, daß die in ihm etablierte Verweisstruktur nicht auf das Allgemeine, sondern auf das Besondere eines Referenten ausgerichtet ist und dadurch eine Anpassung der literarischen und historischen Sachverhalte erreichen kann: Geppert 1976, 20. 257 Vgl. hierzu Schörken 1981, 117f. sowie Ricoeur 1991, Bd.3, 225ff., der dieses Verfahren als „DeDistanzierung“ beschreibt und Hamburger 1987, 121ff, die darauf hinweist, daß die epische Erzählung der einzige Ort ist, an dem der das erzählte Subjekt in dem Hier und Jetzt seiner imaginären Gegenwart gezeigt werden kann. 258 Vgl. hierzu Ricoeur 1991, Bd.3, 275ff., der die eigentliche Leistung fiktionaler Texte erst in ihrem Nachvollzug durch den Leser gewährleistet sieht. Er setzt dafür den Begriff der Refiguration ein, der die Lektüre in eine lebendige Erfahrung verwandelt, welche die nachträglich fingierte Wirklichkeit im Bewußtsein des Lesers wiederauferstehen läßt. Zur rezeptionsabhängigen Wahrnehmung der literarischen Fiktion vgl. auch Jauß 1984, 31ff. sowie Landwehr 1996, 495ff. und O’Neill 1994, 15f., der den Sinn der Texte ebenfalls erst im Nachvollzug durch den Leser gewährleistet sieht, der dadurch zum zweiten Autor wird. 259 Vgl. hierzu Iser 1964, 138, der diesen Wechsel vom historischen Objekt zum Subjekt der Erzählung an den historischen Romanen Sir Walter Scotts nachweist, sowie Hamburger 1987, 101ff., die darauf hinweist, daß auch historische Personen nur in der literarischen Fiktion der epischen Erzählung als Subjekt der Geschichte agieren können. Vgl. hierzu auch Lützeler 1989, 13f., der diese Übertragung als die originäre Leistung der historischen Fiktion beschreibt. 260 Vgl. hierzu Nünning 1995, 73ff. sowie Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff. 256 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 45 Wahr ist demnach nicht, was wissenschaftlich verifizierbar ist, sondern das, was den Gesetzen der ‚Wahrscheinlichkeit’ nach als ‚wahr’ erscheint.261 Damit kehrt die von Aristoteles vorgenommene Unterscheidung zwischen Literatur und Geschichtsschreibung in den literarischen Text zurück und legitimiert eine Divergenz, in der das Mögliche und Wahrscheinliche an die Stelle des Faktischen und Partikulären tritt.262 Das Mögliche und Wahrscheinliche literarischer Texte wird so zur Voraussetzung dafür, daß die literarische Erzählung geschichtliche Vorgänge darstellen und Geschichts- und Romanhandlung aufeinander beziehen kann.263 Das literarisch Mögliche tritt dabei an die Stelle des wissenschaftlich Rekonstruierbaren und füllt eine Leere des historischen Diskurses, die das Abwesende der tatsächlichen Ereignisse nachträglich gestaltet.264 Dadurch ergibt sich ein Nebeneinander von Fiktion und Faktographie, über das Hugo Aust schreibt: „So geht es um Wahrheit, insofern sich die Poesie als Welt des Möglichen, Eigentlichen und ‚Philosophischen’ (Aristoteles: Poetik Kap. 9) einerseits den engen Grenzen des Wirklichen und Tatsächlichen unterwirft, andererseits auf dem Recht zur ‚Redefreiheit’ beharrt und in dieser Spannung sogar höhere Wahrheitswerte zu erwirken sucht.“ (Aust 1994, 1) Die literarische Darstellung historischer Ereignisse steht so im Dienst einer nachträglich verfaßten Wirklichkeit, welche die Vergangenheit offizialisiert und über ihre Rekonstruktion im literarischen Text bestätigt. Dazu wird eine historische Kontinuität in den literarischen Diskurs übertragen, die jede Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhebt und die Darstellung der Vergangenheit zur unmittelbaren Vorgeschichte der eigenen Gegenwart verklärt: «Писатель должен подойти к материалу истории как наш современник, он должен уметь так соединить с современностью, чтобы в романе сосуществовали две правды, две реальности, две действительности, не разрушая одна другую. Это отношение к историческому материалу, это ощущение связи правды истории с правдой современности - оно различно у отдельных писателей [...]; но самое наличие этого отношения составляет существенный признак жанра.» (Cyrlin 1935, 235) Dadurch wird eine historische Kontinuität simuliert, welche die Ereignisse des Bürgerkriegs in den Dienst einer medial inszenierten Gegenwart stellt und zum legitimatorischen Fundament des offiziell gefeierten Stalinkults ausbaut. 2.2 Literarische Fiktion als Geschichte Zu den wichtigsten Verfahren einer nachträglich fingierten Vergangenheitsillusion gehören, wie in allen literarischen Texten, die Auswahl und Kombination der einzelnen Vgl. hierzu Kocka 1990, 25 sowie Ricoeur 1991, Bd.3, 253, 260 und Lützeler 1989, 14. Vgl. hierzu Koch 1983, 7ff. und 14ff. sowie Iser 1991, 402. 263 Vgl. hierzu Lützeler 1989, 18 und Lämmert 1985, 237, der über den standardisierten Plot historischer Romane schreibt: „[E]ine grosso modo quellengetreue Nachzeichnung geschichtlicher Hauptvorgänge wie Kriegszüge, Erbstreitigkeiten, Familienmorde und Volksaufstände nach verbürgten Quellen, und das ganze verlebendigt durch die Einwebung eines erfundenen persönlichen Lebens- und Liebesschicksals: das sind bald feststehende Normen, nach denen sich Hunderte von historischen Romanen in der englischen und deutschen Scottnachfolge getreulich richten.“ 264 Genau hierin besteht der Unterschied, den Aristoteles in seiner Poetik zwischen Epos und Geschichtsschreibung formuliert: Während die Geschichtsschreibung die von ihr beschriebene Epoche in ihrer – oft zufälligen - Ganzheit darstellen soll, dominiert in der epischen Dichtung die Einheit der Handlung. Wie in den Mythen der Tragödien muß sich das Epos auf eine einzige, in sich geschlossene und vollständige Handlung beziehen und beruht damit notwendigerweise auf der Selektion und Kombination ihrer Sujetelemente. Vgl. hierzu Aristoteles 1994, 77ff. 261 262 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 46 Sujetelemente. Mit ihrer Hilfe entsteht eine sekundär semantisierte Text-Welt, deren formale Struktur den Gegenstand der Erzählung konstituiert und die in ihr begründete Wirklichkeitsfiktion reguliert.265 Die Selektion dient dazu, die Fakten, die im Text zu einer Fabel verdichtet werden, aus ihren historischen wie diskursiven Bezügen herauszulösen und einer sekundären Sinnstiftung zu unterziehen. Sie werden aus ihren ursprünglichen Bezugsfeldern befreit und zum Gegenstand einer Erzählung erhoben, deren Bedeutung nicht länger über die unmittelbare Referenzfunktion der Zeichen hergestellt wird, sondern über die textinterne Verweisstruktur ihrer relationalen Bezüge.266 Die Auswahl der einzelnen Sujetelemente unterteilt die Wirklichkeit in Ereignisse, die im Text aktualisiert werden und in solche, die inaktiv bleiben. Selektion beinhaltet damit immer zugleich auch eine Perspektivierung des Erzählten und geht mit einer Irrealisierung aller anderen Wirklichkeitsbereiche einher.267 Erst durch diese Akte des Fingierens kann ein historischer Sinn hergestellt werden, der die im Text gezeigten Ereignisse als mimetische Repräsentation einer außerliterarischen Wirklichkeit begreift.268 Mit der Übertragung in den binnensemantischen Verweiszusammenhang der Erzählung wird zugleich die Weltreferenz der Texte fiktionalisiert. Die Bedeutung der Erzählung ergibt sich damit nicht länger aus ihren außerliterarischen Bezügen, sondern durch die binnensemantische Relation ihrer Sujetelemente. Durch ihre Kombination kann die Illusion einer ganzheitlichen Wirklichkeit entstehen, deren interne Organisation die Ordnung einer scheinbar faktischen Vergangenheit repräsentiert.269 Sie wird auf die syntagmatische Achse der Erzählung projiziert und dort zu einer mimetischen Widerspiegelung der Wirklichkeit ausgebaut. Tatsächlich beruht jedoch auch die Sinnstiftung der historischen Erzählung auf einer ästhetischen Funktion, die das Erzählte nicht aus den textexternen Verweisen sondern einer binnensemantischen Bedeutungsstiftung generiert. Selektion und Kombination schaffen so eine Textstruktur, welche die im offiziellen historischen Diskurs vorgegebene Wirklichkeit imaginiert und durch ihre literarische Gestaltung konkretisiert.270 Die Differenz zwischen historischem und literarischem Text besteht somit darin, daß die Erzählung ein Irreales formulieren kann, das über die Konfigurationsstruktur des Textes gestaltet und als vermeintlich authentische Wirklichkeit vorgestellt werden kann.271 Der literarische Text kann so ein Analogon historischer Ereignisse schaffen, das über den Umweg der literarischen Erzählung vorstellbar gemacht und an die Stelle der tatsächlichen Ereignisse gesetzt werden kann.272 Das Fiktive erscheint damit als Vermittlungsinstanz, die das Reale und das Imaginäre aufeinander bezieht und eine Funktion erfüllt, die auch in der Literaturtheorie der sowjetischen Literaturwissenschaft zum zentralen Moment ihrer Vgl. hierzu Iser 1991, 24ff. sowie Lotman 1973, 128ff., der die Kombination einzelner Elemente auf der syntagmatischen Achse des Textes als innere Umcodierung beschreibt, während er die Selektion von Elementen auf der paradigmatischen Textebene als äußere Umcodierung bezeichnet. Beide konstituieren die grundlegenden Konstruktionsprinzipien literarischer Texte. 266 Iser 1991, 33ff. sowie Lotman 1973, 138ff., Mukařovský 1967, 45ff. und Červenka 1978, 116f. 267 Vgl. hierzu Iser 1991, 29 sowie Müller 1988, 14f. 268 Vgl. hierzu Nünning 1995, 73ff. 269 Vgl. hierzu Iser 1991, 29f. sowie Nünning 1995, 73 und Ricoeur 1988, Bd.1, 104ff. 270 Vgl. hierzu Nünning 1995, 64ff. sowie Iser 1991, 24ff. 271 Vgl. hierzu Iser 1991 38ff. und 377ff. sowie Müller 1988, 14ff. und Nünning 1995, 173ff., der die fiktionalen Privilegien aufzählt, die dem literarischen Autor zur Gestaltung von Geschichte zur Verfügung stehen. 272 Zum Begriff des Analogons vgl. Lotman 1981, 68. 265 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 47 Indienstnahme wird: «Третья форма использования вымысла состоит в том, что им связывается факты с историческим процессом, из которого эти факты изолируются искусственно. Реально существующая связь фактов между собой должна быть воссоздана. Вымысел и создает такую единую кровеносную систему, по которой должны проходить жизненные силы, объединающие в своей изолированности факты. Вот почему вымысел играет большую роль в фабульных произведениях, где отдельные факты изъяты из целого и где это целое должно быть воссоздано искуственно.» (Cyrlin 1935, 246f.) Daß auch die Erzählung Tolstojs dazu dient, die durch Selektion und Kombination hergestellte Geschichtsfiktion als lebendige Geschichte vorzustellen, zeigen die Rezensionen. Sie stellen der nominalen Faktizität des historischen Diskurses ein literaturwissenschaftliches Vokabular entgegen, das die imaginative Funktion der Erzählung unterstreicht. Mit Begriffen wie «рассказывает», «показывает», «изображает» oder «раскрывает» richten sie den Blick auf die narrative Ebene des Textes und weisen ihm damit eine Funktion zu, die dem historischen Diskurs fehlt.273 Sie lassen eine Indienstnahme des Literarischen erkennen, die weniger darauf abzielt, die historischen Ereignisse zu rekonstruieren, als darauf, die im Text konfigurierten Ereignisse erneut zu vergegenwärtigen:274 «В повести показано, как в тяжелые, грозные для страны моменты, требовавшие от Ленина нечеловеческого напряжения сил, его великие труды разделял с ним Сталин. Сталин направляется в Царицын, где дезорганизация, неподготовленность к обороне создавали благоприятные условия для оживления контрреволюционных сил.» (Alpatov 1956, 91) Die Übertragung aus dem historischen in den literarischen Diskurs dient so einer historischen Sinnbildung, deren Repräsentation nicht in den wissenschaftlichen Arbeiten der offiziellen Geschichtsschreibung stattfindet, sondern über die Konfigurationsstruktur literarischer Texte vorgenommen wird. Die imaginierten Geschichts-Bilder der historischen Erzählung stehen damit im Dienst einer nicht-wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die den Mythos von der Verteidigung Caricyns aktualisiert und in der Bewußtseinsrealität der sowjetischen Bevölkerung wiederauferstehen lassen soll.275 Die Erzählung wird damit zur Zeitreise, die die Schlacht um Caricyn fast zwanzig Jahre nach dem Ende des Bürgerkriegs noch einmal aufgreift und als vermeintlich authentische Geschichte im Gedächtnis ihrer Leser verankert:276 «В самом деле, – в небольшой размер книги - вместить огромное количество исторического материала, заставить этот материал 'звучать' на страницах повести, воссоздать образы Ленина, Сталина, Ворошилова так, чтобы при своих больших размерах это были живые люди, ввести в историческую обстановку к историческим фигурам вымышленные персонажи (Иван Гора, Агрипина и другие), сделать так, чтобы тематика 'ушла вглубь', стала органической двигающей силой произведеиня [...].» (Tolstoj 1938, 333) Sie verweisen damit auf die ästhetische Funktion der Erzählung, die sie als literarische Aussage identifiziert. Als „Benennung höherer Ordnung“ (Mukařovský 1967, 52) wird die Erzählung zum autonomen Zeichen, das Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern mit Hilfe literarischer Verfahren gestaltet: Mukařovský 1967, 44ff. Wolf-Dieter Stempel beschreibt den Unterschied zwischen Literatur und Geschichtsschreibung so auch als Differenz zwischen poetischer und praktischer Sprachverwendung: Stempel 1973, 344f. Daß sich poetische und praktische Sprachverwendung nicht ausschließen, zeigen sowohl Jan Mukařovský als auch Roman Jakobson: Mukařovský 1967, 48f. sowie Jakobson 1991, 46. Daß sie sich im historischen Roman permanent überlagern, zeigen Geppert 1976, 34ff. sowie Nünning 1995; 46f. und Ricoeur 1988, Bd.1, 122ff. 274 Mit dem Begriff der Konfiguration bezeichnet Paul Ricoeur die Anordnung der Ereignisse im Text. Sie werden in dem nachträglichen Akt des Lesens zu einer rekonfigurierten Wirklichkeit, die sich im Bewußtsein des Lesers zusammensetzt. Vgl. hierzu Ricoeur 1988, Bd.1, 88ff. und 1991, Bd.3, 114ff. 275 Vgl. hierzu noch einmal Schörken 1995, 13f. sowie Aust 1994, 3ff. 276 Vgl. hierzu auch Schörken 1981, 116ff. 273 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 48 Die Erzählung nimmt damit an einer Vermittlung von Geschichte teil, welche die Gedächtnislücken der offiziellen Geschichtsschreibung schließt und durch eine nachträglich fingierte Erinnerung ergänzt. Der Schriftraum der Erzählung verwandelt sich dabei in einen imaginären Erlebnisraum, der die dargestellten Ereignisse nachvollziehbar macht und von der Strukturebene des Textes in die Erfahrungsebene der Leser überträgt.277 Die Akte des Fingierens dienen so nicht nur dazu, eine Vergangenheit zu inszenieren, welche die Darstellung Stalins legitimiert. Sie dienen auch dazu, ein historisches Gedächtnis zu fingieren, das die so geschaffene Erinnerung als vermeintlich authentische bestätigt. 2.3 Der ideale Leser Fester Bestandteil dieser Übertragung ist ein idealer Leser, der die historischen Ereignisse reproduziert und in seinem eigenen Gedächtnis rekapituliert. Evgenij Dobrenko beschreibt diesen Leser als konzeptionelles Konstrukt, das – in Ergänzung des idealen Autors - zum Träger einer offiziell dekretierten Lektürehaltung wird. In ihm verdichten sich die Erwartungen einer vorformulierten Lesehaltung, die über die offiziellen Rezensionen in das Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit eingetragen werden soll. Die so vorgeschriebene Lektüre geht nicht über den offiziell vorgeschriebenen Rahmen ästhetischer Erfahrungen hinaus, sondern rekonstruiert eine Textbedeutung, in der institutionalisierte und individuelle Leseerfahrung zusammenfallen.278 Der ideale Leser wird damit zum Objekt, das nicht aktiv in den Prozeß der literarischen Sinnbildung eingreift, sondern zur Projektionsfläche einer nachträglich kanonisierten Sinnstiftung wird. Seine wichtigsten Eigenschaften sind die vollständige Identifikation mit dem Helden, sein Wunsch, an die Stelle der literarischen Figuren zu treten sowie sein Bedürfnis, Wirklichkeit und Literatur aneinander anzugleichen:279 «Наш советский читатель – умный и тонкий читатель. Он требователен и не снисходителен к ошибкам, но он может быть так же горячо благодарен автору. Наш читатель несет в себе целостное, крепкое и целеустремленное отношение к действительности. Наш читатель - сын сталинской эпохи. Он требует искусства сильного и большого.» (Tolstoj 1938, 333) Mit dem idealen Leser entsteht eine Rezeptionsinstanz, die die in den Rezensionen geforderte Entgrenzung von erlebter und erzählter Geschichte nachvollzieht und die nachträglich präsentierten Fakten als historisch überlieferte Geschichte rezipiert. Die Rezensionen dienen so nicht zuletzt dazu, den Erfahrungsraum der Erzählung zum Gedächtnisraum der Leser auszubauen und eine Rezeptionshaltung vorzugeben, die den Leseakt des realen Lesers in seiner idealen Ersetzung präfiguriert.280 Ziel einer solchen Ersetzung ist es, das Leserbewußtsein zu manipulieren und an die offizielle Geschichtsschreibung anzuschließen.281 Intendiert ist eine affirmative Lektüre, welche die in der Erzählung rekonstruierten Ereignisse bestätigt und im Gedächtnis ihrer Leser aktualisiert. Träger dieser idealen Leserschaft ist ein kollektiv(iert)es Subjekt, das hauptsächlich in der zweiten Person Plural Eingang in die Rezensionen findet. Seine Imagination läßt Zu diesen Übertragungsvorgängen vgl. Iser 1990, 112ff. und 175ff. Vgl. hierzu Dobrenko 1997, 258ff. 279 Dobrenko 1997, 263f. 280 Wolfgang Iser weist unterschiedliche Lesertypen und -konzepte auch für die westeuropäische Literaturkritik nach. Auch sie dienen dazu, die eigenen Erkenntnisziele durch die Konstitution eines idealen Lesers zu legitimieren: vgl. hierzu Iser 1990, 50ff. 281 Vgl. hierzu Schörken 1995, 105ff. sowie von Borries 1996, 5ff. und 182ff. 277 278 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 49 erkennen, daß es in den Besprechungen nicht nur darum geht, die in den Text eingefaltete Information zu entdecken, sondern auch darum, eine Interpretation vorzugeben, die aus dem literarischen Text in die Vorstellung der Leser übertragen werden soll. Erst ihre Antizipation ermöglicht die vollständige Rekonfiguration der historischen Ereignisse und rechtfertigt eine Entgrenzung von Text und Wirklichkeit, die A.V. Alpatov seiner Analyse Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб zugrundelegt. Seine Interpretation überhöht die Darstellung Stalins zur realen Anwesenheit und gibt damit eine Lektürehaltung vor, die nicht länger zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheidet, sondern die literarische Gestaltung zur historischen Realität verklärt: «Со страниц повести встает перед нами самый жизненный облик Сталина. Мы как будто воочию видим его перед собой идущего среди голой степи под Царицыном, беседующего с Ворошиловым о будущем авиации, о положении на фронте; мы видим его жесты, слышим самые интонации его голоса.» (Alpatov 1955, 91) Auf diesem Weg wird eine Wirkabsicht literarischer Texte formuliert, die zur unmittelbaren Rezeptionsvorgabe an den Leser wird. Sie strukturiert eine literarische Kommunikation, die sowohl den Text als auch dessen Rezeption kontrolliert. Die Literaturkritik erscheint damit als Kontrollinstanz, die nicht allein die Textbedeutung sondern auch die ästhetische Erfahrung ihrer Lektüre reguliert.282 Das Ziel einer solchen Stillstellung ist es, den Leser auf eine eindeutige Interpretation der Erzählung zu verpflichten und ihn durch einen affektiven Zugang zur Geschichte zu vereinnahmen. Am Ende steht eine sympathetische Identifikation, die Hans Robert Jauß als „ästhetischen Affekt des SichEinfühlens in das fremde Ich“ des Textes bezeichnet.283 2.4 Die literarische Transformation: das historische Objekt wird zum literarischen Subjekt Die Differenz zwischen historischem und literarischem Diskurs besteht aber nicht nur in ihrer unterschiedlichen Wirkabsicht. Ein wesentlicher Unterschied besteht auch in dem Status, den sie den in ihnen dargestellten Personen zuweisen. So betrachtet der historische Diskurs die in ihm beschriebenen Personen als historische Objekte, die dem Aussagesubjekt der historiographischen Geschichtsschreibung untergeordnet sind. In der literarischen Erzählung avancieren sie dagegen zu historischen Subjekten, die in der imaginären Wirklichkeit einer fiktiven Textwelt nicht nur beschrieben, sondern als vermeintlich authentische Person dargestellt werden können.284 Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen historiographischem und literarischem Text besteht so darin, daß der literarische Text eine Innenperspektive historischer Figuren gestalten kann, die Sie wird damit zur Diskurspolizei, deren Sinnfestlegung die richtige Interpretation der Texte sowie den in ihr begründeten Anspruch auf Wahrheit sicherstellen soll: vgl. hierzu Foucault 1999, 114ff. sowie Günther 1984, 172 und 188 und Kneip 1995, 123ff. 283 Jauß 1984, 270ff. sowie Assmann 1990, 11, die darauf hinweist, daß sich die fiktionale Rede vor allem auf die appellative und affektive Funktion der Sprache bezieht. Daß die Literaturkritik nicht immer in der Lage war, dieser Aufgabe nachzukommen, belegen einige der von D.L. Babičenko herausgegebenen Dokumente. Sie zeigen, daß es in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre eine größere Auseinandersetzung zwischen Mitgliedern des Schriftstellerverbandes und der offiziellen Literaturkritik gegeben hat. Der Konflikt entbrennt, nachdem sich A.S. Ščerbakov (Sekretär des Schriftstellerverbandes) in einem Brief an Stalin kritisch über die Arbeit der offiziellen Literaturkritik geäußert hat: Babičenko 1997, 204ff. sowie 237ff . 284 Auf diesen Unterschied verweist Käthe Hamburger, wenn sie in ihrer Arbeit über die Logik der Dichtung schreibt: „Fiktionalisierung geschilderter Personen bedeutet eben dies: sie nicht als Objekte, sondern als Subjekte, d.i. als Ich-Origines zu schildern.“ (Hamburger 1987, 124) 282 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 50 dem Aussagesystem geschichtswissenschaftlicher Arbeiten nicht zur Verfügung steht. Durch Erzähltechniken wie den inneren Monolog, die erlebte Rede oder den Wechsel von Erzähler- und Figurenrede, gelingt es der Erzählung, eine Figurensemantik zu entwerfen, welche die literarischen Charaktere als denkende, fühlende und handelnde Subjekte ausweist.285 Sie erscheinen damit als eigenständig handelnde Figuren, die nicht nur hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Gesamtzusammenhang des Erzählten befragt werden, sondern als Subjekte ihrer eigenen Geschichte handeln. Sie agieren als vermeintlich authentische Personen, die von ihrem Autor mit einem scheinbar individuellen Bewußtsein und einer eigenständigen Handlungsmotivation ausgestattet werden.286 Die Bedeutung der literarischen Erzählung resultiert so aus ihrem Vermögen, fiktive Ich-Identitäten entwerfen zu können, die den Aussageobjekten des historischen Diskurses entgegenstehen.287 Da die Fiktion, so Käthe Hamburger, der einzige Ort ist, an dem von einer dritten Person als Subjekt gesprochen werden kann, liegt die Bedeutung der literarischen Erzählung in erster Linie darin, daß sie eine personale Identität fingieren kann, die die in ihr geschilderten Personen aus dem Objektstatus des historischen Diskurses befreit: „Die epische Fiktion ist der einzige sowohl sprach- wie erkenntnistheoretische Ort, wo von dritten Personen nicht oder nicht nur als Objekten, sondern auch als Subjekten gesprochen, d.h. die Subjektivität einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann.“ (Hamburger 1987, 125) Überträgt man diese Eigenschaft auf die Erzählung Aleksej Tolstojs, so besteht eine ihrer wichtigsten Leistungen darin, die Person Stalins aus dem Aussagesystem des historischen Diskurses zu befreien und als eigenständig handelnde Figur zu zeigen. Erst durch diese Übertragung kann eine literarische Repräsentation entstehen, die seine Person aus der nominellen Verweisstruktur der offiziellen Geschichtsschreibung herauslöst und mit einer nachträglich geschaffenen Ich-Identität ausstattet. Die Erzählung dient so dazu, die Mimesis einer handelnden Person zu schaffen, die über den Umweg ihrer literarischen Gestaltung offizialisiert und an die Stelle des realen Stalin gesetzt werden kann.288 Ihrer Nennung im historischen Diskurs steht eine literarisch gestaltete Figur entgegen, deren fiktionale Identität die Überhöhung im historischen Diskurs rechtfertigt. Die Verdoppelung im literarischen Text dient so dazu, einen literarischen Charakter zu entwerfen, der den vermeintlich historischen Stalin an seine mythische Identität angleicht: «В повести Алексея Толстого 'Хлеб' (оборона Царицына) показана роль товарища Сталина в период гражданской войны. Здесь хорошо показан Сталин - Народный Комиссар, Член Военного Совета, создавший из советских войск Царицынского района костяк, современной непобедимой Советской Армии. Характерные черты стойкого большевика, верного соратника Ленина, гениального стратега и полководца рассеяны по всей книге. Их нельзя Vgl. hierzu Lützeler 1989, 13f. sowie Hamburger 1987, 80ff. und 135 und Nünning 1995, 184f., der das Privileg des literarischen Autors, die Innenwelt seiner Figuren darstellen zu können, als zentrale Besonderheit fiktionaler Geschichtsvermittlung beschreibt. Er faßt damit eine These zusammen, die vor ihm Ricoeur 1989, Bd.2, 147ff., Genette 1990, 761ff. und Cohn 1990, 784ff. formuliert haben. 286 Daß es sich dabei lediglich um ein imaginäres Bewußtsein handelt, zeigen sowohl Cohn 1990, 784ff. als auch Hamburger 1987, 103, die darauf hinweist, daß historische Personen, sobald sie in ihrer vermeintlich authentischen Ich-Originität vorgeführt werden, fiktive Figuren sind. 287 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 124f. sowie Cohn 1990, 784ff., Genette 1990, 761ff. und Ricoeur 1989, Bd.2. 147ff. 288 Zur literarischen Figurengestaltung vgl. Bal 1985, 79ff., Tomaševskij 1967, 152ff., Faryno 1991, 101ff. und O’Neill 49ff. 285 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 51 собрать воедино отдельными цитатами. Эти характерные сталинские черты в повести рельефны, оторвать их от художественного монолита всей картины событий тех лет или военной обстановки невозможно.» (Sejfullina 1949, 173) Dabei folgt auch die nachträglich fingierte Identitätsstiftung Stalins dem Prinzip des Wahrscheinlichen und Möglichen.289 Es reguliert seine literarische Imagination und verweist die literarische Gestaltung seiner Figur auf eine Darstellung, die aus der Innenperspektive des offiziellen Stalinkults als möglich und wahrscheinlich vorgegeben wird. Dadurch kann die Figur Stalins mit einer Figurenperspektive ausgestattet werden, die ihre lediglich fragmentarisch rekonstruierte Identität im historischen Diskurs ergänzt und durch die Verfahren der literarischen Figurengestaltung authentifiziert.290 Ziel dieser Rekonstruktion ist es, die Figur Stalins in ihrer vermeintlich authentischen Ich-Identität vorzuführen und ihr historisches Handeln als tatsächliches Handeln im Text zu vergegenwärtigen. Dazu bedient sich die Erzählung aller zur Verfügung stehenden Mittel: neben den Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung finden sich auch unterschiedliche Verfahren der direkten Figurenbeschreibung. Sie werden zu einem Bild Stalins zusammengesetzt, das seine offizielle Identität bestätigt und seine im Text entworfene Figur als vermeintlich authentische vorführt: „Hohen Wert haben die Blätter der Erzählung, die dem Wirken J.W. Stalins gewidmet sind. Tolstoi schildert wahrheitsgetreu den Genossen Stalin, seinen Mut, seine Weisheit.“ (Stscherbina 1954, 97) Daß die Erzählung dabei nicht allein damit beauftragt ist, das nachträglich kanonisierte Bild Stalins im Text zu vergegenwärtigen, sondern auch damit, seine mythische Überhöhung im Text zu präsentieren, zeigen die Analysekapitel weiter unten. Sie weisen die unterschiedlichen Verfahren auf, mit deren Hilfe Tolstoj seinen Auftrag, eine literarische Figur Stalin zu gestalten, realisiert und beschreiben zugleich die mythische Identität, die seine literarische Rekonstruktion in das historische Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit eintragen soll. 2.5 Entstehungsgeschichte versus Entstehungslegende 2.5.1 Rekonstruktionsversuch Verfolgt man die unterschiedlichen Arbeitsberichte, in denen Aleksej Tolstoj über seine literarischen Projekte Auskunft gibt, so zeigt diese Rekonstruktion, daß er im Frühjahr 1935 mit der Erzählung Хлеб begonnen haben muß. Noch im November des Vorjahres erschien in der Zeitung Литературный Ленинград ein Artikel, in dem er den dritten Teil seiner Trilogie Хождение по мукам ankündigt. In diesem Artikel sah er das gesamte Jahr 1935 für die Fertigstellung des letzten Bandes vor, der den Titel Девятнадцатый год tragen und sich mit der endgültigen Vertreibung der deutschen Truppen aus der Ukraine beschäftigen sollte.291 Doch bereits im Mai 1935 findet sich in der Rubrik «К 20-летию Vgl. hierzu auch Aristoteles 1994, 49, der die Notwendigkeit und Wahrscheinlichkeit als grundlegende Elemente einer literarischen Figurengestaltung aufführt. 290 Daß Tolstoj auch unabhängig von seinem Auftrag, Stalin literarisch zu gestalten, dem Prinzip einer realistischen Figurengestaltung folgt zeigt ein Brief vom 15.12.1938, in dem er dem Schriftsteller A.F. Rumjаncev auf dessen Frage, ob es erlaubt sei, die Biographien historischer Personen nachträglich zu fingieren, antwortet: «Вы спрашиваете - можно ли 'присочинить' биографию историческому лицу. Должно. Но сделать это так, если и не было, то должно было быть.» (Tolstoj 1989, 277) 291 Tolstoj 1934, 575: «По окончании пьесы [Петр I, U.J.] я примусь за продолжение, вернее окончание, трилогии 'Хождение по мукам', под названием 'Девятнадцатый год'. [...] Роман заканчивается взятием Перекопа, охватит период, гайдаматичный, приход и изгнание немцев из 289 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 52 Октябрья» der Zeitschrift Советское искусство ein Beitrag, in dem er dieses Vorhaben aufgibt und stattdessen einen Roman mit dem Titel Оборона Царицына ankündigt.292 Diese Angaben decken sich mit den Zeiträumen, die sich aus dem Briefwechsel Aleksej Tolstojs rekonstruieren lassen. Während er noch im Februar des Jahres 1935 mit M. Gor’kij und V.D. Bonč-Bruevič über den dritten Teil seiner Chronologie Хождение по мукам korrespondiert, nimmt er in einem Brief vom 22.04.1935 an I.I. Minc, Mitarbeiter in der Redaktion der История гражданской войны, zum ersten Mal Bezug auf die Verteidigung Caricyns. Nachdem er Minc darüber informiert hat, daß er alle bis dahin noch nicht abgeschlossenen Arbeiten beendet habe und sich nun ganz auf das Schreiben seines Romans Девятнадцатый год konzentriere, weist Tolstoj ihn darauf hin, daß ihm der Plan, den er über die Verteidigung Caricyns angefordert habe, immer noch nicht vorliege: «Все неоконченные работы я окончил. Сейчас я хочу приступать к роману ('1919-й год'). Но у меня до сих пор нет плана обороны Царицына. Как быть?» (Tolstoj 1989, 212) Scheint er die Verteidigung Caricyns zu diesem Zeitpunkt noch in den Handlungszusammenhang seines ursprünglichen Romanvorhabens integrieren zu wollen, ändert sich dieses Vorhaben im Lauf der folgenden Monate. Auf ausdrücklichen Wunsch Tolstojs findet Anfang Mai ein Treffen zwischen ihm und Kliment Vorošilov statt. Während dieses Treffens berichtet Vorošilov ihm von seinen Erlebnissen im Bürgerkrieg. Einen Teil dieser Erinnerungen notiert Tolstoj in seinem Tagebuch und verwendet sie später für die Erzählung.293 Im Anschluß an dieses Treffen gibt Tolstoj seinen ursprünglichen Plan, einen Roman über das Jahr 1919 zu schreiben, auf und konzipiert stattdessen eine Reihe von Einzelveröffentlichungen, die den letzten Teil seiner Trilogie bilden sollen. Geplant sind vier Bände mit den Titeln Оборона Царицына, Республика в опасности, План Стaлинa und Начало побед, die Tolstoj nun unter dem Gesamttitel По коням veröffentlichen will.294 In einem Brief vom 22. September 1935 bestätigt er dieses Vorhaben. Er schreibt an Maksim Gor’kij, daß er an dem ersten Band dieser Veröffentlichungsreihe arbeite, und die anfänglichen Schwierigkeiten überwunden habe, nachdem I.I. Minc ihn mit den notwendigen Materialien versorgt hätte: «Я работаю над первой книгой третьей части 'Хожедние по мукам'. Взялся с трудом, с самопринуждением, но сейчас увлечен, так чтo дым идет из головы. Минц снабжает меня всеми материалами.» (Tolstoj 1989, 231f.) Zu diesem Zeitpunkt ist die Erzählung also bereits als Einzelveröffentlichung geplant. In einem Artikel, der am 04.10.1935 in der Zeitung Комсомольская Правда erscheint, wird diese Veröffentlichung dann noch einmal im Gedächtnis der Уркаины. [...] С февраля 'Девяднатцатый год' будет печататься в 'Новом мире'. Весь 1935 г. я посвящу этой работе.» Noch Mitte Februar 1935 korrespondiert Tolstoj mit V.D. Bonč-Bruevič, Leiter und Begründer des Staatlichen Literaturmuseums, darüber, daß dieser ihm Material über die Revolution in Deutschland schicken solle, da Tolstoj den letzten Teil seiner Trilogie mit einer Schilderung der Ereignisse in Deutschland beginnen wolle: vgl. hierzu Tolstoj 1989, 205ff. 292 Tolstoj 1935, 576. Das Massenspektakel, das Tolstoj in dem gleichen Artikel ankündigt, findet nicht statt. Es sollte in Zusammenarbeit mit V.M. Chodasevič realisiert werden und sich ebenfalls auf die Verteidigung Caricyns beziehen. 293 Tolstoj 1989, 212, Anm. 1. 294 Vgl. hierzu Tolstoj 1936b, 579f. sowie Tolstoj 1989, 232, Anm. 2. Bis auf den Roman über die Verteidigung Caricyns ist keiner dieser Bände erschienen. Tolstoj kehrt stattdessen zu seinem ursprünglichen Vorhaben zurück und veröffentlicht statt der geplanten vier Bände nur einen Roman. Dieser wird unter dem Titel Хмурое утро ab April 1940 in der Zeitschrift Новый мир abgedruckt: Tolstoj 1947, 691. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 53 sowjetischen Öffentlichkeit eingetragen: «'Комсомольская правда' уже сообщала о том, что я работаю над большим романом 'Оборона Царицына'. Его герои – исторические люди. Многие из них здравствуют и поныне.» (Tolstoj 1935b, 508) In einem Artikel, der im Dezember 1935 in der Zeitung Вечерная Москва erscheint, teilt Tolstoj dann mit, daß er die Erzählung bereits im Juli 1936 fertig stellen will.295 Dieses Datum wird in der Zeitschrift Литературный Ленинград vom Februar 1936 noch einmal unterstrichen. In diesem Artikel skizziert Tolstoj zum ersten Mal die historischen Ereignisse, die der Erzählung zugrunde liegen und gibt damit einen ersten Entwurf für die Fabel der Erzählung vor: «Сейчас я целиком поглощен работой над повестью об обороне Царицына. Она посвящена беспримерной в истории эпопее - отступлению шестидесяти эшелонов от Харькова через Луканск на Царицын в 1918 году. Сто паровозов тянули тяжелые составы - три тысячи вагонов, в которых уходили в Советскую Россию остатки разбитых немцами Третьей и Пятой украинских армий, вооруженные отряды донбассовских рабочих и шахтеров с семьями, со скотом, с домашним скарбом. Эшелоны шли на Воронеж. Но дальнейший путь на север был перерезан немцами, ведущими наступление с юга на Зверево и с запада по грунтовым дорогам. Кольцо смыкалось. Немцы окружали эшелоны cо всех сторон. Об этом отступление узнал Сталин, уже приехавший в это время в Царицын. Сталин настоял, чтобы отступающий отряд - 25 тысяч бойцов! - был направлен в Царицын. В главе отряда - опять-таки по личному требованию Сталина - был поставлен старый луганский большевик Климент Ворошилов. И тут - после Миллерова - начинается грандоизная эпопея. Единственный выход на Царицын по линии Лихая. Это путь через занятые белыми и немцами места. [...] В июне красные бойцы пришли в Царицын, усилив во много раз гарнизон города, являвшегося в то время ключом ко всему Повольжю и единственной магистралью, по которой хлеб шел на север (Москва Тихорецкая). Вместе с героическим пролетариатом Царицына украинские бойцы начали героическую оборону города, который был в то время, как сказал Сталин, ключом к спасению революции.» (Tolstoj 1936b, 577f.) Tolstoj läßt die Ereignisse mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags von BrestLitovsk beginnen und weitet ihre Darstellung damit sowohl zeitlich als auch räumlich aus.296 Er zeigt, wie Lenin und Stalin zuerst im Smol’nyj und anschließend im Kreml’ die politische und militärische Lage beraten und die Verteidigung Caricyns vorbereiten. Um diesem Darstellungsgegenstand gerecht zu werden, verdichtet er die von ihm geschilderten Ereignisse zu einer militärischen Katastrophe, deren apokalyptische Vision die Ankunft Stalins in Caricyn zur heilsgeschichtlichen Notwendigkeit stilisiert.297 Mit dieser Ausweitung liegt der Erzählung eine Fabel zugrunde, die sie aus dem Kontext der Trilogie herauslöst und in eine eigenständige Erzählung verwandelt. Der Kommentar der 1947 erschienenen Gesamtausgabe erklärt diese Verschiebung folgendermaßen: «Очевдидно, первоначальный замысел 'Хмурого утра' захватывал сюжет и ситуации повести 'Хлеб', но последние на каком-то этапе разработки отделились от романа и, соединившись с материалом, предоставленным автору редакцией издательства 'История гражданской войны', составили фабулу, отдельного произведения – повести 'Хлеб'.» (Tolstoj 1947, 696f.) Tolstoj 1935c, 576. Vgl. hierzu auch Stscherbina 1954, 96, der über die Konzeption der Erzählung schreibt: „Die Geschichte der Belagerung Zarizyns wird von A.N. Tolstoi nicht isoliert geschildert. Er veranschaulicht die historische Bedeutung der Verteidigung dieser Stadt für das Schicksal der Revolution in der Erzählung ‚Brot’.“ Vgl. hierzu auch die Rezensionen von Gurštejn 1938, 258 und Alpatov 1955, 89. 297 Vgl. hierzu auch die Einschätzung Marc Slonims: „Einmal hat Tolstoj tatsächlich versucht, einen Roman zu schreiben, der dem entsprach, was man damals sozialistischen Realismus nannte: Brot (Chleb, 1938), eine Art chronologischer Fortsetzung der Trilogie. Das Buch wird selbst durch eine Reihe glanzvoller Beschreibungen nicht vor der Entstellung durch grobe politische Vorurteile bewahrt. Es beschreibt die Verteidigung von Zarizin (später Stalingrad, Wolgograd) durch die Roten im Jahre 1918 und ordnet die historischen Ereignisse so an, daß sie zum Ruhme Stalins gereichen: offensichtlichе Ideologie in erzählerischer Verpackung.“ (Slonim1972, 175f.) 295 296 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 54 Entgegen seiner offiziellen Ankündigung stellt Tolstoj die Erzählung erst Ende 1937 fertig. Noch im März 1937 versucht er, eine Reise nach London abzusagen, da er sowohl die Erzählung als auch das Drama Путь к победе, das er im November 1938 beendet, bis zum Jahrestag der Oktoberrevolution abgeschlossen haben soll.298 Daß er zu diesem Zeitpunkt noch an der Erzählung arbeitet, zeigt auch ein Brief, den er Ende Mai an G.I. Lomov schreibt. In diesem Brief lehnt er die Bitte, einen Überblicksartikel über die sowjetische Literatur zu verfassen, mit der Begründung ab, daß die Arbeit an dem Roman ihm keine Zeit für einen solchen Artikel lasse.299 Etwa zur gleichen Zeit schreibt er an Bonč-Bruevič, daß er jeden Tag mit großer Leidenschaft an der Erzählung arbeite.300 Tolstoj stellt die Erzählung also erst kurz vor ihrer Veröffentlichung fertig. In einem Brief vom 15.10.1937 teilt er A.A. Ignatiev mit, daß er den Text am folgenden Tag nach Moskau schicken werde und sich daher zur Zeit in einem halbwahnsinnigen Zustand befände: »Дорогой Алексей Алексеевич, прости, что я сразу же не ответил тебе. Завтра заканчиваю роман 'Хлеб (Обороны Царицына)' и нахожусь в полусумасшедшем состоянии.» (Tolstoj 1989, 265) Am 03.11.1937 informiert er Romain Rolland in einem weiteren Brief darüber, daß er die Erzählung endgültig fertiggestellt habe. Ungeachtet seiner späteren Kritik an dieser Erzählung, schreibt Tolstoj, dass er sie für das beste halte, was er bis dahin verfasst habe: «Сейчас я кончил роман 'Хлеб', первые экземпляры должны выйти к празднику, т. е. к 7-му ноября. Повидимому, мы все считаем каждое свое новое произведение - лучшим. Мне тоже кажется, что этот роман - лучшее, что я написал.» (Tolstoj 1989, 267)301 Obwohl die Erzählung sowohl von Tolstoj als auch von der sowjetischen Literaturkritik immer wieder als Bestandteil der Trilogie diskutiert wird, fällt es bereits dem Kommentar der 1947 erschienenen Gesamtausgabe schwer, diesen Zusammenhang anhand der Texte nachzuweisen. Nur der dritte Teil der Chronologie, der ab 1940 unter dem Titel Хмурое утро in der Zeitschrift Новый мир veröffentlicht wird, läßt sowohl thematische als auch stilistische Bezüge zu der Erzählung erkennen. Er stellt die gleichen literarischen Charaktere in den Mittelpunkt seiner Handlung und beginnt - in Fortführung von Tolstojs ursprünglichem Schreibvorhaben - ebenfalls mit der Verteidigung Caricyns: «При появлении повести критикой отмечалась связь ее с трилогией, но тогда связь могла быть установлена только общая - по общей теме гражданской войны и по частной теме 'крестового похода' за хлебом. Ни один из героев вымышленного ряда, действующих в первых двух частях трилогии, не был введен в повесть, ни одно из событий 1918 года, на фоне которых раскрывались судьбы героев, в повести продолжено было. В повести действовали новые герои вымышленного ряда (Иван Гора, Агриппина, Чугай), появились новые образы исторического ряда (Ф.А. Артем, А.Я. Пархоменко, Н.А. Руднев, Е.А. Щаденко и другие сподвижники К.Е. Ворошилова), воспроизводились новые события, параллельные событиям, описанным в романе 'Восемнадцатый год'. И только когда были напечатаны первые главы 'Хмурого утра', определилась текстовая связь повести 'Хлеб' с этим романом: герои повести оказались новыми героями трилогии, начальные факты биографий которых рассказаны в повести; оказалось далее, что рассказанная в 'Хмуром утре' царицынская эпопея Tolstoj 1989, 262. Es gelingt Tolstoj nicht, seine Teilnahme an der Reise nach London abzusagen. Vom 13.03. bis zum 12.04.1937 hält er sich in London auf und nimmt an einem Kongreß mit dem Titel «Второй конгресс мира и дружбы с СССР» teil. Er hält am Eröffnungstag eine Rede mit dem Titel «Мир - первое условие развития культуры»: vgl. hierzu Tolstoj 1989, 257, Anm. 1. 299 Tolstoj 1989, 262. 300 Tolstoj 1989, 260. 301 Damit wiederholt Tolstoj eine Einschätzung, die er bereits zwei Jahre zuvor in einem Brief vom 22.09.1935 an Gor’kij vornimmt. In dem Brief heißt es über die Erzählung: «Но, кажется, выходит лучше, чем 'Петр'.» (Tolstoj 1989, 232) 298 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 55 начинается в повести 'Хлеб'. Повесть, таким образом связывает 'Восемнадцатый год' с 'Хмурым утром'. А.Н. Толстой впоследствии называл ее 'мостом' между вторым и третьим звеньями трилогии.» (Tolstoj 1947, 695) Die Brückenfunktion, die der Erzählung sowohl von der sowjetischen Literaturkritik als auch von Tolstoj selbst zugeschrieben wird, bezieht sich so allein auf den dritten Teil des Romanzyklus. Sie kann nur schwer verdecken, daß die Erzählung sowohl thematisch als auch formal aus dem Rahmen der Romantrilogie herausfällt. Die immer wieder behauptete Analogie zwischen den einzelnen Bänden dient so vor allem dazu, die in der Erzählung vorgenommene Darstellung der historischen Ereignisse im Gesamtzusammenhang des Bürgerkriegs zu verorten und über die Rückbindung an die anderen Romane zu legitimieren. Dadurch gelingt es, die Erzählung ungeachtet aller formalen Differenzen im Werkzusammenhang der Romanchronik zu begründen und von dem Verdacht einer nachträglich verfaßten Auftragsarbeit zu befreien. Bereits im Oktober 1935 stellt Tolstoj diesen Begründungszusammenhang selbst her, wenn er in einem Artikel der Комсомольская правда schreibt: «В моей трилогии 'Хождение по мукам' этот роман явится связующим звеном между событиями 1918 и 1919 годов.» (Tolstoj 1935b, 508f.)302 Als die Romane 1943 zum ersten Mal in einer gemeinsamen Ausgabe erscheinen, fehlt die Erzählung Хлеб.303 Daß sich die Erzählung nur schlecht in die von Tolstoj verfaßte Trilogie einpassen läßt, scheinen auch die Leser bemerkt zu haben. 1938 verfaßt Tolstoj eine Stellungnahme zu den Leserbriefen, die zu der Erzählung eingegangen sind. In dieser Stellungnahme greift er den Mythos von der Brückenfunktion der Erzählung noch einmal auf. Diesmal dient sie vor allem dazu, die in den Leserbriefen angemerkten formalen Schwächen der Erzählung zu begründen und damit den allzu deutlichen Schreibauftrag zu kaschieren: «Повесть 'Хлеб' задумана была мною не как законченное произведение, но как недостающее звено между двумя романами: '18-й год' и '19-й год’ (из трилогии 'Хождение по мукам'). Этим объясняется то обстoятельство, которое отмечают все читатели, - что повесть 'Хлеб' как бы не закончена и чтo в ней мало сказано о самой обороне Царицына.» (Tolstoj 1938, 332)304 2.5.2 Die Legende vom fehlenden historischen Material Damit bestätigt Tolstoj eine Entstehungsgeschichte, die von Beginn an den Darstellungsauftrag seiner Erzählung verdeckt. Er ordnet sie gleich mehrfach in den Zusammenhang der Chronologie ein und stellt seine Erzählung als Ergänzung zu den bis dahin erschienenen Teilen der Romantrilogie dar. Offiziell begründet er ihre Entstehung damit, daß er den zweiten Band seiner Chronik verfaßt habe, ohne Zugang zu historischem Quellenmaterial gehabt zu haben. Dadurch sei ihm die Bedeutung der Verteidigung Caricyns verborgen geblieben und er habe sie in seinen bisherigen Veröffentlichungen nicht ausreichend berücksichtigen können. Dieser Mythos von dem fehlenden historischen Material wird von Beginn an als Entstehungslegende seiner Erzählung eingesetzt. Bereits im Oktober 1935 weist Tolstoj in einem Gespräch mit der Zeitung Vgl. hierzu auch den Artikel, der am 26. Februar 1936 der Zeitung Литературный Ленинград erscheint. Dort heißt es über die Erzählung: «'Оборона Царицына' принадлежит к эпопее 'Хождение по мукам', являясь как бы дополнением к роману 'Восемнадцатый год', несмoтря на то, что она освещает другие области, нe затронутые в романе. Во всей эпопее 'Оборона Царицына' займет промежуточное положение между 18 и 19 годами.» (Tolstoj 1936b, 579) 303 Siehe hierzu auch den Kommentar zur Gesamtausgabe: Tolstoj 1947, 691ff. 304 Es handelt sich bei dieser Stellungnahme um ein nicht veröffentlichtes Typoskript, das in der 1947 erschienenen Gesamtausgabe erstmals abgedruckt wird: vgl. hierzu Tolstoj 1953, 364. 302 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 56 Комсомольская Правда darauf hin, daß er den Band über die Ereignisse des Jahres 1918 verfaßt habe, ohne über ausreichend historisches Material zu verfügen. Erst nachdem er Zugang zu den Archiven hatte, konnte er dieses Defizit beheben: «Когда я писал '1918 год', в архивах и делах того времени было сравнительно мало материала, освещавшего грандиозного эпопею обороны Царицына. Теперь я имею полную возможность широко пользоваться всеми историческими материалами в архивах и музеях, тем более, что меня ими снабжает и редакция 'История гражданской войны'.» (Tolstoj 1935b, 509) Diese Ursprungslegende wird in einem Gespräch bestätigt, das am 21.03.1943 in der Zeitschrift Красная звезда veröffentlicht wird. In diesem Gespräch wiederholt Tolstoj den von ihm eingesetzten Entstehungsmythos und begründet das Erscheinen der Erzählung noch einmal damit, daß er erst lange nach der Fertigstellung des zweiten Teils seiner Trilogie zu dokumentarischem Material Zugang gehabt habe, das ihm die Bedeutung Caricyns aufgezeigt hätte. Da der Roman zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits veröffentlicht gewesen sei, habe er sich entschlossen, die Verteidigung der Stadt in einer eigenständigen Erzählung nachzutragen: «Начал я вторую книгу в 1927 году и кончил ее через полтора года. И лишь гораздо позже я понял, что в описание событий вкралась одна историческая ошибка. Печатные материалы, которыми я пользовался, умалчивали о борьбе за Царицын, настолько умалчивали, что при изучении истории 18-го года значение Царицына от меня ускользнуло. [...] Что было делать? Вставить в него главы о Царицыне не представлялось возможным. Нужно было все написать заново. Но без повести о Царицыне, об обороне Царицына невозможно было продолжать дальнейшего течения трилогии. Поэтому мне пришлось прибегнуть к особой форме написать праллельно с 'Восемнадцатым годом' повесть под названием 'Хлеб', описывающую поход ворошиловской армии и оборону Царицына Сталиным.» (Tolstoj 1943, 668)305 Die Entstehung der Erzählung geht so auf eine Lücke im historischen Material zurück, die Tolstoj durch seine Erzählung zu kompensieren sucht. Sie ist damit nicht länger Teil des offiziellen Stalinkults, sondern entspringt dem literarischen Gewissen ihres Autors. Durch den Fehler, den Tolstoj in seiner eigenen Arbeit diagnostiziert, wird sie dem Repräsentationsbedürfnis des offiziellen Stalinkults entzogen und in einem Anspruch auf Vollständigkeit begründet, der sie von dem Verdacht einer offiziellen Auftragsarbeit befreit. Daß es sich bei dieser Erklärung um eine nachträglich verfaßte Entstehungslegende handelt, zeigt sich aber nicht nur daran, daß Tolstoj seine Darstellung nicht auf Material stützt, das er selbst recherchiert hat, sondern auf Material, das von der Redaktion der История гражданской войны zusammengestellt und redigiert worden ist.306 Auch der Brief, den Tolstoj am 22.09.1935 an Gor’kij schickt, dokumentiert die nachträgliche Begründung ihrer Entstehung. Er belegt, daß Tolstoj seine Erzählung begonnen hat, noch bevor ihm das Material aus der Redaktion der История гражданской войны überhaupt zur Verfügung stand.307 Die im nachhinein vollzogene Begründung seiner Erzählung zeigt sich spätestens jedoch dann, wenn dem man zwei Dokumente berücksichtigt, die Leonid Maximenkov in seiner Arbeit über die Entstehung und die Entwicklung des literarischen Stalinkults anführt. Beide Dokumente belegen einen Mangel an historischem Material, der die Aussage Tolstojs als rhetorische Strategie entlarvt. Bei dem erVgl. hierzu auch Stscherbina 1954, 94, der in seiner Arbeit über Tolstoj die gleiche Textpassage als Begründung für die Entstehung der Erzählung zitiert. 306 Vgl. hierzu auch Kardin 1990, 232. 307 Vgl. hierzu noch einmal Tolstoj 1989, 231f. 305 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 57 sten Dokument handelt es sich um einen Briefwechsel zwischen Emeljan Jaroslavskij und Stalins persönlichem Sekretär, I.P. Tovstucha. In einem Schreiben vom 19.01.1935 wendet sich Jaroslavskij mit der Bitte an Tovstucha, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen, eine Biographie über Stalin zu schreiben. Er bittet Tovstucha, ihm mitzuteilen, was er von dem Vorschlag halte und ihm erste Hinweise auf Literatur und Quellenmaterial zu geben, da er der einzige sei, der sich systematisch mit dem Material über das Leben Stalins befasse.308 In seinem Antwortschreiben vom 28.01.1935 lehnt Tovstucha dieses Vorhaben mit dem Hinweis darauf ab, daß eine solche Biographie zwar notwendig sei, jedoch einer sorgfältigen Vorbereitung bedürfe und die Möglichkeiten eines einzelnen Verfassers übersteige.309 Außerdem könne Jaroslavskij bestenfalls eine Geschichte der Partei schreiben, da die Archivlage beklagenswert sei und nicht ausreichend Material für eine Biographie Stalins zur Verfügung stehe: «Говорю это, исходя из того, что Вы собираетесь писать 'достаточно подробную биографию'. Но подробная биография Сталина - и чрезвычайно яркая, богатая фактами, а вот материалов для нее - пока кот наплакал Архивные источники, - архибедны, почти ничего не дают, разбросаны. В общем, как видите, дело пока достаточно плачевно. [...] Литература о Сталине, уже, конечно достаточно, велика, но нигде она, насколько я знаю, не собрана, не описана, не систематизирована.» (z.n. Maximenkov 1996, 89) Das zweite Dokument bestätigt diese Aussage. Es belegt, daß zu Beginn des Jahres 1935 tatsächlich noch kein systematisch zusammengetragenes Material für eine offizielle Biographie Stalins vorliegt. Im Nachlaß des ehemaligen Leiters der Abteilung für Pressewesen im ZK, L.Z. Mechlis, findet sich ein bisher nicht veröffentlichtes Stenogramm von einer Sitzung des Redaktionskollegiums der История гражданской войны vom 16.03.1935. In diesem Stenogramm ist ein Gespräch zwischen M. Gor’kij, dem offiziellen Herausgeber der Geschichte des Bürgerkriegs, und dem Redaktionsmitglied Korabel’nikov festgehalten. Sie diskutieren über die Frage, wie und in welchem Zusammenhang die militärischen Leistungen Stalins in den Veröffentlichungen der История гражданской войны dargestellt werden sollten. Auf den Hinweis Korabel’nikovs, daß sich lediglich wenig Material angesammelt habe, das den Einsatz Stalins im Bürgerkrieg dokumentieren könne, antwortet Gor’kij, daß man dieses Material beschaffen könne. Sie beschließen daraufhin, eine Sammlung von Materialien zu veranlassen, die das wenige Archivmaterial um Berichte über Gespräche und Zusammentreffen mit Stalin ergänzt.310 Nur wenige Monate bevor Tolstoj die Entstehung seiner eigenen Erzählung auf dokumentarisches Material zurückführt, das ihm die Redaktion der История гражданской войны zur Verfügung gestellt haben sollen, diskutieren die Mitglieder ihres Redaktionskollegiums also noch darüber, wie sie Stalins Einsatz im Bürgerkrieg überhaupt dokumentieren können, ohne über das dazu notwendige Dokumentarmaterial zu verfügen. Vgl. hierzu Maximenkov 1996, 88. Tatsächlich läßt Tovstuchas Brief erkennen, daß das Verfassen einer offiziellen Stalinbiographie zu diesem Zeitpunkt bereits in den Aufgabenbereich des Marx-Engels-Lenin-Instituts fällt und damit einer strengen Parteikontrolle unterworfen wird: vgl. hierzu Maximenkov 1996, 89. 310 «Корабельников: Ну хорошо, мы будем писать 20 лет. Но как же писать без очень широкого освещения Сталина? А у нас в этом отношении очень мало собирается материалов. Горький: Материалы можно достать. Корабельников: Между тем, большое количество лушчих людей нашей страны встречались непосредственно с тов. Сталиным. Я ставлю вопрос о сборе материалов о встречах и беседах ряда знатных людей с тов. Сталиным.» (z.n. Maximenkov 1996, 96f., Anm. 99) Leonid Maximenkov sieht in dem hier thematisierten Mangel an dokumentarischem Material einen der Gründe für die vor allem in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre veröffentlichten Sammelbände mit Berichten über ein persönliches Treffen mit Stalin. 308 309 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 58 Erst die 1939 vom Marx-Engels-Lenin-Institut herausgegebene Biographie wird diese Lücke schließen und eine offizielle Biographie Stalins herausgeben, in der die kanonischen Archivmaterialien zusammengestellt und durch einen hagiographischen Überbau ergänzt werden. 2.5.3 Die historischen Ereignisse: Stalins Einsatz in Caricyn Würde sich die Erzählung Tolstojs tatsächlich auf dokumentarisches Material stützen, müßte sie zeigen, daß Stalin seiner (literarischen) Inszenierung zum Trotz ursprünglich mit einem rein zivilen Auftrag an die Südfront geschickt wurde und erst später mit einer militärischen Vollmacht ausgestattet worden ist. Am 31.05.1918 unterschreibt Lenin die Ernennung Stalins zum Leiter des Ernährungswesens in Südrußland und stattet ihn mit einer Reihe von Sondervollmachten aus, die sich jedoch ausschließlich auf die Beschaffung und den Weitertransport von Lebensmitteln beziehen.311 Stalin trifft am 06.06.1918 in Caricyn ein und kümmert sich zunächst um die ausbleibenden Lebensmitteltransporte nach Moskau. Er läßt den Beamten, der für die Überwachung des Handels in Caricyn zuständig ist, verhaften, führt die Rationierung von Lebensmitteln und Getreide sowie eine strikte Preiskontrolle in der Stadt ein und bestellt Sonderkommissare, die das Chaos im Verkehrswesen beheben sollen.312 Kurz nach seiner Ankunft treffen die ersten Lebensmitteltransporte in Moskau ein.313 Erst einen Monat später, am 10.07.1918 schickt Stalin ein Telegramm in die Hauptstadt, in dem er Lenin darum bittet, ihn auch mit militärischen Vollmachten auszustatten.314 Er wiederholt damit eine Forderung, die er bereits in einem früheren Telegramm an Trockij vorgebracht hat. Als Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats der Republik wäre dieser für die militärische Entscheidung zuständig gewesen. Doch Trockij läßt die Bitte Stalins unbeantwortet.315 In seinem Telegramm an Lenin gibt Stalin unmißverständlich zu erkennen, daß er auch ohne eine offizielle Ernennung durch Trockij in die militärischen Entscheidungen einzugreifen gedenke.316 Im Unterschied zu der Darstellung in der Erzählung geht sein militärisches Handeln so auf eine Selbstermächtigung zurück, welche die Kompetenzen seines zivilen Auftrags bei weitem übersteigt:317 „Bei den Weisungen des Mitglieds des Revolutionären Kriegsrats an der Front fällt auf, daß er stets auf brutale Gewalt setzte, von seinem militärischen Können ist in ihnen jedoch nichts zu spüren. Aber gerade über die Feldherrnkunst Stalins wurden in den dreißiger Jahren und später viele Bücher Vgl. hierzu McNeal 1988, 55, Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 74 sowie Deutscher 1990, 260. Vgl. hierzu Deutscher 1990, 260 sowie Tucker 1973, 191 und Stalin 1951b, Bd.4, 100f. 313 Deutscher 1990, 268 sowie McNeal 1988, 55. 314 Deutscher 1990, 261 sowie Tucker 1973, 192f. Wolkogonow geht im Gegensatz dazu davon aus, daß Stalin von Beginn an mit der Lösung militärischer Aufgaben betraut war, eine Annahme, die durch die bisher vorliegenden Dokumente nicht bestätigt werden kann: vgl. hierzu Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 75. 315 Tucker 1973, 193 sowie Deutscher 1990, 268. 316 Er schreibt an Lenin: „Die Lebensmittelfrage ist natürlich mit der militärischen Frage verflochten. Um die Sache fördern zu können, brauche ich militärische Vollmachten. Ich habe schon darüber geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Nun gut. Dann werde ich eben selbst, ohne Förmlichkeiten, diejenigen Armeebefehlshaber und Kommissare absetzen, die die Sache zugrunde richten. Das gebietet mir die Sache, und das Fehlen eines Papierchens von Trotzkij wird mich natürlich nicht davon abhalten.“ (Stalin 1951a, Bd.4, 104f.) Dieses Telegramm war zu der Zeit, als Tolstoj an seiner Erzählung arbeitet, noch nicht veröffentlicht. Über den genauen Zeitpunkt seiner Erstveröffentlichung gehen die Angaben auseinander. Isaak Deutscher gibt das Jahr 1947 als Datum der Erstveröffentlichung an, Robert Tucker dagegen das Jahr 1951: vgl. hierzu Deutscher 1990, 268 und Tucker 1973, 193, Anm. 19. 317 Vgl. hierzu auch Deutscher 1990, 269. 311 312 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 59 geschrieben und Dissertationen verteidigt. Besonders apologetisch waren die Arbeiten Woroschilows über Stalin als den ‚größten Feldherrn aller Zeiten’. Dabei war er gar kein militärischer Vorgesetzter, sondern politischer Vertreter des Zentrums und in einigen Fällen auch bevollmächtigtes Mitglied eines Revolutionären Kriegsrats. Für den Sieg im Bürgerkrieg haben viele Mitglieder und Kandidaten des ZK weitaus mehr als Stalin geleistet, dazu gehören vor allem L.D. Trotzki, S.I. Gussew, I.N. Smirnow. I.T. Smilga, G.J. Sokolnikow, M.M. Laschewitsch, L.P. Serebrjakow, A.S. Bubnow, K.Ch. Danischewski.“ (Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 78) Am 15.07.1918 setzt der Revolutionäre Kriegsrat der Republik mit Lenin an der Spitze einen Kriegsrat des Militärdistrikts im Nordkaukasus ein, zu dessen Vorsitzendem Stalin ernannt wird. Er erhält den Auftrag, die politische wie militärische Ordnung in diesem Frontabschnitt wiederherzustellen, die militärischen Einheiten zu organisieren, einem zentralen Kommando zu unterstellen und jeden militärischen Ungehorsam zu unterbinden. Das Ernennungstelegramm trägt die Unterschrift ‚Mit Lenins Zustimmung’, was darauf schließen läßt, daß Trockij seine Unterschrift verweigerte.318 Außer Stalin gehören dem Revolutionären Kriegsrat K.E. Vorošilov, der Vorsitzende des Caricyner Sowjets S.K. Minin und der Oberbefehlshaber der Südfront, P.P. Sytin, an. Tatsächlich nutzt Stalin seine Position im Revolutionären Kriegsrat jedoch dazu, eine militärische Opposition zu unterstützen, die sich im Gebiet des Nordkaukasus gegen die militärischen Entscheidungen Trockijs formiert hat. Das Zentrum dieser Opposition befand sich in Caricyn. Ihr gehören mehrere Kommandeure der Roten Armee an, unter ihnen Kliment Vorošilov und Semen Budennyj. Sie wenden sich gegen den von Trockij befürworteten Einsatz ehemaliger zaristischer Offiziere in der revolutionären Armee und weigern sich, den Anweisungen des Obersten Befehlshabers an der Südfront, Sytin, Folge zu leisten.319 Dieser schickt immer wieder Beschwerden über die Befehlsverweigerung Vorošilovs an den Revolutionären Kriegsrat, von wo aus sie an Trockij weitergeleitet werden.320 Stalin unterstützt diesen Widerstand und boykottiert ebenfalls die Anweisungen des militärischen Oberkommandos. Er läßt einige der örtlichen Befehlshaber verhaften und besteht darauf, an allen militärischen Entscheidungen beteiligt zu werden.321 Daraufhin wendet sich Sytin mit einem Bericht an den Revolutionären Kriegsrat der Republik, in dem er sich darüber beklagt, daß Minin, Stalin und Vorošilov seine Befehlsgewalt einschränkten. Sie bestünden darauf, alle militärischen Fragen, sogar die unwichtigsten, im Kriegsrat abzustimmen. Durch diese Einflußnahme werde die operative Führung der militärischen Kräfte stark beeinträchtigt.322 Nachdem Stalin sich gegen die ausdrückliche Weisung aus Moskau auch weiterhin weigert, den Anordnungen Sytins Folge zu leisten und diesen schließlich aus seinem Amt entläßt, fordert Trockij seinen Rücktritt.323 In einem Telegramm vom 04.10.1918 wendet sich Trockij an Lenin und besteht auf der sofortigen Abberufung Stalins, da sich die Lage an der Front ungeachtet der militärischen Ressourcen weiter Vgl. hierzu Tucker 1973, 193 sowie Deutscher 1990, 269. Zu dieser, als ‚Affäre von Caricyn’ bezeichneten Auseinandersetzung, vgl. Tucker 1973, 193f. sowie Deutscher 1990, 263ff. und Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 75f. In einem Telegramm vom 3.10.1918 wenden sich Stalin und Vorošilov mit der Bitte an Lenin, die Entscheidung Trockijs, ehemalige zaristische Offiziere in der Armee einzusetzen, noch einmal zu überdenken. Sie halten Trockijs Befehl für kriminell und sehen in ihm eine eigenmächtige Entscheidung, die in keinem Verhältnis zu der Lage an der Front stehe und sie militärisch in eine katastrophale Lage bringe: vgl. hierzu Wade 1991, 224. 320 Deutscher 1990, 263f. 321 Vgl. hierzu Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 76 sowie Tucker 1973, 194 und Deutscher 1990, 269f. 322 Wolkogonow 1990, Bd.1 /1, 76 sowie McNeal 1988, 55f. 323 Vgl. hierzu Tucker 1973, 194 sowie Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 76 und McNeal 1988, 56. 318 319 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 60 verschlechtere. Vorošilov, dem er keinerlei militärische Führungsqualitäten zugesteht, darf unter der Auflage an der Front bleiben, daß er sich künftig dem Oberbefehl Sytins beugt. Am 14.12.1918 wird auch er auf Befehl Trockijs aus Caricyn abberufen und in die Ukraine versetzt.324 In dem Telegramm Trockijs heißt es: „Ich bestehe kategorisch auf der Abberufung Stalins. An der Zaricyner Front stehen die Dinge trotz überreichlicher Kräfte schlecht. Woroschilow ist fähig, ein Regiment zu führen, nicht aber eine Armee von 50 000 Mann. Ich werde ihn aber auf dem Kommando der Zehnten Armee in Zarizyn belassen unter der Bedingung, daß er sich dem Befehl des Kommandanten der Südarmee, Sytin, unterstellt.“ (z.n. Deutscher 1990, 270) Aufgrund dieses Telegramms wird Stalin nach Petrograd beordert und muß sich dort vor dem Revolutionären Kriegsrat der Republik verantworten.325 Am 11.10.1918 kehrt er noch einmal nach Caricyn zurück, wird kurz darauf jedoch endgültig von der Südfront abberufen.326 Ende Oktober wird er von Sverdlov, dem Präsidenten der Republik, in einem Sonderzug aus Caricyn abgeholt. Sverdlov begleitet Stalin nach Moskau, wo dieser in den Revolutionären Kriegsrat der Republik berufen wird.327 2.5.4 Faktische versus literarische Rekonstruktion der Vergangenheit Dem Mythos von dem genialen Strategen steht so eine Sammlung historischer Dokumente gegenüber, die diese Darstellung widerlegen. Dmitrij Volkogonov, Militärhistoriker und Stalinbiograph, schreibt über Stalins Einsatz im Bürgerkrieg: „Als er an den Fronten weilte und Aufträge Lenins ausführte, ließ er freilich keine besonderen militärischen Fähigkeiten erkennen. Es gibt keine glaubwürdigen objektiven Aussagen dafür, daß Stalin eine operative Lage richtig beurteilen, Schlußfolgerungen aus dem Kräfteverhältnis ziehen und eine originelle strategische Idee entwickeln konnte. [...] Dessen operativen Zielstellungen waren recht simpel, um nicht zu sagen primitiv.“ (Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 77) Das Bild, das die Erzählung von dem Einsatz Stalins in Caricyn zeichnet, wird so von einer historischen Wirklichkeit unterlaufen, die den mythopoetischen Auftrag der Erzählung offenbart. Ihre Rekonstruktion macht deutlich, daß die historischen Fakten durch eine literarische Inszenierung ersetzt werden, die den vorformulierten Topos von Stalins militärischem Genie bestätigen und in einer literarisch gestalteten Vergangenheit begründen soll. Nur so kann die Erzählung die militärische Inkompetenz Stalins verdecken und durch eine literarische Vergangenheit kompensieren, deren nachträglich entworfene Wirklichkeit die Illusion von Stalins militärischem Wissen legitimiert. Die literarische Rekonstruktion der Ereignisse geht so mit einer Verdrängung der faktischen Wirklichkeit einher, deren dokumentarische Spur die literarische Imagination als Fälschung entlarvt.328 Daß der so entstandene Mythos nicht mit der historischen Wirklichkeit übereinstimmt, zeigt auch die Einschätzung Robert Tuckers: Trotzki 1990, 396 und McNeal 1988, 57. Vgl. hierzu McNeal 1988, 56f. Den Angaben Isaac Deutschers zufolge soll er dabei von der militärischen Opposition in Caricyn abgerückt sein und sich zumindest formal mit den Entscheidungen Trockijs einverstanden erklärt haben: vgl. hierzu Deutscher 1990, 271. 326 Vgl. hierzu Tucker 1973, 195 sowie Deutscher 1990, 271. Trockij schreibt in seiner Autobiographie: „Die Lage wurde unhaltbar. Ich beschloß, in Zarizyn Ordnung zu schaffen. Nach einem erneuten Zusammenstoß des Kommandos mit Zarizyn forderte ich die Abberufung Stalins. Diese erfolgte durch die Vermittlung Swerdlows, der sich selbst mit einem Extrazug auf den Weg machte, Stalin zu holen.“ (Trotzki 1990, 394) 327 Vgl. hierzu Deutscher 1990. 272 sowie Tucker 1973, 195 und McNeal 1988, 57. 328 Zum Begriff der (dokumentarischen) Spur vgl. Ricoeur 1991, Bd.3, 185ff. 324 325 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 61 „Although Stalin had done what he could to expedite the shipment of grain from the south, this first major episode of his participation in the Civil War was militarily unsuccessful. Soviet military historians have concluded on the basis of their archival researches since his death that he failed to grasp the role of the military specialists, clung to guerrilla methods, and did not take the requisite initiative to assist the North Caucasian army and the troops fighting in Baku. Along with Voroshilov, he showed lack of discipline toward the high command and the commander of the southern front. His intervention in the affairs of the front ‘complicated’ the organization and supply of the front’s forces and their battle employment. He showed ‘sectionalism and separatism’ in allocating supplies to this sector and drew the best forces and equipment to it, thereby weakening other, no less significant sectors.” (Tucker 1973, 195)329 Die Erzählung dient aber nicht nur dazu, eine militärische Kompetenz zu fingieren, die Stalin nie besessen hat. Sie dient auch dazu, einen Rollentausch zu inszenieren, der seinen Einsatz an der Front legitimiert. Dazu wird die Person Trockijs aus dem historischen Gedächtnis der Erzählung ausgegrenzt und durch eine Darstellung Stalins ersetzt, die dessen historische Rolle okkupiert.330 Ungeachtet dessen, daß es eigentlich Trockij war, dem das militärische Oberkommando an der Südfront unterstand331 und er die unabhängig voneinander operierenden Partisanenverbände zu einer einheitlichen Armee zusammenschloß,332 stellt die Erzählung Stalin als Oberkommandierenden der Südfront und Gründer der Roten Armee dar. Der in der Erzählung inszenierte Verrat Trockijs dient so nicht zuletzt dazu, eine literarische Fiktion zu authentifizieren, deren historische Fälschung erst dadurch glaubhaft wird, daß seine Person aus ihrer historischen Rolle verdrängt und diese für eine Neubesetzung durch Stalin freigegeben wird. Dabei ignoriert die Erzählung, daß sich Stalin nach seiner Abberufung von der Front noch einmal an Trockij wendet. In einem Telegramm vom 23. Oktober 1918 teilt Lenin Trockij mit, daß Stalin unbedingt an die Front zurückkehren wolle. Er sei bereit, sich den Forderungen des Revolutionären Kriegsrats zu fügen und bitte Trockij, die bestehenden Differenzen in einem persönlichen Gespräch auszuräumen.333 Läßt die Gegenüberstellung von historischer und literarischer Geschichte erkennen, daß der Einsatz Stalins in Caricyn von seiner literarischen Rekonstruktion abweicht, so zeigt diese Differenz zugleich, daß die von Tolstoj immer wieder behauptete Bezugnahme auf historisches Quellenmaterial vor allem als Legitimationsstrategie für die in der Erzählung vorgenommene Darstellung Stalins gelesen werden muß. Denn auch wenn die umfangreiche Sammlung historischer Quellen in Tolstojs literarischem Nachlaß darauf hinweist, daß er einen Großteil der Figuren und Ereignisse tatsächlich anhand von Erinnerungsberichten und historischem Dokumentarmaterial erarbeitet hat,334 trifft Tucker bezieht sich auf eine Studie, die 1965 unter dem Titel Очерки по историографии советского общества von P.A. Žilin in Moskau herausgegeben worden ist. 330 Vgl. hierzu auch Dobrenko 1993, 92., 331 Vgl. hierzu den als Gründungsurkunde der Roten Armee bezeichneten Erlaß vom 15.01.1918, in dem der Rat der Volkskommissare das Oberkommando über die Rote Armee erhält, die im Kriegsfall von dem jeweiligen Kriegskommissar befehligt wird: vgl. hierzu Wade 1991, 92f. 332 Vgl. hierzu ein Telegramm, das Trockij im August 1918 nach Moskau schickt. In diesem Telegramm faßt er seine Forderung nach einer zentralen Kommandostruktur und einer regulären Armee zusammen: Wade 1991, 212f. 333 Vgl. hierzu Trotzki 1990, 395f. sowie McCauley 1991, 150f., der das Telegramm jedoch mit der Unterschrift Sverdlovs abdruckt. 334 Vgl. hierzu die Auflistung der Dokumente, die im literarischen Nachlaß Tolstojs erhalten sind. Neben autobiographischem und literarischem Material findet sich dort auch dokumentarisches Material aus den Jahren des Bürgerkriegs: «Толстой собрал большой материал по истории Гражданской войны. Документы этого раздела в фонде писателя разнообразны. Они связаны с организацией Красной армии, ее боевыми движениями, историей Первой Конной армии Буденного, историей махновщины и др. Материал представлен многочисленными выписками и перепечатками из 329 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 62 diese Annahme für die literarische Gestaltung Stalins nicht zu. Die Analyse der Erzählung zeigt, daß seine Darstellung weniger durch authentisches Quellenmaterial abgesichert ist, als durch einen nachträglich kanonisierten Mythos, der im offiziellen Stalinkult an die Stelle der historischen Überlieferung tritt. Dieser wird durch einen offiziell zusammengestellten Textkorpus vorgegeben, der neben redigierten Reden, Artikeln und Telegrammen Stalins auch bereits fertiggestellte Textvorlagen enthält. Von zentraler Bedeutung ist dabei der erstmals zu Stalins fünfzigstem Geburtstag im Dezember 1929 erschienene Artikel «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov.335 Der Artikel faßt die Einsätze Stalins an den verschiedenen Fronten des Bürgerkriegs zusammen und bleibt bis zu dessen Tod eine der zentralen Bezugsquellen für die Darstellung Stalins im Bürgerkrieg. Da der Artikel in allen nachfolgenden Veröffentlichungen zitiert wird, erhält er den Status einer authentischen historischen Quelle und verdrängt alle anderen Quellentexte. Er normiert eine Darstellung, der auch die Erzählung Tolstojs folgt. Der Text Vorošilovs gibt sowohl die chronologische Ordnung der Fabel als auch die Sujetelemente vor, die Tolstoj in seine Erzählung überträgt. Sie werden zu eigenständigen Handlungssträngen ausgebaut und zu einer in sich geschlossenen Handlung verdichtet. Der Text Vorošilovs fungiert damit als Sujetvorlage, die den Mangel an historischem Material kompensiert und durch eine nachträglich kodifizierte Darstellung Stalins ersetzt. Wie kanonbildend der Text Vorošilovs für das Bild Stalins im Bürgerkrieg ist, zeigt ein 1938 in der Zeitschrift Новый мир veröffentlichter Artikel mit dem Titel «Оборона Царицына». In diesem Artikel, der als Erinnerungsbericht veröffentlicht wird, werden nicht nur direkte Zitate aus dem Text Vorošilovs angeführt, sondern ganze Textabschnitte unmarkiert übernommen oder nur leicht verändert in den Text integriert.336 Die direkten und indirekten Zitate weisen darauf hin, daß sich der Bericht zum großen Teil aus bereits vorformulierten Versatzstücken zusammensetzt, die in den jeweils aktuellen Textzusammenhang eingepaßt werden. Damit ist eine Veröffentlichungspraxis benannt, die sich in fast allen Texten findet, die Stalins Einsatz im Bürgerkrieg beschreiben. In den meisten von ihnen erscheint der Artikel Vorošilovs ebenfalls als historische Quelle, die – latent oder manifest - die Richtigkeit ihrer Darstellung garantiert. Zu nennen sind hier ein 1933 unter dem Titel «Сталин и оборона СССР» in der Zeitschrift Знамя erschienener Artikel von Fridrich Blumental’, der seine Darstellung gleich zu Beginn auf den Text Vorošilovs bezieht.337 Und auch der 1938 veröffentlichte Artikel «Приезд товарища Сталина в Первую Конную Армию» von P. Aleksandrov beginnt mit einem ausführlichen Zitat Vorošilovs, das er seinem eigenen Text voranstellt.338 Als weiteres Beispiel sei ein 1940 in der Zeitschrift Новый мир von E. Boltin erschienener Artikel mit dem Titel «Ленин и Сталин - организаторы Красной Армии и вдохновители ее побед» angeführt, der sich ebenfalls auf die Darstellung Vorošilovs stützt.339 газет, газетами 1918-1919 гг. Сохранились также белогвардейские листовки и даже махновская газета 'Вольный Бердянск'.» (Litvin 1995, 180) 335 Vorošilov 1930, 44ff. 336 Gurov 1938, 209ff. 337 Blumental’ 1933, 148ff. 338 Aleksandrov 1938, 277. 339 Boltin 1940, 277ff. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 63 Der Darstellung Vorošilovs, die 1936 in einer Einzelausgabe erscheint340 und in der Festschrift zu Stalins sechzigstem Geburtstag zu einem grundlegenden Artikel über Stalin und die Rote Armee ausgebaut wird,341 steht ab 1939 die offizielle Stalinbiographie zur Seite. Auch sie folgt der Vorlage Vorošilovs, nimmt jedoch eine wichtige Ergänzung vor. Sie hebt die in dem Text Vorošilovs noch offen formulierte nachträgliche Ernennung Stalins auf und ersetzt sie durch eine historische Mission, die von vornherein den militärischen Auftrag Stalins umfaßt.342 Sie repräsentiert damit ein ‚historisches Wissen’, das auch der Erzählung Tolstojs zugrunde liegt: «Большое впечатление производят страницы, рисующие беседу Ленина со Сталиным тихим весенним вечером в Кремле. Сталин выдвинул задачу обороны Царицына как основного форпоста революции, как питающей ее артерии. Ленин, чьи мысли были сосредоточены 'на вопросе о главном - о хлебе', радостно подхватил план Сталина.» (Gurštejn 1938, 259) Die Faktizität der historischen Ereignisse geht aus einer Reihe intertextueller Bezüge hervor, deren gegenseitige Übereinstimmung das historische Gedächtnis der Erzählung konstituiert. Obwohl die Erzählung keine expliziten Verweise auf die Texte Vorošilovs oder die offizielle Stalinbiographie erkennen läßt, zeigen die im Anschluß analysierten Kapitel, daß sie einen mythopoetischen Subtext konstituieren, der die Authentizität ihrer Darstellung legitimiert. Die Authentizität der in der Erzählung dargestellten Ereignisse ergibt sich demnach nicht aus ihrem Rückbezug auf die historischen Quellen, sondern aus der gegenseitigen Affirmation der unterschiedlichen Diskurse.343 Sie werden in einem intertextuellen Transformationsprozeß aneinander angeglichen und durch direkte und indirekte Zitate aufeinander bezogen. Ihre jeweilige Darstellung folgt den Vorgaben des offiziellen Stalinkults. Die so inszenierte Authentizität wird durch sorgfältig ausgewählte Quellentexte unterstützt, die dem Darstellungszweck der Texte untergeordnet werden. Daß auch sie einer Manipulation unterliegen, zeigt der unmittelbare Vergleich zwischen den von Tolstoj zitierten Dokumenten und den in der Gesamtausgabe Stalins veröffentlichten Textfassungen. So wird das Telegramm, das Stalin am 07. Juli 1918 aus Caricyn schickt und das Tolstoj zitiert, um die Entschlossenheit und Kompromißlosigkeit Stalins im Umgang mit konterrevolutionären Kräften zu belegen, nur in Auszügen übernommen. Woroschilow 1936. Vgl. hierzu den in der Festschrift zu Stalins sechzigstem Geburtstag erschienenen Artikel «Сталин и строительство Красной Армии» (Vorošilov 1940, 32ff.) Der Text wird ein Jahr später als eigenständige Veröffentlichung herausgegeben: Vorošilov 1941. 342 „Am 6. Juni traf Stalin mit einer Arbeiterversammlung in Zarizyn ein. Stalin, der den Scharfblick des politischen Führers mit dem Talent des Heerführers vereinigte, erkannte sogleich, daß Zaricyn der Ort war, gegen den der Hauptstoß der Konterrevolution gerichtet sein würde. Durch die Einnahme von Zarizyn wäre die Republik von den letzten Getreideressourcen und vom Bakuer Erdöl abgeschnitten worden, und die Weißen hätten die Möglichkeit erhalten, die Konterrevolution des Dongebiets mit der tschechoslowakischen zu vereinigen und in gemeinsamer Front gegen Moskau zu marschieren. Zarizyn mußte um jeden Preis in den Händen der Sowjetmacht bleiben.“ (Kurze Lebensbeschreibung 1945, 33) Die hier zitierte Ausgabe folgt der 1939 vom Marx-Engels-Lenin-Institut herausgegebenen Biographie Stalins. Sie wurde 1945 im Verlag der sowjetischen Militärverwaltung in Berlin veröffentlicht. Die Darstellung Stalins in Caricyn bleibt in allen nachfolgenden Ausgaben dieser Biographie unverändert. (Vgl. hierzu Kurze Lebensbeschreibung 1947, 74f. sowie Kurze Lebensbeschreibung 1951, 46f.) Im Unterschied zu der Biographie findet die Verteidigung Caricyns weder im Kurzen Lehrgang der KPdSU noch in dem ebenfalls 1939 erschienenen Text О товарище Сталине von Emeljan Jaroslavskij eine ausführliche Erwähnung. Im Kurzen Lehrgang heißt es lediglich, daß General Krasnov aus Caricyn verdrängt werden konnte und in der Darstellung Jaroslavskijs findet sich nur ein kurzes Telegramm, das die Anwesenheit Stalins in Caricyn dokumentiert: vgl. hierzu: Kurzer Lehrgang o.J., 309 sowie Jaroslavskij 1941, 93. 343 Vgl. hierzu auch Hellebust 1994, 113 sowie Dobrenko 1993, 87ff. 340 341 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 64 Während der erste Teil dieses Telegramms Stalins Handeln als Sonderbevollmächtigter der Lebensmittelversorgung dokumentiert, zeigt der zweite Teil, daß er Lenin auffordert, irgend jemanden mit weitreichenden Vollmachten zu entsenden, der die Verbindung zwischen den Randgebieten und dem Zentrum aufrechterhält.344 Durch diese Forderung wird der Mythos von Stalins alleiniger Verfügungsgewalt eingeschränkt und durch einen Lagebericht ersetzt, der sein Amt als das zeigt, was es ist: ein administratives Amt mit einem eingeschränkten Verantwortungsbereich. Das Telegramm wird in der Erzählung daher durch Versatzstücke eines Briefes ergänzt, den Stalin am 10. Juli 1918 an Lenin schickt. Auch aus diesem Brief werden nur die Passagen übernommen, die das in der Erzählung entworfene Stalinbild stützen.345 Es ist daher wenig verwunderlich, daß das von Tolstoj zitierte Telegramm bei seiner ersten Veröffentlichung in der Geburtstagsausgabe der Правда vom 21. Dezember 1929 nur teilweise veröffentlicht worden ist. Eine solche Auslassung läßt sich noch an einem weiteren Telegramm nachweisen, das Tolstoj in der Erzählung zitiert.346 Es handelt sich dabei um ein Telegramm, das Stalin am 07. Juni 1918 aus Caricyn schickt. In diesem Telegramm gibt Stalin einen ersten Lagebericht über die Situation vor Ort.347 In der von Tolstoj zitierten Version fehlen zwei Absätze. Auch sie zeigen, daß der Aufgabenbereich Stalins eingeschränkt war und er im Einzelfall auf die Amtsgewalt Lenins zurückgreifen mußte. In den ausgelassenen Abschnitten wendet sich Stalin mit der Bitte an Lenin, die Weiterfahrt von Dampfern zu veranlassen, die in Nižnij Novgorod festgehalten werden. Darüber hinaus fordert er die Entsendung von Bauingenieuren und Lokomotivbrigaden, um die zerstörten Bahnlinien wieder instandsetzen zu können. Vergleicht man diese Manipulationen, so zeigt sich, daß in den von Tolstoj zitierten Dokumenten alle Passagen gestrichen sind, die das Bild vom heldenhaften Einsatz Stalins in Caricyn beeinträchtigen könnten. Um dieses zu verhindern werden die zitierten Telegramme in einzelne Textpassagen unterteilt, die das mythische Bild Stalins bestätigen. Sie statten seine Darstellung mit einer dokumentarischen Basis aus, deren nachträglich inszenierte Wirklichkeit die historische Fiktion legitimiert. Vor dem Hintergrund dieser Eingriffe dürften auch die von Tolstoj gleich mehrfach erwähnten Treffen mit Kliment Vorošilov vor allem dazu gedient haben, die offiziell kanonisierte Darstellung Stalins durch eine nachträglich fingierte Augenzeugenschaft zu legitimieren.348 Dadurch kann sie in der Autorität Vorošilovs begründet und von dem Verdacht einer literarischen Fälschung befreit werden.349 2.5.5 Die Inszenierung historischer Authentizität Der von Tolstoj immer wieder hergestellte Rückbezug auf die historischen Quellen kann so als Versuch gelesen werden, die Darstellung Stalins im Rückverweis auf angeblich authentisches Quellenmaterial zu rechtfertigen und von dem Vorwurf der literarischen Fiktion freizusprechen: Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 147 sowie Stalin 1951, Bd.4, 102f. Stalin 1951a, Bd.4, 104f. 346 Tolstoj Chleb 1937, 119. 347 Stalin 1951b, Bd.4, 100f. 348 Vgl. hierzu Tolstoj 1935b, 509 sowie Tolstoj 1936b, 579. 349 Zur Augenzeugenschaft als Legitimationsstrategie literarischer Texte vgl. Assmann 1989, 244ff. 344 345 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 65 «Темой для повести мне послужили материалы по истории гражданской войны, личные встречи и беседы с рядом участников гражданской войны. В повести будет показана героическая оборона Царицына, которой руководил товарищ Сталин, и беспримерный в истории поход 60 эшелонов красных частей, которые вел К.Е. Ворошилов из Луганска до Царицына.» (Tolstoj 1936c, 511f.)350 Indem Tolstoj die Darstellung seiner Erzählung auf Quellen stützt, die ihm von der Redaktion der Истoрия гражданской войны zur Verfügung gestellt worden sind und die er in persönlichen Unterredungen mit Bürgerkriegsteilnehmern in Erfahrung gebracht haben will, stattet er sie mit einem historischen Gedächtnis aus, das die von ihm beschriebenen Ereignisse legitimiert.351 Die Sujetkonstruktion seines Textes erscheint damit nicht länger als nachträglich fingierte, sondern als eine im historischen Material begründete und damit nachträglich ent-deckte Ordnung der Ereignisse. Der geschichtliche Stoff fungiert so als Schnittstelle zwischen Literatur und Geschichte, die seine Erzählung in der scheinbaren Objektivität überlieferter Dokumente begründen und als Widerspiegelung historischer Ereignisse präsentieren kann. Durch den Verweis auf die historischen Dokumente installiert Tolstoj ein außerliterarisches Referenzsystem, das die literarische Fiktion verdeckt und den Akt des Schreibens von einem freien zu einem stoffverarbeitenden werden läßt.352 Die Geschichte selbst wird zum literarischen Sujet: «Эти события послужили сюжетной канвой для повести 'Оборона Царицына'. Материал, собранный мною, сами факты настолько интересны, что они дают готовый сюжет и незачем выдумывать особую интригу и строить ее на вымышленных лицах.» (Тоlstoj 1936b, 578f., Hervorhebung im Original, U.J.) Der Rückgriff auf die historischen Quellen schafft eine werkübergreifende Verbindlichkeit, die es erlaubt, die dargestellten Ereignisse hinsichtlich ihrer historischen Wahrheit zu überprüfen. Sie dienen als außerliterarischer Beweis, der die in der Erzählung geschilderten Ereignisse rechtfertigt und die Darstellung der literarischen Figuren authentifiziert.353 Dem Möglichen und Wahrscheinlichen der literarischen Fiktion steht so die Faktizität dokumentarisch überlieferter Ereignisse entgegen, die das Dargestellte aus der literarischen Imagination ihres Autors befreit und auf die vermeintliche Authentizität historischer Ereignisse verpflichtet: «Моей задачи было дать художественное произведение, построенное на строго проверенном историческом материале.» (Tolstoj 1936b, 579)354 Die Illusion einer historischen Wirklichkeit, die der Erzählung vorausgeht, wird aber auch durch die Fußnoten erhöht, mit denen in der Erzählung Orte, Begriffe und Institutionen erklärt werden. Sie bezeugen eine historische Authentizität, welche die EreigBereits im September 1935 schreibt Tolstoj an L.I. Barševa, daß einer der Charaktere aus ‚Die Verteidigung Caricyns’ bei ihm zu Mittag gegessen habe: «В пять у меня обедает один из персонажей 'Обороны Царицына', тов. Вадим». (Tolstoj 1989, 237) Eine Figur mit diesem Namen findet sich nicht in der Erzählung. Es findet sich auch kein Komsomolze unter den literarischen Figuren, als deren Vorlage Tolstoj seinen Gast vermutlich eingeladen hatte. 351 Vgl. hierzu Ricoeur 1991, Bd.3, 187f., der dem Dokument die Funktion eines Belegs zuordnet, der die Richtigkeit der Darstellung verbürgt. 352 Aust 1994, 3f. 353 Ricoeur 1991, Bd.3, 187. 354 In seiner Autobiographie schreibt Tolstoj später: «Я слышал много упреков по поводу этой повести. В основном они сводились к тому, что она суха и 'деловита'. В оправдание могу зказать одно: 'Хлеб' был попыткой обработки точного исторического материала художественными средствами; отсюда несомненная связанность фантазии. Но, быть может, когда-нибудь, комунибудь такая попытка пригодится.» (z.n. Tolstoj 1947, 697) Zu der von Tolstoj erwähnten Kritik vgl. Alpatov 1955, 92 sowie Stscherbina 1954, 98f. 350 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 66 nisse aus der binnensemantischen Sinnproduktion literarischer Texte entläßt und auf real existierende Personen und Einrichtungen zurückbezieht.355 Auch wenn sie den fiktionalen Status der Erzählung nicht aufheben, tragen sie einen Anspruch auf Überprüfbarkeit in die literarische Fiktion ein, der literarische und außerliterarische Wirklichkeit aufeinander abbildet und die Glaubwürdigkeit der literarischen Darstellung erhöht.356 Als Spur, die auf einen realen Ursprung der Erzählung verweist, manifestieren sie einen Bruch im literarischen Text, der den dokumentarischen Urgrund der Erzählung bestätigt.357 Die Erzählung wird gleich zu Beginn mit einer Fußnote versehen, die darauf verweist, daß ihre Darstellung auf Dokumentarmaterial beruhe, das die Redaktion der История гражданксой войны zur Verfügung gestellt habe.358 So wird die fiktionale Weltreferenz der Erzählung noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung gelöscht und die in ihr dargestellten Ereignisse auf ihre historische Faktizität zurückgeführt. Mit Hilfe der Fußnoten wird ein Signifikat ‚Geschichte’ entworfen, das sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der literarischen Erzählung erscheint und ihre gegenseitige Übersetzbarkeit garantiert. Der in den Text integrierte Verweis auf die faktische Grundlage der Erzählung wird damit zur wichtigsten Voraussetzung dafür, daß die Erzählung als Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit gelesen und als wahre Geschichte in das öffentliche Gedächtnis eingehen kann. 2.6 Die Erzählung als literarischer Text 2.6.1 Повесть oder Roman: Die bedeutungsstiftende Funktion des Genres Die unterschiedlichen Verlautbarungen Tolstojs lassen erkennen, daß er sich bis zuletzt weder über den genauen Umfang noch über den Status des Textes im klaren ist. Während er in seinen ersten Ankündigungen von einem umfangreichen Roman spricht, der in der Комсомольская Правда erscheinen soll,359 spricht er in einem Artikel vom Februar 1936 von einer kurzen Erzählung, die nicht mehr als zwölf Druckbögen (84 100 Seiten) umfassen soll.360 Dieses Vorhaben bestätigt er noch einmal in einem Gespräch mit Mitarbeitern der Zeitung Труд, das im April 1936 veröffentlicht wird.361 Gegenüber Mitarbeitern der Zeitung Сталинградская Правда spricht er im Juli 1936 jedoch wieder von einem umfangreichen Roman, für den er vor Ort recherchieren wolle.362 Zu diesem Zeitpunkt sollen die ersten beiden Kapitel des Textes bereits fertiggestellt sein.363 In dem Brief, in dem er Romain Rolland Anfang November 1937 von der Fertigstellung seines Textes berichtet, schreibt er ebenfalls von einem Roman, Aust 1994, 25. Vgl. hierzu Genette 1992, 317ff. Er bezeichnet Anmerkungen in fiktionalen Texten als Paratexte, die auf den nicht-fiktionalen Aspekt der Erzählung ausgerichtet sind und das Erzählte dokumentarisch ergänzen. Nünning 1995, 163 weist darauf hin, daß die Anmerkungen den fiktionalen Status der Texte nicht aufheben, sondern diesen im Einzelfall eher noch unterstreichen. 357 Vgl. hierzu Kebbel 1992, 33ff. 358 Die Anmerkung findet sich direkt hinter dem Untertitel. Sie verweist auf das Ende der Seite und vermerkt: «Повесть написана по документам и материалам редакции 'История гражданской войны'.» (Tolstoj Chleb 1937, 25) 359 Tolstoj 1935, 576, Tolstoj 1935b, 508 und Tolstoj 1935c, 576. 360 Tolstoj 1936b, 579. 361 Tolstoj 1936c, 511. 362 Tolstoj 1936d, 514. 363 Vgl. hierzu die Anmerkungen in dem 1949 erschienenen 13. Band der Gesamtausgabe: Tolstoj 1949, 653. 355 356 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 67 dessen erste Exemplare noch im selben Monat erscheinen sollen.364 Als die Erzählung Ende 1937 zum ersten Mal vollständig in der Zeitschrift Молодая гвардия veröffentlicht wird, umfaßt sie 130 Seiten und trägt den Untertitel «Повесть».365 Die Zuordnung zum Genre der повесть ist insofern von Bedeutung, als daß sie sowohl entscheidendes über den Umfang als auch die Kompositionsstruktur des Textes aussagt. Die literarische Gattung stellt ein textübergreifendes Regelwerk dar, das die Übertragung der Wirklichkeit in den literarischen Text reguliert. Sie legt Funktionen wie Auswahl, Ordnung oder Stilisierung einzelner Bedeutungselemente fest und trägt so unmittelbar zur formalen Struktur des Textes bei.366 Der Genrezuordnung im Untertitel kommt so eine deskriptive Funktion zu. Der Text wird selbst zum Gegenstand der Bezeichnung und in seiner formalen Dimension klassifiziert.367 Die Frage nach dem Genre ist damit nicht nur eine nach dem Umfang von повесть oder Roman, sondern eine nach dem formalen Aufbau des Erzählten. Während der historische Roman in den dreißiger Jahren als Nebeneinander von Ereignis und nachträglich fingiertem Einzelschicksal verstanden wird, deren gegenseitige Bespiegelung die epische Breite einer ganzen Epoche darstellen soll,368 ist das Genre der повесть durch eine Kompositionsstruktur bestimmt, die einen zentralen Handlungsstrang verfolgt und diesen in seiner vollständigen Entwicklung darstellt: «При наличии такой диффенренциации повествовательных форм понятие 'повесть' приобретает новое и более узкое содержание, занимая среднее между рoмaном и новеллой положение, к-рое обычно указывается теоретиками лит-ры. [...] Среднее место между рассказом и романом прежде всего определяется масштабом объема и сложности охватеваемой произведением действительности: рассказ горовит о каком-либо одном жизненном случае, роман дает целый комплекс переплетающихся сюжетных линий. П[овесть] выделяет какую-либо одную линию действительности, но прослеживает ее в отличие от рассказа на всем протяжении ее естественного течения в целом ряде определяющих ее моментов. Размер данного произведения решающей роли при этом не играет: маленькая П[овесть] может быть короче длинного рассказа [...], большая П[овесть] может оказаться длиннее небольшого романа.» (Literaturnaja ėnciklopedija 1935; t. 9, 24, Hervorhebungen von mir, U.J.) Den ersten beiden Teilen der Trilogie steht so eine Erzählform entgegen, welche die historischen Ereignisse auf die Darstellung des Kampfes um Caricyn verengt. Die Verteidigung der Stadt unter dem Oberbefehl Stalins wird zum zentralen Ereignis der ErTolstoj 1989, 267. Aleksej Tolstoj, «Хлеб (Оборона Царицына). Повесть.» erschienen in: Молодая гвардия 12 (1937), 25 -155 (im Text zitiert als: Tolstoj Chleb 1937). Vgl. hierzu auch den Kommentar zu der Erzählung im 8. Band der Gesamtausgabe: Tolstoj 1947, 694. Um der im folgenden diskutierten Differenz zwischen повесть und Roman Ausdruck verleihen zu können, wird der Begriff «повесть» hier und im gesamten weiteren Text als ‚Erzählung’ übersetzt. 366 Vgl. hierzu Červenka 1978, 148ff. sowie Hempfer 1973, 89ff. und Raible 1980, 326ff. 367 Zu dieser Funktion von Gattungstiteln vgl. Genette 1992, 77ff., der zeigt, daß diese Zuordnung auch gebrochen werden kann. 368 Vgl. hierzu den 1935 erschienenen Artikel «Горизонт романа» von I. Grinberg. Dort heißt es über den neuen sowjetischen Roman: «Тут открывается существенная особенность советского романа. Вводя эпические, народные темы, он разрешает их через людей, он ставит в центре событий человека, и в изображении человеческих отношений раскрывает содержание великих социальных процессов.» (Grinberg 1935, 206) Vgl. hierzu auch Alpatov 1955, 102ff. sowie Cyrlin 1935, 248, der über den Darstellungsgegenstand historischer Romane schreibt: «Правильные пропорции в соотношении исторической действительности и характера персонажа, умение раскрывать так историческую действительность, чтобы персонаж не стоял, а двигался вместе с историей и во то же время не совпадал с ней, - все это состовляет трудную и ответственную задачу для каждого исторического романиста.» 364 365 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 68 zählung, dem alle anderen Darstellungsgegenstände untergeordnet sind.369 Die Genrezuordnung gibt eine Sujetkonstruktion vor, die das Handeln Stalins in den Mittelpunkt stellt und sein Auftreten in Caricyn zum Höhepunkt der Ereignisse stilisiert. Die Wahl des Genres ist damit insofern bedeutungskonstitutiv, als daß sie eine formale Struktur vorgibt, welche die Handlungsfunktion, die Stalin in der offiziellen Geschichtsschreibung zugewiesen wird, legitimiert. Erst durch die Anordnung der einzelnen Erzählelemente entsteht ein historischer Kontext, der das militärische Handeln Stalins dokumentieren kann. Darstellungsgegenstand der Erzählung ist nicht der historische Kontext des Jahres 1918, sondern das Drama um die Verteidigung Caricyns. Die Erzählung nimmt so eine Ausrichtung ihrer Erzählstruktur auf die Darstellung Stalins vor, die sie von den anderen Romanen, die ihn als literarisch gestaltete Figur zeigen, unterscheidet. In ihnen stellt das Zusammentreffen mit Stalin zwar eines der zentralen Sujetelemente dar, bleibt im Gesamtzusammenhang des Erzählten jedoch eine Episode, die Stalin vor allem in der Funktion des übergeordneten Senders zeigt.370 Bereits in dem 1938 erschienenen Roman Пархоменко von Vsevolod Ivanov, der denselben Abschnitt des Bürgerkriegs zum Thema hat wie Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб, erscheint Stalin nicht mehr als handelnde Figur. Der Held des Romans, Parchomenko, trifft während seines Einsatzes an der Südfront lediglich dreimal mit ihm zusammen. Fast alle Szenen spielen in Stalins Waggon, mit dem er die Südfront bereist und zeigen ihn als genialen Feldherrn, Mentor, Freund und Führer, der, allwissend, bescheiden, einfach und mit dem Volk verbunden, die Rote Armee im Bürgerkrieg befehligt und Parchomenko in sein Amt als Kommandeur der Roten Armee einsetzt.371 Und auch in Erzählungen wie «Подарок наркома», «На трибуне» oder dem Roman Ремесло героя erscheint Stalin nur noch in der Rolle des Mentors.372 Wenn er den Helden dieser Texte im Traum erscheint, sie seine Rede auf einer Versammlung hören oder persönlich mit ihm zusammentreffen zeigen sie ihn als genialen Führer und weisen Vater, der nicht mehr selber in die Handlung eingreift sondern nur noch die Initiation der Helden in ihr neues, sowjetisches Leben garantiert. Повесть und Roman unterscheiden sich aber nicht nur durch ihre Kompositionsstruktur. Folgt man der Interpretation der offiziellen sowjetischen Literaturkritik, so unterscheidet sich die Erzählung Tolstojs auch durch den Grad ihrer Fiktionalität von den Romanen seiner Trilogie. Sie sieht die Differenz zwischen ihnen und der als повесть bezeichneten Erzählung darin, daß diese die in ihr geschilderten Ereignisse nicht nachträglich fingiert, sondern aus dem Dokumentarmaterial der Archive unmittelbar in die Erzählung überträgt. Einer der zentralen Unterschiede zwischen Roman und повесть liegt so darin, daß weder die in ihr gezeigten Ereignisse noch die in ihr vorgestellten Personen der individuellen Imagination des Autors entspringen, sondern beide aus der vermeintlich historischen Identität ihrer dokumentarisch verbürgten Existenz in den Text eingehen. Denn während der Roman die sowjetische Wirklichkeit über den Um- Zu dieser Erzählstruktur vgl. auch Utechin 1976, 8ff. Vgl. hierzu Hellebust 1994, 111ff. sowie Dobrenko 1993, 117, Gromov 1998, 229 und Maximenkov 1996, 27f. und 306-319, der seiner Arbeit über die Entstehung des Stalinkults eine Liste der Texte und Textstellen anhängt, die Stalin als literarische Figur zeigen. 371 Vgl. hierzu Ivanov 1954, 197-201 sowie 237-239 und 371-372. Der Roman erscheint zum ersten Mal 1938 in der Zeitschrift Молодая гвардия. 372 Vgl. hierzu Men’šikov 1936, 173ff. sowie Koldunov 1937, 127f. und Nozdrin 1939, 44ff. 369 370 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 69 weg ihrer fiktiven Imagination widerspiegeln soll,373 bezieht sich die Erzählung auf eine dokumentarische Basis, die ihre Schilderung auf eine literarische Reproduktion der faktischen Ereignisse verpflichtet:374 «С точки зрения жанра, новая повесть А. Толстого представляет большое своеобразие: художественная ткань повести перемежается с документированным историческим повествованием о событиях того времени. Не даром вслед за обозначением жанра своего нового произведения как повести автор сообщает в сноске, что повесть написана по дoкументам и материалам редакции 'Истории гражданской войны'.» (Gurštejn 1938, 257)375 Mit der von Tolstoj vorgenommenen Genrezuordnung geht so zugleich eine Entfiktionalisierung des Erzählten einher, die auch die Identität Stalins von einer literarisch geschaffenen zu einer dokumentarisch verbürgten werden läßt. Damit folgt die Erzählung einem Genreverständnis, das von Beginn an die literarische Tradition der повесть prägt. In dem Eintrag der Литературная энциклопедия wird die Genrebezeichnung повесть auf das Verb „повествоваться“ zurückgeführt und bezeichnet ‚das, was erzählt wird’. Damit ist die literarische Form nicht darauf ausgerichtet, Ereignisse und Personen zu erfinden, sondern über reale Personen und Ereignisse zu erzählen oder von ihnen zu berichten: «Первоначальное значение слова 'П[овесть]' в нашей древней письменности весьма близко к его этимологии: П[овесть] - то, что повествуется, представляет законченное повествование. Поэтому применение его весьма свободно и широко. [...] В недостаточно еще дифференцированной, 'синкретичной' древней письменности П[овесть] является той наиболее общей жанровой формой, в которой перекрещиваются почти все повествовательные (более узкие) жанры: житийные, апокрифичекие, хроникальные, воинско-эпические и т.п.» (Literaturnaja ėnciklopedija 1935, t. 9, 19) Die Bezeichnung повесть trägt so ein Formverständnis in sich, dem schon immer ein tatsächliches Ereignis vorausgeht, das es nicht zu erfinden, sondern in der künstlerischen Gestaltung zu bewahren gilt. Dem Genre der повесть liegt von Beginn an eine Verweisstruktur zugrunde, welche die Darstellung der Ereignisse und Personen aus der subjektiven Verantwortung des Autors entläßt und in der Objektivität einer vermeintlich authentischen Geschichte verbürgt.376 Damit ist auch die Darstellung Stalins keine literarisch gestaltete, sondern eine historisch verbürgte, die in der Erzählung lediglich überliefert werden muß. Die Genrebezeichnung will aber nicht nur eine Entfiktionalisierung Vgl. hierzu Grinberg 1935, 214 der über das Verhältnis von dokumentarischer Grundlage und literarischer Imagination schreibt: «[Х]роникальность свидетельствует о том, что писатель еще только учится отражать жизнь, что он еще не нашел нового драматизма, нового сюжета, построенного на конфликтах глубоких и содержательных. Это значит, что писатель пленен разнообразием замечательных фактов нашей борьбы и нашей жизни, но не перешел еще к созданию типических образов, не перешел еще к обобщениям. Это значит, что все богатство возможностей искусства еще не развернуто.» 374 Vgl. hierzu Alpatov 1954, 88, der Tolstoj zum Künstler-Forscher erklärt und über die dokumentarische Basis der Erzählung schreibt: «Принцип строгой историчности, достоверности изображаемого стремился А. Толстой положить в основу своего нового произведения. Он проделал большую работу художника-исследователя: изучил немало архивных материалов, документов, связанных с гражданской войны, использовал воспоминания и рассказы живых свидетелей и участников боевых действий под Царицыном.» 375 Vgl. hierzu auch den Kommentar in der Ende der vierziger Jahre erschienenen Gesamtausgabe, in der es über die Erzählung heißt: «[П]исатель подчеркивает, что его новое произведение - повесть о народе и его вождях и что события частной жизни - лишь типовые примеры жизни масс. В этом жанровое отличие повести 'Хлеб' от романа трилогии 'Хожднеие по мукам', в которых на первом плане герои вымышленного ряда - Телегин, Рощин, сестры Булавины и др.» (Tolstoj 1947, 697) 376 Vgl. hierzu noch einmal Literaturnaja ėnciklopedija 1935, t. 9, 20f. sowie Utechin 1976, 3ff. 373 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 70 der dargestellten Ereignisse erreichen. Sie zielt auch auf eine entfiktionalisierte Lektüre ab, die den fiktionalen Status des Textes negiert. Da der Gattungstitel als bedeutungskonstitutive Information wahrgenommen wird, die das Verständnis des Textes präfiguriert, wird der Anspruch auf historische Überlieferung durch eine Rezeptionsvorgabe verstärkt, die sie im Bewußtsein des Lesers rekonstruiert.377 In seiner Arbeit über die Poetik des historischen Romans unterscheidet Ansgar Nünning fünf Typen der historischen Fiktion. Er unterteilt sie in dokumentarische, realistische, revisionistische und metahistorische Romane sowie Romane, die eine historiographische Metafiktion zum Gegenstand haben. Er nimmt eine gattungstypologische Differenzierung vor, die sich auf die Selektionsstruktur, die Relationierung und Gestaltung der verschiedenen Erzählebenen, den dominanten Zeitbezug, sowie das Verhältnis von fiktivem Geschichtsmodell und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung bezieht.378 Ordnet man die Erzählung Tolstojs in dieses Klassifikationsschema ein, so zeigt sich, daß sie Merkmale von zwei Typen des historischen Romans enthält. Die Teile, für die Tolstoj eine dokumentarische Grundlage behauptet, entsprechen dem Typ des dokumentarischen Romans. Die Erzählelemente, die die so authentifizierten Ereignisse durch ihre literarische Fiktion ergänzen, können dem realistischen Typ des historischen Romans zugeordnet werden. Dabei zeigt sich, daß vor allem die Abschnitte, die das Handeln Stalins dokumentieren sollen, eine literarische Fiktion entwerfen, deren Illusionsmechanismen einzig darauf ausgerichtet sind, die dokumentarische Basis der Erzählung zu bestätigen. Ihr Ziel ist eine literarische Primärillusion, deren Erzählelemente weitgehend referentialisierbar sind (beziehungsweise als solche in Szene gesetzt werden). Dadurch entsteht eine Referenzillusion, deren Wirklichkeitsanspruch mit einem Verzicht auf Fiktionalitätssignale, kontrafaktische Referenzbezüge oder anachronistische Erzählelemente einhergeht. Sie soll den Eindruck erwecken, als schildere der Text ein durch historische Quellen belegbares historisches Geschehen.379 2.6.2 Die ästhetische Funktion der Erzählung Aufgrund der Tatsache, daß die Repräsentation historischer Ereignisse von ihrer nachträglichen Fiktionalisierung nicht zu trennen ist und zwischen Fiktion und Faktographie keine klar zu definierende Grenze gezogen werden kann, kommt der ästhetischen Funktion der Erzählung eine Bedeutung zu, auf die im folgenden näher eingegangen werden soll. Hugo Aust schreibt in seiner Monographie über den historischen Roman: „Spezifische Bedingungen des Erzählens werden faßbar als situativer Abstand, personale Zentrierung, Reihenfolge der Episoden, Motivation der Taten, Finalität des Verlaufs, Geschlossenheit des Geschehens.“ (Aust 1994, 11) Die erzähltheoretische Relevanz narrativer Muster besteht demnach darin, die historischen Ereignisse aus ihrem zeithistorischen Kontext herauszulösen und in eine neue, sekundäre Ordnung zu überführen. Durch die formale Abfolge der Erzählelemente Vgl. hierzu Raible 1980, 331ff. sowie Červenka 1978, 150f., der die Gattungszuordnung als „ästhetische Einstimmung der Sinne“ bezeichnet. Auch Genette geht in seiner Analyse der Paratexte darauf ein, daß sich die Genretitel, wie alle textübergreifenden Klassifikationen, an den Leser wenden: Genette 1992, 76f. 378 Vgl. hierzu Nünning 1995, 219ff. 379 Vgl. hierzu Nünning 1995, 259ff. 377 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 71 werden sie in eine Sujetkonstruktion eingefügt, die sie aus der chronologischen Ordnung historischer Prozesse befreit und zu einer nachträglich geschaffenen Vergangenheit zusammensetzt.380 Die ästhetische Dimension der Erzählung dient so dazu, die heterogenen Ereignisse zu synthetisieren und zu einer einheitlichen und in sich geschlossenen Handlung zu verdichten.381 Der literarische Text verwandelt sie in die Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit eines ästhetischen Objekts, das nicht länger durch die tatsächliche Abfolge des historischen Geschehens bestimmt wird, sondern durch die Kompositionsstruktur der Erzählung.382 Ungeachtet der komplexen Gleichzeitigkeit historischer Ereignisse werden sie in einzelne Motive unterteilt, die dem Verlauf poetischer Fabeln folgen und einer konsequenten Motivation unterzogen werden. Ihre Bedeutungsstiftung hängt damit nicht mehr primär von ihrer tatsächlichen Geschichtlichkeit ab, sondern von der binnensemantischen Struktur des jeweiligen Textes.383 Erst die Übertragung in die sekundär fiktionalisierte Gegenwart des Textes läßt die Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk zum Beginn einer historischen Entwicklung werden, deren Freund-Feind-Kennung am Ende auch die Verteidigung Caricyns bestimmt. Im Kontext der Erzählung markieren sie den Umschwung vom Welt- zum Bürgerkrieg und rekonstruieren eine innenpolitische Opposition, die den Konflikt der gesamten Erzählung konstituiert.384 Auch die Stilisierung der Verteidigung Caricyns zum Höhepunkt einer das Schicksal der gesamten Revolution bestimmenden militärischen Auseinandersetzung ist das Ergebnis einer sekundären Fiktionalisierung, die nicht in den Ereignissen selbst sondern in ihrer nachträglichen Sinnstiftung begründet liegt. So wird die Verteidigung Caricyns erst im Kontext der von Tolstoj entworfenen Kompositionsstruktur zum (erzählerischen) Höhepunkt, dessen Bedeutung zuallererst aus den zuvor zusammengetragenen Sujetelementen hervorgeht. Wenn Stalin am Ende der Erzählung die siegreiche Verteidigung Caricyns nach Moskau meldet und der Sieg der Roten Armee zu einem historischen Triumph überhöht wird, ist auch dies das Ergebnis einer nachträglichen Modellierung, die so nicht mit den historischen Tatsachen übereinstimmt.385 Durch diese Ästhetisierung des Faktischen gelingt es Tolstoj, die Verteidigung Caricyns zu einem in sich geschlossenen Handlungsstrang auszubauen, der die historischen TatZur sekundär modellierenden Funktion literarischer Texte vgl. Lotman 1973, 22ff. sowie Mukařovský 1967, 45ff. und Assmann 1980, 14ff. 381 Vgl. hierzu Ricoeur 1988, 105ff. sowie Aust 1994, 12, Müller 1988, 14ff., Lämmert 1985, 232 und Aristoteles 1994, 25ff., der die poetische Fabel auf die Nachahmung einer in sich geschlossenen und vollständigen Handlung festlegt, die durch einen Anfang, eine Mitte und ein Ende bestimmt ist. 382 Vgl. hierzu Jauß 1984, 332, der die Ästhetisierung historischer Kontexte noch nicht darin gegeben sieht, daß sie in einen vollständigen Verlauf überführt werden, sondern erst in der Illusion eines in sich geschlossenen, vollkommenen Ganzen, das erzählte Geschichte zum ästhetischen Objekt erhebt. 383 Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 45 sowie Iser 1991, 24, Červenka 1978, 12 und 116f., Jakobson 1981, 27f. und O’Neill 1994, 35ff., der darauf hinweist, daß literarische Ereignisse nur innerhalb des Textes existieren und die von ihnen bezeichnete Wirklichkeit lediglich als Abstraktion existiert. 384 Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 33ff. 385 Deutscher 1990, 271 hält die Frage nach dem Sieg bei Caricyn für eine politische Frage, die letztlich nicht lösbar ist: „Nach Trotzkis Darstellung, die übrigens von den meisten Sowjetgenerälen in den großen Reinigungsprozessen der dreißiger Jahre gestützt wurde, fällt der Lorbeer dem Oberkommandeur der Südfront zu, dessen Truppen den Ring um Zarizyn von außen her brachen. Stalin, Woroschilow und Budjonny nahmen den Ruhm ausschließlich für sich in Anspruch.“ Tucker 1973, 195 weist darauf hin, daß Stalin die militärische Bedeutung des Frontabschnitts bei Caricyn überschätzt hat und Truppenteile in der Stadt zusammengezogen hat, deren Konzentration andere Frontabschnitte geschwächt hat. McNeal 1988, 57erklärt die militärische Rolle Stalins mit einem militärischen Zufall. 380 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 72 sachen so organisiert, daß sie den Kampf um Caricyn zum Höhepunkt einer militärischen Operation stilisieren, die das gesamte historische Geschehen auf das Eingreifen Stalins konzentriert. Dadurch werden die historischen Ereignisse in einen übergeordneten Bedeutungszusammenhang eingetragen, der sie ihrem historischen Kontext entzieht und allein nach ihrer Bedeutung für die Darstellung Stalins befragt.386 Sie werden zu semantischen Konstruktionen, die dem jeweiligen Darstellungszweck der Erzählung untergeordnet sind. Die historischen Ereignisse sind damit nicht länger Versatzstücke einer faktischen Vergangenheit, sondern Bausteine einer virtuellen Realität, die nach den jeweiligen Deutungsmustern der sowjetischen Geschichtsschreibung zusammengesetzt werden.387 Die Referenzfunktion der literarischen Zeichen wird abgeschwächt und durch eine binnensemantische Bedeutungsstiftung ersetzt, die das historische Geschehen in eine Abfolge kontinuierlicher Ereignisse überführt.388 Die von Tolstoj inszenierte Katharsis beruht so auf einer literarischen Konstruktion, die die Verteidigung Caricyns der gleichen teleologischen Sinnstiftung unterwirft, wie in der sowjetischen Geschichtsschreibung. Mit dieser Sujetkonstruktion folgt die Erzählung dem narrativen Muster eschatologischer Legenden, in denen die modellierende Funktion des Anfangs ebenfalls zugunsten einer stärker modellierenden Funktion des Endes zurückgestellt wird. Am Ende einer solchen Verschiebung steht eine Fabel, die nicht auf die Darstellung der Ursache, sondern des Ziels ausgerichtet ist.389 Obwohl die Erzählung mit den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk einen klar definierten Anfang findet, liegt ihr Schwerpunkt auf dem am Ende inszenierten Sieg der Roten Armee. So läßt bereits die Kompositionsstruktur des Textes erkennen, daß es in ihm nicht um die Rekonstruktion historischer Ereignisse geht, sondern um eine nachträgliche Inszenierung, die vor allem dazu dient, den heldenhaften Einsatz Stalins bei der Verteidigung Caricyns in Szene zu setzen. Eine der zentralen Bedeutungen der literarischen Sinnstiftung liegt so in der Perspektivierung der Vergangenheit, welche die historischen Ereignisse dem Darstellungsbedürfnis des offiziellen Stalinkults anpaßt. Erst das so rekonstruierte Geschehen wird mit den Mitteln realistischer Illusionsverfahren zu einem vollständigen und in sich geschlossenen Bild des Vergangenen ausgebaut.390 Dessen Imagination ist das Ergebnis einer nachträglichen Semantisierung, die über die unterschiedlichen Akte des Fingierens in den Text eingetragen wird.391 Die ästhetische Funktion der Erzählung dient damit nicht zuletzt dazu, eine Reihe performativer Akte zu inszenieren, die über die WiderVgl. hierzu noch einmal die Ausführungen Isers zu den Verfahren der Selektion und Kombination als grundlegende Akte des Fingierens: Iser 1991, 25ff. 387 Vgl. hierzu auch Dobrenko 2000a, 891, der die sowjetische Geschichte als Arsenal ideologisch motivierter, klischierter Blöcke beschreibt, die unabhängig vom jeweiligen Autor zusammengesetzt werden. 388 Vgl. hierzu noch einmal Mukařovský 1967, 45 sowie Iser 1991, 24, Červenka 1978, 12 und 116f. und Jakobson 1981, 27f. 389 Vgl. hierzu Lotman 1973, 323 sowie Aust 1994, 29 und Ricoeur 1988, 108, der über die Funktion des Textendes schreibt: „Eine Geschichte mitvollziehen heißt, inmitten von Kontingenzen und Peripetien unter der Anleitung einer Erwartung voranzuschreiten, die ihre Erfüllung im Schluß findet. [...] Er gibt der Geschichte einen ‚Schlußpunkt’, der wiederum den Gesichtspunkt beibringt, von dem aus die Geschichte als ein Ganzes wahrnehmbar wird.“ Zur teleologischen Sujetfügung sozialistisch-realistischer Romane vgl. Sinjavskij 1966, 121f. sowie die von Hans Günther aufgezeigte Diskussion über die Sujethaftigkeit sozialistisch-realistischer Texte: Günther 1984, 73ff. 390 Vgl. hierzu Jauß 1984, 334f. Daß die poetische Benennung die Beziehung des Kunstwerks zur Wirklichkeit nicht aufhebt vgl. Mukařovský 1967, 52ff. und Iser 1991, 37f. 391 Vgl. hierzu Iser 1991, 31f. 386 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 73 spiegelungsfunktion an die Stelle der eigentlichen Wirklichkeit gesetzt werden können.392 Dadurch ergibt sich ein Verhältnis von Sein und Schein, das die Totalität der literarischen Fiktion mit der Totalität der historischen Vergangenheit gleichsetzt und Text und Wirklichkeit aufeinander projiziert.393 Da die Literarisierung historischer Ereignisse immer die Gefahr in sich birgt, historisch verbürgte Tatsachen durch ihre nachträgliche Bearbeitung zu verfälschen, werden auch die historischen Romane auf eine Widerspiegelungstheorie verpflichtet, die seit dem 1. Schriftstellerkongreß 1934 für alle Texte des sozialistischen Realismus gilt.394 Vorformuliert wird diese Ästhetisierung des Faktischen durch das Postulat der Parteilichkeit, das auch für die historischen Romane Geltung besitzt.395 Die Einbildungskraft und Phantasie des Autors werden dabei zum Instrument, mit dem die überlieferten Dokumente gedeutet und in ihren historischen Zusammenhängen erschlossen werden sollen. Erzählen bedeutet somit, die verdeckte Identität der historischen Ereignisse zu ent-decken und über den Umweg der literarischen Gestaltung sichtbar zu machen.396 Literatur wird damit zur techné, welche die historische Realität aus den überlieferten Dokumenten rekonstruiert und zu einem vermeintlich authentischen Bild der Geschichte zusammensetzt.397 Die von den Schriftstellern erwartete Tendentialität398 gibt dabei ein ideologisches Konstrukt vor, das die in der Erzählung geschilderten Ereignisse deutet und als Ausdruck einer außerliterarischen Wirklichkeit wertet.399 Damit wird die Erzählung zur ideologischen Formation, die unter dem Dogma des Realen den offiziellen Stalinkult bestätigt und die Verteidigung Caricyns zur Legitimation für den politischen Machtanspruch Stalins ausbaut: «При жизни Сталина идеологическое давление культа детерминировало конъюнктурное содержание исторической сталинианы. В прижизненном каноне повесть А.Н. Толстого Хлеб Vgl. hierzu Iser 1991, 485f., der über die Bedeutung literarischer Performanz für mimetische Abbildungsprozesse schreibt: „[D]ie Performanz - obwohl unabdingbar - bleibt als Leerstelle im Mimesiskonzept zurück, da sich die Hervorbringung aus der Nachahmung nicht ableiten läßt.“ (Iser 1991, 486) 393 Vgl. hierzu Plumpe 1976, 3f., der darauf hinweist, daß die Abbildfunktion literarischer Texte das Ergebnis einer sekundärsemantischen Operation ist, die erst durch die legitimierende Instanz der Deutung sichergestellt werden kann. 394 Zur Widerspiegelungsfunktion sozialistisch-realistischer Texte vgl. Günther 1984, 25ff. sowie Siegel 1981, 188ff., Ermolaev 1963, 178ff., Kneip 1995, 82f. und Dobrenko 1993, 31ff. Zur Diskussion um den historischen Roman vgl. Maximenkov 1996, 24ff. sowie Struve 1976, 277ff., der auf die historischen Romane der dreißiger Jahre im Zusammenhang mit der Diskussion um die Pokrovskij-Schule eingeht. 395 Zur Parteilichkeit sozialistisch-realistischer Literatur vgl. Günther 1984, 19ff. sowie Ermolaev 1963, 171f. und Kneip 1995, 60ff. 396 Vgl. hierzu Groys 1988, 58ff., der die sozrealistische Mimesis als künstlerisches Verfahren beschreibt, das sich auf das verdeckte Wesen der Dinge richtet und darin dem mittelalterlichen Realismus ähnlich sei. 397 Vgl. hierzu Iser 1991, 482ff., der über das in der aristotelischen Poetik begründete Abbildungsverhältnis mimetischer Kunstwerke schreibt: „Damit schwindet die Exemplarität der Ideen zugunsten einer Entsprechung von Idee und Erscheinung, welche den Begriff für die Vollständigkeit des Kosmos verkörpert, der folglich auch die Möglichkeiten mit umschließt. Denn möglich ist nur, was seiner morphé nach schon wirklich ist, weshalb die Kunst zur techné wird, um in der Nachahmung die Entelechie freizulegen. So vollbringt der ‚Künstler’ nur, was die Natur zu leisten imstande ist, weshalb Mimesis durch die ihr eingeschriebene Wiederholung sich lediglich als die Vollendung eines noch unvollendeten Zustands versteht.“ Vgl. hierzu auch Blumenberg 1963, 14ff. 398 Vgl. hierzu Cyrlin 1935, 246ff. 399 Zu den Konstruktionsprozessen einer ideologischen Ästhetik vgl. Plumpe 1976, 7. 392 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 74 или драма В.В. Вишневского Незабываемый 1919-ый рассказывали о событиях Гражданской войны, исходя из современной писателям, господствующей идеологии (которая была продуктом действительности культа личности). Исходя из этой реальности, авторы лишь иллюстрировали в истории синхронный им культ личности.» (Maximenkov 1996, 27) Mit der Ausrichtung auf die Parteilichkeit wird aber nicht nur die ideologische Perspektivierung der Ereignisse vorgegeben. Es werden zugleich all jene literarischen Ansätze aus dem offiziellen Stalinkult verbannt, die sich dem pragmatischen Textverständnis des Sozialistischen Realismus entziehen.400 Dadurch entsteht eine diskursive Ordnung, welche die Grenzen der literarischen Repräsentation festlegt und den Geltungsbereich der normativen Literaturpolitik markiert.401 2.6.3 Erste Ansätze einer Mythopoetik Mit ihrer literarisch rekonstruierten Vergangenheit spiegelt die Erzählung eine Verschiebung im historischen Diskurs der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung wider. In einem 1931 veröffentlichten Brief an die Redaktion der Zeitschrift Пролетарская рeволюция fordert Stalin eine Darstellung historischer Ereignisse, die nicht länger den objektiven Gesetzmäßigkeiten der marxistischen Geschichtsschreibung folgt, sondern stattdessen das Handeln historischer Persönlichkeiten in den Mittelpunkt stellt.402 Sein Brief etabliert einen neuen historischen Diskurs, dessen Theoreme in allen nachfolgenden Veröffentlichungen zu den Vorgaben einer neuen sowjetischen Geschichtsschreibung ausgebaut werden.403 In einer Rede Kaganovičs vom 01.12.1931 vor dem Institut der Roten Professur werden die Forderungen Stalins zum offiziellen Geschichtsmodell erklärt und durch die Reden weiterer wichtiger Parteimitglieder zur autoritativen Richtlinie erhoben.404 Ihnen folgen Widerrufe und Selbstkritiken, in denen alle führenden Geschichtswissenschaftler ihre wissenschaftlichen Positionen revidieren.405 Dem so kanonisierten Modell einer Geschichtsschreibung, die in erster Linie als ein von historischen Einzelpersönlichkeiten bestimmter Prozeß begriffen wird, folgt auch die Erzählung Tolstojs. In einem Gespräch, das er im Juli 1936 mit Mitarbeitern der Zei- Cyrlin 1935, 242ff. Zur Ausgrenzungsfunktion ästhetischer Diskurse vgl. Plumpe 1976, 4 sowie Foucault 1974, 29f. und Günther 1984, 185ff. 402 Vgl. hierzu Stalin 1955, Bd.13, 76ff. Dem einzigen Bericht über die Entstehung des Briefes zufolge soll die Idee, die Geschichtswissenschaft mit einem autoritativen Schreiben Stalins und einer ihr nachfolgenden Kampagne zu vereinheitlichen, nicht von Stalin selbst stammen, sondern von dem Leiter des Pressebüros des ZK Sergej Ingulov. Stalin soll sie lediglich unterstützt haben: vgl. hierzu Barber 1981, 127. 403 Zu den Ende der zwanziger Jahre stattfindenden Diskussionen um eine neue sowjetische Geschichtsschreibung, die mit dem Erscheinen des Briefs unterbunden werden, vgl. Barber 1981, 31ff. sowie Enteen 1978, 157ff., Mazour 1975, 6ff. und Dobrenko 2000a, 875ff. 404 Vgl. hierzu Löhmann 1990, 117ff., Kemp-Welch 1991, 111f. sowie Tucker 1990, 157f., für den der Brief den Beginn des organisierten Personenkults darstellt. In seinem 1979 erschienenen Artikel über den aufkommenden Stalinkult schreibt er über die kultbildende Funktion des Briefes: „But Stalin’s letter, in addition to expressing his rage, pursued a tripiatite purpose in cult-building. Though it did not mention his own name (how could it?), the letter solicited a Stalin cult in party history just because Stalin wrote it and by the tone of content. First, in writing it (or, conceivably, having it written to his specifications and issued in his name), he arrogated to himself the position of premier party historian and arbeiter of contentious issues in that sensitive area. [...] Second, in the letter just as in the earlier interview with the Mitin-Iudin group of philosophers, Stalin followed the strategy of cult-building via the assertion of Lenin’s infallibility. [...] Third, the letter demanded quite explicitly that the party pasts of real revolutionaries be evaluated not on the basis of documents, that archive rats might turn up or fail to uncover, but on the basis of their ‚deeds’.“ (Tucker 1979, 355f.) 405 Vgl. hierzu Tucker 1990, 154 sowie Barber 1981, 132f. und Enteen 1978, 165f. 400 401 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 75 tung Сталинградская Правда führt, übernimmt er das offiziell kanonisierte Geschichtsbild und legt es der Figurenkonzeption seiner Erzählung zugrunde: «Я задумал большой роман на тему 'Оборона Царицына'. Достаточно, если я скажу, что главными персонажами романа являются Ленин, Сталин и Ворошилов, чтобы понять, какие большие требования автор обязан предъявить к себе и к своему произведению. В русской литературе существовала традиция отражать в произведениях жизнь средных людей. Это пристрастие к маленькому человеку нашло наибольшое отражение в творчестве Чехова. Старые русские писатели боялись больших людей, и такая боязнь, к сожалению, преемственно перешла в нашу советскую литературу. Эти традиции надо ломать. В 'Оборона Царицына' я делаю такую попытку, совершенно точно отдавая себе отчет в тех трудностях, которые мне нужно преодолевать.» (Tolstoj 1936d, 514) Damit nimmt er eine Verschiebung im literarischen Diskurs vor, die die von Stalin geforderte Darstellung historischer Persönlichkeiten in den Text der Erzählung überträgt und die in ihr vorgenommene Beschreibung der Verteidigung Caricyns an die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung angleicht.406 Die Erzählung trägt so dazu bei, eine Rekonfiguration der Ereignisse in das Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit einzutragen, welche die Rolle Stalins im Bürgerkrieg idealisiert und anläßlich des 20. Jahrestags der Oktoberrevolution aktualisiert. Sie ist Teil einer Geschichtsschreibung, die das revolutionäre Handeln Stalins in den Mittelpunkt der sowjetischen Geschichte stellt und ihn zum eigentlichen Helden des Bürgerkriegs erklärt. Nachdem auf die Initiative Gor’kijs am 31. Juli 1931 ein Aufruf in der Правда veröffentlicht worden ist, in dem die Teilnehmer des Bürgerkriegs aufgefordert wurden, ihre Erinnerungen in Essays, Novellen, Gedichten oder anderen literarischen Formen an die Redaktion der История гражданской войны zu schicken, wurde wenig später eine Broschüre zusammengestellt, in der die Richtlinien für die Bearbeitung der Bürgerkriegsgeschichte vorgegeben wurden. In dieser Broschüre werden die Autoren darauf hingewiesen, daß bei allen literarischen und wissenschaftlichen Bearbeitungen vor allem die Rolle Lenins und Stalins herausgestellt werden solle. Gleichzeitig werden die anfangs noch komplex dargestellten Zusammenhänge des Bürgerkriegs immer stärker vereinfacht, bis nach und nach alle an ihm beteiligten politischen wie militärischen Führer aus dem historischen Gedächtnis verschwinden. Am Ende erscheint Stalin sowohl als militärischer als auch als administrativer Führer, der den Sieg der Roten Armee garantiert. 1933 erscheinen die ersten Veröffentlichungen, die dieser Neuinterpretation der Bürgerkriegsgeschichte folgen. Sie verdrängen die in den zwanziger Jahre erschienenen Erinnerungsberichte und vereinnahmen sie als Beleg für ihre nachträglich betriebene Geschichtsklitterung.407 Während es in der 1938 erschienenen Geschichte der KPdSU(B) über die Gründe für den Sieg der Roten Armee noch heißt, daß die Rote Armee darum gesiegt habe, weil Männer wie Lenin, Stalin, Molotov, Kalinin oder Sverdlov an der politischen Erziehung der Soldaten beteiligt gewesen seien,408 heißt es in der ein Jahr später erschienenen Biographie Stalins dann: „Der unmittelbare Inspirator und Organisator der wichtigsten Siege der Roten Armee war Stalin. [...] Er war der Schöpfer der bedeutungsvollsten strategischen Pläne. Stalin leitete unmittelbar entscheidende Kampfoperationen. Vor Zarizyn und Perm, vor Petrograd und gegen Denikin, im Westen gegen das Polen der Pans und im Süden gegen Wrangel - überall sicherten der eiserne Wille und der strategische Genius Stalins den Sieg der Revolution. Stalin war der Erzieher und Leiter der Militär- Zu dieser Verschiebung vgl. auch Dobrenko 2000a, 878ff. Vgl. hierzu Mazour 1975, 191ff. 408 Kurzer Lehrgang o.J., 332. 406 407 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 76 kommissare, ohne die es, nach den Worten Lenins, keine Rote Armee gegeben hätte. Der Name Stalins ist mit den ruhmvollsten Siegen unserer Roten Armee verbunden.“ (Kurze Lebensbeschreibung 1945, 38) Die Erzählung fungiert damit als Mythengenerator, der die Verklärung Stalins zum zentralen historischen Subjekt der sowjetischen Geschichte bestätigt409 und die so gestiftete Erinnerung in das öffentliche Gedächtnis der sowjetischen Gesellschaft einträgt.410 Gleichzeitig spiegelt die Erzählung einen Wechsel im Weltbild der sowjetischen Gesellschaft wider, der die bis dahin als Helden des Bürgerkriegs gefeierten Soldaten der Roten Armee aus ihrer Rolle verdrängt.411 Damit etabliert die Erzählung eine Hierarchie der Charaktere, die kurz darauf mit dem Erscheinen des Краткий курс offizialisiert wird.412 Dem von Tolstoj beschriebenen mittleren Helden steht so eine Kanonisierung der Geschichte entgegen, die Stalin zum siegreichen Helden einer nachträglich konstruierten Vergangenheit erklärt. Damit setzt eine Rekonstruktion der Geschichte ein, die nicht mehr die Arbeiter und Bauern als historisches Subjekt der sowjetischen Geschichte betrachtet, sondern ihre Führer. Diese repräsentieren die revolutionäre Kraft des gesamten Volkes und gehen als ideale Verkörperungen der revolutionären Idee auch in die Erzählung Tolstojs ein: «Советские писатели должны видеть, понимать, осваивать самое большое, самое значительное, самое передовое. 'Хлеб' - роман о 1918 годе, об осаде и защите Царицына. Изображая гражданскую войну, мы почему-то делали героями маленьких, эпизодических людей. Может быть, в какой-то степени они были характерны для отдельных процессов борьбы. Но смысл, философия, грандиозный взлет народных сил - всего этого не выразишь в маленьких и случайных героях. Их поймешь и осмыслишь только через максимально большие, центральные, узловые, определяющие фигуры эпохи. [...] Чтобы показать смысл революции, я решил взять самых больших людей, самых великих наших современников.» (Tolstoj 1937a, 539) Mit seiner Erzählung liefert Tolstoj eine Darstellung Stalins, die bereits auf dem 1. Schriftstellerkongreß 1934 gefordert worden ist. Sowohl Emeljan Jaroslavskij als auch Vsevolod Višnevskij weisen in ihren Reden darauf hin, daß die Darstellung Lenins und Stalins zu einer der zentralen Aufgaben der neuen sowjetischen Literatur werden Als Beispiel sei der 1939 erschienene Artikel «Сталин и строительство Красной Армии» zitiert, der in der Festschrift zu Stalins sechzigstem Geburtstag erscheint. In ihm heißt es gleich zu Beginn: «Сталин - не только олицетворение большевизма и Советской власти, это имя победившего социализма, всдохновляющее наш народ на героизм, творческий труд и отвагу, это имя надежд, чаяний и перспектив трудящихся всего мира. Сталин - международное имя, ставшее знаменем борьбы за великие идеалы человечества.» (Vorošilov 1940, 32) 410 Vgl. hierzu auch Okljansij 1994, 52, der die Bedeutung der Erzählung darin sieht, daß sie den Beginn einer fiktional gefälschten Wirklichkeit markiert. 411 Vgl. hierzu Serebrjanskij 1935, 242ff. sowie Dobrenko 1993, 75, der davon spricht, daß die Literatur Mitte der dreißiger Jahre auf die Bedürfnisse des offizialisierten Heldenkults und in letzter Konsequenz die Darstellung Lenins und Stalins ausgerichtet wird. Zu dieser Rekonstruktion des offiziellen Heldenmythos und der damit einhergehenden Verschiebung im offiziell propagierten Weltbild der dreißiger Jahre vgl. auch Clark 1977, 182ff. und 1985, 114ff. sowie Günther 1993, 179ff. und Dobrenko 1993, 44ff. 412 Gleichzeitig wird ein offizieller Heldenmythos etabliert, den Hans Günther in seiner Arbeit über den ‚sozialistischen Übermenschen’ analysiert. Günther 1993, 175ff. unterscheidet vier Heldentypen des sozialistischen Realismus: den sozialistischen Arbeitsheld, der in der Tradition mythischer Kulturbringer steht, den ideologischen Opferhelden, dessen Selbstverleugnung und Aufopferung zum Ideal des Heroischen überhaupt wird, sowie den Kriegsheld und den politischen Führer-Held, über deren Bedeutung im totalitären Heldenkreis Hans Günther schreibt: „Ihre starke Verbreitung in der totalitären Kultur hängt mit ihrem extremen Polarisierungspotential zusammen. Mit Hilfe dieses Heldentyps lassen sich politische und militärische Auseinandersetzungen mühelos zum Kampf des lichten Heros mit dem Ungeheuer, dem Dunklen und Bösen überhöhen.“ (Günther 1993, 178) 409 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 77 müsse.413 Während Jaroslavskij in seiner Rede nur ganz allgemein zu einer Darstellung ihrer historischen Leistungen aufruft,414 gibt Vsevolod Višnevskij eine erste Kanonisierung der für ihre literarische Repräsentation verbindlichen Motive vor. Nachdem er im ersten Teil seiner Rede auf die Darstellung Lenins eingegangen ist, legt er im weiteren Verlauf auch die Darstellungsnorm für die literarische Repräsentation Stalins fest. Er fordert die Schriftsteller auf, dessen revolutionäres Handeln zu dokumentieren und sowohl seinen revolutionären Kampf als auch seinen Einsatz im Bürgerkrieg zum Gegenstand einer zukünftigen sowjetischen Literatur zu machen. Mit der Aufzählung der unterschiedlichen Bürgerkriegsfronten, an denen Stalin siegreich war, listet er eine Reihe von Sujets auf, deren literarische Gestaltung er im Namen der historischen Wahrheit von den Schriftstellern fordert. Sie folgen der bereits 1929 veröffentlichten Darstellung Kliment Vorošilovs415 und werden aus dem historischen in den literarischen Diskurs übertragen. Die Erzählung setzt so eine Darstellung Stalins in das literarische Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit ein, die bereits drei Jahre zuvor auf dem 1. Schriftstellerkongreß zum ersten Mal kodifiziert worden ist: «Кто знает, как вел работу т. Сталин? Кто знает, как много оперативной мудрости он обнаружил во время нелюдовского восстания? Как он работал в Царицыне? Кто знает, что он играл решающую роль в той эпопее, которая разыгралась в Сибири, когда разгромили Колчака? Кто знает, что всем партизанским сибирским движением молча руководил Сталин? Он обеспечил разгром колчаковской интервенции (аплодисменты). Проблему, образ большевистского пролетарского вождя мы обязаны решить, мы обязаны подняться выше 'полкового', 'дивизионного' уровня. Решение этой проблемы необходимо. Она имеет не только исторические цели, но и выводит нас в область самых высоких умственных, этических, моральных и военных категорий.» (Višnevskij 1934, 284) Im Gegensatz zu den bis dahin erschienenen Bürgerkriegsromanen zielt die Erzählung nicht auf eine unmittelbare Identifikation des Lesers mit dem Helden ab, sondern setzt auf eine bewundernde Wahrnehmung, die die literarische Überhöhung Stalins in einem Akt der affektiven Vereinnahmung bestätigt.416 Sie verwandelt die Person Stalins in einen Gegenstand der Verehrung, dessen Wahrnehmung aus dem offiziellen Stalinkult in die Erzählung übertragen wird. Diese Bewunderung wird in der Figurenperspektive der nachgeordneten Figuren gebrochen und damit als ideale Rezeptionshaltung in den Text eingetragen. Die ästhetische Identifikation mit den nachgeordneten und zum größten Teil fiktiven Charakteren zielt so auf die Reproduktion einer offiziell inszenierten Wahrnehmung ab, die über die literarische Repräsentation in das Gedächtnis ihrer Leser eingetragen werden soll. Sie antizipiert eine Rezeptionshaltung, die Stalin zur unantastbaren Autorität des Textes werden läßt. In einer Szene, in der sich die konterrevolutionären Verschwörer über die veränderte Lage in Caricyn nach der Ankunft Stalin unterhalten, heißt es: Vgl. hierzu Jaroslavskij 1934, 238f. sowie Višnevskij 1934, 284. «Что дала наша партия? Она дала образы несравненной красоты, железной воли, яркой беззаветной красоты преданности рабочему классу, несгибаваемой воли, исключительной настойчивости, широчайшего горизонта, организаторских талантов, блестящего ума непревзойденные характеры Ленина и Сталина (аплодисменты). А какое произведение вы назовете, где во весь рост показан Ленин – лучший герой нашего времени? (Аплодисменты). Где, в каком произведении вы показали во весь рост Сталина? (Аплодисменты).» (Jaroslavskij 1934, 238) 415 Gemeint ist der zu Stalins fünfzigstem Geburtstag erschienene Artikel «Сталин и Красная Армия»: Vorošilov 1930, 44ff. 416 Zu den unterschiedlichen Rezeptionshaltungen vgl. Jauß 1984, 244ff., der zwischen einer assoziativen, einer admirativen, einer sympathetischen, einer kathartischen und einer ironischen Identifikation unterscheidet. Zur admirativen Identifikation vgl. Jauß 1984, 264ff. 413 414 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 78 «Положив руки под затылок, Носович стал подробно рассказывать про вчерашнюю беседу с чрезвычайным комиссаром, интересовавшимся каждой штабной бумажкой. Просматривая принесенные Носовичем приказы, запросы другим штабам, возражения и отписки и все копии приказов, запросов, возражений и отписок других царицынских штабов, Сталин указывал на громоздкость такой канцелярской системы ведения войны. Он брал из папки какой-нибудь приказ командиру отряда и следил его извилистый путь через канцелярские столы к месту назначения, когда приказ уже терял всякий смысл или вызывал бешеную отписку командира отряда. Он брал дргую бумажку и расшифровывал ее смысл, клонящийся единственно к раздуванию склоки между штабами. Он просил Носович дать ему толковое объяснение о такой малоцелесообразной деятельности. – Я, естественно, возражал, что штабы самим господом богом поставлены быть штабами и что здесь я работаю по личной доверенности Троцкого, - по мере моих сил и разумения. Но ссылка на Троцкого его мало убедила... Он начал ставить такие тонкие вопросы, - одну минуту показалось: вот, чорт, не разгадал ли мою игру?» (Tolstoj Chleb 1937, 145f.) Doch auch Tolstojs eigene literarische Programmatik läßt Ansätze einer mythopoetischen Überhöhung seiner literarischen Figuren erkennen. Bereits in seinem 1924 erschienenen Manifest Задачи литературы fordert er eine Heroisierung der literarischen Figur, welche die in der Erzählung vorgenommene Überhöhung Stalins vorwegzunehmen scheint. In seinem literarischen Programm fordert er einen monumentalen Realismus, der den neuen sowjetischen Menschen in den Mittelpunkt stellt und dessen revolutionäres Handeln portraitiert. Er verfolgt damit ein Konzept, das die literarische Repräsentation der Wirklichkeit auf die Darstellung ihrer Helden verkürzt und ihren revolutionären Kampf zum eigentlichen Gegenstand der Literatur erklärt: «Герой! Нам нужен герой нашего времени. Героический роман. Мы не должны бояться широких жестов и больших слов. Жизнь рассмахивается наотмашь и говорит пронизительные, жестокие слова. Мы не должны бояться громоздких описаний, ни длиннот, ни утомительных характеристик: монументальный реализм! Взгромоздим Оссу на Пелион.» (Tolstoj 1924, 288) Damit entwirft Tolstoj ein ästhetisches Modell, in das auch dаs literarische Bild Stalins eingepaßt werden kann. Seine Darstellung scheint jenem ‚Typ des großen Menschen’ zu entsprechen, dessen Beschreibung Tolstoj von der neuen sowjetischen Literatur fordert.417 Die nachträgliche Ästhetisierung Stalins zielt so auf eine mythopoetische Überhöhung ab, die sein Handeln heroisiert und an den offiziellen Stalinkult angleicht.418 Diese Heroisierung nimmt Tolstoj selber vor, wenn er in einer Rede, die er 1938 vor georgischen Schriftsteller hält, über die Figur Stalins sagt: «Современная тематика ищет тип большого человека – строителя мира. Отсюда тяга к изображению самых больших людей – Ленина, Сталина. Сейчас почти для каждого писателя стало желаной мечтой взять большой тип. Писатель растет в этой работе, он приобретает мускулы и перейдет к созданию героического произведения, собирательного образа. Поэтому я представляю себе дальнейшую литературу как героическую, как монументальный путь советского реализма.» (Tolstoj 1938a, 407f.) Die so hergestellte Bedeutung Stalins spiegelt sich auch in dem Status, den Tolstoj der Erzählung beimißt. In einem 1938 verfaßten Typoskript schreibt er, daß die Darstellung außergewöhnlicher Charaktere einer inneren Einstimmung bedürfe, auf die er sich durch ein moralisches, bildendes und erzieherisches Training vorbereitet habe. Damit Vgl. hierzu noch einmal Tolstoj 1924, 286, der über sein Konzept des monumentalen Realismus schreibt: «Я противопоставлю эстетизму литературу монумантельного реализма. Ее задача человекотворчество. Ее метод - создание типа. Ее пафос - всечеловеческое счастье, совершенствование. Ее вера - величие человека. Ее путь - прямо к высшей цели: в страсти, в грандиозном напряжении создавать тип большого человека.» 418 Vgl. hierzu auch Okljanskij 1994, 53, der die Erzählung als Fortsetzung der historischen Sujets Tolstojs sieht. 417 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 79 weist er der Erzählung eine Bedeutung zu, welche die offizielle Wahrnehmung Lenins und Stalins auf den Akt des Schreibens überträgt und in der Imagination des Autors reproduziert: «Нужно было особенным образом думать, чуствовать и видеть,- не так, скажем, как я думал, чувствовал и видел, когда писал 'Петра' или '18-й год'. Значит, нужна была, прежде всего, работа над самым собой. Для того чтобы охватить воображением образы таких огромных людей, как Ленин, как Сталин, - нужна была моральная, образовательная и воспитательная 'тренировка' своего воображения.» (Tolstoj 1938, 333) Daß sich Tolstoj ungeachtet aller Legitimationsversuche über die propagandistische Funktion seiner Texte im klaren gewesen ist und die politische Vereinnahmung seiner Literatur als Bedingung für seinen privilegierten Status in Kauf nimmt, zeigt ein Gespräch, an das sich Jurij Annenkov in seinen Дневник моих встреч betitelten Memoiren erinnert. 1937 soll ihm Tolstoj während eines Aufenthalts in Paris gesagt haben: «- Я циник, - смеялся он,- мне на все наплевать! Я - простой смертный, который хочет жить, хорошо жить, и все тут. Мое литературное творчество? Мне и на него наплевать! Нужно писать пропагандные пьесы? Черт с ним, я и их напишу! Но только - это не так легко, как можно подумать. Нужно склеивать столько различных нюансов! Я написал моего 'Азефа', и он провалился в дыру. Я написал 'Петра Первого', и он тоже попал в ту же западню. Пока я писал его, видишь-ли, 'отец народов' пересмотрел историю России. Петр Великий стал, без моего ведома, 'пролетарским царем' и прототипом нашего Иосифа! Я переписал заново, в согласии с открытиями партии, а теперь я готовлю третью и, надеюсь, последную вариацию этой вещи, так как вторая вариация тоже не удовлетворила нашего Иосифа. Я уже вижу передо мной всех Иванов Грозных и прочих Распутиных реабилитированными, ставшими марксистами и прославленными. Мне наплевать! Эта гимнастика меня даже забавляет! Приходится, действительно, быть акробатом. Мишка Шолохов, Сашка Фадеев, Илья Эренбург - все они акробаты. Но они - не графы! А я - граф, черт переди! И наша знать (чтобы ей лопнуть!) сумела дать слишком мало акробатов! Понял? Моя доля очень трудна...» (Annenkov 1966, 149) 2.7 Zur Funktion realistischer Schreibverfahren Die von der Erzählung beabsichtigte Wirklichkeitsillusion beruht wesentlich auf der Indienstnahme realistischer Schreibverfahren. Sie inszenieren eine Referenzillusion, die den Anspruch auf eine faktische Reproduktion der Vergangenheit bestätigt und Zeichen und Bezeichnetes zueinander ins Verhältnis setzt.419 Im folgenden werden die literarischen Verfahren aufgeführt, die das realistische Verweissystem der Erzählung etablieren und die angenommene Identität von Text und Wirklichkeit herstellen. Die von der sowjetischen Literaturwissenschaft geforderte Widerspiegelung beruht auf der Kanonisierung eines Kodifizierungssystems, dessen dekretiertes Abbildungsverhältnis die Schlachten des Bürgerkriegs wirklichkeitsgetreu, präzise und lebensnah darstellen soll. Sie beauftragt die Literatur, ein Wirklichkeitsmodell zu entwerfen, das die historische Vergangenheit im Sinne ihrer ideologischen Prädisposition deutet und den literarischen Text an die offizielle Geschichtsschreibung angleicht. In seiner Rede auf dem 1. Schriftstellerkongreß sagt Višnevskij: «Пишите правду, пишите дерзновенно! [...] В лучших советских произведениях не хватает исторической перспективы. Шум боев, страшный шум, который оставил у нас звон в ушах, он до сих пор остался – у нас слух испорчен, - многому помешал. Образы, непосредственно мелькавшие в боях, события, которые мы рассматривали в упор, заслонили много исторических явлений и перспектив.» (Višnevskij 1934, 283) 419 Vgl. hierzu Eisele 1987, 542f., Zeller 1987, 567 Balibar/Macherey 1974, 556 sowie Barthes 1968a, 84f. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 80 Tatsächlich ist die realistische Darstellung der Vergangenheit jedoch an einen Darstellungsmodus gebunden, der das Wort programmatisch mit der Welt verknüpft und die Beziehung zur textexternen Wirklichkeit dominant setzt.420 Der realistische Schreibgestus verweist die Erzählung auf die Faktizität der Geschichte, deren Überlieferung ihren nachträglich fingierten Verlauf bestimmt.421 Dadurch entsteht ein Literaturverständnis, das in erster Linie auf die referentielle Funktion der Zeichen ausgerichtet ist und eine nicht-fiktionale Rezeption der Erzählung vorgibt. Es beruht auf einem ikonischen Code, der die Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem regelt und eine eindeutige Zeichenbedeutung generiert.422 Da das Verhältnis von literarischer und außerliterarischer Wirklichkeit jedoch keineswegs ungebrochen ist und nicht als einfache mimetische Reproduktion verstanden werden kann, rücken die ästhetischen Mechanismen in den Vordergrund, die das Abbildungsverhältnis zwischen Text und Welt zum realistischen werden lassen.423 Die in der Widerspiegelungstheorie geforderte Mimesis ist das Ergebnis einer Reihe literarischer Verfahren, deren ästhetische Manipulation den Realitätseffekt der Texte überhaupt erst produziert. Realistische Mimesis ist damit nicht die Widerspiegelung der sie umgebenden Wirklichkeit, sondern ein literarisches Konstrukt, das mit Hilfe realistischer Schreibstrategien an die Stelle der faktischen Realität gesetzt wird.424 Ihr Ziel ist es, die literarische Fiktion zu verdecken und den Eindruck zu erwecken, als erzähle sich die Geschichte selbst.425 Sie etablieren ein Normsystem, in dem die Erzählung als Repräsentation einer außerliterarischen Wirklichkeit erscheint, die im Text lediglich abgebildet werden muß.426 Das so geschaffene Abbildungsverhältnis ist der Effekt einer Referenzillusion, die auf der Vorstellung basiert, daß das Bezeichnende (signifiant) direkt mit dem Referenten in Beziehung tritt und das Bezeichnete (signifié) aus dem Akt der Benennung ausgegrenzt wird.427 Dadurch entsteht der Eindruck, als sei Literatur die Emanation einer geordneten Realität, die den Text noch vor seinem Entstehungsprozeß präfiguriert.428 Damit wird auch die Erzählung Tolstojs lediglich zur Abschrift dessen, was sich in der Vergangenheit ereignet hat: der Text offenbart die Geschichte. Stern 1983, 41ff. Zum Begriff des Realen im literarischen Realismus vgl. Stern 1983, 46. 422 Zum ikonischen Zeichen vgl. Peirce 1983, 64f. sowie Eco 1977, 63ff. und 143ff., der die angenommene Ikonizität literarischer Zeichen auf einen konventionalisierten Code zurückführt und auf einer Semiotisierung des Referenten beruht. 423 Vgl. hierzu Eisele 1987, 542 sowie Piontek 1987, 15f., Stern 1983, 61 und Aust 1977, 6, der den Realismusbegriff als einen formalen Begriff bezeichnet, der eine bestimmte Relation zwischen Text und Wirklichkeit etabliert. 424 Vgl. hierzu noch einmal Barthes (Effekt des Realen), Balibar/Macherey 1974, 556, Eisele 1987, 542f. sowie Wulf/Gebauer 1992, 26ff., die mimetische Abbildungsprozesse als Verfahren einer symbolischen Welterzeugung deuten. 425 Eisele 1987, 542f. 426 Vgl. hierzu Eisele 1987, 540 sowie Wellek 1987, 403. 427 Vgl. hierzu Barthes 1968, 88 sowie Zeller 1987, 567 und Červenka 1978, 42, der realistische Texte als Kunstwerke beschreibt, in denen eine „Tendenz zum Isomorphismus zwischen der Struktur der Bedeutung des Werkes und der Struktur irgendeines Teilbereichs der Realität vorherrscht, wo also sichtbare Analogien zwischen Bedeutung und Objekt gelten und irgendein Bestandteil der Bedeutung eine selbstständige Beziehung zu einem analogen Teil eines Gegenstandes einnehmen kann [...].“ (Červenka 1978, 42) 428 Vgl. hierzu Blumenberg 1964, 10ff. sowie Eisele 1987, 543, Hamon 1973, 441f. und Balibar/Macherey 1974, 200f. 420 421 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 81 Die grundsätzliche Differenz zwischen geordneter Textualität und amorpher Faktizität wird dabei sowohl aus dem Wirklichkeitsverständnis als auch aus dem literarischen Schaffensprozeß des sozialistischen Realismus verdrängt. Statt dessen wird der Text als Abbild einer urbildlich gedachten Wirklichkeit verstanden, die in Form der literarischen Erzählung noch einmal und ungebrochen mimetisch vergegenwärtigt wird. In der Inhaltsangabe zur ersten und zweiten Auflage der Erzählung Хлеб, die bereits 1937 als Buchausgabe im Verlag der История гражданской войны erschienen ist, heißt es: «Повесть А.Н. Толстого 'Хлеб' ('Оборона Царицына') посвящена одному из самых драматических периодов гражданской войны (весна и лето 1918 года) [...]. Захват Царицына позволял интервентам и белогвардейцам объединить силы и двигаться на Москву общим фронтом. Отстоять Царицын – значило закрыть врагам дорогу на Москву, дать хлеб голодающим столицам. Героическая оборона Царицына, организованная товарищем Сталиным, борьба отрядов товарища Ворошилова с немецкими интервентами и белогвардейцами под Царицыном являются темой книги Толстого.» (Tolstoj 1948, 694f.) Eigentlich erzeugt die Erzählung jedoch eine literarische Fiktion, welche die grundsätzliche Differenz zwischen Text und Wirklichkeit negiert.429 Die Erzählung Tolstojs dient nicht dazu, die tatsächliche Verteidigung Caricyns zu rekonstruieren. Ihre Aufgabe besteht vielmehr darin, eine Reihe fiktionaler Effekte zu erzeugen, die die Verteidigung Caricyns an die offiziell vorgegebene Interpretation der Vergangenheit angleichen und diese Fiktion an die Stelle des eigentlichen Geschehens setzen soll. Erst diese Vorstellung einer unmittelbaren Re-Präsentation macht es möglich, die Person Stalins als Abbild seiner vermeintlich authentischen Persönlichkeit zu begreifen, deren historische Bedeutung nicht im Kontext der Erzählung entsteht, sondern dieser immer schon vorgängig ist. Dabei wirkt die von der sowjetischen Literaturtheorie behauptete Widerspiegelung strukturbildend. Das ihr zugrundeliegende Weltbild gibt die ästhetische Organisation der Texte vor und stiftet den Kausalzusammenhang, der die unmittelbare Wiedergabe einer von der Erzählung unabhängigen Wirklichkeit generiert.430 Dieser Kausalzusammenhang wird in die Sujetkonstruktion der Erzählung übertragen und konstituiert ein Kompositionsprinzip, das durch die strikte Motivation realistischer Texte beglaubigt wird.431 Da jedoch auch die realistische Schreibweise die von ihr geschilderte Wirklichkeit durch Übertreibungen, Auslassungen und Verzerrungen manipuliert, stellt sie sich als eine Einheit von Gestalten und Konstruieren sowie Abstimmen, Abschauen und Nachvollziehen einer offiziell vorgegebenen Wirklichkeit dar.432 Erst durch diesen Angleichungsprozeß kann die in der Erzählung gestiftete Fiktion in der Fiktion einer außerliterarischen Vergangenheit aufgehen. Die Erzählung wird zur Mythenfabrik, deren Realitätseffekte die Illusion einer im Text rekonstruierbaren Vergangenheit nachträglich fingieren: Vgl. hierzu Derrida 1988, 85ff. Vgl. hierzu Eisele 1987, 556. sowie Dobrenko 1993, 46ff., der die totalitäre Kultur des Stalinismus als ideokratische Kultur beschreibt, die das offizielle Weltbild bestätigen soll. Vgl. hierzu auch Golomstock 1996, XII, der die Funktion sozrealistischer Kunst ebenfalls darin sieht, das ideologische Material in konsumierbare Bilder zu verwandeln. Zum Weltbild als kognitiv-konstuktives Regulativ gesellschaftlicher Diskurse vgl. Fleischer 1996, 13ff. 431 Vgl. hierzu Aust 1977, 23 sowie Tomaševskij 1967, 147ff. 432 Vgl. hierzu Stern 1983, 83 sowie Gebauer/Wulf 1992, 35, die literarische Mimesis als Zusammenspiel von Wahrnehmung, Bewertung, fiktionalen Elementen, praktischem Wissen, Theorie und Einbildungskraft beschreiben. 429 430 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 82 „Literatur ist daher nicht Fiktion, vielmehr Produktion von Fiktionen, oder besser: Produktion von fiktionalen Effekten (zunächst von materiellen Mitteln, um fiktionale Effekte zu produzieren.) [...] Die Vorlage (als der dem Diskurs wirklich, ‚äußere‘ Bezug, dem Fiktion und Realismus unterliegen) kann nicht der der Literatur und dem Diskurs jenseitige (ihnen vorgängige) Bezugspunkt sein (wir wissen bereits, daß die Verankerung dieses Primats der nicht-diskursiven, praktischen Realität komplexer und etwas anderes als ‚Repräsentation’ ist). Das Modell ist vielmehr Effekt des Diskurses.“ (Balibar/Macherey 1974, 213f.) 2.7.1 Lineare Sujetfügung Eins der zentralen Verfahren realistischer Literatur ist die lineare Sujetfügung. Sie soll den Eindruck erwecken, als gäbe sie den ursprünglichen Verlauf der Ereignisse wieder.433 Tatsächlich ist es jedoch die nachträglich gestiftete Ordnung der Erzählung, welche die Ereignisse in eine chronologische Abfolge überführt und die temporale Ordnung der Erzählung in die Reihenfolge der historischen Ereignisse einschreibt.434 Die Kontinuität der außerliterarischen Wirklichkeit basiert demnach auf einer ästhetisch gestifteten Kohärenz, die Handlungs- und Erzählverlauf aufeinander abbildet.435 Der Verzicht auf eine anachronische Kompositionsstruktur, deren Vor- und Rückgriffe die sekundär modellierte Wirklichkeit der Fiktion erkennen ließen, dient auch in der Erzählung Tolstojs dazu, eine scheinbar authentische Reproduktion der dargestellten Ereignisse zu fingieren.436 Dadurch, daß die Erzählung einem sukzessiven Erzählstrang folgt, scheint sie die historischen Ereignisse in ihrem scheinbar authentischen Verlauf darzustellen. Sie simuliert eine historische Ordnung, die die Verteidigung Caricyns mit dem Handeln Stalins zusammenschließt. Die lineare Sujetfügung dient so auch dazu, eine historische Gleichzeitigkeit zu simulieren, die das Handeln Stalins vergegenwärtigen und in seiner Interaktion mit den historischen Ereignissen aufzeigen kann:437 «Из Царицына вернулись Пархоменко и Артем с сообщением, что в Царицыне – Сталин, что там идет решительная подготовка к обороне и Сталин предлагает 5-й армии, не теряя дня, заканчивать поход: переправлять все эшелоны и воинские части на левый берег.» (Tolstoj Chleb 1937, 137) Die Vorstellung einer unmittelbaren Repräsentation wird dabei dadurch erhöht, daß der Erzählung eine übergeordnete Rahmenhandlung fehlt, welche die dargestellten Ereignisse auf eine von der Handlung unabhängige Erzählgegenwart bezieht.438 In der Erzählung sind weder der Ort noch die Zeit der Narration angegeben. Keine formal markierte Narrationsebene läßt den Akt des Erzählens erkennen.439 Vgl. hierzu Červenka 1978, 98f. und 157f., der einen zentralen Aspekt realistischer Texte darin sieht, daß die Zeitfolge des Erzählens die Zeitfolge der erzählten Ereignisse abzubilden vorgibt. 434 Brinkmann und Kohl gehen in ihren Arbeiten über den literarischen Realismus davon aus, daß die vermeintliche Objektivität realistischer Texte auf der Einheit, Geschlossenheit und Stimmigkeit ihrer narrativen Struktur beruht: Brinkmann 1966, 321 und Kohl 1977, 191f. 435 Červenka 1978, 148f. 436 Vgl. hierzu Červenka 1978, 132f. sowie Zeller 1987, 568f., die die rein zeitliche Abfolge der dargestellten Ereignisse als Verfahren beschreibt, mit dem realistische Texte ihre Wirklichkeitsillusion erhöhen. 437 Evgenij Dobrenko beschreibt die lineare Sujetfügung sozrealistischer Texte als Pfeil, der in die Zukunft weist und von Beginn an auf die Lösung des Konflikts ausgerichtet ist. Mit seiner Hilfe wird ein Ziel etabliert, dem das Verhalten der einzelnen Figuren untergeordnet ist: Dobrenko 1993, 65. 438 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 45ff. 439 Vgl. hierzu Genette 1994, 157ff., der auf eine Paradoxie der Narration aufmerksam macht, wenn er schreibt: „Eine der Fiktionen der literarischen Narration, und vielleicht die stärkste, da man sie fast nicht bemerkt, ist die, daß es sich hierbei um einen instantanen Akt ohne zeitliche Ausdehnung handelt. Manchmal wird er zwar datiert, aber gemessen wird er nie.“ (Genette 1994, 159) 433 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 83 Die Sujetkonstruktion der Erzählung wird durch eine Aneinanderreihung einzelner Szenen bestimmt, die nicht durch die reale Abfolge der Ereignisse, sondern allein durch die Logik des Erzählten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Dadurch entsteht der Eindruck, als stelle die Erzählung Хлеб die Verteidigung Caricyns in ihrer historischen Ereignisfolge dar und bedürfe keiner narrativen Ordnung, um literarische und historische Vergangenheit aufeinander abzubilden.440 Die literarische Intrige tritt zugunsten einer Bedeutungsstiftung zurück, die jeden Hinweis auf die ordnende Instanz des Autors verbirgt und die syntagmatische Organisation der Sujetelemente auf die Ordnung der historischen Vergangenheit zurückverweist.441 Die dargestellte Sukzession der Ereignisse wird in die Chronologie der außerliterarischen Wirklichkeit zurückverlegt, so daß die Auswahl der einzelnen Sujetelemente im außerliterarischen Kontext der Geschichte begründet zu sein scheint. Kontinuität soll dabei nicht als nachträglich gestiftete Textordnung erscheinen, sondern als Eigenschaft des Realen, die der Text lediglich abbildet.442 Die offizielle Lesart nimmt diese Chronologisierung entsprechend als „wahrheitsgetreu“ wahr: „Wahrheitsgetreu und unter innerster Anteilnahme hat A.N. Tolstoi unserem Gedächtnis das Bild eingeprägt, wie unser Land durch das größte historische Hindernis, den Bürgerkrieg, durch Freud und Leid und alle Schwierigkeiten der gesellschaftlichen Erneuerung einer ganzen Generation hindurchschreitet. Die Werke Tolstois geben ein monumentales Bild des großen historischen Prozesses, mit dem eine neue Ära im Leben der Menschheit beginnt.“ (Stscherbina 1954, 99) Dadurch gelingt es der Erzählung, die dargestellten Ereignisse von dem Verdacht einer nachträglichen Sinnstiftung zu befreien und die Verteidigung Caricyns zur Lösung eines Konflikts zu stilisieren, der nicht literarisch sondern historisch ist.443 Die symbolische Repräsentation des Erzählten ist damit nicht das Ergebnis einer semiotischen Umkodierung, sondern scheint den historischen Ereignissen selbst inhärent zu sein. Der Text wird damit zur ideogrammatischen Repräsentation eines ikonisch gedachten Realen, das dem Text immer schon vorgängig ist.444 2.7.2 Panoramisierung der Geschichte Die zeitliche Dauer der Erzählung wird durch das Nebeneinander unterschiedlicher Erzählstränge bestimmt. Dieses Verfahren dient dazu, den Darstellungsgegenstand an den zentralen Stellen der Erzählung auszuweiten und den Moment der Narration zu verdecken.445 Die episodische Struktur des Erzählten ermöglicht es, unterschiedlichste Personen und Schauplätze in den Verlauf der Handlung einzubeziehen und die darge- Vgl. hierzu Zeller 1987, 571. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 35ff., der in seiner Analyse der unterschiedlichen Erzählformen darauf hinweist, daß das scheinbar chronologische Nebeneinander einzelner Erzählelemente das Gewicht des Faktischen betont und die zeitliche Entfaltung der dargestellten Ereignisse zur Geltung bringe. 442 Vgl. hierzu Zeller 1987, 571 443 Daß es sich dabei letztlich aber auch nur um eine ästhetische Motivation der außerliterarischen Wirklichkeit handelt, zeigt Boris Tomaševskij, wenn er über das Verhältnis von literarischer und außerliterarische Fabelkonstruktion schreibt: «Система внедрения внелитературного материала в сюжетную схему была отчасти показана выше. Она сводится к тому, чтобы внелитературный материал был художественно мотивирован. Здесь возможно различное внедрение его в произведение. Вопервых, самая система выражений, формулирующих этот материал, может быть художественной. [...] Другой прием – это фабульное использование внелитературного мотива.» (Tomaševskij 1967, 200f.) 444 Zum Begriff des Ideogramms vgl. Jakobson 1921, 377. 445 Zu dieser Funktion der zeitlichen Ausdehnung realistischer Texte vgl. Zeller 1987, 571. 440 441 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 84 stellte Vergangenheit anhand literarisch gestalteter Einzelschicksale zu dokumentieren.446 Sie weitet die Erzählung an einzelnen Punkten zu einer Gleichzeitigkeit aus, die als retardierendes Element die Spannung des Erzählten steigert.447 Durch die epische Breite der Erzählung entsteht ein historisches Panorama, das die Gesamtheit der historischen Ereignisse in den Text der Erzählung überträgt448 und zugleich die Verteidigung der Stadt an ihre nachträglich kanonisierte Bedeutung angleicht. Das Anliegen der Erzählung besteht so nicht allein darin, die Aktionen Stalins im literarischen Text zu authentifizieren, sondern auch darin, die von ihm befehligte Verteidigung der Stadt zu historisieren.449 Durch die Ausweitung des Raum-Zeit-Gefüges agiert er in einem Fiktionsraum, der seine Figur in den Kontext der historischen Ereignisse einordnet und sein literarisches Handeln als historisches präsentiert: «Руководство товарища Сталина обороной Царицына и его работа по обеспечению продовольствием Советской республики с наибольшей полнотой и яркостью отражены в повести А.Н. Толстого 'Хлеб' (1937) [...]. Первое из этих произведений содержит вообще лучшее в советской литературе художественное воплощение образа товарища Сталина и по своей идейной глубине, и по широте исторической перспективы, и по мастерству портретных зарисовок.» (Čeremin 1950, 10) Die episodische Struktur der Erzählung ist zugleich immer wieder Gegenstand der Kritik. So kritisiert Gurštejn die Erzählung in seiner 1938 erschienenen Rezension dafür, daß sie trotz ihrer richtigen Darstellung zu einer fragmentarischen Wiedergabe der Wirklichkeit neige, die eine künstlerische Verarbeitung der Vergangenheit vermissen lasse und die literarischen Charaktere verflache.450 Und auch Alpatov weist in seiner 1955 erschienenen Monographie darauf hin, daß einige Teile der Erzählung spröde und oberflächlich seien und den Charakter literarischer Skizzen trügen, die den Ansprüchen einer literarischen Darstellung der historischen Vergangenheit nicht immer genügten.451 2.7.3 Zeitraffung und szenische Darstellung Das an sich ungeordnete Reale wird erst durch den Zugriff der Erzählung in eine geordnete Vergangenheit überführt. Wesentlich ist hierfür das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit und der sich daraus ergebenden Zeitraffung und Zeitdehnung. Vor allem ist es die mit der Zeitraffung einhergehende Auslassung historischer Ereignisse, die dazu führt, daß reale und literarische Vergangenheit in einer nachträglich fingierten Geschichtsschreibung aufeinander abgebildet werden können.452 Die Erzählung übergeht die für ihren Darstellungsauftrag unwichtigen Fakten und stellt eine Kontinuität des Erzählten her, die durch den Akt der Selektion und Kombination in den literarischen Text übertragen wird.453 Die selektive Aneinanderreihung einzelner Begebenheiten führt so auch in Хлеб zu einer ästhetisch gestifteten Ordnung, die die faktische Vgl. hierzu Lämmert 1967, 38ff. sowie Tomaševskij 1967, 198ff. Damit folgt die Erzählung in weiten Teilen dem von Lämmert beschriebenen Eigenschaften des Geschehensromans. In ihm dienen parallel montierte Handlungsstränge als retardierendes Moment, das die Lösung des Konflikts verrätselt, jedoch zu keiner Aufsplitterung der Handlung führt: Lämmert 1967, 40. 448 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 64f. sowie Lotman 1973, 412f. 449 Vgl. hierzu auch Tolstoj 1936b, 579, der über den historischen Kontext seiner Erzählung schreibt: «Я не даю в нем изолированную историю обороны Царицына, а хочу показать широкую картину всех нитей, ведущих к Царицыну, показать исторические корни обороны.» 450 Gurštejn 1938, 262. 451 Alpatov 1955, 92. 452 Zu den unterschiedlichen Arten der Zeitraffung vgl. Lämmert 1967, 82ff. sowie Genette 1994, 61ff. 453 Vgl. hierzu Iser 1991, 124ff. sowie Lotman 1973, 128ff. und Kohl 1977, 191. 446 447 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 85 Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Bürgerkriegsfronten ignoriert und ihre Beschreibung auf die Verteidigung Caricyns verkürzt. So gelingt es der Erzählung durch einen manipulativen Zugriff der Erzählzeit auf die erzählte Zeit, die Verteidigung Caricyns in den Mittelpunkt der Ereignisse zu stellen und sie sowohl zum Höhepunkt der Erzählung als auch zum Höhepunkt der historischen Entwicklung des Bürgerkriegs auszubauen: «Писатель характеризует общую трудную обстановку, сложившуюся в нашей стране в начале 1918 года. А. Толстой показывает борьбу партии против предательской политики Троцкого и 'левых коммунистов'. [...] В повести рассказывается, как партией и ее руководителями В.И. Лениным и И.В. Сталиным была разоблачена провокаторская роль Троцкого и его сообщников, как все силы народа были мобилизованы для отпора интервентам и внутренней контрреволюции.» (Alpatov 1955, 88f.)454 Der Zeitraffung steht eine szenische Darstellung entgegen, die den Verlauf der Erzählung verlangsamt. Sie stellt die in ihr beschriebenen Ereignisse und Personen in einer literarischen Nahaufnahme dar und dient in erster Linie dazu, den Eindruck authentischer Ereignishaftigkeit zu erhöhen.455 Während die zusammenfassenden Berichte Erwartungen wecken und Verbindungen herstellen, schaffen die literarisch gestalteten Szenen eine Primärillusion, die den Eindruck der Unmittelbarkeit verstärkt.456 Damit wird die Szene zu einem der wichtigsten Darstellungsmittel für die literarische Inszenierung Stalins. In ihr kommen erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung und simulieren eine (Real)Präsenz, die das Moment der narrativen Figurengestaltung verdeckt. Da in ihnen die Erzählerrede durch die Figurenrede ersetzt wird, kann sie die literarischen Figuren als autonom handelnde Subjekte zeigen. Sie werden aus der Vormundschaft ihres Erzählers entlassen und können als vermeintlich authentische Personen in den Verlauf der Handlung eingreifen.457 Die Szenen bilden damit ein ideales Forum, um die Figur Stalins darzustellen. Sie zeigen ihn in einer Reihe konkreter Aktionen, die sein historiographisch vorgeschriebenes Handeln dokumentieren. Sie werden durch den Schein einer (literarisch inszenierten) Anwesenheit unterstrichen und die Verfahren der szenisch gestalteten Wirklichkeit beglaubigt: «Опираясь на известные факты, надо было творчески раскрыть материал, чтобы создалось живое ощущение образа вождя, чтобы почувствовать его дыхание, интонации, человеческий характер. Толстому это удалось в большой степени.» (Čarnyj 1939, 84) Durch seine Kompositionsstruktur bewegt sich der Text zwischen Spannung und Anschaulichkeit und schafft dadurch eine Imagination, die unmittelbar auf das Leserbewußtsein wirken soll. Daß auch eine realistische Schreibweise Wahrnehmung verfremdet, zeigt Viktor Šklovskij in seinem Aufsatz über „Die Kunst als Verfahren“ anhand der Texte Lev Tolstojs. Denn erst die vom Realismus provozierte Nähe des Betrachters zum Geschehen stimuliert eine Wahrnehmung, deren Unmittelbarkeit die literarische Fiktion sichert.458 Damit erfüllt auch Хлеб den von Šklovskij geforderten AufVgl. hierzu auch Stscherbina 1954, 96, der in beinahe redundanten Formulierungen den gleichen Bezug herstellt. 455 Zur Funktion der szenischen Darstellung vgl. Genette 1994, 78f. sowie Lämmert 1967, 92f. und O’Neill 1994, 43. 456 Genette 1994, 78 und Lämmert 1967, 92. 457 Vgl. hierzu Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff., Bal 1985, 148f., Leibfried 1972, 243f. und O’Neill 1994, 59. 458 Šklovskij 1916, 17: „Das Verfahren der Verfremdung bei L. Tolstoj besteht darin, daß er einen Gegenstand nicht mit seinem Namen nennt, sondern ihn so beschreibt, als werde er zum ersten Mal gesehen, und einen Vorfall, als ob er sich zum ersten Mal ereigne [...].“ 454 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 86 trag der Literatur, „das Empfinden des Lebens wiederherzustellen“, „die Dinge zu fühlen“, „den Stein steinern zu machen“459 und dadurch die Wirklichkeitsillusion der Erzählung zu steigern. 2.7.4 Die Abwesenheit einer narrativen Instanz Ein weiteres Verfahren, mit dem die Illusion einer mimetischen Widerspiegelung in den Text eingetragen wird, ist das Verdecken der narrativen Instanz.460 Das Verschwinden des Aussage-Subjekts erhöht die Illusion einer objektiven semantischen Struktur, die allein im Hinblick auf das Erzählte organisiert zu sein scheint.461 Sie fingiert eine mimetische Objektivität, welche die Wahrscheinlichkeit des Erzählten erhöht und den Eindruck vermittelt, als erzähle sich die Geschichte selbst.462 Dazu werden alle graphischen Diskriminanten, die auf die Anwesenheit eines Erzählers verweisen, aus dem Text gelöscht.463 Das raum-zeitliche Koordinatensystem der Erzählung erscheint damit ebenso unvermittelt, wie die in ihr agierenden Charaktere.464 Sie werden durch keine im Text anwesende Erzählerstimme zueinander ins Verhältnis gesetzt, sondern unmittelbar aufeinander bezogen.465 Dadurch entsteht eine Verweisstruktur von Handlung und Figur, welche die literarischen Charaktere zu autonom handelnden Subjekten stilisiert. Sie emanzipieren sich aus der Imagination ihres Autors und agieren als reale Personen, die den Fortgang der historischen wie der literarischen Geschichte bestimmen:466 «Самые фигуры рядовых участников борьбы за Советскую власть не предстают теперь у Толстого в виде бегло и неясно обрисованных силуэтов. Люди из народа показываются им в повести выпукло и рельефно; писатель раскрывает их богатый внутренный мир, изображает рост их сознания.» (Alpatov 1955, 89) Vergleicht man die Erzählung mit anderen Bürgerkriegsromanen, stellt sich heraus, daß sowohl das fiktive Personal der Erzählung als auch die Darstellung Stalins typisiert sind und einem der Erzählung vorgängigen Stereotyp entsprechen. In der Erzählung Хлеб agieren demnach keine autonomen Subjekte, sondern zum Leben erweckte Klischees, Šklovskij 1916, 15. Vgl. hierzu Zeller 1987, 570ff., Mersereau 1973, 395, Genette 1994, 118 und Hamburger 1987, 121ff. 461 Doležel 1972, 383 sowie Genette 1994, 174ff. und Hamburger 1987, 123, die von einer aus sich selbst existierenden fiktiven Wirklichkeit spricht, die von ihrem Aussagesubjekt ebenso unabhängig zu sein scheint, wie die außerliterarische Wirklichkeit. 462 Booth 1974, Bd.1, 156 sowie Ricoeur 1991, Bd.3, 160 und Tomaševskij 1967, 157. 463 Vgl. hierzu Sławinski 1975, 98, der den literarischen Realismus durch das Verhüllen der Mittel zur Darstellung einer außersprachlichen Situation sowie das Fehlen graphischer Diskriminanten gekennzeichnet sieht. Genette 1994, 183 spricht in Anlehnung an die Terminologie Roland Barthes von Organisatoren des Diskurses, die in der realistischen Schreibtradition vermieden werden. Barthes 1968, 172ff., weist darauf hin, daß die Zeichen, die ausdrücklich auf den Akt des Aussagens verweisen, dazu tendieren, die historischen Ereignisse zu entchronologisieren und ihre Darstellung hinsichtlich ihrer Bedeutung zu organisieren. Wellek 1987, 425 bezeichnet die Unpersönlichkeit des Erzählten als eine der technischen Hauptforderungen der realistischen Romantheorie. 464 Zum fehlenden Aussagesubjekt fiktiver Texte vgl. Hamburger 1987, 72, die darin den Unterschied zwischen einer Wirklichkeitsaussage und der fiktionalen Aussage literarischer Texte sieht. 465 Zur Unterscheidung zwischen Texten mit einem Sprecher und Texten ohne einen Sprecher vgl. Doležel 1972, 380ff.. Er betrachtet den Sprecher als textimmanentes Strukturelement, mit dem eine jeweils andere Einstellung zu dem Erzählten hergestellt wird. In Anlehnung an die Klassifikation Jakobsons stellen lediglich die Texte mit einem Sprecher Sprechereignisse im ganz eigentlichen Sinn des Wortes her. Sprecherlose Texte, die ihre Aussageinstanz zu verbergen suchen, sind dagegen Sprechereignisse, die sich den erzählten Ereignissen anzunähern versuchen. 466 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 75, die das Verschwinden der Vermittlungsinstanz als wichtigste Voraussetzung dafür sieht, daß die literarischen Figuren sich zu fiktiven Ich-Origines entwickeln können. Zusammen mit dem Schauplatz und der Handlung stellen sie die gegenständliche Welt der Fiktionen dar: Červenka 1978, 124ff. 459 460 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 87 deren vermeintliche Individualität der Effekt einer literarisch vermittelten Identitätsstiftung ist: „Um Subjekte (‚Personen’ und ‚Helden’) zu produzieren, muß man sie [...] den ‚Objekten’, d.h. den Dingen, gegenüberstellen, muß man sie in und gegen eine Welt von ‚wirklichen’ Dingen stellen, womöglich außerhalb, aber immer in Beziehung zu ihnen. Der Realismuseffekt ist also die Basis dieser Anrufung, die die Figuren oder einfach die Diskurse ‚lebendig’ macht, die Leser herausfordert, für die literarischen Konflikte ebenso Partei zu ergreifen, wie für die wirklichen, wenn auch mit dem bekanntermaßen geringeren Risiko.“ (Balibar/Macherey 1974, 216) Die durch keine Erzählerstimme vermittelte Projektion von Handlung und Figur erlaubt es Tolstoj am Ende auch, die Person Stalins zum autonom handelnden Subjekt zu stilisieren und seine Person so in den Handlungsverlauf der Erzählung einzubauen, daß Stalin durch seine Entscheidungen unmittelbar in das historische Geschehen eingreifen kann: «В повести показано, как действует великая сила сталинского руководства. В короткое время положение в Царицыне коренным образом меняется. Наступает перелом во всех сферах жизни. [...] Сталин укрепил оборону города, объединил разрозненные отряды в могучую боевую силу, создав новую 10-ю армию под командованием К.Е. Ворошилова. Повесть заканчивается описанием разгрома белогвардейских войск, осуществлённого под непосредственным руководством Сталина.» (Čeremin 1950, 12) Das unvermittelte Nebeneinander von Figurenrolle und Handlung wird so zur literarischen Notwendigkeit, um die Person Stalins als historisches Subjekt zeigen zu können, dessen Identität keine literarisch vermittelte, sondern eine historisch verbürgte ist. A. Gurštejn schreibt in seiner 1938 erschienenen Rezension über die Rolle Stalins: «[...] преоделевая все препятствия, организуя, руководя и воодушевляя, Сталин решает жизненную проблему революции, проблему обороны и хлеба. Речь шла о спасении революции, - революция была спасена.» (Gurštejn 1938, 239) Nur so kann sichergestellt werden, daß die Figur Stalins als authentische Person in die Erzählung eingeht und durch keine Erzählerstimme in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt wird. Dadurch kann die Erzählung verdecken, daß die von ihr geschaffene Figur ‚Stalin’ nur eine mediale Rekonstruktion ist, die durch die Techniken der literarischen Fiktion in Szene gesetzt wird. In der Erzählung fällt die Formensprache realistischer und historischer Romane zusammen. Wie Hans Vilmar Geppert in seiner Arbeit über die literaturgeschichtliche Entwicklung des historischen Romans zeigt, beruht die Fiktion der traditionellen historischen Romane ebenfalls im wesentlichen auf dem Verdecken der Autorinstanz. Er bezeichnet diesen Prozeß als illusionäre Schließung der sprachlichen Entwerfungs- und Darstellungsfunktion, die zu der Vorstellung eines souveränen Erzählvorgangs führt.467 Mit dem Ausschalten des Aussagesubjekts wird der direkte Bezug zum Leser abgeschwächt. Er wird durch eine Darstellungsfunktion überlagert, die weniger auf den kommunikativen als den demonstrativen Akt des Erzählens ausgerichtet ist.468 2.7.5 Abstrakter Erzähler Das Verschwinden der narrativen Instanz wird auf der formalen Ebene des Textes durch einen abstrakten Erzähler realisiert, der außerhalb der Grenzen der von ihm erGeppert 1976, 148ff. Vgl. hierzu Doležel 1972, 383 sowie Jakobson 1981, 26, der in seiner linguistischen Analyse literarischer Texte ebenfalls darauf verweist, daß die epische Dichtung stärker auf die referentielle Funktion der Sprache ausgerichtet ist, als die lyrische. 467 468 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 88 zählten Welt steht und die dargestellten Ereignisse von einer im Text nicht markierten Position aus darlegt.469 Als narrative Instanz, die an den Ereignissen nicht beteiligt ist, nimmt er eine beobachtende Erzählhaltung ein, die das dargestellte Geschehen von allen Anzeichen einer subjektiven Stimme befreit.470 Da die Funktion des abstrakten Erzählers vor allem darin besteht, die narrativen Elemente der Erzählung zueinander ins Verhältnis zu setzen, ohne selbst in Erscheinung zu treten, bleibt seine formale Identität auf den Funktionszusammenhang narrativer Instanzen beschränkt.471 Dadurch entsteht der Eindruck einer objektiven Darstellung, die das beschriebene Geschehen von dem Verdacht einer subjektiven Wahrnehmung befreit.472 Da jedoch auch die Wirklichkeitsillusion realistischer Texte narrativ vermittelt ist, ist die Inszenierung eines abstrakten Erzählers eine weitere literarische Fiktion. Auch der formal nicht markierte Erzähler fungiert als narrative Instanz, die das Dargestellte deutet und perspektiviert. Ihm kommt die Aufgabe zu, zwischen Erzähltem und Erzählung zu vermitteln und sowohl den Umfang als auch die Anordnung der literarischen Komposition zu regulieren.473 Seine Anwesenheit läßt sich in der Erzählung Tolstojs an einer Reihe kommentierender Adjektive und Vergleiche ablesen, die das Dargestellte im Erzählertext werten.474 Sie dienen nicht nur dazu, die Bedeutsamkeit der jeweiligen Ereignisse zu erhöhen und die Intensität des Dargestellten zu steigern,475 sondern stellen zugleich den Versuch dar, den Ermessensspielraum des Lesers einzuschränken und seine Rezeption zu steuern.476 Genette spricht in Anlehnung an die von Roman Jakobson entwickelten Funktionen des literarischen Kunstwerks von einer ideologischen Funktion, die den Rezeptionsprozeß der Erzählung lenkt.477 Die Möglichkeit der Erzählung, im Erzählertext manipulativ in den Wahrnehmungsprozeß einzugreifen, kann so als Versuch gelesen werden, die Übereinstimmung von literarischer Fiktion und historischen Fakten abzusichern. Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 142, der zwischen einem abstrakten und einem konkreten Erzähler unterscheidet. Doležel 1972, 386 spricht in diesem Fall von einem objektiven Erzähler, während Booth 1974, Bd.1, 156 den abstrakten Erzähler als verborgenen Erzähler bezeichnet. Bal unterscheidet in ihrer Narratologie zwischen einem externen und einem Charakter-gebundenen Erzähler: Bal 1985, 122. Genette differenziert zwischen einem an- und einem abwesenden Erzähler: Genette 1994, 174ff. 470 Doležel 1972, 382 spricht in diesem Zusammenhang von einer „neutralen ‚Null’-Person“, die ihren formalen Ausdruck in der grammatischen Form der dritten Person findet. Vgl. hierzu auch Booth 1974, Bd.1, 158. 471 Zwischen dem Erzählen und dem Erzählten besteht damit kein Relations- oder Aussageverhältnis, sondern eine Funktionszusammenhang: vgl. hierzu Hamburger 1987, 123. 472 Boris Tomaševskij stellt einen ganz unmittelbaren Zusammenhang zwischen abstrakter Erzählerstimme und objektiver Erzählung her: «Рассказчик бывает различен: или повествование ведется объективно, от автора, как простое сообщение, без объяснения, каким образом эти события стали известны (отвлеченный рассказ), или от имени рассказчика, как некоторого конкретного лица.» (Tomaševskij 1967, 141) Vgl. hierzu auch Barthes 1968, 175 sowie Doležel 1972, 386f., der die objektive Erzählung als sprecherlose Erzählung definiert, die keinerlei Hinweis auf ihr Aussagesubjekt erkennen läßt. 473 Vgl. hierzu Veldhues 1997, 48 sowie Genette 1994, 183ff., Lotman 1973, 19ff. und Lämmert 1967, 32ff. 474 Daß damit die Illusion der objektiven Erzählung nicht aufgehoben ist, zeigt Doležel 1972, 387, für den wertende Adjektive ein traditionelles episches Klischee repräsentieren, das der Erzählung ein episches Kolorit verleiht, ohne den Grundcharakter der objektiven Erzählung zu verändern. 475 Booth 1974, Bd.1, 199ff. 476 Vgl. hierzu Booth 1974, Bd.1, 187ff. 477 Genette 1994, 184. 469 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 89 2.7.6 Nachträglich fingierte Handlungsgegenwart Durch das Verdecken der narrativen Instanz wird das Raum-Zeit-Gefüge der Erzählung Tolstojs nicht auf die Position des Erzählers, sondern auf die fiktive Gegenwart der in ihr geschilderten Figuren bezogen.478 Das Hier und Jetzt der Erzählung wird zum Hier und Jetzt ihrer Gestalten.479 Dadurch entsteht ein Fiktionsraum, der die literarischen Figuren in einem Ereignisfeld positioniert, in dem ihr Handeln als vermeintlich authentisches vorgeführt werden kann. Nur, wenn die vermittelnde Funktion der narrativen Instanz in den Hintergrund tritt, kann die Illusion einer unmittelbar erlebten Wirklichkeit entstehen, in der die literarischen Charaktere als Subjekte ihrer eigenen Geschichte auftreten:480 „It is quite naturally under the heading of mode that, according to Käthe Hamburger (1957), most of the characteristic textual indices of fictional narrative are concentrated, for all of these ‘symptoms’ point to the same specific trait, that of direct access to the subjectivity of characters. This relationship, incidentally, resolves the paradox of a poetics which, while returning to the essentially Aristotelian definition of literature in terms of fictionality, proposes an apparently formalist definition of fiction: for the features of fictional narrative are surely of a morphological order, but these features are only effects, the cause of which is the fictional status of the narrative, that is, the imaginary status of the characters who constitute its ‘I-origo’. If it is true that fictional narrative alone can give us direct access to the subjectivity of the other, this is not due to some miraculous privilege, but because this other is a fictional being (or is treated as fictional, in the case of a historical character, such as Napoleon in War and Peace), whose thoughts the author imagines whenever he pretends to report them: one intuits with complete certainty only what one has invented oneself.” (Genette 1990, 761f.) Die Vorstellung einer nachträglich fingierten Handlungsgegenwart wird durch die Zeitform der Erzählung unterstrichen. Das epische Präteritum, das Tolstoj in seiner Erzählung verwendet, dient gerade nicht dazu, das Erzählte in seiner imaginären Vergangenheit darzustellen. Wie Käthe Hamburger in ihrer Abhandlung über die Logik der Dichtung zeigt, verliert das Präteritum in der epischen Erzählung seine grammatische Funktion und fungiert stattdessen als Signal, mit dem die fiktionale Identität des Erzählten angezeigt wird. Wichtigstes Indiz hierfür ist die Tatsache, daß in der literarischen Erzählung deiktische Zeitadverbien mit Vergangenheitsformen des Verbs verbunden werden können, die eigentlich in den Zeitformen der Gegenwart oder Zukunft abgefaßt sein müßten.481 Während die Vergangenheitsform normalerweise die Vorgängigkeit des Erzählten anzeigt, imaginieren die Zeitadverbien ein relationales Zeitgefüge, das sich auf die Handlungsgegenwart der dargestellten Ereignisse bezieht und einen Zeitvektor vergegenwärtigt, der den Akt des Erzählens ausblendet.482 In der Form des epischen Präteritums überlagern sich also zwei Erzählperspektiven: die des Erzählten und die des Erzählens.483 Ist die Ebene des Erzählens in der Erzählung nicht markiert, indiziert das Präteritum eine Vergangenheit, deren Handlungsgegenwart sie im Prozeß des Erzählens darzustellen sucht: „Der Epiker stellt als vergangen dar; er muß aber auch als gegenwärtig darstellen, bzw. er muß ver- Zu diesem grundlegenden Unterschied zwischen Wirklichkeitsaussage und literarischer Fiktion vgl. Hamburger 1987, 62. 479 Hamburger 1987, 76 sowie Cohn 1990, 785ff. und Genette 1990, 761ff. 480 Zu dem Zusammenhang von Erzählsituation und Wirklichkeitsbezug vgl. auch Lämmert, der darauf hinweist, daß abstraktes und konkretes Erzählen einen jeweils unterschiedlichen Darstellungsgegenstand konstituieren: „Im ersten Fall schafft der Dichter die Illusion einer unmittelbar erlebten Wirklichkeit des Erzählten, im zweiten gibt er es ausdrücklich als Erzähltes aus.“ (Lämmert 1967, 69) 481 Hamburger 1987, 64ff. sowie Barthes 1982, 38ff. 482 Vgl. hierzu Leibfried 1972, 251ff. sowie Genette 1994, 245ff. 483 Leibfried 1972, 249ff. sowie Genette 1994, 151ff. und Ricoeur 1991, Bd.3, 307f. 478 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 90 gegenwärtigen, als jetzt geschehend schildern. Das typische Tempus der Fiktion ist daher – paradox formuliert – vergangen-gegenwärtig. Ich erlebe etwas Vergangenes als jetzt Geschehendes, manieristisch formuliert: etwas Geschehenes als Geschehendes.“ (Leibfried 1972, 251) So weisen auch in der Erzählung Tolstojs Konstruktionen wie «сегодня он опять начал уговаривать» (Tolstoj Chleb 1937, 33) oder «действительно, нельзя было терять ни минуты» (Tolstoj Chleb 1937, 38) daraufhin, daß die Vergangenheitsform der Erzählung nicht allein dazu dient, die in ihr geschaffene Fiktion im historischen Kontext der Geschichte zu verankern, sondern darüber hinaus versucht, die historische Fiktion im virtuellen Gedächtnis ihrer Leser zu verlebendigen.484 Erst dadurch ist es möglich, die Darstellung der literarischen Gestalten aus dem Objekt-Status der historischen Geschichtsschreibung zu befreien und als Subjekte ihrer eigenen Vergangenheit darzustellen. Die Paradoxie einer Zeitform, die das Vergangene vergegenwärtigt, erlaubt es am Ende dann auch, das Handeln Stalins in den Kontext der sowjetischen Geschichte zu integrieren und über die Darstellung einer nachträglich fingierten Handlungsgegenwart zu verifizieren. Damit schafft die Erzählung einen Fiktionsraum, dessen temporale Ordnung die Eindimensionalität des historischen Diskurses sprengt und die Verteidigung Caricyns in ihrer vergangenen Gegenwärtigkeit aktualisiert: «В салон-вагоне повсюду – на стульях, на столе, на полу – лежали куски материй, образцы железа, скобяных изделий, папки с бумагами, кучки зерна, газеты, рукописи. У опущенного окна за назеньким столиком сидела машинистка, тоненькие пальцы ее лежали на шрифте. За окном было чисто вымытенное вокзальное поле, где вдали сходились полосы рельсов. [...] Сталин диктовал. [...]. Диктуя, он перелистывал стенограммы.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) 2.7.7 Realistische Motivierung der literarischen Fiktion Ein weiteres Verfahren zur Authentifizierung des Dargestellten ist die konsequente Motivierung der einzelnen Handlungselemente. Sie erscheinen als selbstverständliche Abfolge einer im Text beschriebenen Vergangenheit. Mit dieser Art der Motivierung greift Tolstoj auf ein literarisches Verfahren zurück, das zu den zentralen Merkmalen realistischer Literatur gehört. Es handelt sich um ein Stilmittel, das Boris Tomaševskij als realistische Motivierung der literarischen Fiktion bezeichnet.485 Diese Motivierung erzeugt eine Wirklichkeitsillusion, die darauf beruht, daß jedes Motiv in der dargestellten Situation begründet ist und als wahrscheinliches erscheinen muß.486 Die Bedeutung einer realistisch motivierten Sujetkonstruktion besteht demnach darin, die Kausalzusammenhänge des Erzählten im binnensemantischen Kontext der Erzählung abzusichern.487 Die Zur Gedächtnisfunktion der Erzählung vgl. Tolstoj 1936d, 514: «Советский читатель на 70-75 процентов стостоит из молодежи, которая плохо знает историю революции и гражданской войны. Поэтому первые две главы предстaвляют собой историческую концепцию.» 485 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 144ff., der zwischen einer realistischen, einer kompositorischen und einer ästhetischen Motivation der Fabel unterscheidet. Roman Jakobson nimmt dieses Verfahren als Punkt E in seine Definition des künstlerischen Realismus auf: „Die konsequente Motivierung, die Rechtfertigung von poetischen Konstruktionen, wird zuweilen ebenfalls als Realismus bezeichnet. [...] Einen derartigen Realismus, d.h. die Forderung nach konsequenter Motivierung, nach Realisierung der poetischen Verfahren wollen wir mit E bezeichnen.“ (Jakobson 1921, 389f.) 486 Vgl. hierzu Mersereau 1973, 414, der über die Motivierung realistischer Texte schreibt „To create a ‚real’ world through the agency of fiction, the Realist author was very concerned with motivating, or justifying, all elements of his story. Plot events must occur in accord with logical cause and effect relationships, characters must behave in a comprehensible manner, there must be a correlation between their social circumstances, education, and manner of expression, even their names must be typical for their class.“ 487 Vgl. hierzu Zeller 1987, 576ff. sowie Tomaševskij 1967, 150, Tschižewskij 1967, 13 und Mersereau 484 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 91 realistische Motivierung der einzelnen Handlungselemente ist so der Versuch, die Differenz zwischen Text und Wirklichkeit zu verdecken und die Regeln der Erzählung als Regeln der Wirklichkeit zu interpretieren.488 Das Erzählte erscheint damit nicht als Effekt eines reglementierten Erzählvorgangs, sondern wird zur Repräsentation eines selbstverständlich angenommenen Realen. In der so hergestellten Kontinuität der Ereignisse können dann auch offensichtlich märchenhafte Sujetelemente als Widerspiegelung einer faktischen Vergangenheit gezeigt werden. Beispiele hierfür sind die Errichtung einer neuen Brücke über den Don in nur drei Wochen sowie die Unverletzlichkeit des zum epischen Helden avancierten Stalin: «Партии рабочих потянулись к Дону. Мост начал расти на глазах. На забученный котлован укладывали клетки из бревен и шпал, скрепляя их железом, заполняя внутри камнем. Вся опастность гаилась в высоте этих деревянных устоев, - при малейшем отклонении от вертикали они рухнули бы под тяжестью поездов. Но недаром говорил Ворошилов, что материал подчиняется революции, - этот мост был ее творческим строительством, это был мост в будущее. В конце третьей недели устои поднялись на всю высоту пятидесяти четырех метров.» (Tolstoj Chleb 1937, 137) «Ворошилов снял с плеча карабин. И они, обогнув станцию, пошли держась в стороне от полотна. Пулями здесь достать их было трудно, все же не одна пуля просвистела над головой. Сталин шел все так же, спокойно, постукивая палочкой. Ворошилов с тревогой поглядывал то на него, то в сторону далекого кургана. Вдруг там над гребнем взвился желтый дымок, прошипел снаряд, раскатился орудийный выстрел. – Идиоты! – крикнул Ворошилов. - Из орудия – по отдельным точкам, идиоты!.. Они шли, не ускоряя шага. Через минуту снаряд поднял вихрь земли позади них. Выемка, где стоял невидимый отсюда бронепоезд, была еще далеко. Следующий снаряд пазорвался впереди них. – Для казаков – стрельба не слишком плохая, сказал Ворошилов.» (Tolstoj Chleb 1937, 148f.) Durch die konsequente Motivierung erscheinen diese und andere Textstellen nicht als literarisch bearbeitete Wirklichkeitsillusion, sondern als Heldentaten, die den revolutionären Enthusiasmus der Figuren dokumentieren. Ihre Phantastik erscheint als Potential des Wirklichen, das in der Erzählung lediglich widergespiegelt werden muß.489 In der 1955 erschienenen Rezension von Jurij Alpatov heißt es: «А. Толстой рассказывает, как из разрозненных и слабых полупартизанских отрядов разбитой Украинской армии создавались красные полки с железной дисциплиной как, несмотря на перевес врага в технике и численном составе, красные части бьют его и отгоняют от Царицына. Одним из таких 'чудес' было неслыханное по быстроте темпов, по напряженности работы восстановление красными частями взорванного моста через Дон, о котором рассказывается в одиннадцатой главе повести.» (Alpatov 1955, 89) Die Illusion des Faktischen wird so durch einen ästhetischen Effekt unterstützt, der ihre Macht verstärken soll. Da die Emotionalisierung bzw. Poetisierung des Erzählten jedoch ebenfalls nur das Ergebnis einer sekundär semantischen Textoperation ist, die die darge1973, 395. Červenka spricht von der gegenständlichen Motivation literarischer Texte, in die er jedoch auch narrative Bedeutungskomplexe wie die Eigenschaften des Erzählers oder die Umstände der Erzählung mit einbezieht: Červenka 1978, 159f. 488 Zeller 1987, 546ff. sowie Tomaševskij 1967, 146ff. 489 Damit übernimmt die Erzählung ein Sujetelement, das zum Standardrepertoire sozialistisch-realistischer Romane gehört: vgl. hierzu Clark 1985, 46ff. und 159ff. sowie Dobrenko 1993, 40: «В инварианте все соцреалистические герои обладают неизменной способностью к совершению чудес. Сами эти чудеса воспринимаются в этом мире как реальность-подвиг. В подвиге героя рeализуется 'волевое начало' культуры [...] – этот герой вечно молод, принципиально не стареющ, как и его подвиг [...], и вечно жив.» Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 92 stellten Ereignisse in die Schablonen tradierter epischer Erzählformen einfügt, erscheint auch die realistische Motivierung der Erzählung als poetisches Verfahren, das die Referenzillusion der Erzählung erhöht und die Literarizität des Textes leugnet.490 Sie verdeckt die rein funktionale Begründung der einzelnen Sujetelemente und verschleiert damit die Tatsache, daß es sich bei der Erzählung um eine nachträglich geschaffene Wirklichkeitsfiktion handelt. Deren scheinbar realistische Verweisstruktur ist aber ebenfalls nur ein Effekt des Realen. 2.7.8 Kontingente Details Die Disposition für eine realistische Lektüre ist im Text selbst angelegt. Sie beruht auf einem Mechanismus der Identität, der durch die Verfahren der realistischen Literatur in den Text eingetragen wird. Ihre wichtigste Funktion ist es, die Literarizität des Erzählten zu verdecken und stattdessen eine Verweisstruktur zu fingieren, die Text und Wirklichkeit unmittelbar aufeinander abbildet. Ein Verfahren, mit dessen Hilfe die Erzählung ihre Literarizität verdeckt, besteht darin, Sujetelemente zu verknüpfen, die für den Verlauf der Handlung unwichtig sind.491 Die detailgenaue Schilderung von Orten, Gegenständen oder Personen erzeugt den Eindruck einer kontinuierlichen Verbindung von Text und Wirklichkeit, die sich an die Alltagserfahrung der Leser anschließt und auf diese Art und Weise die Glaubwürdigkeit der Fiktion erhöht.492 Sie erscheinen als natürliche Angaben, die dem Wahrscheinlichkeitsgebot der literarischen Fiktion folgen und als literarisch nicht markierte Sujetelemente die außerliterarische Wirklichkeit repräsentieren.493 Die Verwendung kontingenter Details kompensiert den Realitätsverlust der Texte und unterstreicht dadurch die in ihnen geschaffene Wirklichkeitsillusion. Sie bauen die einzelnen Szenen zu einem vollständigen Bild der Wirklichkeit aus und fingieren eine Materialität, deren Zufälligkeit und Desorganisation die im Text verdichtete Vergangenheit authentifiziert. Die in den einzelnen Szenen versammelten Details fingieren die Anwesenheit vermeintlich authentischer Objekte, die sie in ihrer historisch überlieferten Anordnung widerspiegeln. Durch sie entsteht eine Mimesis-Illusion, deren Nachahmung in erster Linie auf der Referenzfunktion der Zeichen beruht.494 Da das Reale selbst jedoch keine Verweisstrukturen besitzt, erhalten sie erst im sekundär semantischen System der literarischen Erzählung Bedeutung. Sie repräsentieren dort eine nachträglich fingierte Wirklichkeit, die sich aus der Summe ihrer Details zusammensetzt. So simulieren die Details die Widerspiegelung einer Wirklichkeit, die sie selbst überhaupt erst schaffen: «Другой пешеход, поколесив глубокими тропинками мимо вымерших особняков, постучался на черном ходу в одну из дверей. Вошел в комнату с лепным потолком. Внутри закутанной люстры светила лампочка сквозь пыльную марлю. На паркете потрескивала железная печка с коленом в фортку. С боков печки на койках лежали в рваных шерстяных носках и жеваных гимнастерках штабс-капитан дадцати лет и подполковник двадцати двух лет. Оба читали 'Рокамболя'. Семнадцать томов этих замечательных приключений валялись по полу.» (Tolstoj Chleb 1937, 26) Tomaševskij 1967, 150. Barthes 1968a, 87f. sowie Jakobson 1921, 385f. 492 Vgl. hierzu Genette 1994, 117f. sowie Tschižewskij 1967, 10f. 493 Vgl. hierzu Aust 1977, 24 f. und Hamon 1973, 441f. 494 Genette 1994, 118. O’Neill 1994, 36 sieht den Referenzbezug literarischer Texte durch die Homologie zwischen der literarischen und der außerliterarischen Zeichenverwendung gewährleistet. 490 491 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 93 2.8 Literarische Wirklichkeitsillusion 2.8.1 Wirklichkeitsillusion durch metonymische Repräsentation Die Wirklichkeitsillusion realistischer Erzählprosa geht auf ein metonymisches Abbildungsverhältnis zurück, das den Eindruck erweckt, als könne der Text an die Stelle des von ihm repräsentierten Wirklichkeitsausschnitts treten.495 Während metonymische Ersetzungen in der traditionellen Rhetorik dazu dienen, den sprachlichen Ausdruck der Rede zu variieren, konstituieren sie im Kontext der realistischen Literaturtheorie ein Abbildungsverhältnis, das die Kontinuität von literarischer und nicht-literarischer Wirklichkeit fingiert.496 Die metonymische Repräsentation bezeichnet demnach eine Kombination diskreter Zeichen, deren Auslassungen die Kontingenz der faktischen Realität imitiert und den darzustellenden Gegenstand in seiner literarischen Verdoppelung vergegenwärtigt.497 Roman Jakobson nimmt diese Funktion als Bedeutung D in seine Definition des künstlerischen Realismus auf. Für ihn bedeutet Metonymie eine Verdichtung des Erzählten mit Hilfe von Bildern, die aufgrund ihrer Korrespondenz mit der nicht-literarischen Wirklichkeit herangezogen werden. Sie repräsentieren die darzustellende Realität durch eine Aneinanderreihung ihrer Teilaspekte.498 Dadurch wird der Blick auch in der Erzählung Tolstojs auf eine teilbare und wiedererkennbare Welt gelenkt, deren Versatzstücke die Präsenz einer außerliterarischen Wirklichkeit antizipieren. Erst durch die qualitative Teilhabe an der außerliterarischen Wirklichkeit, die von der metonymischen Repräsentation behauptet wird, können sie zum Bild einer Vergangenheit ausgebaut werden, deren Überlieferung durch die programmatisch geforderte Widerspiegelung dann als faktische Wirklichkeit deklariert wird. Wie Dmitrij Tschižewskij in seiner Arbeit über den russischen Realismus des 19. Jahrhunderts zeigt, geht mit der metonymischen Darstellung zugleich eine Absage an die Existenz verschiedener Seinssphären einher.499 Metonymische Repräsentation ist so nicht zuletzt der Ausdruck einer eindimensionalen Wirklichkeitskonstruktion, aus der alle konkurrierenden Wirklichkeitserfahrungen ausgegrenzt sind.500 Nur so kann Tolstoj Mit dem Begriff der Metonymie wird eine Übertragungsweise bezeichnet, in der der dargestellte Gegenstand durch eine Bezeichnung ersetzt wird, die mit dem gemeinten nicht nur in einer begrifflichen, sondern in einer materiellen Beziehung steht. Jakobson 1971, 255 schreibt über das metonymische Repräsentationsverhältnis realistischer Texte: „The primacy of the metaphoric process in the literary school of romanticism and symbolism has been repeatedly acknowledged, but it is still insufficiently realized that it is the predominance of metonymy which underlies and actually predetermines the so-called ‚realistic’ trend […].“ Zur metonymischen Repräsentation vgl. auch Schlüter 1991, 33f. sowie Lodge 1977, 75f. und Tomaševskij 1967, 89ff. 496 Im Unterschied zur Metapher bezieht sich die metonymische Ersetzung dabei nicht auf die paradigmatische sondern auf die syntagmatische Achse der Erzählung. Sie wird als Verfahren beschrieben, bei dem das Prinzip der Ähnlichkeit von der Selektion auf die Kombination literarischer Zeichen verschoben wird: vgl. hierzu Jakobson 1981, 27f. sowie Lodge 1977, 76. 497 Lodge 1977, 94f. 498 Jakobson 1921, 385ff. Diese Verdichtung wird, so Jakobson, gegen die Intrige verwirklicht und führt zu einer Beschreibung des Dargestellten, in der die Wiedererkennbarkeit der Wirklichkeit über den Fortgang der Handlung dominiert. 499 Tschižewskij 1967, 11f. 500 Wosdwishenski 1991, 261 bestätigt diese Vereinheitlichung der Wirklichkeit, wenn er in seiner Analyse der sowjetischen Literatur schreibt: „In der Optik der Schriftsteller der dreißiger Jahre erschien die Wirklichkeit zunehmend eindimensional – zu sehen war nur der Aufbau der neuen Welt mit seinen Voraussetzungen in der Vergangenheit, seiner Heroik in der Gegenwart und seinen Perspektiven in der Zukunft.“ 495 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 94 eine Wirklichkeit abbilden, die dem Anspruch nachkommt, die historische Wahrheit zu zeigen: «Мастер классической литературы оставили нам образцы батальной живописи, и у них А. Толстой научился тому, что война – трудное и кровавое дело. Его батальные сцены весьма далеки от сусальных 'ура'-изображений и ложного пафоса. Писатель правдиво изображает борьбу человеческих чувств перед грозным лицом смерти.» (Gurštejn 1938, 260) 2.8.2 Wirklichkeitsillusion durch Orts- und Zeitangaben Die in der Erzählung verwendeten Orts- und Zeitangaben stellen ein weiteres Verfahren dar, das die Wirklichkeitsillusion des Textes steigert. Sie fungieren als „Geschichtssignale“501, welche die Authentizität des Dargestellten belegen und im Kontext der historischen Ereignisse verorten.502 Sie erscheinen als referentialisierende Ausdrücke, welche die historischen Ereignisse in den Text der Erzählung übertragen und in die chronologische Ordnung der sowjetischen Geschichtsschreibung einfügen.503 Da die Orts- und Zeitangaben der Erzählung nicht nur ein textinternes Koordinatensystem etablieren, sondern sowohl den Ort als auch die Zeit der Handlung mit einer scheinbar authentischen Vergangenheit identifizieren, erzeugen sie eine Referenzillusion, die die Erzählung im historischen Raum des Erzählten positioniert. Dadurch, daß sie literarische und nicht-literarische Handlung gleichsetzen, entsteht ein Raum-ZeitKontinuum, das die textimmanente Verweisstruktur der Erzählung objektiviert und unabhängig vom Kontext der Erzählung verifiziert.504 Die expliziten Orts- und Zeitangaben konstituieren so einen Handlungsraum, der die Schauplätze der Erzählung an die Schauplätze der Geschichte angleicht und auf diese Art und Weise die Übereinstimmung von Text und Wirklichkeit fingiert.505 Die Verwendung historisch verbürgter Namen und Daten kann so als literarisches Verfahren qualifiziert werden, mit dessen Hilfe Tolstoj die literarische Fiktion seiner Erzählung absichert und im Kontext der sowjetischen Geschichtsschreibung verankert. Die Beschreibung der Innenräume macht die sekundär fiktionalisierte Wirklichkeit der Orts- und Zeitangaben deutlich. Sie folgt einem vorgeordneten Darstellungsgebot, das die überlieferten Schauplätze in sekundär semantische Konstruktionen verwandelt. Die Raumkonzeptionen der Erzählung weisen große Ähnlichkeit mit ihrer Darstellung in Plakaten, Bildern oder dem Film auf. Sie repräsentieren damit eine Topographie, deren Authentizität weniger in den tatsächlichen Schauplätzen als in der Redundanz ihrer medialen Ikonographie begründet ist. Durch ihre gegenseitige Bespiegelung werden sie zu wiedererkennbaren Tatorten, die aus dem medialen Diskurs auf die tatsächlichen Schauplätze übertragen werden.506 Darstellungsgegenstand ist damit nicht die faktische Realität der historischen Räume, sondern ihre medial erzeugte Wirklichkeit. Am deutlichsten Aust 1994, 22. Vgl. hierzu Gabriel 1975, 17ff. sowie Tomaševskij 1967, 144 und Searle 1992, 44f., der Angaben von Ort und Zeit unter die Kategorie der hinweisenden Ausdrücke faßt, die dazu dienen, ein Objekt oder einen Gegenstand, auf den sich der Text (beziehungsweise sein Sprecher) bezieht, eindeutig zu identifizieren. 503 Zur Identifikationsfunktion referentialisierender Aussagen vgl. Searle 1992, 114ff. 504 Vgl. hierzu noch einmal Gabriel 1975, 19f., der zwischen einer kontextgebundenen und einer kontextunabhängigen Referenzstruktur der Orts- und Zeitangaben unterscheidet. 505 Vgl. hierzu Ricoeur 1991, Bd.3, 165ff. sowie Aust 1977, 24 und Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff. 506 Papernyj spricht von einer Hierarchie der Räume, die das mythische Weltbild der sowjetischen Kultur konstituiert: Papernyj 1985, 130f. 501 502 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 95 läßt sich dies an den Szenen nachweisen, die Lenins Arbeitszimmer im Smol’nyj zum Schauplatz haben. Nicht nur die Beschreibung des Interieurs, auch die Darstellung Lenins selbst ist durch kanonische Vorgaben bestimmt. Dabei reicht allein die Bezeichnung des Schauplatzes, um eine vorgefertigte Imagination seines Arbeitszimmers abzurufen und die räumliche Gestaltung der Szene vorzugeben. Die metonymische Repräsentation bezieht sich so nicht auf ein Abbildungsverhältnis von Text und Wirklichkeit, sondern auf ein intermediales Repräsentationsverhältnis, das die medial erzeugte Realität an die Stelle der faktischen Vergangenheit setzt: «Всю ночь мокрый снег лепил в большие окна. За приоткрытой дверью постукивал телеграфный аппарат. Ленин, понимая голову от бумаг, спрашивал: 'Чу?' За дерью отвечали негромко: 'Есть.' Он озабочено шел к аппарату. Телеграфист, жмуря глаз от едкой махорки, подавал ленту. [...] Владимир Ильич читал, читал и нос его собирался ироническими морщин-ками. [...] Владимир Ильич вернулся к письменому столу. Бессонными ночами, под мрачную музыку ночного ветра, между телефонными звонками, разговорами по прямому проводу, чтением бумаг, писем, стенограмм – он обдумывал статью, где хотел сосредоточить революционное возбуждение товарищей, на действительно грандиозных по замыслу, но реальных, неимоверно трудных, но достижимых задачах построения социалистического отечества. [...] [С]оциализм был для него так же реален и близок, как свет рабочей лампы, падающий на лест бумаги, по которому торопливо – с брызгами чернил – бежало его перо...» (Tolstoj Chleb 1937, 36) Grabar’, I.Ė, V.I. Lenin am Telegrafen (19271933) Ähnlich stereotyp ist die Darstellung der Räume, in denen die Arbeiterversammlungen stattfinden. Auch sie lehnen sich an eine Ikonographie an, die durch die bildende Kunst verdoppelt wird und eine vermeintlich authentische Topographie simulieren: «Клубы дыма от двух жарких костров застилали колонны Таврического дворца. Топая валенками, похлопывая варежками, похаживала у входа вооруженная стража. Тускло горел свет. В вестибюлях – ледяная мгла. В большом зале заседал Третий всероссийский съезд советов. На скамьях, раскинутых амфитеатром, было тесно, шумно – солдатские шинели фронтовников, полушубки, ушастые шапки и ватные крутки рабочих. Под стеклянным потолком огормного зала – пар, полусвет...» (Tolstoj Chleb 1937, 27) Samochvalov, A.N., V.I. Lenin tritt auf dem II. Allrussischen Sowejtkongreß auf (1940) Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 96 Im Gegensatz dazu weisen die Räume der Bourgeoisie und der konterrevolutionären Generäle alle Anzeichen von dekadentem Luxus auf. Sie symbolisieren die verantwortungslose Verschwendungssucht des Bürgertums und die politische Verantwortungslosigkeit ihrer kapitalistischen Machtinteressen.507 Damit kommt den Räumen eine Bedeutung zu, die die Ereignisse nicht nur im kanonischen Kontext der offiziellen Geschichtsschreibung verortet, sondern den jeweils dargestellten Wirklichkeitsausschnitt symbolisch überhöht.508 Diese doppelte Funktion zeigt sich auch an der Auswahl der Schauplätze. Sowohl der Smol’nyj als auch der Kreml’ und Caricyn sind Räume, die mit der Biographie Stalins unlösbar verbunden sind. Raum und Zeit der Handlung sind so Elemente einer legendären Überlieferung deren Auswahl durch die Hagiographie des Stalinkultes vorgegeben ist. Brodskij, I.I., Portrait von J.W. Stalin (1937) Govorkov, V., Stalin im Kreml kümmert sich um uns alle (1940) 2.8.3 Wirklichkeitsillusion durch Sprache und Stilebenen Indem sie die außerliterarische Sprachnorm in den literarischen Text überträgt, erscheint die realistische Erzählung als unmittelbare Repräsentation der Wirklichkeit, die zusammen mit der Konvention einer weitgehend automatisierten Sprache auch die Illusion ihrer objektiven Widerspiegelung in den literarischen Text einträgt.509 Sie wird zum Ideogramm, das auf der Annahme beruht, Zeichenausdruck und Zeicheninhalt seien kongruent.510 Die formal nicht markierte Sprache, die weite Teile der Erzählung prägt, ist so Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 25 und 41ff. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 26ff. und Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff. 509 Hier treffen sich realistischer und historischer Roman. Wie Harro Müller in seiner Phänomenologie historischer Romane zeigt, gehörte die Illusion einer strikt mimetischen Sprache lange Zeit zu den wichtigsten Bedingungen fiktionaler Geschichtsentwürfe: Müller 1988, 17. 510 Vgl. hierzu Plumpe 1976, 4 sowie Jakobson 1921, 377. Sławinski 1975, 183f. weist darauf hin, daß die mimetische Literatur das Werk direkt auf die Wirklichkeit bezieht und den Umstand ignoriert, daß sich 507 508 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 97 eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür, daß die Reproduktion der Vergangenheit als Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit wahrgenommen werden kann.511 In einem 1938 verfaßten Typoskript schreibt Tolstoj über die Stilistik seiner Erzählung: «Читатели в своих отзывах обращают внимание на простоту изложения повести 'Хлеб', на ее простой язык, на ясность изложения исторического материала, то есть на стиль повести, - то есть на то, на трудное в обращении и тонкое орудие, посредством которого мысли, образы и факты превращаются в искусство. [...] Стиль повести 'Хлеб' для меня был задачей наиболее трудной. [...] Внешний стиль повести – язык, композиция – это уже следствие нахождения в себе внутренного стиля, то есть приведенного в стройный порядок морально-художественная отношения к данному материалу. Так создался стиль повести 'Хлеб': лаконизм, простота, экономия – почти скупость – в пользовании материалом, язык, почти лишенный эпитетов, язык почти на границе сухости исторического повествования.» (Tolstoj 1938, 332f.) Da die Kontinuität realistischer Texte eine eindeutige Beziehung zwischen den in ihnen verwendete Sprachzeichen und ihren außerliterarischen Bezügen simuliert,512 erscheint auch die Erzählung Tolstojs nicht als Effekt einer literarisch manipulierten Sprache, sondern als Reproduktion einer Wirklichkeit, die über die neutrale Stilebene des Textes in die Erzählung übertragen werden kann. Philippe Hamon spricht in diesem Zusammenhang von der Lesbarkeit realistischer Texte, die alle Verfahren einer literarischen Verfremdung aus ihrem Formenbestand ausgrenzt. Sie zielt darauf ab, das Bekannte auf wiedererkennbare Weise darzustellen.513 Denn obwohl die Intention der Erzählung ein Effekt ihrer sekundär modellierten Wirklichkeit ist, ist die realistische Erzählung nicht auf den Zeichencharakter des Kunstwerks ausgerichtet, sondern auf dessen Bedeutung.514 Zeichenausdruck und Zeicheninhalt werden unauflöslich miteinander verbunden und zu einer objektiven Repräsentation des Wirklichen ausgebaut.515 Damit folgt Tolstoj einem Sprachverständnis, das Mitte der dreißiger Jahre als Instrument einer offiziellen Literaturpolitik kanonisiert worden ist. In einer normsetzenden Diskussion über die Sprache wird ein ‚neutraler Stil’ offizialisiert, dessen eindeutige Sprachverwendung auf der Illusion einer eindeutigen Zeichenbedeutung beruht. Damit wird ein Sprachsystem etabliert, das den Eindruck der objektiven Widerspiegelung durch ein scheinbar objektives Zeichenverständnis reguliert. Da die Eindeutigkeit der so regulierten Sprache jedoch nicht auf ihrer Übereinstimmung mit der außerliterarischen Wirklichkeit beruht, sondern auf einem autoritativen System ideologischer Denotate, dient das Sprachverständnis des sozialistischen Realismus vor allem dazu, dessen ideologische Postulate zu bestätigen.516 Sie werden durch Forderungen wie Klarheit, Einfachheit und Verständlichkeit in den literarischen Diskurs übertragen.517 literarische Texte immer nur vermittelt auf die Wirklichkeit beziehen können. Daß es sich dabei um ein informationstheoretisches Paradox handelt, das, käme es zu einer tatsächlichen Angleichung von praktischer und poetischer Sprache, zu einem Verschwinden des Kunstwerks führen würde, zeigt Jurij Lotman: Lotman 1992, Bd.1, 244. 512 Stern 1992, 95. 513 Hamon 1973, 415. 514 Vgl. hierzu Zeller 1987, 573f. 515 Vgl. hierzu Döring/Smirnov 1980, 2ff. die das Abbildungsverhältnis des russischen Realismus auf die Formel „знак есть факт“ bringen und damit ein Repräsentationsverhältnis beschreiben, das versucht, eine transitive Beziehung zwischen Zeicheninhalt und Zeichenausdruck zu etablieren und den Ausdrucksmitteln des Textes Züge des Objekts zu verleihen. 516 Zu dieser Diskussion vgl. Günther 1984, 55ff. 517 Zu diesen Postulaten des sozialistischen Realismus vgl. Günther 1984, 18ff. 511 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 98 Tatsächlich handelt es sich also um die Indienstnahme einer Sprachnorm, deren konventionalisierte Bedeutung den Eindruck erweckt, als könne die außerliterarische Wirklichkeit in den literarischen Text übertragen werden. Der formal nicht markierte Stil realistischer Erzählungen dient so dazu, die sprachlich modellierte Realität der Erzählung zu verdecken und als vermeintlich authentisches Bild der Wirklichkeit auszugeben. Sie zielt auf eine Automatisierung der Wahrnehmung, die auch die Darstellung Stalins authentifiziert.518 Die Authentizität des Erzählten ist damit nicht nur in der dokumentarischen Grundlage der Erzählung begründet, sondern in einer ästhetisch motivierten Wiedererkennbarkeit, die die dargestellte Welt überprüfbar erscheinen läßt.519 Dadurch entsteht der Eindruck einer scheinbar entpoetisierten Sprache, die die grundsätzliche Medialisierung der Wirklichkeit verleugnet und aus dem poetischen Akt der Benennung ausgrenzt.520 Boris Groys bezeichnet den Zusammenfall von Form und Inhalt als Anti-Ästhetik sozialistisch-realistischer Texte. Sie geht auf die Vorstellung zurück, daß Form und Inhalt identisch sind und die Form durch den Inhalt bestimmt wird. Dadurch entsteht der Eindruck, als bilde der Text die Wirklichkeit unter Umgehung ihrer medialen Vermittlung ab. Die Widerspiegelung der Texte geht so auf eine ästhetische Negation zurück, welche die formale Ebene des Textes zugunsten seiner Abbildfunktion verdrängt. Die Illusion einer objektiven Widerspiegelung ist so nicht zuletzt in der Wahl einer Stilebene begründet, die jede explizit markierte Erzählerstimme aus dem Text verbannt. Sie wird als Deformation der objektiven Wirklichkeit empfunden und deswegen aus dem Arsenal der sozialistisch-realistischen Literatur ausgegrenzt:521 «Эстетику соцреализма можно, таким образом определить как последовательную антиэстетику: отказ от формулирования чисто формальных критериев художественного творчества является для искусства сталинского периода конститутивным. Дистанция между искусством и жизнью с ее 'правдой' гарантируемая художественной формой, изчезает, художник поглошается коллективом, и его попытки вырваться из 'жизни' путем создания индивудуального художественного стиля караются политической полицией.» (Grojs 1987, 102) Eine Ausnahme von dieser Darstellungsnorm bildet eine Szene, die Vorošilov im Kampf portraitiert. Hier bedient sich Tolstoj einer Reihe expressionistischer Stilmittel, die das Bild Vorošilovs poetisieren und verfremden. Durch eine Verknappung der Syntax und die Aneinanderreihung simultaner Bilder entsteht eine verdichtete Symbolik, die Vorošilov zum epischen Helden stilisiert: «На косматой лошаденке Ворошилов врезался в толпу бегущих. С глазами, круглыми от напряжения, без шапки, страшный, - с верха за плечи хватал бойцов, толкал их лошадью, крича – крутил, наганом: - Стой! Такие-сякие! Назад! Бокун! Солох! Прохватилов! Кривонос! Вертелся, как чорт, среди бойцов, - круглые глаза... кричащий рот... взмах лошадиной гривы... цепкая рука, рванувшая рубаху... оскаленная лошадиная морда... револьвер прямо в глаза... ругался, хватал, толкал...» (Tolstoj Chleb 1937, 58) Vgl. hierzu auch Barthes 1982, 88ff., der den neutralen Stil ebenfalls als Verfahren qualifiziert, dessen „amodale Schreibweise“ alle Zeichen einer überlieferten oder subjektiven Sprachverwendung aus dem Text ausgrenzt. 519 Tschižewskij 1967, 14. 520 Dobrenko 1993, 36 weist darauf hin, daß der konventionalisierte Bereich der Sprache im Sozialistischen Realismus ausgeweitet wird und ihre poetische Funktion einschränkt. 521 Roman Jakobson bezeichnet die Automatisierung konventionalisierter Darstellungsmittel als Bedeutung A2 und B2 des künstlerischen Realismus. Ihr Zusammenspiel reguliert einen ästhetischen Kanon, in dem jeder Normverstoß als Verzerrung der Realität aufgefaßt wird: Jakobson 1921, 379f. 518 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 99 In den Kapiteln, die Stalin zeigen, fehlt eine solche Poetisierung seiner Figur. Sie folgen alle dem Gebot der mittleren Stilebene und werden damit einer vermeintlichen Objektivierung unterworfen.522 Die formal nicht markierte Erzählebene des Textes etabliert einen Wirklichkeitsbezug, der die literarische Konstruktion seiner Figur verdeckt und als Repräsentation einer ihr vorgängigen Person ausgeben kann. Die Auswahl der sprachlichen Mittel ist so unmittelbar an den Darstellungsauftrag der Erzählung gebunden: «Ни одной метафоры, ни одного эпитета ('сильная', 'стройная' – простые определения), ни одного сравнения. А если А. Толстой уж прибегает к сравнениям, то это – сравнения простые, содержательные, которые помогают раскрыть сущность, а не затемняют ее чуждыми или сторонними ассоциациями.» (Gurštejn 1938, 261) Daß auch die Darstellung seiner Person lediglich der Effekt literarischer Verfahren ist, wird in der Analyse der Erzählung gezeigt. Sie legt dar, daß die Imagination seiner Figur auf einer Reihe poetischer Verfahren beruht, die seine Wahrnehmung verfremden, über die Darstellungsverfahren der realistischen Prosa jedoch authentifiziert werden. 2.8.4 Erzählperspektive Die Erzählperspektive ist ein weiteres Verfahren der literarischen Illusionsbildung. Sie legt fest, was von welcher (raum-zeitlichen) Position aus wahrgenommen wird, und reguliert damit den Fluchtpunkt der Erzählung. Dieser ist unabhängig von der Wahl des Erzählers und entscheidet darüber, von welchem Standpunkt aus die Erzählgegenstände dargestellt werden.523 Je nachdem, ob der Blickpunkt, von dem aus die Ereignisse geschildert werden, im Text markiert ist oder nicht, kann zwischen einer perspektivierten Darstellung und einer Darstellung ohne erkennbare Perspektivierung unterschieden werden.524 Während die Erzählung ohne eindeutige Perspektivierung kein narratives Zentrum besitzt, das die Wahrnehmung der dargestellten Ereignisse ordnet, ist die perspektivierte Erzählung durch den in ihr gewählten Erzählerstandpunkt bestimmt. Sie unterwirft die dargestellten Ereignisse einer selektiven Informationsvermittlung und geht mit einer Verkürzung der dargestellten Wirklichkeit einher.525 Damit bildet die Perspektive eine der wichtigsten Grundlagen für die Informationsregulierung literarischer Texte.526 Wie die meisten realistischen Texte weist auch die Erzählung Tolstojs eine wechselnde Perspektivierung auf. Während die zusammenfassenden Berichte, die das dargestellte Geschehen narrativ beschreiben, keine im Text vermittelte Fokussierung erkennen lassen, wird die Wahrnehmung der Ereignisse in den Szenen, die das Handeln der einzelnen Figuren in den Mittelpunkt stellen, auf die Figurenperspektive der jeweiligen Charaktere beschränkt. Durch diesen Wechsel der Erzählperspektive gelingt es Tolstoj, ein Nebeneinander unterschiedlicher Wahrnehmungen zu erzeugen, das die Spannung der Erzählung steigert und die unterschiedlichen Figurenperspektiven miteinander konfrontiert.527 Es entsteht eine Kollision unterschiedlicher Perspektiven, die den ideologi- Vgl. hierzu Booth 1974, Bd.1, 160ff. sowie Barthes 1982, 88ff. Vgl. hierzu Genette 1994, 132ff. und 241ff. sowie Veldhues 1997, 83ff. und Bal 1985, 104f. 524 Genette 1994, 134ff., Booth 1974, Bd.1, 156ff. 525 Vgl. hierzu Lotman 1973, 395ff., der den Blickpunkt als Hierarchie von Relationen bezeichnet, die dem Text seine Orientierung in Bezug auf sein Subjekt verleihen. 526 Veldhues 1997, 84. 527 Vgl. hierzu Lotman 1973, 415ff., der das Nebeneinander heterogener Elemente als konstitutives Merkmal künstlerischer Texte beschreibt. Tomaševskij 1967, 136 weist darauf hin, daß die Gegenüber522 523 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 100 schen Konflikt der Erzählung verdoppelt und in die Figurenperspektive der einzelnen Charaktere übersetzt. Die übergeordnete Erzählperspektive der narrativen Berichte wird aufgegeben und durch eine subjektivierte Wahrnehmung der Ereignisse ersetzt, die in der Erlebniswirklichkeit der Charaktere gebrochen wird: «Ворошилов на нижней ступеньке говорил бойцам, теснившимся у вагона: -... Только бандит и предатель может брехать серьезный час, - будто нaм не справиться с немцами. Кто это крикнул?.. Не справимся с немцами? Подними, командир, фонарь, - хочу узнать в лицо предателя.... [...] Приказываю – этому, кто крикнул, что нам не справиться с немцами,- выходи к фонарю!... [...] Где-то позади – вдруг дикий крик: 'Это не я!' и голоса 'Врет! Бери его!..' Толпа зашумела. Раздались удары. Вопль: 'Давай его, давай!..' Бойцы раздались, и сквозь их толпу был выброшен к подножке вагона человек в городском пальто. [...] Шмыгая носом, со слезами он повторял: - Напрасно меня убили, ребята... Ах напрасно... [...] Локтями раздвигая бойцов, к человеку придвинулся Бокун. Вглядываясь, положил огромную руку на плечо ему. – Ребята, а я ж его знаю. Ему фамилию другая. – Бокун вдруг рассердился, закричал чугунным голосом: Это не ты ли зимой кричал за Учредительное? Жаба!..» (Tolstoj Chleb 1937, 55f.) Die alternierende Perspektivierung des Erzählten dient aber nicht nur dazu, die unterschiedlichen ideologischen Positionen zu veranschaulichen. Durch sie wird auch eine Rezeptionshaltung in den Text eingetragen, die die literarische Wahrnehmung Stalins reguliert. Sein Verhalten wird in der Figurenperspektive der unterschiedlichen Charaktere gespiegelt, wodurch die ihm zugewiesenen Eigenschaften nicht als willkürliche Beschreibung einer übergeordneten Erzählinstanz erscheinen, sondern als vermeintlich authentische Beschreibung, die in der fingierten Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere bestätigt wird. Der Wechsel von einer nicht fokussierten zu einer perspektivierten Wahrnehmung dient so nicht zuletzt dazu, ein Perspektivensystem zu etablieren, in dem die außerliterarische Beschreiben Stalins verdoppelt und als vermeintlich erlebte Wirklichkeit dargestellt werden kann: «- О чем же тебя спрашивал чрезвычайный комиссар? – спросил Ковалевский. – А он интересуется весьма тонкими вещами... Бызвал меня в вагон по оперативным вопросам... Угощал чаем, был очень мил и не верил ни одному моему слову...» (Tolstoj Chleb 1937, 145f.) 2.8.5 Erzählhorizont Zusammen mit der Erzählperspektive verändert sich auch der Erzählhorizont der einzelnen Textabschnitte. Der abstrakte Erzähler, der in weiten Teilen die Erzählung bestimmt, überblickt den gesamten Lauf der Handlung und vermittelt sowohl die Vor- als auch die Rückgriffe der Erzählung. In den Textabschnitten, in denen die Erzählperspektive auf die Wahrnehmung der einzelnen Figuren begrenzt wird, bleibt der Erzählhorizont auf die ihnen zugewiesene Figurenperspektive beschränkt. Dadurch entsteht ein Informationsdefizit, das den Leser noch während der Lektüre auf die nachfolgenden Handlungselemente verweist.528 Durch die unterschiedlichen Erzählhorizonte wird ein Informationsgefälle inszeniert, das wesentlich zum Spannungspotential der Erzählung beiträgt und vor allem für die Darstellung Lenins und Stalins von Bedeutung ist.529 Wenn sie in den einzelnen Kapiteln mit einem Wissen ausgestattet werden, das in stellung unterschiedlicher Perspektiven die Spannung der Erzählung steigert. O’Neill 1994, 60 beschreibt den literarischen Text als zusammengesetzten Diskurs, in dem sich unterschiedliche Standpunkte gegenüberstehen. 528 Vgl. hierzu Veldhues 1997, 87f. sowie Genette 1994, 134ff. und 241ff. und Booth 1974, Bd.1, 169f., der den inneren Einblick in eine der Figuren mit einem Wechsel des Sprechers gleichsetzt, bei dem die Person, deren Bewußtsein dargestellt wird, vorübergehend zum Erzähler wird. 529 Vgl. hierzu Zeller 1987, 569, die die mangelnde Information als eine Variante der Referenzillusion beschreibt, die beim Leser den Eindruck erweckt, als existiere die dargestellte Welt unabhängig vom Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 101 den nachfolgenden Textsequenzen bestätigt wird, erscheinen sie als Charaktere, die nicht nur ihre eigene Handlungsgegenwart überblicken, sondern auch den weiteren Verlauf der Ereignisse voraussehen. Die Dominanz ihrer Figuren beruht so auf einem variablen Erzählhorizont, der ein künstliches Informationsdefizit in den Text einträgt und ihre Überlegenheit im literarischen Text vergegenwärtigt. Damit erscheint die Differenz zwischen allwissendem und eingeschränktem Erzählhorizont als zentrales Mittel, um die Lenin und Stalin zugewiesene Figurenperspektive literarisch zu gestalten: «То, что говорил Сталин в вагоне Ворошилову, оправдалось: в конце июня армия Деникина нанесла ряд сильных ударов по магистрали Царицын – Тихорецкая и отрезала пятидесятитысячную армию Калнина. Южный фронт тем самым привлек теперь все внимание.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Der wechselnde Erzählhorizont läßt so Rückschlüsse auf den Wissensvorrat der einzelnen Figuren zu. Er gestaltet die jeweilige Figurenperspektive in Abhängigkeit von den ihnen zugewiesenen Rollen und trägt damit sowohl zu einer Identifizierung als auch zu einer Hierarchisierung der Charaktere bei: «Не раз Иван советовал вдове бросить худой домишко и уехать на родину Ивана – в Донской округ, в станицу Чирскую. Там нетрудно найти работу. Там хлеба довольно и нет такой беспощадной зимы. Вдова боялась, - одна бы – не задумалась. С детьми ехать в такую чужую даль – страшно. Сегодня он опять начал уговаривать. - Иван, - сказала ему вдова с тихим отчаянием. Ты молодой, эдакий здоровенный, для тебя всякая даль близка. Для меня даль далека. Силы вымотаны. Вдова с упреком закивала головой будто тем, кто пятнадцать лет выматывал ее силы. [...] – Напрасно, - сказал Иван, - напрасно так рссуждаешь, дорогая, что сил нет. Здесь ты лишний рот, а там сознательные люди нужны. – Что ты, Иван... Мне бы только их прокормить... Кажется – умри они сейчас, - не так бы их жалко было... А как им прожить – маленьким... Да еще пойдут круглыми сиротами куски собирать. - Вот... А там для детей – рай: Донской округ, подумай. Хлеб, сало, молоко.» (Tolstoj Chleb 1937, 33) 2.8.6 Erzählsicht Neben der Perspektive und dem Erzählhorizont dient auch die Erzählsicht dazu, die dargestellten Ereignisse im literarischen Text zu vergegenwärtigen. Sie ist ebenfalls von der Wahl des Erzählers unabhängig und bezieht sich lediglich darauf, ob der Erzähler bei der Darstellung des Erzählten in die literarischen Figuren Einblick nehmen kann oder nicht.530 Wie bereits in bezug auf die Erzählperspektive und den Erzählhorizont gezeigt, wechselt der Erzähler in Tolstojs Text auch hinsichtlich der Erzählsicht immer wieder zwischen einer inneren und einen äußeren Sicht auf die Figuren.531 Dadurch, daß er sowohl die inneren Vorgänge der einzelnen Charaktere als auch deren äußeres Verhalten beschreiben kann, verfügt er über einen Informationsvorsprung, der ihn zum allwissenden Erzähler werden läßt.532 Durch diesen Informationsvorsprung kann der narrative Text eine Figurensemantik entwerfen, die innere und äußere Figurenbeschreibung zueinander ins Verhältnis setzt und Innen- und Außensicht der Figuren aneinander angleicht. Da sie übereinstimmen, erscheint der Erzähler als zuverlässiger Erzähler und erhöht die Glaubwürdigkeit der von ihm vermittelten Fiktion.533 Im UnterKunstwerk. Vgl. hierzu Veldhues 1997, 86 sowie Leibfried 1972, 245ff und Lämmert 1967, 70f., der zwischen einem Innen- und einem Außenstandpunkt des Erzählers unterscheidet. Genette 1994, 132ff. unterscheidet zwischen einer internen und einer externen Fokalisierung des Geschehens. 531 Zur alternierenden Erzählsicht vgl. Genette 1994, 136 sowie Tomaševskij 1967, 142. 532 Vgl. hierzu Booth 1974, Bd.1, 165ff. sowie Tomaševskij 1967, 142, der den abstrakten Erzähler dadurch gekennzeichnet sieht, daß er als allwissender Erzähler erscheint. 533 Zur Unterscheidung zwischen einem zuverlässigen und einem unzuverlässigen Erzähler vgl. Booth 1974, Bd.1, 214ff. 530 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 102 schied zu den Dramen, die im folgenden Kapitel analysiert werden, verfügt die Erzählung also über eine zusätzliche Möglichkeit der Figurensemantisierung. Die literarischen Charaktere werden nicht nur durch ihre Figurenrede charakterisiert, sondern können durch die Stimme des Erzählers sowohl in ihrer Innen- als auch in ihrer Außenperspektive dargestellt werden. Während der Blick auf die Innensicht der Figuren eine interne Figurenperspektive fingiert, welche die literarische Figur identifiziert und über den Umweg ihrer inneren Vorgänge charakterisiert, kann die externe Figurenbeschreibung eine Figurensemantik inszenieren, welche die dargestellten Eigenschaften bestätigt und als scheinbar authentische darstellt. Die narrative Vermittlung der literarischen Charaktere unterscheidet sich so insofern von der dramatischen, als daß ihre Identität nicht allein aus der Figurenrede rekonstruiert werden muß, sondern sowohl im Figurentext der anderen Figuren als auch im Text des Erzählers semantisiert werden kann.534 Der in der inneren Figurenperspektive angelegte Merkmalkomplex kann so über die äußere Beschreibung der Figuren verdoppelt und abgesichert werden. Dadurch entsteht ein semantisches Profil, das keinerlei Interpretationsspielraum zuläßt.535 Die Verdoppelung der Semantisierungskriterien stellt eine der wichtigsten Voraussetzung für eine eindeutige Figurensemantik dar, die auch die Figur Stalins der subjektiven Wahrnehmung des Lesers entzieht. Die Darstellung seiner Figur wird im narrativen Text dadurch bestimmt, daß die in der Figurenrede angelegte Identität im Text des Erzählers wiederholt und durch seine im Text inszenierte Stimme beglaubigt wird: «- Конкретно – чтo вы предлагаете, товарищ Сталин? Сталин потер спичку о коробку, головка, зашипев, отскочила, он чиркнул вторую, - огонек осветил его сощуренные будто усмешкой, блестевшие глаза с приподнятыми нижними веками. – Мы недооцинваем значение Царицына. На сегодняшний день Царицын – основной форпост революции, - сказал он [...]» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Als literarische Darstellungsmöglichkeiten einer figuralen Innenperspektive weist die Erzählung die direkte und die erlebte Rede sowie den inneren Monolog auf.536 Während die erlebte Rede die Innensicht der Figuren im Erzählertext vermittelt, gehören direkte Rede und innerer Monolog zu den narrativen Verfahren, die den Eindruck einer unmittelbaren Bewußtseinsgegenwart erzeugen sollen.537 In allen drei Darstellungsmodi bleibt die Sicht des Erzählers an die Figurenperspektive der einzelnen Charaktere angeglichen. Dadurch entsteht der Eindruck einer Erlebniswirklichkeit, die im Bewußtsein der Figuren reflektiert und in der ihnen zugewiesenen Figurenperspektive reproduziert werden kann.538 Die so simulierte Innenperspektive hebt den Standpunkt des abstrakten ErzähVgl. hierzu Červenka 1978, 118 sowie Bal 1985, 79ff. und O’Neill 1994, 49f. der zwischen einer diegistischen (direkten) und einer mimetischen (indirekten) Figurenbeschreibung unterscheidet. 535 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 109f., die die dichtungslogische Differenz zwischen epischer und dramatischer Fiktion nicht darin sieht, daß die epische Fiktion mit der Stimme des Erzählers über eine zusätzliche Person verfügt, sondern über eine zusätzliche Form, mit deren Hilfe der Autor die mimetische Illusion seines Textes realisieren kann. 536 Cohn 1978, 21ff. sowie O’Neill 1994, 58ff., Genette 1994, 120ff. 537 Vgl. hierzu Cohn 1978, 21ff., die die unterschiedlichen Formen der inneren Figurengestaltung unter dem Aspekt „Consciousness in Third-Person Context“ diskutiert, sowie Hamburger 1987, 80ff. und 162ff., Veldhues 1997, 99ff. und Genette 1974, 121ff. 538 Vgl. hierzu Genette 1994, 134ff., der darauf hinweist, daß die interne Fokalisierung immer mit einer Einschränkung der narrativen Perspektive einhergeht und zusammen mit der Perspektivierung auch die Informationsvermittlung einschränkt. Eine ähnliche Position bezieht Lämmert, wenn er darauf verweist, daß beim Erzählen von einem „internal point of view“ aus das Übergreifen in eine Erzählergegenwart unmöglich ist und der Erzähler lediglich die erlebte Wirklichkeit der handelnden Personen darstellen kann (Lämmert 1967, 71). 534 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 103 lers auf und fingiert eine subjektive Wahrnehmung, die das Dargestellte aus Sicht der dargestellten Charaktere wertet. Dadurch entsteht eine Wechselbeziehung aus erzählter und erlebter Wirklichkeit, welche die geschilderten Ereignisse bestätigt und in der Erinnerung der Figuren verankert: «Когда Иван Гора прошел, собаки опустив головы, двинулись за ним... 'Ишь ты: мы вилами, а немцы нас – пушками, и это 'даже очень хорошо', - бормотал себе под нос Иван Гора, глядя в морозную мглу... – Значит по его – выходит: немедленная война вилами... Чтобы нас раздавили кончили... И это очень хорошо... Понимаешь, Иван? Расстреливай меня, - получается провокация...' Ивану стало даже жарко... Он уже не шел, а летел, визжа валенками...» (Tolstoj Chleb 1937, 29) Die Erzählung läßt so gut wie keinen Einblick in das innere Geschehen Stalins zu. Obwohl auch sie durch das Verfahren der erlebten Rede charakterisiert wird, bleibt die literarische Vermittlung seiner Figur fast ausschließlich auf eine externe Fokalisierung beschränkt. Innere Monologe fehlen ganz. Die durch die erlebte Rede simulierte Innenperspektive dient in erster Linie dazu, seine Figur mit einer Innerlichkeit auszustatten, welche die im offiziellen Stalinkult vorgeschriebenen Charaktereigenschaften auf seine literarische Figur überträgt. Die wenigen Einblicke, die der Text in das psychische Geschehen Stalins gewährt, beziehen sich auf Aspekte, die im offiziellen Stalinkult bereits vollständig kanonisiert sind.539 Im Mittelpunkt der Erzählung steht somit weniger das innere Erleben seiner Figur, als die Darstellung konkreter Verhaltensweisen, die ihn im Kontext der historischen Ereignisse charakterisieren.540 Es entsteht eine Figurensemantik, in der innere und äußere Handlung zusammenfallen und die externe Figurenbeschreibung zur unmittelbaren Repräsentation einer mythisch überhöhten Persönlichkeit wird: «В повести А.Н. Толстого товарищ Сталин нарисован в различные моменты своей деятельности. Вначале мы видим его в кабинете Ленина в Смольном, в напряжённые дни зимы 1918 года, когда решался вопрос о мире с Германией. Создавая портрет вождя, Толстой сумел уже через описание внешних черт дать почуствовать мощь сталинского гения.» (Čeremin 1950, 10) Durch die konsequente Außenperspektivierung Stalins umgeht Tolstoj das Problem einer psychologischen Gestaltung. Zum einen würde er dessen Figur damit einer Literarisierung unterziehen, die sie eindeutig als fiktiven Charakter zu erkennen gäbe und andererseits würde er ihr die Aura des Unerreichbaren nehmen, die durch die dominierende Außensicht seiner Figur entsteht.541 Da die Motivation seiner Handlung verborgen bleibt, wird die Figur Stalins durch ihr im Text beschriebenes Verhalten mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, die sie im hierarchischen Gefüge der Charaktere positioniert. Die in weiten Teilen fehlende Innensicht trägt ein Informationsdefizit in den 539Auf diesen Wechsel von Außen- zum Innenstandpunkt wird in der Analyse der jeweiligen Kapitel näher eingegangen. 540 Vgl. hierzu Cohn 1978, 21, die darauf hinweist, daß das Fehlen innerer Vorgänge für Erzählungen mit vielen Figuren typisch ist und den Schwerpunkt von der Darstellung innerer Vorgänge auf eine Darstellung konkreter Handlungen verschiebt, die das Innere der Charaktere über den Umweg der dargestellten Verhaltensweisen repräsentieren. Käthe Hamburger nimmt die gleiche Unterscheidung vor, wenn sie über den Unterschied von abstrakter und konkreter Erzählung schreibt: „Der Unterschied, den wir bemerken, ist darin begründet, daß einmal die fiktiven Gestalten mehr als nach außen handelnde, im Strom der Begebenheiten stehende, ein andermal mehr als erlebende, in ihrem inneren Dasein ruhende (bzw. beunruhigte) geschildert werden.“ (Hamburger 1987, 134) Günther 1984, 108, beschreibt die Dominanz einer handlungsbezogenen Figurensemantik als eine der literarischen Normen des Sozialistischen Realismus. 541 Vgl. hierzu Weber 1975, 42ff., der nachweist, daß eine perspektivierte, eingeschränkte oder unstimmige Informationsvergabe zu den wichtigsten Verfahren der literarischen Verrätselung gehört. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 104 Text ein, das ihn mit der Aura des Genialen umgibt.542 Er erscheint als konsequent handelnde Figur, deren Entschlossenheit zum unmittelbaren Ausdruck der im Text entworfenen Figurensemantik und damit seiner vermeintlich realen Person wird: «Сразу после приезда в Царицын Сталин вносит коренной перелом вразвитие событий – 'все было поднято на ноги', направлено к единой цели, подчинено одной задаче – остстоять город, не допустить в него врага. Опираясь на широкие народные массы, внося организованность и революционную дисциплину, Сталин создавал необходимые условия для разгрома белых.» (Alpatov 1955, 91) 2.8.7 Narrative Distanz In unmittelbarer Abhängigkeit von Erzählsicht und Perspektive entsteht die narrative Distanz. Sie bezieht sich auf den räumlichen und zeitlichen Abstand des Erzählers zum Erzählten und kann, wie alle anderen Modi des Erzählens, variabel gestaltet sein.543 Während die inneren Einblicke in die Figuren die Distanz zwischen Erzähler und Erzähltem verringern, entsteht durch die Außensicht eine Erzähldistanz, welche die Erzählung Tolstojs in weiten Teilen dominiert.544 Sie fingiert eine nicht-emotionale Objektivität, die die Ereignisse von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus beschreibt und die mimetische Widerspiegelungsillusion des literarischen Textes erhöht.545 Die mittlere Distanz reguliert eine Figurengestaltung, die im Bereich des Wahrscheinlichen begründet liegt und das Willkürliche ebenso aus der Figurencharakteristik ausgrenzt, wie das Irrationale. Damit verbleibt die Figurengestaltung der Erzählung im Bereich einer realistisch motivierten Figurensemantik, die durch die Kohärenz und Korrespondenz ihrer semantischen Merkmalkomplexe bestimmt wird.546 Da die mittlere Distanz eine Objektivität inszeniert, die auf die Sache ausgerichtet ist und nicht auf das innere Erleben der Charaktere, repräsentiert sie eine Erzählhaltung, die auch die Darstellung Stalins als vermeintlich objektive Darstellung erscheinen läßt. Dadurch, daß sie von einem weder emotional noch stilistisch markierten Aussagesubjekt in den Text eingetragen wird, erscheint die Beschreibung seiner Person als literarisches Abbild, das den ihr zugewiesenen Merkmalkomplex in unmittelbarer Abhängigkeit von seiner Person in den Text übertragt.547 Die Erzähldistanz dient so dazu, eine neutrale Erzählhaltung in den Text einzutragen, in der die abbildende Funktion des Textes dominiert. So kann die Semantisierung Stalins als Widerspiegelung seiner vermeintlich authentischen Persönlichkeit erscheinen: «На сегодняшний день Царицын – основной форпост революция – сказал он [Сталин, U.J.], как всегда, будто расмативаясь в каждое слово.» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Vgl. hierzu Genette 1994, 135f., der ebenfalls darauf verweist, daß in den klassischen Detektivromanen wie den Erzählungen Dashiell Hammetts die externe Fokalisierung zu einem der zentralen Verfahren gehört und zu einer Verrätselung des Helden führt. 543 Vgl. hierzu Booth 1974, Bd.1, 158f. sowie Genette 1994, 162ff. und Stern 1983, 126ff. 544 Es handelt sich dabei um eine mittlere Distanz, die Stern 1983, 126ff. dadurch gekennzeichnet sieht, daß sie keine Nähe zwischen Erzähler und Erzähltem erkennen läßt. 545 Vgl. hierzu auch Doležels Definition der objektiven Erzählung: Doležel 1972, 387f. 546 Zu den Regulationsmechanismen einer realistischen Figurenkonzeption vgl. Stern 1983, 134ff. 547 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 134f., die den Unterschied zwischen scheinbar objektivem und subjektivem Erzählen daran festmacht, daß die objektive Darstellung auf den Gegenstand, die subjektive auf das innere Erleben der Figuren gerichtet ist. 542 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 105 2.8.8 Stalin als literarische Figur Im literarischen Text existiert die Figur Stalins als komplexes Zeichen, dessen Eigenschaften im Verlauf der Erzählung generiert und über die Verfahren einer realistischen Literatur in den Raum der außerliterarischen Wirklichkeit transferiert werden.548 Seine Identitätsstiftung ist eine literarische, die in erster Linie über den Akt der Prädikation im literarischen Text entsteht.549 Der Erzählung kommt so die Aufgabe zu, zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu vermitteln und den literarischen Zeichenkomplex an die Stelle der realen Person zu setzen. Die Erzählung bezieht sich auf einen Bedeutungskomplex, der im offiziellen Stalinkult bereits vorgegeben ist. Eine der Leistungen der Erzählung besteht so darin, die kanonisierten Gesten, Posen und Reden zueinander ins Verhältnis zu setzen und über den Umweg einer literarischen Figurensemantik zu authentifizieren: „Die künstlerisch plastische und eindrucksvolle Gestaltung der Persönlichkeiten Lenins und Stalins in der Erzählung ‚Brot‘ ist eine gewaltige schöpferische Leistung A.N. Tolstois. Sie zeugt davon, daß Tolstoi die fortschrittliche Methode künstlerischen Schaffens, den Sozialistischen Realismus, zu beherrschen gelernt hat.“ (Stscherbina 1954, 97f.) Die Wiedererkennbarkeit der Figuren wird dabei in erster Linie durch ihre Beschreibung im Erzählertext sichergestellt. Neben den Namen ist es vor allem die äußere Erscheinung, die sie im Text identifiziert. Sie werden mit Zeichen einer offiziellen Identität versehen, die reale und literarische Figur aufeinander beziehen. Der Text versammelt unterschiedliche Marker ihrer medialen Existenz und fügt sie zu einer scheinbar authentischen Person zusammen: «Дверь, ведущая в приемную, [...] приоткрылась, вошел человек с темными стояшими волосами и молча сел около Ленина. Руки он стиснул на коленах – тоже, должно быть, прозяб под широкой черной блузой. Нижние веки его блестевших темных глаз были придподняты, как у того, кто глядывается в даль. Тень от усов попала на рот.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Brodskij, I.I., Portrait I.V. Stalin (1935) Die Darstellung der Figuren bleibt jedoch nicht nur auf ihre Beschreibung im Erzählertext beschränkt. Sie werden darüber hinaus durch eine Reihe von Dialogen charakterisiert, die sie als sprechende Subjekte zeigen und anhand der ihnen zugewiesenen Figurenrede identifizieren. Kennzeichnend für die realistische Erzählung ist, daß der abstrakte Erzähler in den dialogisierten Szenen hinter den Aussagen der literarischen Charaktere verschwindet.550 Durch das Präsens der dialogisierten Rede entsteht der Ein Zur Konstitution komplexer Zeichen im literarischen Text vgl. Červenka 1978, 96f. sowie Hamburger 1987, 103, die die Verkörperung figuraler Zeichen als konstitutives Element fiktionaler Texte bezeichnet. 549 Vgl. hierzu Gabriel 1975, 17ff., der darauf hinweist, daß fiktionale Texte die Referenzfunktion der Zeichen durch prädikative und quantifizierende Aussagen ersetzen, die einen binnensemantischen Bedeutungszusammenhang herstellen. Zu den unterschiedlichen Sprechakten vgl. Searle 1992, 150ff. beschreibt den Akt der Prädikation als Zuschreibung von Eigenschaften, die das Referenzobjekt der Aussage definieren und konstituieren. 550 Vgl. hierzu Zeller 1987, 572 sowie Genette 1994, 123f., Lämmert 1967, 204ff., Bal 1985, 148f., 548 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 106 druck einer unmittelbaren Wirklichkeit, die durch das Verschwinden der Erzählerinstanz noch intensiviert wird.551 Die dialogisch gestaltete Figurenrede zielt auf eine Vergegenwärtigung der Charaktere ab, die sie aus ihrer Abhängigkeit vom Erzählertext befreit und als eigenständig handelnde Subjekte zeigt.552 Die direkte Rede wird damit zu einem der wichtigsten Illusionsmittel der realistischen Erzählung. In ihr tritt die narrative Informationsvermittlung hinter einer szenisch gestalteten Dialogizität zurück, welche die Erzählung an die Dialoggestaltung der im folgenden analysierten Dramen annähert.553 Im Mittelpunkt der Dialogszenen steht so keine narrative Informationsvermittlung, sondern eine Individualisierung der Charaktere, die über die direkte Rede der Figuren in den Text eingetragen wird.554 Die in der Erzählung vorgenommene Dialogisierung kann so als eine Form der Figurenbeschreibung gelesen werden, die die literarisch gestalteten Figuren aus ihrer narrativen Vermittlung befreit und in einen Darstellungsmodus kleidet, in dem sie sich selbst zu präsentieren scheinen. Die Inszenierung einer mündlichen Rede scheint unmittelbar auf ihren Sprecher zurückzuverweisen und ihn in seiner literarisch fingierten Individualität zu (re)präsentieren. Es entsteht ein semantisches Profil, das die äußere Beschreibung der Charaktere ergänzt und in der Inszenierung einer vermeintlich eigenständigen Figurenperspektive bestätigt: «Напротив генерала Людендорфа в кожаном кресла, прямо и плотно, сидел генерал Гофман, также безукоризненно чистый, слегка тучный, с почтительным блестeвшим от испарины, лицом, к которому лучше бы шли борода и усы, так как – обритое – оно казалось голым. Луч солнца падал ему на жгут золотого погона. Он говорил: - Я опасалось, что проведенная не до конца операция на востоке может не дать того, что мы от ее ждем. Моя точка зрения такого: занятие Украины и Донецкого угольного бассейна не должно рассматривать как операцию, направленную только для пополнения сырьевых ресурсов Германии. Мы вводим наши дивизии в страну, где царит невообразимый политический хаос.» (Tolstoj Chleb 1937, 42) Die in den Dialogen fingierte Authentizität der Charaktere wird dadurch unterstützt, daß ein Teil der Figurenrede Lenins und Stalins aus historischen Quellen stammt. Die Telegramme, die Stalin im Laufe der Erzählung diktiert oder erhält, sind zum größten Teil dokumentarisch überliefert. Auch Teile der im Text inszenierten Gespräche stammen aus Reden oder Briefen, die - literarisch überarbeitet - als mündliche Rede in den Text der Erzählung eingefügt werden.555 Dadurch wird eine Wahrhaftigkeit der Rede simuliert, die nicht mehr länger allein durch die Verfahren einer realistischen Figurengestaltung abgesichert wird, sondern über eine Überprüfbarkeit der Zitate, die literarische und historische Dokumentation miteinander verschmelzen läßt. Dadurch entsteht eine Inszenierung der Figur, welche die Darstellung Lenins und Stalins entfiktionalisiert Leibfried 1972, 243f. und O’Neill 1994, 59. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 92f. sowie Leibfried 1972, 275, Genette 1994, 120ff. und Hamburger 1987, 156ff. 552 Vgl. hierzu Červenka 1978, 130, der die Erzählfunktion bei vollkommener Identität von erzählter und Erzählzeit aufgehoben sieht. Sie wird zur Wirklichkeitsaussage eines fiktiven Subjekts, das sich in seinen formalen Kategorien dem lyrischen Subjekt annähert. Zur Individualisierung der Charaktere in den Romanen und Erzählungen des Sozialistischen Realismus vgl. Timofeev 1934, 14ff., der die Hauptaufgabe der Literatur darin sieht, die Widersprüche und Konflikte anhand literarischer Charaktere darzustellen, und dazu typisierte Individuen fordert, welche die Komplexität der außerliterarischen Wirklichkeit im literarischen Text widerspiegeln. Zu einer Rückkehr des Individuums in der sowjetischen Kultur der dreißiger Jahre vgl. auch Papernyj 1985, 123ff. 553 Zur Dramatisierung der dialogisch gestalteten Erzählsequenzen vgl. Genette 1994, 78ff. sowie Lämmert 1967, 199ff. und 210ff. sowie Hamburger 1987, 156ff. 554 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 148f. 555 Vgl. hierzu Čarnyj 1939, 84 sowie den Kommentar der 1947 erschienenen Gesamtausgabe, in der die Zitate zum Teil aufgeführt sind: Tolstoj 1947, 697f. 551 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 107 und ihre literarischen Äußerungen authentifiziert: «Автор воспроизводит на страницах повести точный текст личных телеграмм и писем Иосифа Виссарионовича Ленину в Москву обо всём фронте и Степану Шаумяну – о Закавказье. Эта документальность придаёт очень богатую наполненность образу Сталину, придаёт особую и большую ценность всей повести.» (Sejfullina 1949, 173) Die Wiedergabe ihrer Rede führt zu einer Auferstehung des Wortes, die die sakralisierten Texte auf den Moment ihrer Entstehung zurückführt, indem sie diesen im literarischen Text rekonstruiert. Dazu heißt es im Kommentar der 1947 erschienenen Gesamtausgabe «А.Н. Толстой редко пользуется прямой и точной цитацией документа [...]; в большинстве слчаев исторический документ дается писателем в момент его возникновения, как речь, письмо и т.д.» (Tolstoj 1947, 697) Die Zitate werden so zur Grundlage eines Realismus, der den Akt der Äußerung selbst zum Gegenstand der Darstellung erhebt und die Erzählung an die kanonisierte Überlieferung der offiziellen Textausgaben anschließt. Dadurch, daß sie in die Figurenrede Lenins und Stalins übertragen werden, erscheinen sie als Zitate, welche die mimetische Repräsentation ihrer Figuren garantieren.556 Die Anführungszeichen, die sie vom Text des Erzählers abgrenzen, verpflichten sie zur Wörtlichkeit und erhöhen so die Glaubwürdigkeit ihrer Darstellung. Da sich die direkte Rede aber nicht nur auf die Inhalte, sondern auch auf den Ausdruck ihrer Rede bezieht, dient die Inszenierung einer individuellen Sprache zu den grundlegenden Gestaltungstechniken der realistischen Literatur.557 Das in der Figurenrede inszenierte Sprachverhalten erscheint als unmittelbarer Ausdruck der im Text angelegten Figurensemantik und trägt zur Charakterisierung ihres jeweiligen Sprechers bei.558 Die individualisierte Sprachnorm kann so als Versuch interpretiert werden, die stereotype Figurengestaltung zu verdecken und zum Beispiel den klischierten Bildern der Arbeiter, Soldaten, Beamten und Aristokraten den Anschein einer individuellen Figurengestaltung zu verleihen. In Analogie zu den Dramen ist in der Erzählung Tolstojs die Rede Lenins und Stalins unterschiedlich gestaltet. Während die Dialoge Lenins durch einen individualisierten Sprachstil gekennzeichnet sind, erscheint die Rede Stalins als reiner Diskurs. Sie folgt in allen Bereichen der schriftsprachlichen Norm und läßt keine Zeichen einer individuellen Sprachverwendung erkennen: Vgl. hierzu Genette 1994, 122ff. und Lämmert 1967, 199ff. Vgl. hierzu Genette 1994,130ff. sowie Zeller 1987, 572 und Sławinski 1975, 98, der die Figurenrede realistischen Erzählens durch die Verwendung aller grammatischen Personen, aller Tempora, deutlicher expressiv-impressiver Signale, stilistischer Differenzierungen, graphischer Diskriminanten sowie die Anwesenheit von Zeichen bestimmt sieht, die auf die gegenständliche Situation der Äußerung verweisen. 558 Damit kommt eine sprachliche Identität der literarischen Figuren zum tragen, über die Timofeev in seinem 1934 veröffentlichten Aufsatz über den Zusammenhang zwischen literarischer Figur und poetischer Sprache schreibt: «Персонажи, представляющие различные социальные группы, характеризуются и своими языковыми особенностями. Говоря о них, писатель в зависимости от своего отношения к ним подбирает определенные словесные значения, создает соответствующую интонацию и т.д.» (Timofeev 1934, 21) Während die soziale und politische Differenzierung in den Figurenreden zulässig ist, sind alle Zeichen einer tatsächlichen individuellen Sprache wie Dialekte oder Soziolekte aus der Figurengestaltung ausgeschlossen. Nach der 1934 einsetzenden Diskussion über die Sprache dürfen sie höchstens noch als Zeichen einer falschen ideologischen Position eingesetzt werden. Vgl. hierzu noch einmal Timofeev 1934, 20ff. sowie Günther 1984, 55ff. 556 557 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 108 «Ленин перелистал исписанные листочки. – Вторая точка зрения: не мир, но революционная война!.. Гм...гм!.. Это нашиe 'левые'... – Он лукаво взглянул на Сталина. – 'Левые' отчаянно размахивают картонным мечом, как взбесившиеся буржуа... Революционная война!.. И не через месяц, а через неделю крестьянская армия, невыносимо истомленная войной, после первых же поражений свергнет социалистическое рабочее правительство, и мир с немцами будем заключить уже не мы, а другое правительство, что-нибудь вроде рады с эсерамичерновцами. [Anmerkung im Text : Ч е р н о в – лидер эсеров, U.J.][...] Сталин сказал вполголоса: - То, что германский пролетариат ответит на демонстрацию в Брест-Литовске немделенным восстанием, - это одно из предположений столь же вероятное, как любая фантазия...А то, что германский штаб ответит на демонстрацию в Брест-Литовске немедленным наступлением по всему фронту, - это несомненный факт...» (Tolstoj Chleb 1937, 31f.) Dem mit allen Zeichen einer expressiven mündlichen Rede ausgestatteten Stil Lenins, steht eine stilistisch nicht markierte Sprache Stalins entgegen, die erst im Kontext der Erzählung zum Ausdruck einer individuellen Sprachnorm wird. Dort fungiert sie als Ausdruck einer Mündlichkeit, die seine literarische Figur an ihr öffentlich propagiertes Vorbild angleicht. Die fehlende stilistische Textur seiner Rede repräsentiert Eigenschaften wie Einfachheit, Klarheit, Überlegenheit und Konzentration und trägt damit zur unmittelbaren Charakterisierung seiner literarischen Figur bei. Sie löscht alle Zeichen seiner tatsächlichen mündlichen Rede und stattet sie stattdessen mit einer Sprache aus, die zum unmittelbaren Abbild seiner mythisch gestifteten Identität gerät: „Die höchste Verkörperung der Schlichtheit, Präzision, Kürze und Sachlichkeit der Sprache sieht A.N. Tolstoi in der Sprache J.W. Stalins: ‚Wie spricht Genosse Stalin? Er spricht eine schlichte, nur ihm eigene Sprache. Bei ihm findet sich kein einziger schablonenhafter Satz. Seine Sprache ist auf dem allergenauesten Ausdruck der Gedanken aufgebaut. Sie ist kurz, knapp und energisch’.“ (Stscherbina 1954, 200f.) Im Unterschied zu der Rede Lenins bezieht sich die Redeweise Stalins nicht auf eine wiedererkennbare Sprachstruktur, sondern auf eine Identitätsstiftung, die im offiziellen Stalinkult vorgegeben ist. Die Wiedererkennbarkeit seiner Person ist so nicht an eine dokumentierte und kanonisierte Form der mündlichen Rede gebunden, sondern an einen sprachlichen Ausdruck, der seine Rede zur unmittelbaren Repräsentation seiner Person werden läßt. In einem Artikel der Правда beschreibt Tolstoj die Rede Stalins zur Einsetzung der Verfassung: «Сталин быстро спустился по боковой лестнице, прошел внизу мимо стола президиума. Вошел на трибуну – между двумя микрофонами. Взглянул на бующий зал. Налил воды.... Не спеша выпил. Ожидал, когда дадут, наконец, говорить. Брови поднялись двумя изломами. [...] Сталин начал говорить спокойно, негормко, четко разделяя слово от слова, законченно оформляя каждую мысль, давая мысли наиболее ясную и простую формулировку, понятную каждому от края до края земного шара. Он говорит почти без жестов, иногда останавливается, как бы ища эту наиболее простую форму мысли... Когда он закончил одну из фраз логическим выводом (здесь был первый жест: он сложил пальцы и, несколько протянув руку в сторону, раскрыл их): ... Это значит, что эксплоатация человека человеком уничтожена...» (Tolstoj 1936е, 150f.) Da die Zeichen der Mündlichkeit im Text der Erzählung neutralisiert sind,559 müssen sie als Epitheta in den Text eingetragen und an die Sprachnorm einer außerliterarischen Sprachverwendung angeglichen werden. Nur so kann der Text eine Mündlichkeit inszenieren, die den Eindruck erweckt, als gäbe sie die Sprache Stalins wieder. Dazu wird eine Reihe von Adjektiven in den Text der Erzählung eingetragen, welche die dialogische Gestaltung seiner Figur begleiten und seiner Rede den Anschein von Mündlichkeit und Authentizität verleihen. Sie werden durch Attribuierungen wie «Сталин сказал 559 Genette 1994, 225ff. Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 109 вполголоса»560, «Сталин [...] – холодно»561 oder «Сталин отвечал тем же ровным, негромким, спокойным голосом»562 im Text vergegenwärtigt. Sie wiederholen die im offiziellen Stalinkult angelegten Eigenschaften und schaffen damit eine Figurensemantik, in der literarische und außerliterarische Identitätsstiftung zusammenfallen.563 Im Unterschied zur dramatischen Gestaltung seiner Person entziehen sie sich einer sprachlichen Realisierung (auf der Bühne) und müssen daher aus dem Nebeneinander von Erzähler- und Figurenrede zusammengesetzt werden. 2.8.9 Die Erkenntnisfunktion der literarischen Erzählung Durch ihre dokumentarische Basis erscheint die Erzählung nicht allein als literarischer Text, sondern wird auf ein Wahrheitskriterium verpflichtet, das zur grundlegenden Bewertungsinstanz der Erzählung wird.564 Dabei muß die Literatur den an sie gestellten Erkenntnisanspruch einlösen. Die Aufgabe realistischer Schreibverfahren besteht so nicht zuletzt darin, eine außerliterarische Wirklichkeit zu fingieren, die das ideologisch genormte Weltbild in den Text überträgt, ohne dieses zu verfremden.565 Die Rekonstruktion der historischen Ereignisse folgt dabei ebenfalls dem erkenntnistheoretischen Ziel der offiziellen Widerspiegelungstheorie. Ihrem Literaturverständnis zufolge ist Realität nicht erst in der Reflexion über die Wirklichkeit zu erkennen, sondern scheint in der Realität selbst enthalten zu sein, so daß sie lediglich entdeckt zu werden braucht.566 Literarischer Realismus erscheint damit nicht länger als das Produkt literarischer Verfahren, sondern wird zum Instrument, mit dessen Hilfe es die Wirklichkeit in ihren inneren Zusammenhängen entdeckt werden kann. Dem Wahrheitsbegriff der literarischen Produktion fällt somit die Bedeutung zu, den Erkenntniswert der Texte zu regulieren und sie auf die herrschende Ideologie zu verweisen:567 «Социалистический реализм, являясь основным методом советской художественной литературы и литературной критики, требует от художника правдивого, исторически-конкретного изобраэения действительности в ее революционном развитии. При этом правдивость и историческая конкретность художественного изображения действительности должны сочетаться с задачей идейной переделки и воспитания трудящихся в духе социализма.» (Ustav sojuza sovetskich pisatelej SSSR, 1934, 712) Literatur wird somit zum Ausdruck einer Realität, deren Wirklichkeit sie selber schafft. Erst durch diesen Zusammenfall von Text und Wirklichkeit kann auch die Erzählung Tolstojs als Spiegel einer Vergangenheit erscheinen, welche die außerliterarische Wirklichkeit durch ihre literarischen Zeichen reproduziert. 2.9 Der Mythos vom Verschwinden des Autors Da die Erzählung jedoch keine automatische Kodifizierung der Wirklichkeit vornimmt Tolstoj Chleb 1937, 32. Tolstoj Chleb 1937, 37. 562 Tolstoj Chleb 1937, 41. 563 Vgl. hierzu auch Hellebust 1994, 113. 564 Vgl. hierzu die Rezensionen und literaturwissenschaftlichen Veröffentlichungen, die zu der Erzählung erschienen sind. Sie heben immer wieder die Wahrhaftigkeit ihrer Darstellung hervor und machen sie zum Kriterium für deren Bewertung: Gurštejn 1938, 258ff., Usievič 1938, 96ff., Čarnyj 1939, 84ff., Čeremin 1950, 12, Alpatov 1955, 89ff. und Stscherbina 1956, 95ff. 565 Zu dieser Funktion realistischer Schreibverfahren vgl. Balibar/Macherey 1974, 214. 566 Vgl. hierzu Siegel 1981, 188, Klingender 1975, 40ff., Jodl 1989, 163ff. und Kneip 1995, 78f. 567 Zu dieser Funktion realistischer Texte vgl. Dobrenko 1993, 33ff. sowie Groys 1988, 57ff. 560 561 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 110 und die Verbindung von Macht und Sprache auch unter dem Dogma des sozialistischen Realismus literarischer Subjekte bedarf, welche die offizielle Repräsentation in den literarischen Text übertragen, scheint die in der wissenschaftlichen Sekundärliteratur zum Stalinismus immer wieder behauptete These vom Verschwinden des Autors eher einer Verabsolutierung des Systems geschuldet, als einer tatsächlichen Aufarbeitung der literaturgeschichtlichen Entstehungsbedingungen der einzelnen Texte.568 Ungeachtet dessen, daß die Texte den Charakter offener Kunstwerke tragen, die durch die Eingriffe der unterschiedlichen Zensurinstanzen in ihrer literarischen Autonomie beschnitten werden, ist es nach wie vor der Autor, der die Übertragung der offiziell dekretierten Wirklichkeit in den literarischen Text gewährleistet.569 Da er die handwerklichen Voraussetzungen mitbringt, um die offizielle Literaturpolitik in literarische Texte zu übersetzen, ist seine literarische Kreativität die unausweichliche Voraussetzung, um die stereotypen Sujetvorlagen zu jeweils eigenständigen Texten auszubauen.570 Weit davon entfernt, lediglich der Kopist einer bereits vorformulierten Wirklichkeit zu sein, nimmt er aktiv am mythopoetischen Schaffensprozeß des Sozialistischen Realismus teil und verleiht der ideologisch vorgeformten Wirklichkeit den Anschein einer real existierenden Gesellschaftsform. Die Funktion des Autors besteht so nicht allein darin, die bereits vorformulierte, mythisch überhöhte Wirklichkeit in den literarischen Text zu übertragen. Er schreibt selbst an der literarischen Idealisierung einer offiziell dekretierten Wirklichkeitsillusion mit und trägt so unmittelbar zum mythischen Transformationsprozeß der dreißiger Jahre bei.571 Es ist demnach nicht die Mimesis einer von Stalin selbst erträumten Wirklichkeit, der die Texte des Sozialistischen Realismus gehorchen.572 Diese sind statt dessen Teil einer offiziell institutionalisierten Mythenfabrik, welche die Illusion Zum Verschwinden des Autors im literarischen System des sozialistischen Realismus vgl. Clark 1985, 159f. sowie Dobrenko 1993, 33ff. und Groys 1988, 79. Kneip 1995, 88f., weist dagegen darauf hin, daß der Autor im Sozialistischen Realismus eine funktionale Größe ist, die als außerliterarischer Sender die Authentizität des Textes garantiert. 569 Den Begriff des offenen Kunstwerks benutzt Thomas Lahusen, um die grundsätzliche Unabgeschlossenheit sozialistisch-realistischer Literatur zu beschreiben und die damit verbundene Frage nach einem kanonischen Literaturmodell neu zu stellen: Lahusen 1995, 662ff. Michail Jampol’skij weist der Zensur noch eine weitere Funktion zu: die eines öffentlich inszenierten Karnevals, der die Glaubwürdigkeit der Autoren erhöht und zugleich die allgegenwärtige Differenz zwischen Text und Wirklichkeit aufhebt: Iampolski 1995, 865ff. Babičenko 1997, 129, weist ebenfalls darauf hin, daß sich die Literatur, trotz ihrer Kontrolle durch die Zensurinstanzen, nicht so entwickelt hat, wie es eigentlich geplant war. Am 02. Januar 1936 schreibt A.S. Ščerbakov, Sekretär des Schriftstellerverbandes, an Stalin: «Если 8-10 месяцев назад нас беспокоил вопрос – почему нет новых произведений, то теперь у нас не может не вызвать тревогу вопрос – почему нет подлинно хороших произведений, достойных своего великгого времени.» (z.n. Babičenko 1997, 206) 570 Vgl. hierzu Foucault 1991, 7ff., der den Autor als Funktion des literarischen Textes beschreibt, mit deren Hilfe die Diskurse gruppiert, Einheit und Ursprung ihrer Bedeutung legitimiert und der Mittelpunkt ihres Zusammenhalts bezeichnet werden können. 571 Wie notwendig ihre Indienstnahme ist, zeigen auch die von Babičenko veröffentlichten Dokumente. In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Archivmaterial aus den Jahren 1932-1938 weist er darauf hin, daß das Zentralkomitee auch Schriftsteller mit offiziellen Aufträgen versorgt hat, gegen die belastendes Material beim Geheimdienst vorliegt: Babičenko 1997, 128f. Er zieht das Fazit: «Это говорит о том, что даже в эти годы ЦК считал нужным помнить не только о политическом, но и творческом облике писателей.» (Babičenko 1997, 128) Tolstoj selbst wird 1937 von der Verleihung des Stalinpreises ausgeschlossen. Auch gegen ihn liegt belastendes Material beim NKVD vor: Babičenko 1994, 38f.. Er erhält seinen ersten Stalinpreis erst 1941 für seinen Roman Петр Первый. Ein weiterer Stalinpreis folgt 1942 für seine Trilogie Хождние по мукам, 1943 erhält Tolstoj einen dritten Stalinpreis für das Drama Иван Грозный. 572 Diese These vertritt Groys 1988, 60ff. 568 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 111 einer von Stalin neu geschaffenen Wirklichkeit überhaupt erst inszenieren soll.573 Die Bedeutung des Schriftstellers besteht so nicht in erster Linie darin, die vorgegebene Realität einer offiziell vorgeschriebenen Wirklichkeit zu imaginieren, sondern darin, die vorgegebenen Versatzstücke einer offiziell propagierten Wirklichkeit zu synthetisieren und zu einem einheitlichen Bild der außerliterarischen Realität auszubauen.574 Daß die Zensurbehörden nicht an die Stelle des Autors treten, zeigen die ersatzlosen Streichungen beanstandeter Stellen.575 Auch Tolstoj liefert in seiner Erzählung keine authentische Widerspiegelung einer vorgängigen Person ‚Stalin’. Er schreibt stattdessen daran mit, die mythisch überhöhte Identität seiner Person zu schaffen und diese über den Umweg ihrer literarischen Repräsentation als vermeintlich authentische darzustellen. Die von ihm entworfene Figur folgt zwar in ihren semantischen Bezügen der offiziell propagierten Darstellung Stalins, fügt diese jedoch zu einer einheitlichen Figur zusammen und verleiht der bis dahin vor allem rhetorisch erzeugten Person ‚Stalin’ eine sinnlich konkrete Gestalt.576 Die literarische Darstellung Stalins gibt sich damit als Kollaboration zwischen einem offiziell dekretierten Stalinbild und den Techniken einer literarischen Figurengestaltung zu erkennen, die es ermöglicht, die lediglich fragmentarisch überlieferte Identität seiner Person zu einer in sich stimmigen Figurenkonzeption zusammenzufügen. Die eigentliche Leistung Tolstojs besteht so darin, die bis dahin lediglich als Referenzobjekt existierende Person Stalins mit einer quasi-natürlichen Identität auszustatten, die ihre Darstellung im offiziellen Stalinkult durch ihre Reproduktion im literarischen Text authentifiziert.577 Der Autor ist damit nicht nur sekundärer Effekt der literarischen Produktion, der die nachträglich geschaffene Wirklichkeitsfiktion signifiziert und in seinem Namen legitimiert, sondern liefert die Fiktionseffekte, die zur Reproduktion des ideologischen Weltmodells nötig sind.578 Sie erscheint dadurch nicht länger als ideologisches Dogma, sondern als entideologisierte Wirklichkeit, die von der offiziellen Literaturkritik als Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit propagiert werden kann. Vgl. hierzu auch Balibar/Macherey 1974, 217, die über die Position des Autors im Kontext einer materialistischen Literaturtheorie schreiben: „Der literarische Effekt wird gesellschaftlich in einem bestimmten materiellen Prozeß produziert: im Prozeß der Konstitution, d.h. der Fabrikation und Komposition von Texten - der literarischen ‚Arbeit’. Bei dieser Arbeit ist der Schriftsteller weder absoluter Schöpfer, souverän gegenüber den Bedingungen seiner Arbeit [...], noch umgekehrt der transparente und bloße Träger, durch den sich die anonyme Kraft einer Inspiration oder der Geschichte, einer Epoche, einer Klasse (was im Grunde auf dasselbe hinausläuft) manifestieren würde. Er ist selbst eine materiell wirkende Kraft, an einen bestimmten intermediären Ort gestellt unter Bedingungen, die er nicht selbst schafft, in Widersprüche verstrickt, die er nicht beherrscht, einer gewissen, für den ideologischen Überbau der bürgerlichen Gesellschaft charakteristischen Arbeitsteilung unterworfen, die ihn individualisiert.“ 574 Vgl. hierzu Günther 1993, 184ff. 575 In einem Brief, den S.B. Ingulov am 07. Dezember 1937 an das Sekretariat des Zentralkomitees sowie an Stalin, Kaganovič, Andreev, Ežov und Ždanov schickt, beschwert er sich darüber, daß die Zensurbehörden aus der im Oktober 1937 in der Zeitschrift Октябрь veröffentlichten Erzählung «Бруски» von Panferov eine Szene gestrichen haben, die die Redaktion der Zeitschrift nicht beanstandet hatte. In dieser Szene zeigt Panferov Lenin, der Stalin bittet, ihn zu vergiften. Diese Szene, die – so Ingulov über die Intention Panferovs – als Ausdruck des Vertrauens gelesen werden sollte, das Lenin Stalin entgegengebracht hat, wird, wie einige andere Stellen der Erzählung auch, ersatzlos gestrichen. Keine wird durch eine redaktionell überarbeitete Fassung ersetzt: Babičenko 1997, 267. 576 Zu dieser Funktion literarischer Texte vgl. Hamburger 1987, 128ff. 577 Eine Körperlichkeit im ganz eigentlichen Sinn des Wortes erhält die Figur Stalins dann in den im nachfolgenden Kapitel analysierten Dramen. 578 Zu dieser Funktion der Literatur vgl. Balibar/Macherey 1974, 205f. 573 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 112 2.10 Versuch einer Erzählanalyse Die Erzählung beginnt mit einem formal nicht markierten Anfang, der den Leser durch keinerlei Exposition in die imaginäre Wirklichkeit der Erzählung einführt. Er wird mit einer Eröffnung konfrontiert, deren Darstellung ihn direkt in das Geschehen einbezieht: «Две недели бушевала метель, завывая в печных трубах, грохоча крышами, занося город, устилая на сотни верст вокруг снежную пустыню. Телеграфные провода были порваны. Поезда нe подходили. Трамваи стояли в парках.» (Tolstoj Chleb 1937, 25) Der unvermittelte Beginn der Erzählung ist Teil einer Erzählstrategie, die darauf ausgerichtet ist, die nachträgliche Rekonstruktion der Ereignisse zu verdecken und eine imaginäre, vermeintlich reale Gegenwart der narrativ vermittelten Geschehnisse zu fingieren.579 Der Leser wird in eine Gegenwartsillusion gezwungen, deren Imagination im Verlauf der nächsten Abschnitte durch die Nennung realer (Tat-)Orte konkretisiert und auf eine außerliterarische Wirklichkeit bezogen wird. Dazu entwirft die Erzählung eine Reihe von Schauplätzen, deren literarische Topographie die dargestellte Handlung beglaubigt und im Raum-Zeit-Gefüge einer vermeintlich historischen Vergangenheit situiert:580 «Над Петроградом светил высоко взобравшийся месяц из январской мглы. Час был не слишком поздний, но город, казалось, спал. [...] Но город не спал. Петроград жил в эти январские ночи напряженно, взволнованно, злобно, бешено.» (Tolstoj Chleb 1937, 25) Das erste Kapitel der Erzählung wird durch eine fabellose Kompositionsstruktur bestimmt, die das Jahr ‚Eins‘ der Revolution vergegenwärtigt und über parallel montierte, unvermittelt aneinander gefügte Handlungssequenzen im literarischen Text repräsentiert.581 Es liefert die Zustandsbeschreibung einer politisch wie sozial zersplitterten Gesellschaft, die in dem unvermittelten Nebeneinander von Stimmen und Räumen ihren literarisch gestalteten Ausdruck findet. Nachdem die Erzählung in diesen Szenen das Bild einer heterogenen Gesellschaft entworfen hat, wird in der Mitte des ersten Kapitels mit Ivan Gora eine der zentralen Figuren in das Geschehen eingeführt.582 Sie wird zum verbindenden Element, das sowohl die einzelnen Handlungsstränge als auch die unterschiedlichen Schauplätze miteinander verknüpft. Der Erzählrhythmus des Textes ist von Beginn an durch den Wechsel berichtender und darstellender Szenen geprägt. Obwohl alle Sequenzen durch einen abstrakten Erzähler vermittelt werden, kommt ihnen eine jeweils andere Funktion zu. Während die zusammenfassenden Berichte die einzelnen Erzählabschnitte verbinden und den Kausalzusammenhang des Erzählten herstellen, dienen die szenisch gestalteten Erzählsequenzen dazu, einzelne Handlungsabschnitte zu exponieren und die literarischen Figuren im Kontext der Erzählung zu charakterisieren.583 Dieser Wechsel in der Erzähltechnik ermöglicht es Tolstoj, die historisch überlieferten Ereignisse auf die Wirklichkeit der Vgl. hierzu Zeller 1987, 571. Zu dieser Funktion des literarischen Schauplatzes vgl. Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff. sowie Gabriel 1975, 17ff. Zu den Orts- und Zeitangaben als referentialisierbare Ausdrücke vgl. Searle 1992, 44f. 581 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 134 sowie Lämmert 1967, 33 und Veldhues 1997, 93f. 582 Tolstoj Chleb 1937, 28f. 583 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 87f. sowie Genette 1994, 67f. In der Besprechung A. Usievičs sind es vor allem die kommentierenden Szenen, denen die literarische Qualität abgesprochen wird. Sie erscheinen dort als historische Kommentare, denen eine organische Einbindung in der Erzählung fehlt: Usievič 1938, 117. 579 580 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 113 literarischen Charaktere einzuschränken und das dargestellte Geschehen in ihrer Figurenperspektive zu brechen.584 Die Szenen übertragen den zuvor angelegten Konflikt in die Alltagsrealität der imaginären Helden und schaffen damit ein Identifikationspotential, das die dargestellten Ereignisse an das kommunikative Gedächtnis der Leser angleicht.585 Sie zielen auf eine emotionale Vereinnahmung, die die dargestellten Ereignisse im individuellen Gedächtnis der Leser verankert und an die Erinnerung der Bürgerkriegsgeneration anschließt.586 Die einleitenden Erzählsequenzen setzen sowohl den politischen als auch den militärischen Konflikt in den Verlauf der Erzählung ein. Diese Parallelisierung findet sich in allen Erzählabschnitten und wird zu einem der wichtigsten Darstellungsverfahren der Erzählung. Sie ermöglicht es, Stalin in seiner Rolle als militärischer Führer zu zeigen und ihn zugleich als politischen Führer vorzuführen, der zusammen mit Lenin den Sieg der Revolution organisiert.587 Die Konstitution des literarischen Konflikts ist so unmittelbar vom Darstellungsgegenstand der Erzählung abhängig. Er kodifiziert eine Erzählkonstruktion, die bis zum Ende der Erzählung bestehen bleibt: «Владимир Ильич начал говорить, сидя за столом, медленно потирая рукой лоб: - Теперь не время посылать немцам бумажки... Игра зашла в такой тупик, что крах революции неизбежен... Вскочил – руки глубоко в карманах. Протиснулся между товарищами на середину кабинета и забегал на двух квадратных аршинах... Лицо обтянулось, губы запеклись. – Крах революции неизбежен, если будет и дальше проводиться средняя политика – ни да ни нет, ни мира, ни войны... Политика самая робкая, самая безнадежная, самая неправильная изо всего возможного... Немцы наступают, - противодействовать мы не можем. Выжидать, тянуть с подписанием мира – значит сдавать русскую революцию на слом. [...] Мы должны подписать мир, хотя бы сегодня немцы предъявили нам еще более тяжелые условия, если бы они потребовали от нас невмешательства в дела Укарайны, Финландии и Эстлянии... то и на это надо пойти во имя спасения революции...» (Tolstoj Chleb 1937, 38) Die Erzählung stellt sich als mehrgleisige Erzählung dar, in der die einzelnen Erzählstränge durch die Verkettung von Motiven und Personen zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. In der rahmenlosen Kompositionsstruktur konstituieren sie ein Handlungsgefüge, in dem das äußere Geschehen dominiert und in jeweils eigenständigen Erzählzusammenhängen veranschaulicht wird.588 Sie setzen sich aus einer Kombination von Parallel- und Gegenhandlungen zusammen, die den literarischen Konflikt verstärken. Dadurch wird es möglich, den zentralen Konflikt der Erzählung auszuweiten und Vgl. hierzu Hamburger 1987, 134f., Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f. und O’Neill 1994, 59ff. Daß die Erzählung eine kommemorative Funktion erfüllt, zeigt die Kritik von A. Gurštejn. Er schreibt: «Трогательно звучит сейчас, в дни гигантского строительства сталинских пятилеток, рассказ о том, как ворошиловские отряды почти с пустыми руками, не имея нужных материалов, со сказочной быстротой восстановили пролет взорванного белогвардейцами моста. [...] Уже тогда, в первые годы гражданской войны, загорелся героический пафос социалистического строительства!» (Gurštejn 1938, 259) 586 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 138, der die emotionale Vereinnahmung als eins der zentralen Verfahren beschreibt, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf die dargestellten Ereignisse auszurichten. Zur Bedeutung von Erinnerungsberichten für die Geschichtsschreibung des Bürgerkriegs vgl. Mazour 1975, 191ff. 587 Diese mythische Formation wird zum ersten Mal in der 1929 erschienenen Festschrift zu Stalins fünfzigstem Geburtstag kodifiziert. In ihr findet sich neben einer Reihe von Artikeln, die sich auf die politische Arbeit Stalins beziehen auch der Artikel Vorošilovs über Stalin und die Rote Armee. Damit wird seine Doppelrolle als politischer und militärischer Führer ins öffentliche Gedächtnis eingetragen. Sie wird zu einem der wichtigsten Stereotype des offiziellen Stalinkults und wird in den Festschriften zu seinem sechzigsten und siebzigsten Geburtstag noch einmal wiederholt. Vgl. hierzu auch Heizer 1977, 56ff. 588 Lämmert 1967, 47f. und Veldhues 1997, 69ff. 584 585 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 114 in den parallel montierten Handlungssträngen zu multiplizieren.589 Tolstoj bedient sich damit einer Kompositionsstruktur, die den Eindruck der Unmittelbarkeit erhöht und die zu Beginn angelegte Auseinandersetzung in jeweils eigenständigen Handlungssträngen weiterverfolgt. Sie alle beruhen auf einer Opposition von revolutionären und konterrevolutionären Kräften und greifen damit eine Sujetkonstruktion auf, die seit der Mitte der dreißiger Jahre zum stereotypen Plot sozialistisch-realistischer Texte gehört.590 Die Erzählung folgt dabei einer parataktischen Kompositionsstruktur, in der die einzelnen Textsegmente unverbunden nebeneinander stehen. Ihr Nebeneinander führt zu einer Progression des Erzählten, an deren Ende die letztendliche Schürzung der Katastrophe steht. Statt die historische Vergangenheit in ihrer revolutionären Entwicklung darzustellen, rekonstruieren sie immer neue Filiationen einer Auseinandersetzung, die einzig dazu dient, den am Ende gezeigten Einsatz Stalins in Caricyns vorzubereiten. So wird die im ersten Kapitel angelegte Situationsbeschreibung zugunsten einer Sujetkonstruktion aufgehoben, welche die dargestellten Ereignisse von Anfang an auf ihr Ende verweist.591 Gleichzeitig entsteht durch das Nebeneinander der unterschiedlichen Erzählstränge ein historischer Kontext, der das Auftreten Lenins und Stalins vorbereitet. Sie werden am Ende des ersten Kapitels in die Erzählung eingeführt, nachdem die konkurrierenden politischen und gesellschaftlichen Meinungen in den literarischen Text eingetragen sind.592 In diesem Teil der Erzählung fallen Phasenbildung und Kapiteleinteilung zusammen. Die formalen Grenzen signalisieren Anfang und Ende der erzählten Handlungsstränge und strukturieren so die ansonsten unvermittelten Orts- und Zeitwechsel.593 Die durch die Zeitraffung entstehenden Aussparungen steigern die künstlerische Wirkung der Erzählung und verdichten das dargestellte Geschehen auf die für die Handlung wesentlichen Momente.594 Sie werden zu einer Ereignisfolge verknüpft, die sich unmittelbar auf den zu Beginn angelegten Konflikt bezieht und die Handlung in immer neuen Auseinandersetzungen ihrer endgültigen Lösung entgegenführt. Die Erzählung nähert sich kontinuierlich ihrem finalen Schauplatz und führt sowohl die handelnden Personen als auch die einzelnen Handlungsstränge nach und nach auf ihrem Weg nach Caricyn zusammen. Zu dieser Funktion paralleler Handlungsstränge vgl. Lämmert 17, 48ff. sowie Tomaševskij 1967, 198f., Červenka 1978, 84 und Veldhues 1997, 69f. A. Gurštejn kritisiert das unvermittelte Nebeneinander der einzelnen Handlungsstränge. Er sieht sie als Fragmente einer Handlungskonstruktion, welche die einzelnen Handlungsstränge nicht immer zuende führt: Gurštejn 1938, 262. 590 Vgl. hierzu Günther 1984, 107: „In thematischer Hinsicht zeichnen sich sozialistisch-realistische Romane durch die Basisopposition ‚Neues’ vs. ‚Altes’ (Fortschritt vs. Reaktion, Revolution vs. Konterrevolution, Sozialismus vs. Kapitalismus) aus. Dabei ist das ‚Neue’ stets positiv, das ‚Alte’ negativ bewertet. Diese durch den ideologischen Diskurs vorgegebene binaristische Struktur spiegelt sich auf allen übrigen Textebenen wider.” 591 Die Erzählung folgt damit einer eschatologischen Erzählstruktur: Lotman 1973, 323ff. 592 Tolstoj Chleb 1937, 31f. 593 Zur Funktion der Kapitelunterteilung vgl. Lämmert 1967, 79ff. sowie Genette 1992, 281ff. und Veldhues 1997, 93f. der die Bedeutung der Kapitelunterteilungen darin sieht, daß sie die Zahl der Erzählgrenzen vervielfachen und eine binnensemantische Struktur schaffen, an deren Übergängen die Informativität des Textes erhöht wird. 594 Lämmert 1967, 82ff. sowie Genette 1994, 61ff. und 213ff. 589 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 115 Während die im ersten Kapitel inszenierten Konflikte es ermöglichen, Stalin in seiner Rolle als militärischer und politischer Führer zu zeigen, wird mit der Beseitigung des Versorgungsdefizits, dessen Beschreibung seiner Ankunft in Caricyn vorausgeht,595 ein Handlungselement in die Erzählung eingesetzt, das es erlaubt, die persönlichen Eigenschaften seiner Figur stärker in den Vordergrund zu stellen. Der durch Korruption und Bestechung entstandene Versorgungsengpaß wird zum Anlaß, die ihm im offiziellen Stalinkult attestierten Eigenschaften in den Text der Erzählung einzutragen und im Kontext der dargestellten Ereignisse zu begründen.596 Der zivile und militärische Auftrag erscheinen so als komplementäre Handlungselemente, die sich wechselseitig ergänzen und eine jeweils andere Perspektivierung seiner Figur ermöglichen. Gleichzeitig weisen die immer wieder beschriebenen militärischen Auseinandersetzungen auf Defizite in der Kommandostruktur der Arbeiter- und Bauernverbände hin, die den Mythos von Stalin als dem Begründer der Roten Armee noch vor seiner Ankunft in Caricyn antizipieren. Während sich Vorošilovs militärisches Können darin zeigt, daß er einen Befehl des Revolutionären Kriegsrats verweigert und seinen Weg nach Caricyn fortsetzt, ist das militärische Wissen Stalins darin begründet, daß er die Inkompetenz der lokalen Befehlshaber nach seiner Ankunft in Caricyn aufdeckt und durch sein eigenes militärisches Können kompensiert. Die Beschreibung der militärischen Verbände inszeniert so einen Mangel, der die Darstellung Stalins vorbereitet und seine Rolle als Befehlshaber der Roten Armee präfiguriert: «Оперативный штаб главнокомандующего украинскими красными армиями не мог установить прочной связи с многочисленными отрядами, разбросанными на подступах к Харькову. Отряды действовали по своему революционному разумению, остступая и скоплялись в местах, которые они считали нужным оборонять. Не существовало более ни телеграфной, ни телефонной связи. Ориентировались – дозваниваясь до ближайшей какой-нибудь станции и, если в трубку лаяли непонятные слова, - определяли, что станции занята немцами.» (Tolstoj Chleb 1937, 51) Nachdem in den ersten Kapiteln sowohl der militärische als auch der politische Konflikt entwickelt und in die jeweils einzelnen Handlungsstränge eingesetzt worden ist, endet ihre Beschreibung im neunten Kapitel mit einer Zusammenfassung der militärischen Lage. In ihm werden die zuvor geschilderten Konflikte in den historischen Kontext der sowjetischen Geschichte eingeordnet und zum Bild einer Krise verdichtet, die den größten Teil des sowjetischen Territoriums von den Feinden der Revolution bedroht sieht.597 Ziel dieser Zusammenfassung ist es, den bevorstehenden Kampf um Caricyn in den übergeordneten Zusammenhang einer nachträglich gefälschten Geschichtsschreibung einzubinden und die ihm zugewiesene Bedeutung zu erhöhen. So erfährt der Leser in dieser Zusammenfassung nicht nur, daß die gesamte Ukraine von deutschen Truppen besetzt ist und überall im Land Aufstände der Konterrevolution drohen. Er erfährt auch, daß japanische Truppen in Vladivostok gelandet sind und von dort aus Tolstoj Chleb 1937, 64ff. Tolstoj Chleb 1937, 108ff. 597 Tolstoj Chleb 1937, 105f. Diese Darstellung ist in weiten Teilen mit der Darstellung in dem ein Jahr später erscheinenden Kurzen Lehrgang identisch. Sie inszeniert eine militärische und politische Krise, die dazu dient, die von Lenin und Stalin befehligte Verteidigung des Landes zu überhöhen und mit dem Nimbus einer mythischen Heilsbringerschaft zu versehen. Dabei bedient sich die historische Rekonstruktion der Vergangenheit der gleichen literarischen Verfahren, wie die Erzählung. Auch sie ordnet ihr Material einer vorgegebenen Darstellungsfunktion unter und präsentiert damit eine Geschichtsschreibung, die durch ihre ideologische Funktion bestimmt ist: vgl. hierzu Kurzer Lehrgang o.J., 304ff. 595 596 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 116 eine Eroberung Sibiriens planen. Zur gleichen Zeit besetzen meuternde tschechoslowakische Einheiten die Stationen der Transsibirischen Eisenbahn und bringen damit die zweite Lebensmittelader des Landes zum versiegen. Verbände aus Kosaken und ehemaligen Zarenregimentern bedrohen die Einheiten der Roten Armee und General Krasnov wird zum Ataman eines vereinigten Kosakenheeres ernannt. Durch diese Sujetkonstruktion wird Caricyn zum einzigen Ort, von dem aus die Versorgung der beiden Hauptstädte mit Getreide sichergestellt werden kann.598 Die Erzählung folgt damit einer Darstellung, die im offiziellen Stalinkult vorgegeben ist.599 Durch die literarische Bearbeitung wird sie in einen Handlungszusammenhang eingebettet, der die nachträglich hergestellte Bedeutung der Stadt bestätigt und die im Stalinkult angelegte Mythographie mit dem Anschein historischer Wirklichkeit versieht. Im Mittelpunkt steht damit nicht mehr die Darstellung einer innen- wie außenpolitisch zerrissenen Gesellschaft, sondern die Auseinandersetzung um eine Stadt, deren Verteidigung über den Sieg der Revolution entscheidet. Im weiteren Verlauf der Erzählung wird die Ausweglosigkeit dieser Situation noch verstärkt. Sie wird durch eine Auseinandersetzung der politischen Parteien überhöht, die angesichts der drohenden Niederlage die Ziele der Revolution verraten und die politischen Entscheidungen Lenins und Stalins boykottieren.600 Diese treffen erste Maßnahmen zum Aufbau einer neuen Wirtschaftsordnung und beginnen, den von ihnen propagierten Sozialismus unter den Bedingungen des Krieges aufzubauen.601 Dabei wird vor allem die Rolle Lenins durch den Kontrast der unterschiedlichen Handlungsstränge überhöht und mit einer historischen Bedeutung aufgeladen, die seine Darstellung an die ihm zugewiesene Identität in der sowjetischen Geschichtsschreibung angleicht.602 Am Ende dieser Szene steht ein Aufgabenplan, der das entschlossene Vorgehen der sowjetischen Regierung dokumentiert und ihre politische Machtausübung legitimiert. Er zählt eine Reihe von Maßnahmen zur Beseitigung des Hungers auf und kann als Beleg für die Entschiedenheit gelesen werden, mit der Lenin und Stalin die ihnen überantwortete Aufgabe erfüllen.603 Am Ende dieses Erzählabschnitts zeigt die Erzählung noch einmal Lenin und Stalin im Kreml’. Sie diskutieren die militärische wie politische Lage und überlegen, was angesichts der drohenden Katastrophe zu tun sei. Als Stalin einen Plan formuliert, wie die Getreidelieferung aus dem Kaukasus sichergestellt und Caricyn ver- Tolstoj Chleb 1937, 105f. Vgl. hierzu den Kurzen Lehrgang, der eine nahezu identische Zusammenfassung der historischen Ereignisse offizialisiert: Kurzer Lehrgang o.J., 306f. 600 Tolstoj Chleb 1937, 106. Auch hier folgt die Erzählung einer Darstellung, die sich ein Jahr später im Kurzen Lehrgang findet: Kurzer Lehrgang o.J., 298. 601 «Доклад Ленина 'Очередные задачи советской власти', резолюция Всероссийского центрального исполнительного комитета от двадцатого мая [...] и декрет одинадцатого июня об организации деревенских комитетов бедноты прогремели медными трубами над голодными городами, над всем взъерошенным, взволнованным, бескрайным деревенским миром. Декреты провозглашали жизненные основы соцализма.» (Tolstoj Chleb 1937, 106) Vgl. hierzu auch Gurštejn 1938, 259. 602 Vgl. hierzu auch den Kurzen Lehrgang, der die Bedeutung Lenins für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung unter der Kapitelüberschrift „Der Leninsche Plan der Inangriffnahme des sozialistischen Aufbaus” zusammenfaßt. Damit folgt auch dieser Teil der Erzählung einer Sujetkonstruktion, die in der kurz darauf veröffentlichten Geschichtsschreibung bestätigt und in ihrer Authentizität beglaubigt wird: Kurzer Lehrgang o.J., 297ff. 603 Tolstoj Chleb 1937, 107. Vgl. hierzu noch einmal den Kurzen Lehrgang o.J., 297f., der dieses Motiv ebenfalls aufgreift. 598 599 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 117 teidigt werden kann, wird er von Lenin mit einer Reihe von Sondervollmachten ausgestattet und nach Caricyn entsandt.604 Diese Szene leitet die Peripetie der gesamten Handlung ein. Wie sich im weiteren Verlauf der Erzählung zeigt, markiert sie den Beginn einer Konfliktlösung, die mit der siegreichen Verteidigung Caricyn endet.605 Mit der Ankunft Stalins in Caricyn geht ein Umschwung in der Handlung einher, der die zuvor inszenierten Defizite aufhebt und das Happy-End der Erzählung garantiert. Die Rolle Stalins wird so in unmittelbarer Abhängigkeit von der Kompositionsstruktur des Textes entworfen. Sie wird durch eine Konfliktrelevanz bestimmt, die durch die Position seiner literarischen Figur im Handlungsgefüge des Erzählten vorgegeben ist.606 Damit ist eins der zentralen Verfahren des literarischen Personenkults benannt. Es betreibt die mythische Überhöhung Stalins nicht nur über die inhaltliche sondern auch über die formale Ebene des Textes. Dadurch entsteht ein literarisches Subjekt, das nicht nur auf der Zeichenebene sondern auch über die Konfigurationsstruktur der Erzählung hergestellt wird. Seine literarische Identität ist durch die Funktion bestimmt, die Stalin im Gesamtzusammenhang der Erzählung zukommt und damit ganz unmittelbar von der Sujetkonstruktion des Textes abhängig.607 Zu Beginn des zehnten Kapitels werden die unterschiedlichen Handlungselemente zu einem einheitlichen Handlungsstrang verdichtet und auf die Zentralperspektive der Erzählung ausgerichtet.608 Von nun an wird die Erzählung ausschließlich von der Verteidigung Caricyns bestimmt und ordnet alle im Verlauf der Erzählung eingeführten Charaktere und Handlungsstränge diesem Darstellungsziel unter. Die einzelnen Erzählsequenzen folgen dabei einem Prinzip der Gradation, das die Intensität der dargestellten Ereignisse steigert und ihre Bedeutung für den Fortgang der Erzählung erhöht.609 Wie sich am Ende des Textes zeigt, werden sie einer Anordnung des künstlerischen Materials unterworfen, die nicht historisch sondern ästhetisch ist.610 Die realistische Motivation der Erzählung dient so lediglich dazu, die ästhetisch bedingte Auswahl des Erzählten zu verdecken und den Eindruck zu erwecken, als folge die Erzählung dem tatsächlichen Verlauf der dargestellten Ereignisse. Das verwaltungspolitische Chaos in Caricyn wird im Verlauf der nachfolgenden Szene durch einen drohenden Hungeraufstand verschärft.611 Obwohl die revolutionären Arbeiter und Bauern die sowjetische Regierung unterstützen, sind sie gegen die korrupte Verwaltung machtlos. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ankunft Stalins als unaus- Tolstoj Chleb 1937, 107f. Für Aristoteles markiert die Peripetie einen Wendepunkt, an dem sich das Erzählte vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück verkehrt. Folgt man Aristoteteles, ist nur die Peripetie gelungen, die aus dem direkten Handlungszusammenhang des Erzählten hervorgeht: Aristoteles 1994, 27ff. 606 Zu dieser Konfiguration der Figurenrolle vgl. Tomaševskij 1967, 152f., sowie Lotman 1973, 377ff., Červenka 1978, 118f. und Veldhues 1997, 60f. 607 Vgl. hierzu noch einmal Tomaševskij 1967, 152f., Lotman 1973, 377f., Červenka 1978, 118f. und Veldhues 1997, 60f. 608 Tolstoj Chleb 1937, 108ff. 609 Vgl. hierzu Červenka 1978, 161 sowie Šklovskij 1916, 78f., der das Prinzip der Gradation als Verfahren beschreibt, mit dem der literarische Text die automatisierte Wahrnehmung aufbricht und die Informativität des Textes erhöht. 610 Vgl. hierzu noch einmal Tomaševskij 1967, 144ff. 611 Tolstoj Chleb 1937, 112ff. 604 605 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 118 weichliche Notwendigkeit, da er allein die Verteidigung der Stadt sicherstellen und eine ausreichende Versorgung mit Brot gewährleisten kann. Sein Eingreifen wird dadurch legitimiert, daß die Arbeiter Caricyns nach einer starken Hand verlangen, welche die Verteidigung der Stadt organisiert. Damit wird eine Leerstelle inszeniert, die Stalin im weiteren Verlauf der Erzählung besetzt und seine literarisch hergestellte Bedeutung im kollektiven Bewußtsein des Volkes verankert. Durch den allgegenwärtigen Schrei nach Brot wird sein Einsatz zur mythischen Heilsbringerschaft, die nicht nur die Arbeiter und Bauern sondern auch die Revolution vor dem Tod durch Verhungern rettet:612 «Было известно, что на фронте – неудачи, враг неуклонно приближается к Царицыну. С хлебом – перебои. И самое тревожное было в том, что никто не чувствовал твердой руки в защите города от нависающей угрозы.» (Tolstoj Chleb 1937, 113) Der fehlenden Versorgung mit Brot kommt damit eine der zentralen Sujetfunktionen zu. In ihr fallen historische und literarische Sinnstiftung zusammen und werden zu einem Handlungselement verdichtet, das sowohl die historische als auch die literarische Mission Stalins legitimiert.613 Nachdem Stalin zu Beginn des zwölften Kapitels mit seinem Panzerzug in Caricyn eingetroffen ist, bestellt er die für die militärische und zivile Verwaltung der Stadt verantwortlichen Beamten zu sich und unterzieht sie einem ersten Verhör. Damit wird er in sein Amt als Sonderbevollmächtigter eingeführt und trifft erste Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgungssituation. Am Ende des Kapitels kann er Lenin telegraphieren, daß die so dringend gebrauchten Getreidelieferungen in Kürze in Moskau eintreffen werden.614 Der so angelegte Konflikt wird im weiteren Verlauf der Handlung ausgebaut. In einer Rede Vorošilovs erfährt man, daß sich die Kosaken unter dem Oberbefehl Krasnovs mit den deutschen Truppen vereinigt haben.615 Sie stellen damit eine militärische Stärke dar, der nicht mehr mit einzeln operierenden Verbänden entgegnet werden kann, sondern nur noch mit einer zentral organisierten Armee einheitlicher Verbände: «Мы поступим в распоряжение центрального командования революцией и этом докажем, что мы не какая-нибудь отдельная глупая федерация, что боится расстаться со своими хатами... Мы – часть нашей создаваемой единой Красной армии, дерущейся за зeмлю и мир всех трудящихся! Теперь не то, что было в феврале или марте... Красногвардейские и партизанские отряды сводятся в полки, бaтальоны, роты, образауют дивизии и корпуса. В этом наша задача, и вы должны из это пойти сознательно... [...] Хотите кружится около станицы Морозовской, около своей хаты... Один – как вы есть – восемнадцать волостей – мечтаете расправиться со всей армией Вильгельма и красновскими генералами... Я революционер, я большевик. И я прямо ставлю перед вами: вас провоцируют, эсеры и кулаки нашептывают вам такое поведение, которое быстро приведет вас к гибели... Этого я как коммунист и командир на придете допустить не могу...» (Tolstoj Chleb 1937, 126) Diese Zuspitzung des militärischen Konflikts liefert die Legitimation für die von Vorošilov geforderte und von Stalin vorgenommene Umstrukturierung der militärischen Tolstoj literarisiert damit ein Motiv, das bereits bei Vorošilov vorgegeben ist: Woroschilow 1936, 26. Vgl. hierzu Vorošilov 1936, 15 sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 33 und Jaroslavskij 1941, 92. Zur tatsächlichen Aufgabe Stalins in Caricyn vgl. Deutscher 1990, 259f. sowie Wolkogonow 19990, Bd.1/1, 74f., Tucker 1973, 190f. und McNeal 1988, 55ff. 614 Tolstoj Chleb 1937, 117f. 615 Auch hier folgt die Erzählung einer Darstellung, deren Sujetkonstruktion im Kurzen Lehrgang bestätigt wird. Dort heißt es: „Somit formierten sich bereits im ersten Halbjahr 1918 zwei deutlich bestimmte Kräfte, bereit, auf den Sturz der Sowjetmacht hinzuarbeiten: die ausländischen Imperialisten der Entente und die Konterrevolution innerhalb Rußlands.” (Kurzer Lehrgang o.J., 305) 612 613 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 119 Verbände. Durch die militärische Bedrohung wird ein Konfliktpotential in die Erzählung eingetragen, das seine Entscheidung legitimiert und zur historischen Notwendigkeit werden läßt. Die Erzählung dient so dazu, die mythische Konfiguration Stalins zu legitimieren und den ihm zugeschriebenen Aufbau der Roten Armee im Kontext der historischen Ereignisse zu begründen. Sie folgt damit einer Sujetkonstruktion, die auch in diesem Erzählabschnitt durch die offizielle Darstellung Stalins vorgegeben ist.616 In diesem letzten Kapitel der Erzählung werden die einzelnen Handlungsstränge endgültig zusammengeführt. Nachdem der einleitende Erzählabschnitt zeigt, wie Stalin die militärische und zivile Verteidigung der Stadt organisiert,617 bezieht sich der zweite Erzählabschnitt noch einmal auf die von Vorošilov befehligten Truppen.618 Ihnen gelingt es, die Brücke über die Wolga zu reparieren und in Caricyn einzurücken. Nach einer letzten militärischen Auseinandersetzung, die Vorošilov nur dank einer ihm von Stalin geschickten Abteilung Caricyner Soldaten gewinnt,619 sieht man Stalin und Vorošilov gemeinsam in Stalins Kommandowagen.620 In diesem Teil der Erzählung verlangsamt sich das Tempo der Erzählung. Dadurch ergibt sich eine größere Isochronie von erzählter und Erzählzeit, welche die Illusion einer unmittelbaren Gegenwart erhöht.621 Die Erzählung setzt sich aus einer Reihe von Szenen zusammen, die das Handeln Stalins und Vorošilovs in Caricyn vergegenwärtigen. Die noch verbleibenden Handlungsabschnitte zeigen, wie die Soldaten unter der Führung Stalins die Stadt verteidigen. Dazu sieht man zuerst, wie Stalin und Vorošilov einen Spähtrupp begleiten, der die Eisenbahnverbindung nach Caricyn überprüft.622 Sie werden von einer Einheit konterrevolutionärer Kosaken angegriffen, dem sie nur knapp entgehen können.623 Diese Szene zeigt Stalin in einer Situation unmittelbarer Gefahr und dient in erster Linie dazu, ihm im offiziellen Stalinkult zugewiesene Eigenschaften wie Mut und Überlegenheit zu demonstrieren.624 In der nächsten Szene sieht man die revolutionären Soldaten. Sie haben sich außerhalb von Caricyn versammelt und bereiten sich auf den Angriff vor, mit dem die Verteidigung der Stadt beginnt.625 Vorošilov teilt ihnen den Entschluß mit, eine reguläre Armee zu schaffen und kann am Ende mit einer gut organisierten Armee gegen die feindlichen Kosaken vorrücken.626 Im nächsten und zugleich letzten Abschnitt der Erzählung wird dann die endgültige Verteidigung der Stadt beschrieben. Diese beginnt mit einer Darstellung Stalins, der in Vgl. hierzu Vorošilov 1940, 32ff. sowie Kurzer Lehrgang o.J., 317f. oder Kurze Lebensbeschreibung 1945, 38. Tolstoj Chleb 1937, 138ff. 618 Tolstoj Chleb 1937, 141ff. 619 Tolstoj Chleb 1937, 141. 620 Tolstoj Chleb 1937, 144ff. 621 Genette 1994, 61ff. sowie Lämmert 1967, 89ff. 622 Tolstoj Chleb 1937, 147ff. 623 Tolstoj Chleb 1937, 148. 624 Vgl. hierzu Mikojan 1940, 76 und Jaroslavskij 1941, 150. 625 Tolstoj Chleb 1937, 149f. 626 Tolstoj Chleb 1937, 150ff. In dieser Szene wird auch Semen Budennyj in die Reihen der Roten Armee aufgenommen. Er wird als letzter historischer Charakter in die Erzählung eingeführt und zum Kommandeur der 1. sowjetischen Reiterarmee ernannt. Er spielt im weiteren Verlauf der Erzählung überhaupt keine Rolle, vervollständigt jedoch das an der Gründung und den Siegen der Roten Armee beteiligte mythische Personal: Tolstoj Chleb 1937, 150f. 616 617 Aleksej Tolstojs Erzählung Хлеб oder Wie man mit Literatur Geschichte fälscht 120 seinem Panzerzug letzte Anweisungen zur Verteidigung Caricyns erteilt.627 Ihm gelingt es, den Verrat Trockijs aufzudecken und dessen Stellvertreter im revolutionären Kriegsrat zu verhaften.628 Damit ist der politische Konflikt gelöst und die Erzählung kann sich auf die Darstellung Stalins in seiner Rolle als Oberkommandeur der Roten Armee konzentrieren. Nach einer erneuten Zuspitzung des militärischen Konflikts629 begibt sich Stalin selbst an die Front und befehligt von dort den Einsatz der revolutionären Truppen.630 Die Erzählung endet mit dem endgültigen Sieg der Roten Armee und der Vernichtung der Truppen Mamontovs. Damit ist der Konflikt der Erzählung gelöst und die zu Beginn angelegte Handlung abgeschlossen.631 Die folgenden Analysen untersuchen in chronologischer Reihenfolge die Erzählsequenzen, in denen Stalin auftritt. Ziel dieser Untersuchungen ist es, die literarischen Verfahren aufzuzeigen, mit denen das offizielle Stalinbild in den Text eingetragen wird und das Bild zu entdecken, das die Erzählung von Stalin zeichnet. Im Mittelpunkt steht die Frage nach den spezifisch literarischen Verfahren des offiziellen Stalinkults und ihren literarischen wie mythographischen Aspekten. Die Redundanz, die sich daraus ergibt, ist weniger in dem eigenen Schreiben begründet, als in dem Analysegegenstand selbst. Sie ist der Effekt eines formal wie inhaltlich stark stereotypisierten Stalinbildes, dessen literarische Imagination nicht nur auf der Wiederholung immer gleicher Bilder sondern auch der Verwendung immer gleicher Verfahren beruht. Diese Redundanz durch eine systematische Ordnung der Analyse zu verdecken, hätte bedeutet, eins der wesentlichen Elemente der literarischen Staliniana auszublenden. Sie in all ihren Wiederholungen, Brüchen und Stereotypen aufzuzeigen, soll verdeutlichen, wie fragmentarisch und redundant das in der Erzählung gezeichnete Stalinbild ist und wie die Imagination einer literarischen Figur zugunsten der Rekonstruktion einer offiziell vorgeschriebenen Biographie zurückgestellt wird. Tolstoj Chleb 1937, 152ff. Tolstoj Chleb 1937, 154. 629 Tolstoj Chleb 1937, 152f. und 154. 630 Tolstoj Chleb 1937, 154f. 631 Lotman 1973, 362 sowie Tomaševskij 1967, 135 und Veldhues 1997, 68f. 627 628 3 Stalin an der Südfront: Textanalyse 3.1 Ein Fall für zwei: Lenin, Stalin und der Mythos von der gleichberechtigten Führerschaft 3.1.1 Die Inszenierung des Privaten: Der private Raum als Mittel der Figurengestaltung Die Figur Stalins wird am Ende des ersten Kapitels in den Handlungszusammenhang des Textes integriert. Hier wechselt die Erzählung ein weiteres Mal ihren Schauplatz und zeigt nun Lenin und Stalin im Smol’nyj.632 Damit wird eine bereits kanonische Darstellung ihrer Personen aufgegriffen, die sie in ihrer Identität als politische Führer repräsentiert. Bereits die Konfiguration des Schauplatzes weist darauf hin, daß Sinn und Zweck dieser Szene in der Bestätigung dieser Identität liegen. Dabei zerfällt dieser Erzählabschnitt in zwei Teile: während der erste Teil ein Gespräch zwischen Lenin und Ivan Gora zeigt,633 besteht der zweite aus einem Dialog zwischen Lenin und Stalin.634 Der erste Teil dieser Episode dient dazu, die Figur Lenins zu exponieren und mit allen Eigenschaften des offiziellen Leninkults auszustatten. Sie zeichnet ihn als Führer der Revolution. Dies geschieht, indem die Wahrnehmung seiner Figur in der Figurenperspektive Ivan Goras gespiegelt wird, der vor den Privaträumen Lenins Wache hält. Er zweifelt am Sieg der Revolution und seine Zweifel verschwinden erst, als er Lenin sieht, der eilig den Flur heraufkommt: «Днем, в горячке на людях легко было верить в это. В ночной час в холодном коридоре начинало, как будто, брать сомнение... Длинен путь, хватит ли сил, хватит ли жизни? Головой Иван Гора верил, а тело, дрожавшее в худой бекеше, клонилось в противоречие. Из кармана тянуло печеным запахом хлеба, в животе посасывало, но есть на посту Иван Гора стеснялся. Издалека по каменной лестнице кто-то, слышно, спускался с третьего этажа. В коридоре, смутно показался человек в шубе, наброшенной на плечи, - торопливо шел, опустив голову в каракулевой шапке, засунув озябшие руки в карманы брюк. Иван Гора, когда он приблизился, облегченно раздвинул большой рот улыбкой. При взгляде на этого человека пропадали сомнения.» (Tolstoj Chleb 1937, 30) Durch diese Perspektivierung wird die Figur Lenins mit einer sekundären Semantik ausgestattet, die sie noch vor ihrem Eingreifen in den Handlungszusammenhang der Erzählung zum Symbol der Revolution verklärt. Es wird eine fertige Figurensemantik in die Erzählung eingesetzt, die seine offizielle Darstellung wiederholt und in der Figurenperspektive Ivan Goras bestätigt.635 Nachdem die Figur Lenins so in die Rolle, die ihr im offiziellen Leninkult zukommt, eingepaßt worden ist, werden in der nachfolgenden Szene die Eigenschaften Lenins detaillierter vorgestellt. Zentraler Darstellungsgegenstand ist dabei die Nähe Lenins zum Volk. Diese Rollenkonfiguration, die das semantische Profil seiner Figur von Anfang an bestimmt, wird durch eine Reihe weiterer Eigenschaften ergänzt, die sie an die Darstellung im offiziellen Leninkult angleichen.636 Tolstoj Chleb 1937, 30ff. Tolstoj Chleb 1937, 30f. 634 Tolstoj Chleb 1937, 31f. 635 Zu diesem Wechsel des Erzählfokus vgl. Lotman 1973, 380f. 636 Vgl. hierzu die Darstellung A.V. Alpatovs, der diese (Re)Konstruktion in seiner Analyse der Erzählung bestätigt: «В Ленине раскрываются черты гениального вождя партии, тесно связанного с массой, выражающего волю народа, его устремления, воплoщающего в себе мудрость партии и накоп632 633 Stalin an der Südfront: Textanalyse 122 So dokumentiert die Szene nicht nur seine Nähe zum Volk, sondern auch solche Eigenschaften, wie den unermüdlichen Einsatz Lenins für den Sieg der Revolution, die Entbehrungen, die er bereit ist, für diesen Sieg auf sich zu nehmen, und den Glauben, mit dem er die von ihm geführte Revolution organisiert.637 Diese Charakteristika werden in Form eines zusammenfassenden Berichts in die Erzählung eingesetzt und durch die neutrale Position des abstrakten Erzählers authentifiziert. Dadurch entsteht der Eindruck einer objektiven Realität, die das nachträglich fingierte Szenario von dem Verdacht der literarischen Fälschung befreit.638 Zum unmittelbaren Ausdruck dieser Figurencharakteristik wird der Raum, der zu Beginn der Szene beschrieben wird. Zusammen mit dem Dialog dient er dazu, die mythische Konfiguration Lenins im Text zu vergegenwärtigen und seine Figur durch die sekundär semantische Funktion des Schauplatzes zu charakterisieren.639 Die vermeintlich authentische Rekonstruktion der historischen Räume stellt so eine literarische Stilisierung dar, die den literarischen Schauplatz zur Modellierung nicht-räumlicher Bedeutungskomplexe einsetzt. Er wird zur Projektionsfläche einer Figurensemantik, die über die Verweisstruktur von Figur und Schauplatz auf die Figur Lenins übertragen werden kann.640 Diese Inszenierung wird durch die objektive Stimme des abstrakten Erzählers verdeckt und zur Wiedergabe einer faktischen Wirklichkeit verklärt:641 «Раньше (когда Смольный был институтом для благородных девиц) здесь помещалась классная дама, и, как было при ней, так все и осталось: в одном углу – плохонький шкапчик базарной работы, вытертые креслица у вытертого диванчика, в глубине – невысокая белая прегородка, за ней две железные койки, где спали Владимир Ильич и Надежда Константиновна. На дамском облупленном столике – телефон. Владимир Ильич работает на третьем этаже, сюда приходил только ночевать и греться. Но за последнее время часто оставасля и на ночь – наверху, у стола в кресле. Иван Гора прислонил винтовку и стал дуть на пальцы. Владимир Ильич – на диване за круглым столиком – перебирал исписанные листки. Не поднимая головы, спросил негромко: - Ну, как телефон? – Сейчас исправим. Ничего невозможного. Владимир Ильич, помолчав, повторил: 'Ничего невозможного', усмехнулся, встал и приоткрыл дверцу буфета. На полках две грязные тарелки, две кружки и – ни одной сухой корочки. У них с Надеждой Константиновной только в феврале завелась одна старушка – смотреть за хозяйством. До этого случалось – весь день не евши: то некогда, то нечего. Ленин закрыл дверцу буфета, пожав плечом – вернулся на диван к листкам.» (Tolstoj Chleb1937, 30f.) Durch diese Beschreibung der Privaträume Lenins wird die Szene zur indirekten Exposition:642 Ort, Zeit und Figurenkonstellation dienen dazu, einen situativen Kontext zu ленный ею опыт революционной борьбы. Ярко показывает писатель глубокую веру Ленина в массы, в творческие силы народа, его неисчерпаемый оптимизм.» (Alpatov 1955, 91) 637 Vgl. hierzu die Rede, die Stalin am 28. Januar 1924 anläßlich des Todes Lenins gehalten hat und die unter dem Titel О Ленине zu einem der zentralen Texte der stalinistischen Leniniana wird. In diesem Text nimmt Stalin eine Mythisierung vor, die Lenin mit den Eigenschaften ausstattet, die sein Bild in den dreißiger Jahren bestimmen. Dabei unterscheidet er zwischen dem „Politiker“ und dem „Menschen“ Lenin. Während die politische Identität Lenins durch Eigenschaften wie Logik, Prinzipienfestigkeit und politische Voraussicht bestimmt ist, decken sich die persönlichen Eigenschaften, die Stalin Lenin zuschreibt, mit den hier konfigurierten. Sie setzen sich aus Eigenschaften wie Bescheidenheit, Zuversicht und dem Glauben an die Kraft der Masse zusammen: Stalin 1952a, Bd. 6, 47ff. Zur Kanonisierung Lenins vgl. auch Tumarkin 244ff. sowie Velikanova 1996, 123ff. 638 Zur Funktion des narrativen Berichts vgl. Lämmert 1967, 87 sowie Genette 1994, 68ff. 639 Zum Verhältnis von Handlung und Figur vgl. Červenka 1978, 118ff. sowie Tomaševskij 1967, 153ff. Zum Dialog als Mittel der Personengestaltung vgl. Lämmert 1967, 204ff., Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f. und Leibfried 1972, 243f. 640 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95. 641 Zur Funktion des objektiven Erzählers vgl. Doležel 1972, 385ff. sowie Booth 1974, Bd.1, 156f., Genette 1994, 132ff. und Lämmert1967, 68f. 642 Zur indirekten Figurenexposition vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118 und O’Neill Stalin an der Südfront: Textanalyse 123 entwerfen, der es erlaubt, die kanonischen Eigenschaften seiner Figur darzustellen und im Handlungszusammenhang der Szene zu begründen.643 Sie versammelt alle Attribute des offiziellen Personenkults und stattet seine Figur mit einer Semantik aus, die sie an das offizielle Leninbild anpaßt. Dadurch entsteht eine Figurencharakteristik, welche die symbolische Überhöhung seiner Person rechtfertigt und das Rollenprofil seiner Figur legitimiert. Daraus ergibt sich eine gegenseitige Bedingtheit von Schauplatz und Rolle, die noch öfter zur Charakterisierung Lenins und Stalins herangezogen wird. Sie stellt eins der zentralen Verfahren ihrer literarischen Figurengestaltung dar und dient in erster Linie dazu, ihre mythische Identität im Text zu (re)präsentieren. Die Gestaltung der literarischen Schauplätze wird so von Anfang an einer Figurencharakterisierung untergeordnet, deren semantische Konstruktion die Eigenschaften des offiziellen Personenkults wiederholt und durch die sekundär semantische Bedeutung des literarischen Raums im Text vergegenwärtigt. 644 Die Privaträume Lenins im Smol’nyj liefern dabei den formalen Rahmen für eine Figurencharakteristik, die die persönlichen Eigenschaften Lenins in den Vordergrund stellt. Die Beschreibung des Interieurs fingiert einen situativen Kontext, durch den Eigenschaften wie Selbstlosigkeit, Entschlossenheit, Bescheidenheit und Einfachheit im Text veranschaulicht und als vermeintlich authentische Charaktereigenschaften Lenins dargestellt werden können.645 Im Mittelpunkt dieser Szene steht so eine Figurenkonzeption, die damit beauftragt ist, den ‚Menschen’ Lenin im Text zu vergegenwärtigen und mit allen Eigenschaften seiner mythischen Identität auszustatten. Diese werden durch die Imagination des Handlungsortes in die Erzählung übertragen und beziehen sich auf ein nachträglich kanonisiertes Bild, das nicht nur die literarische Repräsentation Lenins bestimmt, sondern sie mit seiner Darstellung in der Malerei zur Deckung bringt. Durch diese Übereinstimmung entsteht ein intermediales Verweissystem, das die literarische Figurengestaltung bestätigt und die Glaubwürdigkeit der Erzählung erhöht:646 1994, 49ff. Tomaševskij spricht in diesem Zusammenhang von einer Maske, die der Text entwirft, um die Identität der literarischen Figur zu konfigurieren: Tomaševskij 1967, 153. 644 Zu dieser Funktion des literarischen Raums vgl. Lotman 1937, 327ff. sowie Bal 1985, 90 und Veldhues 1997, 72f. 645 Čarnyj 1939, 84. 646 Vgl. hierzu die Rezension von A. Gurštejn, der die Darstellung Lenins als literarisches Porträt beschreibt: «Скупными, но четкими чертами набрасывает А. Толстой внешний портрет Ленина. [...] Уменье сделать все выводы из создавшейся обстановки, и всегда наметить ту основную задачу, которая выдвигается положением, тончайший анализ, глубочайший синтез, гениальный прогноз, - вот те черты, которые характерны для Ленина как учителя и вождя. А. Толстой дает ряд эпизодов, в которых ярко сказываются эти черты. Вмeсте с тем Ленин никогда не перестает быть 'своим, простым' для рабочего человека, которому он посвятил всю свою жизнь и все свои силы.» (Gurštejn 1938, 258) 643 Stalin an der Südfront: Textanalyse Brodskij, I.I., Lenin im Smol’ny (1930) 124 Michajlovskij, A.N., V.I. Lenin im Jahr 1918 (1924) Die Figur Stalins wird in die Handlung integriert, nachdem Lenin mit allen Attributen seiner mythischen Person in den Text eingesetzt worden ist. Er sucht Lenin in dessen Privaträumen auf und wird so in den Kontext der zu Beginn angelegten Konfigurationssituation einbezogen. Die Darstellung Stalins wird damit ebenfalls durch den situativen Kontext der Eingangssequenz bestimmt. Auch sie bezieht sich auf die persönlichen Eigenschaften seiner Figur und greift damit den Darstellungsmodus der vorhergehenden Erzählsequenz wieder auf.647 So bildet eine Figurenkonzeption den Auftakt, die Lenin und Stalin als Menschen zeigt und in ihren persönlichen Eigenschaften beschreibt. Die raum-zeitliche Situierung der Szene trägt dabei ganz unmittelbar zur Charakterisierung ihrer Figuren bei. Sie ermöglicht es, Lenin und Stalin in ihrer nachträglich fingierten Ich-Identität vorzuführen und die so fingierte Identität als vermeintlich authentische darzustellen.648 Dem Erscheinen Stalins geht keine Exposition voraus. Seine Ankunft wird weder im Erzählertext noch in einer der Figurenreden vorbereitet. Sein Auftritt liegt damit außerhalb des im Text abgesteckten Erwartungshorizonts. Er wird in eine Überraschungskonstruktion gekleidet, welche die Spannung der Szene steigert und die Bedeutung seiner Figur erhöht. Der Leser wird angehalten, dieses Überraschungsmoment in seinem eigenen Rezeptionsprozeß nachzuvollziehen und das dadurch freigesetzte Emotionspotential auf die Figur Stalins zu übertragen.649 Dadurch kommt es zu einem affizierten Leseverhalten, das die Distanz zwischen Erzählung und Erzähltem aufhebt und den Eindruck der Unmittelbarkeit verstärkt.650 Dieser Eindruck wird dadurch unterstrichen, daß die Figur Stalins konsequent aus der Außenperspektive beschrieben wird. Tolstoj bedient sich damit einer Figurencharakterisierung, deren absichtlich inszenierter Informationsvorbehalt die Spannung der Szene zusätzlich steigert.651 Diese Darstellungstechnik führt zu einer Verfremdung, die die im offiziellen Stalinkult verbürgte Identität von Name und Person aufhebt und die automatisierte Wahrnehmung seiner Person durch eine Beschreibung ihrer äußeren Erschei- Zur Differenz von Figurenrolle und Figurencharakteristik vgl. Veldhues 1997, 60f. sowie Tomaševskij 1967, 152f. und Greimas 1971, 120 und 157. 648 Vgl. hierzu noch einmal Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118ff. und Lotman 1973, 327ff. 649 Zur Überraschungskonstruktion vgl. Weber 1975, 106ff. 650 Weber 1975, 129ff. spricht von einer Erlebniskurve des Erzählten, die (idealiter) auf eine Erlebniskurve des Leseprozesses übertragen werden soll. Rudolf Schörken weist in seiner Arbeit über die Gegenwartsbezüge populärhistorischer Darstellungen darauf hin, daß ihre wichtigste Funktion in der Vergegenwärtigung historischer Ereignisse besteht, wobei er Vergegenwärtigung als einen „Prozeß der Transponierung von Erlebniswirklichkeit“ versteht: Schörken 1981, 116ff. 651 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 189f. sowie Weber 1975, 63ff. und Bal 1985, 79ff. 647 Stalin an der Südfront: Textanalyse 125 nung ersetzt. Diese Verfremdung zielt darauf ab, die Figur Stalins im Text zu vergegenwärtigen und durch eine Deautomatisierung ihrer Wahrnehmung im Leserbewußtsein zu verlebendigen.652 So steht am Anfang der Erzählung eine Darstellung, die seine Figur zum Objekt der Lesererwartung werden läßt und die Aufmerksamkeit des Lesers durch die formale Gestaltung der Szene auf seine Figur konzentriert:653 «Дверь, ведущая в приемную, где раньше помещалась умывальная для девиц и до сих пор стояли умывальники, - приоткрылась, вошел человек с темными стоящими волосами и молча сел около Ленина. Руки он стиснул на коленях – тоже, должно быть, прозяб под широкой черной блузой. Нижние веки его блествеших темных глаз были приподняты, как у того, кто вглядывается в даль. Тень от усов попала на рот.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Die Selbstverständlichkeit, mit der Stalin die Privaträume Lenins betritt, trägt ebenfalls zur Charakterisierung seiner Figur bei. Sie verdeutlicht die Position, die ihr in der Figurenkonstellation der Erzählung zukommt und steht im Gegensatz zu der am Ende dieses Kapitels gezeigten Szene, in der Kliment Vorošilov die Privaträume Lenins aufsucht.654 Das unvermittelte Eintreten Stalins wird so zur äußeren Handlung, die seine gleichberechtigte Position innerhalb der hierarchisch organisierten Figurenkonstellation repräsentiert.655 Die literarische Situation dient so nicht zuletzt dazu, eine Ordnung der Charaktere zu fingieren, die den Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern in den Kontext der Erzählung einträgt und noch vor dem ersten Handlungseinsatz Stalins im Handlungszusammenhang der Szene aktualisiert. Dieser Mythos wird durch die räumliche Anordnung ihrer Charaktere unterstrichen. Dazu greift die Erzählung auf eine Ikonographie zurück, welche die literarische Repräsentation ihrer Figuren an die Darstellungskonvention der bildenden Kunst angleicht. Auch dort wird die gleichberechtigte Führerschaft Lenins und Stalins durch eine räumliche Nähe ihrer Personen repräsentiert, die zu den zentralen Mythologemen des Stalinkults gehört.656 Bilder wie „Die Führer des Oktober“ (1940) von B.V. Joganson oder „V.I. Lenin, I.V. Stalin, Ja.M. Sverdlov und F.Ė. Dzeržinskij in den Tagen des Oktober“ (1939) von G.P. Tatarnikov weisen eine ähnliche ikonographische Ordnung auf, wie die zuvor beschriebene Szene, und tragen damit ein Bild in das Gedächtnis der sowjetischen Öffentlichkeit ein, das den Mythos ihrer gemeinsamen Führerschaft authentifiziert. Die Erzählung folgt demnach einem Darstellungsmodus, der den Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern ebenfalls räumlich modelliert und über die Konfiguration des Schauplatzes im Text vergegenwärtigt.657 Die literarische Repräsentation ihrer Figuren beruht damit auf einem nachträglich kanonisierten Darstellungssystem, dessen faktische Realität durch die gegenseitige Bespiegelung von Text und Bild sichergestellt wird.658 Vgl. hierzu noch einmal Šklovskij 1916, 15ff. Vgl. hierzu Weber 1975, 96ff. 654 Tolstoj Chleb 1937, 32. Im Unterschied zu der Figur Stalins kann Vorošilov erst eintreten, nachdem Ivan Gora dessen Identität überprüft hat. 655 Zur äußeren Handlung als Element der indirekten Figurencharakterisierung vgl. O’Neill 1994, 50 sowie Tomaševskij 1967, 153 und Faryno 1991, 162. Da die Figur Stalins durch ihr eigenes Verhalten charakterisiert wird, wird der Eindruck einer mimetischen Widerspiegelung noch erhöht. 656 Vgl. hierzu Heizer 1977, 132ff., Tucker 1990, 160f., Löhmann 1990, 305ff. und Yampolsky 1993, 109ff. 657 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95 und Lämmert 1967, 28. 658 Die gleiche Ikonographie findet sich auch in dem ebenfalls 1937 entstandenen Film Ленин в Октябре 652 653 Stalin an der Südfront: Textanalyse 126 Joganson, B.V., Die Führer des Oktober (1940) Tatarnikov, G.P., V.I. Lenin, I.V. Stalin, Ja.M. Sverdlov und F.Ė. Dzeržinskij in den Tagen des Oktober (1939) Durch das unvorbereitete Eintreten Stalins kann aber nicht nur der Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern in Szene gesetzt werden. Auf der formalen Ebene der Erzählung entspricht sein Auftritt einem unvermittelten Handlungseinsatz, der die Vorstellung parallel verlaufender Handlungen impliziert.659 Durch die Imagination gleichzeitig verlaufender Handlungen gelingt es der Erzählung, die Illusion zu erwecken, als habe Stalin die ganze Zeit in einem anderen Trakt des Gebäudes gearbeitet. Dadurch kann er in sein Amt als politischer Führer eingesetzt werden, ohne daß die Erzählung diese Identität in einem eigenständigen Erzählstrang exponiert.660 Der nicht vermittelte Erzähleinsatz dient so dazu, seine Figur mit einer Rolle zu versehen, die seine literarische Repräsentation an ihre Darstellung im Stalinkult angleicht und seine Figur noch vor dem Einsetzen der Handlung in der Figurenkonstellation der Szene positioniert. von Aleksej Kapler und Michail Romm: vgl. hierzu die Abbildung in Bulgakowa 1994, 65 sowie die bei Hülbusch 2001, 80 beschriebene Szene mit der Nummer 24. 659 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 140f. sowie Veldhues 1997, 94 und Weber 1975, 59. 660 Vgl. hierzu die erstmals 1939 erschienene Stalinbiographie, in der der Mythos von gleichberechtigten Führerschaft in die offizielle Biographie seiner Person eingetragen wird: Kurze Lebensbeschreibung 1945, 29. Was Stalin in seiner Eigenschaft als politischer Führer alles geleistet haben soll, listet Emeljan Jaroslavskij in seiner 1939 erschienenen Monographie О товарище Сталине auf. Neben verschiedenen politischen Ämtern soll Stalin den bewaffneten Widerstand organisiert, die verschiedenen Sowjetrepubliken geeint und mit Lenin zusammen eine sozialistische Gesellschaftsordnung gegründet haben: Jaroslavskij 1941, 82ff. Daß der politische Einfluß Stalins in dieser Zeit fast ohne Bedeutung war, zeigen die nachträglich erschienenen Biographien: Wolkogonow 1990, Bd. 1/1, 58ff. sowie Deutscher 1990, 9ff., Slusser 1987, 219ff., Lewis/Whitehead 1990, 24ff., Ree 2002, 73ff. und McNeal 1988, 27ff. Stalin an der Südfront: Textanalyse 127 3.1.2 Das Führerporträt: die äußere Beschreibung der Figur als Mittel der Figurencharakteristik Der unvermittelte Erzähleinsatz ermöglicht es aber auch, die Figur Stalins in den Verlauf der Handlung einzubeziehen, noch bevor die Erzählung ihn durch die Nennung seines Namens identifiziert. Dazu bedient sich Tolstoj der scheinbar objektiven Beschreibung eines distanzierten Erzählers, der zuerst die äußere Erscheinung Stalins wiedergibt.661 Diese Beschreibung versammelt alle kanonischen Merkmale der offiziellen Stalinrepräsentation und zielt auf eine Wiedererkennung ab, die nicht an den Namen sondern die äußere Erscheinung seiner Person gebunden ist.662 So eröffnet die Erzählung mit einem literarischen Porträt, das die ikonischen Eigenschaften Stalins verdoppelt und im literarischen Text vergegenwärtigt. Es setzt die im Text beschriebenen Details zu einem Bild zusammen, das die literarische Repräsentation seiner Figur an ihre offizielle Vorlage angleicht und die bildliche Darstellung Stalins im Erzählertext rekonstruiert.663 Die Erzählung beruht damit auf einer Ästhetik der Identität, die die Übereinstimmung von Text und Wirklichkeit durch eine Identifizierung der dargestellten Erscheinungen mit bereits vorfabrizierten, bekannten und in das System integrierten Modellklischees herstellt:664 „Der gnoseologische Charakter der Ästhetik der Identität besteht darin, daß verschiedenartige Lebenserscheinungen auf dem Wege des Gleichsetzens mit bestimmten logischen Modellen erkannt werden. Dabei scheidet der Künstler bewußt all das als unwesentlich aus, was die individuelle Besonderheit der Erscheinungen konstituiert. Dies ist die Kunst der Identifizierungen. Wenn sie auf die unterschiedlichen Phänomene A’, A’’, A’’’, A’’’’..., trifft, wird sie nicht müde zu wiederholen: A’ ist A, A’’ ist A, A’’’ ist A... An ist A.“ (Lotman 1973, 434) Die Aufgabe dieser Beschreibung besteht aber nicht nur darin, die Figur Stalins durch ihr Äußeres zu identifizieren. Ihre Aufgabe besteht auch darin, seine Figur durch das im Text beschriebene Verhalten zu charakterisieren. Zum wichtigsten Merkmal dieser indirekten Figurencharakteristik wird das Schweigen, mit dem Stalin den Raum betritt. Es verweist auf Eigenschaften wie Ruhe, Entschlossenheit und innere Stärke und repräsentiert damit semantische Merkmale, die im weiteren Verlauf der Erzählung zu den zentralen Elementen seiner Figurencharakteristik werden.665 Sie bestimmen seine Darstellung als politischer und militärischer Führer und werden zum Ausdruck einer Figurengestaltung, die in erster Linie damit beauftragt ist, die Überlegenheit seiner Figur zu dokumentieren. In einer 1939 erschienenen Besprechung heißt es über diese Szene: Zur Objektivitätsillusion einer vermeintlich neutralen Erzählsituation vgl. Doležel 1972, 385f. sowie Booth 1974, Bd.1, 158f. und Veldhues 1997, 81. 662 Aristoteles unterscheidet in seiner Poetik zwischen vier Arten der Wiedererkennung: der Wiedererkennung durch Zeichen, einer vom Dichter erdachten Wiedererkennung, einem Widererkennen aufgrund von Erinnerung und einer aus den Geschehnissen abgeleiteten Identifikation. Während er der letzten Art der literarischen Identitätsstiftung den höchsten Wert beimißt, schreibt er über die Identifizierung anhand von äußeren Zeichen: „Von den Arten der Wiedererkennung hat die erste am wenigsten etwas mit der Dichtkunst zu tun, und man verwendet sie aus Verlegenheit am häufigsten [...].“ (Aristoteles 1994, 51) Tolstoj bedient sich somit einer Identifikationsstrategie, die nicht darauf abzielt, die Figur Stalins im Gesamtzusammenhang des Erzählten zu identifizieren. Er bedient sich statt dessen einer Darstellung, die seine Figur mit Blick auf den Leser charakterisiert. Dieser soll die Figur Stalins (wieder)erkennen und mit seiner realen Person gleichsetzen. 663 Zur äußeren Figurenbeschreibung als „Maske“ vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Faryno 1991, 162ff. 664 Vgl. hierzu Lotman 1973, 433ff. sowie Piontek 1987, 15ff., Balibar/Macherey 1974, 209ff., Steinmetz 1972, 124ff., Iser 1991, 490f. und Stern 1983, 143f. bzw. 153f. 665 Zur indirekten Figurencharakterisierung durch das im Text beschriebene Verhalten vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f., Faryno 1991, 162ff. und O’Neill 1994, 50f. 661 Stalin an der Südfront: Textanalyse 128 «[...] Толстому удалось несколькими деталями убедительно выразить замечательное чувство реальности ленинского соратника, его спокойствие в самые тревожные минуты, спокойствие, опирающееся на ясный ум, на огромную внутренную силу.» (Čarnyj 1939, 85) Der schwarze Kittel, den Stalin in dieser Szene trägt, gehört ebenfalls zu den ikonographischen Elementen, die eine Übereinstimmung von literarischer und außerliterarischer Figur fingieren. Er identifiziert Stalin mit dem revolutionären Volk und kennzeichnet ihn damit als Führer, der im Gegensatz zu Lenin die praktische Seite der Revolution organisiert.666 Auch dieses Motiv wird im Verlauf des Textes zu einer eigenständigen Figurensemantik ausgebaut. Sie wird über die äußere Beschreibung seiner Figur im Text vergegenwärtigt und weist noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung auf die zukünftige Handlungsfunktion Stalins hin. So wird bereits durch die äußere Beschreibung seiner Figur eine Rollenkonfiguration antizipiert, die ihre weitere Darstellung bestimmt und über den Umweg einer indirekten Figurencharakteristik in den Handlungszusammenhang der Szene eingetragen wird.667 Ein weiteres Motiv, das sich durch die literarische Repräsentation seiner Figur zieht, sind die leuchtenden Augen. Sie werden zum festen Bestandteil seiner Figurenbeschreibung und nehmen eine Eigenschaft vorweg, die im Fortgang der Handlung ebenfalls zu einer eigenständigen Figurensemantik ausgebaut wird. Sie repräsentieren den politischen und militärischen Weitblick Stalins und tragen damit eine Figurencharakteristik in den literarischen Text ein, die zu den zentralen Merkmalen des Stalinkults gehört. Durch die Beschreibung seiner Augen wird die Figur Stalins mit dem Blick eines Sehers ausgestattet, der die militärische und politische Lage erkennt, noch bevor sie im Text beschrieben wird.668 Der Schnurbart dagegen gehört zu den ikonographischen Elementen, aus denen sich das offizielle Porträt Stalins zusammensetzt. Er stellt eins der zentralen Merkmale dar, auf denen die Identifikation Stalins mit seinem Porträt beruht. Er wird damit zu einem „ideographischen Zeichen“669, auf das sich, so Tat’jana Čeredničenko, das ikonische Prinzip der Ähnlichkeit bezieht:670 «Образ лидера складывается из разрозненных деталей, между которым – 'пустоты'. Так, усохшая рука Сталина служит лишь канделябром для его трубки, выросшей в монументальный знак; а рябое лицо вождя – наскоро сделанная грунтовка, на которой история со всем возможным тщанием нарисовала знаменитые уса.» (Čeredničenko 1994, 67) Zu Stalin als Praktiker der Revolution vgl. Vorošilov 1930, 44f. sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 36ff., Molotov 1940, 22 und Jaroslavskij 1941, 88ff. Zur der unterschiedlichen Ikonographie Lenins und Stalins vgl. auch Sinjawskij 1989, 117ff. 667 Zu den Verfahren der indirekten Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f., O’Neill 1994, 49ff. und Faryno 1991, 162ff. 668 Zu Stalins Augen als literarisches Motiv vgl. auch Ziolkowski 1998, 20ff. Diese Interpretation wird in dem Beitrag Kaganovičs in dem Festband zu Stalins sechzigstem Geburtstag bestätigt: «Одной из хараткерных черт товарища Сталина является его талант – за внешним, не бросающимся в глаза, видеть существо вещей, корень их и на этой основе видеть на десятилетие вперед.» (Kaganovič 1940, 58) In einer der Rezensionen heißt es ebenfalls: «Он охватывал взором безбрежную даль, этому провидению он учился у своего великого учителя.» (Gurštejn 1938, 258) 669 Als ideographisches Zeichen bezeichnet B.A. Uspenskij die Merkmale, die in der Ikonenmalerei als invariante Merkmale die Identität der dargestellten Personen repräsentieren. Dabei fungiert die Kleidung genauso wie der Bart der einzelnen Heiligen als stereotypes Merkmal, das ihre kanonische Identität sicherstellt und die Richtigkeit ihre Darstellung bildübergreifend garantiert: Uspenskij 1971, 761f. 670 Vgl. hierzu auch Sinjawskij 1989, 118. 666 Stalin an der Südfront: Textanalyse 129 Die Erzählung erscheint damit als künstlerischer Text, der die literarische Identität Stalins nicht selbst generiert, sondern dessen Bild – analog zur Tätigkeit des Ikonenmalers – lediglich enthüllt.671 Dadurch entsteht der Eindruck einer Authentizität, die eigentlich jedoch darauf beruht, daß die im Text versammelten Details mit dem nachträglich kanonisierten Merkmalsatz übereinstimmen.672 Sein Körper wird damit zur Projektionsfläche eines Stalinkults, der die offizielle Repräsentation seiner Figur aufgreift und in die vermeintlich reale Person ‚Stalin’ inskribiert. Dadurch wird die im Text rekonstruierte Körpersemantik symbolisch aufgewertet und zur unmittelbaren Repräsentation seiner Figur verdichtet. Der literarisch gestaltete Körper Stalins wird zum Zeichenträger, der alle Merkmale seiner mythischen Identität auf sich vereinigt und die im offiziellen Stalinkult vorgegebenen Darstellungselemente als scheinbar authentische Eigenschaften repräsentiert. Er wird damit selbst zum Spiegel, der die Mythologeme des Stalinkults reflektiert und in seiner scheinbar faktischen Existenz begründet. Diese Inszenierung seines Körpers zielt auf eine reale Anwesenheit, die den Schriftraum der Erzählung transzendiert.673 3.1.3 „Ohne Worte“: Zur Bedeutung der Figurenrede Mit dem Eintreten Stalins in die Privaträume Lenins geht zugleich ein Wechsel in der Konfigurationsstruktur der zuvor angelegten Erzählsituation einher. Die Figur Ivan Goras wird in den Hintergrund gedrängt, so daß die nachfolgende Szene von einem Dialog Lenins und Stalins bestimmt wird. Die Szene wird durch keine äußere Handlung unterbrochen und ist rein dialogisch gestaltet. Dadurch entsteht eine Pause im Erzählten, deren Aufgabe es ist, die Figuren Lenins und Stalins in ihrer Rolle als Revolutionsführer vorzuführen.674 Dazu wird die zu Beginn angelegte Figurensemantik in die direkte Rede ihrer Figuren übertragen und in ihrer literarisch gestalteten Figurenperspektive begründet. Dadurch kann die offizielle Identität ihrer Figuren wiederholt und durch die im Text entworfene Figurenrede beglaubigt werden.675 Der Mythos von der gemeinsamen Führerschaft Lenins und Stalins wird so nicht allein durch die räumliche Anordnung ihrer Figuren im Text vergegenwärtigt, sondern auch durch die formale Struktur der Szene konfiguriert.676 Der erste Auftritt Stalins gestaltet sich aber noch weitgehend ohne Worte. Er hört den Ausführungen Lenins zu und beteiligt sich nur am Ende mit einer einzigen Replik an ihrem Gespräch. So wird die Dialogizität dieser Szene vor allem in der Figurenrede Lenins hergestellt.677 Dieser wendet sich ganz selbstverständlich an Stalin, wobei die Unmittelbarkeit, mit der er das Gespräch beginnt, den Mythos von ihrer gemeinsamen Vgl. hierzu Uspenskij 1971, 764. Daß das literarische Portrait die Zeichenhaftigkeit der literarischen Figur letztlich erhöht, zeigt Faryno 1991, 177f. 673 Faryno 1991, 201. 674 Zur Bedeutung der direkten Figurenrede für die Charakterisierung literarischer Charaktere vgl. Lämmert 1967, 204ff.sowie Genette 1994, 123ff., der die direkte Rede als „mimetischste Form“ der Figurenrede bezeichnet, in der der Erzähler zurücktritt und die Figurenperspektive der einzelnen Charaktere dominiert. Vgl. hierzu auch Leibfried 1972, 242 sowie Bal 1985, 148f. 675 Zur Funktion szenisch gestalteter Erzählabschnitte vgl. Lämmert 1967, 87 sowie Genette 1994, 78ff. 676 Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 115, der das Verhältnis zwischen den sprechenden Figuren als erste bedeutungsstiftende Funktion des Dialogs bezeichnet. 677 Daß es sich damit eigentlich um einen Monolog handelt, zeigt Mukařovský 1967, 145ff., der das Übergewicht eines Sprechers als Monologisierung des Dialogs bezeichnet. 671 672 Stalin an der Südfront: Textanalyse 130 Führerschaft unterstreicht.678 Der plötzliche Einsatz seiner Rede erweckt den Eindruck, als führe er eine zuvor begonnene Überlegung nach dem Eintreten Stalins laut fort und lasse diesen so an seinen Gedanken teilhaben. Der nicht vermittelte Einsatz seiner Rede wird damit zum formalen Äquivalent einer Figurencharakteristik, die das Vertrauen Lenins und Stalins in den Text der Erzählung einträgt und das semantische Profil ihrer Figuren um einen weiteren Aspekt ergänzt. So ist nicht nur die inhaltliche sondern auch die formale Gestaltung des Dialogs an der Charakterisierung ihrer Figuren beteiligt: «- Точка зрения Троцкого: войну не продолжать и мира не заключать – ни мира, ни войны – негромко, глуховато проговорил Владимир Ильич, - ни мира, ни войны! Этакая интернациональная политическая демонстрация! А немцы в это время вгрызутся нам в горло. Потому что мы для защиты еще не вооружены... Демонстрация неплохая вещь, но надо знать – чем ты жертвуешь ради демонстрации....» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Das nachfolgende Schweigen Stalins wird auch in diesem Erzählabschnitt zum Ausdruck einer Figurensemantik, welche die offizielle Repräsentation seiner Figur legitimiert. Es weist noch einmal auf die Ruhe und Entschlossenheit hin, mit der er auf die von Lenin geschilderte Krisensituation reagiert und stellt auch hier eine Überlegenheit dar, die das offizielle Stalinbild vorschreibt. Sein Schweigen wird zum literarischen Verfahren, das die mythische Identität seiner Figur verdoppelt und als nicht realisierte Figurenrede in den Text der Erzählung einträgt. Dadurch entsteht eine Figurenperspektive, die im weiteren Verlauf der Szene aufgegriffen und in der Figurenrede Stalins begründet wird.679 Die Charakterisierung Stalins findet in diesem Teil der Erzählung ausschließlich im Erzählertext statt. Dieser beschreibt ein Verhalten, das die zuvor inszenierte Nähe zwischen Lenin und Stalin bestätigt und durch die non-verbale Kommunikation Stalins unterstreicht. Diese Nähe wird in die Figurenperspektive seiner Figur übertragen und zu einer Freundschaft ausgebaut, die ihre politische Zusammenarbeit in einer emotionalen Beziehung begründet:680 «Сталин коротко, твердо кивнул, не спуская с Владимира Ильича блестящих глаз.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Da die Reaktion Stalins aber nicht nur beschrieben, sondern durch qualifizierende Adjektive bewertet wird, trägt der Erzählertext eine Reihe von Merkmalen in das semantische Profil seiner Figur ein, welche die zuvor angelegte Figurencharakteristik ausbauen und die indirekte Charakterisierung seiner Figur bestätigen. Dadurch entsteht eine Übereinstimmung von innerer und äußerer Figurenbeschreibung, die seine offizielle Identität reproduziert und durch das Nebeneinander von direkter und indirekter Figurenbeschreibung im Text vergegenwärtigt.681 Vgl. hierzu noch einmal Mukařovský 1967, 115f. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f., Leibfried 1972, 242f. und Bal 1985, 148f. 680 Während Stalin in der Festschrift zu seinem fünfzigsten Geburtstag noch als Schüler und enger Vertrauter Lenins gefeiert wird (K pjatidesjatiletiju 1930, 7f.), heißt es in dem Vorwort zu der Festschrift, die anläßlich seines sechzigsten Geburtstags erschienen ist: «Центральный Комитет большевистской партии горячо приветствует тебя, друга Ленина и великого продолжателя его дела, вождя партии и советского народа – в день твоего шестидесятилетия.» (K šestidesjatiletiju 1940, 3) Diese Verschiebung von einem Lehrer-Schüler Verhältnis zu einer Freundschaft zweier gleichberechtigter Führer bleibt auch in der Festschrift zu seinem siebzigsten Geburtstag bestehen und spiegelt eine Modifizierung in der offiziellen Mythographie des Stalinkults, die auch James Lee Heizer in seiner Arbeit über die öffentliche Repräsentation Stalins in den Правда-Ausgaben der dreißiger Jahre konstatiert: vgl. hierzu Heizer 1977, 56ff. und 132ff. sowie die Tabellen auf den Seiten 70f. und 158f. 681 Zu dem Verhältnis von innerer und äußerer Figurencharakteristik vgl. Lämmert 1967, 199ff., der Erzählerrede und Figurenrede als zwei verschiedene Dimensionen der narrativen Aussage beschreibt, 678 679 Stalin an der Südfront: Textanalyse 131 Das Übergewicht der Rede Lenins wird erst im weiteren Verlauf der Erzählung aufgehoben. In der eröffnenden Szene dient es dazu, die Stalin zugeschriebene Rolle zu legitimieren und in der fremden Rede Lenins zu begründen. Dessen Monologe zeigen ihn nicht nur als politischen Führer, der über alle Vorgänge im Land informiert ist.682 Die Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der er Stalin seine Sicht der Dinge darlegt, zeigt auch, welche Bedeutung er der Figur Stalins beimißt.683 Das quantitative Übergewicht der Figurenrede Lenins dient so dazu, eine Figurenkonzeption zu entwerfen, die die mythische Repräsentation seiner eigenen Person bestätigt und es gleichzeitig ermöglicht, die Darstellung Stalins in diesem Konzept zu verankern. Dessen Darstellung wird in die Figurenrolle Lenins eingeschrieben und in der Autorität seiner Figur begründet. Der Dialog dient so nicht allein dazu, die Figuren Lenins und Stalins zu charakterisieren, sondern auch dazu, ihr offiziell dekretiertes Verhältnis in den Text der Erzählung einzutragen. Am deutlichsten wird dies an der Frage, die Lenin in der Mitte seiner Rede an Stalin richtet. Diese bezieht ihn ganz unmittelbar in das Gespräch mit ein und dokumentiert damit einmal mehr den Mythos ihrer gemeinsamen Führerschaft.684 Obwohl die Frage unbeantwortet bleibt, stellt sie eine Beziehung ihrer Figuren her, die das Bild von den zwei gleichberechtigten Führern aktualisiert und in der Figurenrede Lenins bestätigt. Es ist damit nicht mehr allein in der Konfigurationsstruktur der Szene angelegt, sondern in einer Figurenperspektive, die eine vermeintlich authentische Wahrnehmung Stalins repräsentiert:685 «Мы опираемся не только на пролетариат, но и на беднейшее крестьянство... При теперешнем положении вещей оно неминуемо отшатнется от тех, кто будет продолжать войну... Мы, чорт их дери, никогда не отказывались от обороны. (Рыжеватыми – веселыми и умными, лукавыми и ясными глазами глядел на собеседника.) Вопрос только в том: как мы должны оборонять наше социалистическое отечество...» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Die Rolle Stalins bleibt auch in dieser Szene darauf beschränkt, den Ausführungen Lenins zu folgen und diese über die Zeichen einer non-verbalen Kommunikation zu bestätigen:686 «Сталин снова твердо кивнул. Владимир Ильич взял другой листочек.» (Tolstoj Chleb 1937, 32) Dadurch wird eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven inszeniert, die den Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern der Revolution noch einmal aufgreift und im Kontext der Erzählung begründet. Er wird durch eine Kommunikationssituation in den Text der Erzählung eingetragen, die keine semantischen Differenzen erkennen läßt und ihre Figurenperspektiven in einem monologisierten Dialog zusammenschließt.687 In der 1950 zwischen denen ein Spannungsverhältnis entsteht, das allein in der epischen Erzählkunst von Bedeutung ist. Tomaševskij 1967, 153 spricht ebenfalls von einer direkten und einer indirekten Charakterisierung, die sich entweder aus der Rede der Figuren (oder des Autors – eine Charakterisierungstechnik, die in realistischen Erzählungen normalerweise nicht vorkommt und lediglich in Form der erlebten Rede realisiert werden kann) oder ihren Verhaltensweisen ergibt. Vgl. hierzu auch Bal 1985, 79ff. sowie Faryno 1991, 162ff. und O’Neill 1994, 49ff. 682 Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 31f. 683 Vgl. hierzu noch einmal Mukařovský 1967, 115ff. 684 Zum Fragesatz als sprachliches Mittel, das primär die Beziehung zwischen den Dialogpartnern regelt, vgl. Mukařovský 1967, 118. 685 Vgl. hierzu noch einmal die Thesen zur direkten Rede als mimetische Widerspiegelung der Figurenperspektive Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123ff., Leibfried 1972, 242f. und Bal 1985, 148f. 686 Zur Bedeutung der unterschiedlichen Figurenperspektiven für die Sinnproduktion literarischer Texte vgl. Lotman 1973, 418ff. 687 Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 147, der die fehlende semantische Differenz als ein Merkmal monologisierter Dialoge beschreibt: „Eine besondere Art von Monologisierung entsteht, wenn der Konsensus Stalin an der Südfront: Textanalyse 132 erschienenen Monographie von G.S. Čeremin heißt es dazu: «Писатель находит яркую художественную форму и для выражения полного единства мнений Ленина и Сталина по вопросам внутренней и внешней политики партии и советского государства.» (Čeremin 1950, 10) Diese Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven bestimmt am Ende dann auch die einzige Replik Stalins. Er greift die Ausführungen Lenins auf und führt dessen Überlegungen in seiner eigenen Figurenrede fort. Damit zeigt die Erzählung auch die Figur Stalins als politischen Führer, der über alle notwendigen politischen und militärischen Informationen verfügt: «Сталин сказал вполголоса: - то, что германский пролетариат ответит на демонстрацию в Брест-Литовске немедленным восстанием, - это одно из предположений столь же вероятное, как любая фантазия... А то, что германский штаб ответит на демонстрацию в Брест-Литовске немедленным наступлением по всему фронту, - это несомненный факт...» (Tolstoj Chleb 1937, 32) Die Antwort Stalins erfüllt zwei Funktionen: Zum einen bestätigt sie noch einmal die zuvor inszenierte Kongruenz der politischen Positionen Lenins und Stalins und zum anderen dokumentiert sie ein Wissen, das seine Darstellung als politischer Führer rechtfertigt.688 Seine Figur wird so von Beginn an mit einem Wissen ausgestattet, das seine Rolle als politischer Führer beglaubigt und in seiner literarisch gestalteten Figurenperspektive begründet. Durch die im Text inszenierte Mündlichkeit wird seine Stimme zum ‚tönenden Zeichen’, das die Differenz zwischen Text und Wirklichkeit aufhebt und geschriebenes und gesprochenes Wort in einem imaginären Akt zusammenschließt. Es entsteht ein belebter Signifikant, der den materiellen Zeichenkörper der literarischen Repräsentation umgeht und das im Text inszenierte Wort auf die tatsächliche Rede Stalins zurückprojiziert.689 Die im Text wiedergegebene Rede Stalins kann so ihrer vermeintlichen Entfremdung durch die Schrift entzogen werden und als scheinbar authentisches Zitat in die Erzählung eingehen. Dadurch fingiert der Text eine Realpräsenz, welche die Grenzen der Erzählung überschreitet und imaginäre und reale Figur aufeinander abbildet. Die direkte Rede wird damit zum literarischen Verfahren, das den Widerspiegelungsauftrag der Erzählung erfüllt und die historisch-konkrete Wiedergabe der außerliterarischen Wirklichkeit garantiert. Diese beruht auf der Imagination einer Stimme, deren illusionäre Anwesenheit die Authentizität des Gesagten unterstreicht.690 Der von Stalin vorhergesagte Angriff findet dabei bereits im folgenden Kapitel statt.691 Dadurch wird seine Figur mit einer politischen Weitsicht ausgestattet, die auch hier den Mythos von seiner Allwissenheit im Text vergegenwärtigt und seine Position im hierar- der sprechenden Personen ein solches Maß erreicht, daß die für den Dialog notwendige Vielfalt des Textes ganz verschwindet; in solch einem Falle wird aus dem Dialog in seiner Gesamtheit ein abwechselnd vorgetragener Monolog [...].“ 688 Die Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven wird in der nachfolgenden Replik Lenins noch einmal bestätigt. Sie beginnt mit der Bemerkung «- Совершенно верно...» (Tolstoj Chleb 1937, 32) und trägt damit zur expliziten Identifikation ihrer Standpunkte bei. 689 Vgl. hierzu Derrida 1979, 128ff., der das Phänomen der Stimme aus den zeichentheoretischen Schriften Husserls rekonstruiert. 690 Vgl. hierzu Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff., Leibfried 1972, 242f., Bal 1985, 148f. und O’Neill 1994, 58ff. 691 Tolstoj Chleb 1937, 33ff. Stalin an der Südfront: Textanalyse 133 chischen Gefüge der literarischen Charaktere legitimiert. Seine Rede dient so nicht zuletzt dazu, die zuvor angelegte Figurensemantik aufzugreifen und in einer nachträglich fingierten Rede Stalins zu begründen. Daß es sich dabei lediglich um eine literarische Fiktion handelt, die sich durch die mehrfache Wiederholung dieses Verfahrens auch als solche erweist, wird unter dem Unmittelbarkeitstopos der Erzählung verdeckt.692 Das Vertrauensverhältnis zwischen Lenin und Stalin wird aber nicht nur durch die dialogische Gestaltung ihrer Figuren im Text vergegenwärtigt. Der Text inszeniert auch ein äußeres Verhalten, das diesen Mythos transportiert. Dazu beschreibt die Erzählung zuerst die leuchtenden Augen Stalins, die voller Anerkennung auf Lenin ruhen: «Сталин коротко, твердо кивнул, не спуская с Владимира Ильича блестящих глаз.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Kurz darauf zeigt sie, wie er Lenin in die Augen schaut und es so scheint, als könnten sie die Gedanken des anderen lesen: «Сталин глядел ему в глаза, казалось, оба они читали мысли друг друга.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Damit wird eine Figurenperspektive in den Handlungszusammenhang der Erzählung eingesetzt, die den offiziell dekretierten Topos ihrer inneren Verbundenheit aufgreift und in der Innenperspektive ihrer Figuren verankert. Durch ihre gegenseitige Bespiegelung wird die immer wieder propagierte Freundschaft zwischen Lenin und Stalins zum historischen Faktum, das durch den literarischen Text verdoppelt und in das Gedächtnis der Leser eingetragen wird. Sie beruht damit nicht nur auf der Übereinstimmung ihrer politischen Ziele, sondern wird in einer emotionalen Beziehung begründet, die zugleich den politischen Machtanspruch Stalins legitimiert.693 Die Erzählung greift damit auf eine Darstellung zurück, die die politische Ikonographie Lenins und Stalins auf die Privatsphäre ihrer Figuren ausweitet und ihre bis dahin vor allem politisch motivierte Nähe nachträglich überhöht. Dabei wird vor allem die Figur Stalins mit einer Innenperspektive ausgestattet, die seine Beziehung zu Lenin rechtfertigt und in eine libidinöse verwandelt: «Лоб его собрался морщинами, скулы покраснели от сдержанного возбуждения.» (Tolstoj Chleb 1937, 31) Durch diese Beschreibung wird seine Figur mit einer Innenperspektive ausgestattet, die den Mythos von ihrer inneren Verbundenheit bestätigt und in das semantische Profil seiner Figur einträgt. Sie erscheint damit als vermeintlich authentische Freundschaft, die in der imaginären Gegenwart der literarischen Handlung noch einmal vergegenwärtigt wird. Während die Figur Lenins den ersten Teil der Erzählung dominiert und mit allen Eigenschaften seiner mythischen Identität ausgestattet wird, wird die endgültige Exposition der Figur Stalins auf den letzten Teil der Erzählung verschoben. Seine Darstellung folgt damit einer Figurencharakterisierung, die einen fertigen Text ‚Stalin’ in das literarische Geschehen einsetzt und erst im weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt. Die literarische Gestaltung seiner Figur fällt so mit der zeitlichen Dramaturgie des Textes zusammen. Sie folgt dem Prinzip einer aufgeschobenen Exposition, die den Satz relevanter Informationen nach und nach in den Text der Erzählung einträgt und den distinktiven Satz semantischer Merkmale im Handlungszusammenhang des Erzählten enthüllt.694 Vgl. hierzu den Abschnitt „Zur Funktion literarischer Schreibverfahren“ im einleitenden Teil dieser Analyse. 693 Vgl. hierzu Löhmann 1990, 306f. sowie Yampolsky 1993, 111. 694 Zur aufgeschobenen Exposition vgl. Tomaševskij 1967, 139f. 692 Stalin an der Südfront: Textanalyse 134 3.2 Polit-Büro: Die politische Führerschaft Lenins und Stalins 3.2.1 Stalin ergreift das Wort: Rollenkonfiguration und Figurenrede Im dritten Teil des zweiten Kapitels wird die Figur Stalins erneut in den Zusammenhang der Erzählung eingebunden. Nachdem in den vorhergehenden Erzählabschnitten mit den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk der zentrale Konflikt in den Text eingesetzt worden ist,695 wechselt die Erzählung erneut ihren Schauplatz und zeigt noch einmal Lenin und Stalin im Smol’nyj. Im Unterschied zu der zuvor analysierten Szene spielt die Handlung nicht mehr in den Privaträumen Lenins, sondern in dessen Arbeitszimmer: «Всю ночь мокрый снег лепил в большие окна. За приоткрытой дверью постукивал телеграфный аппарат. Ленин, поднимая голову от бумаг, спрашивал: 'Ну?' За дверью отвечали негромко: 'Есть'. Он озабочено шел к аппарату. Телеграфист, жмуря глаз от едкой махорки, подавал ленту. На нескончаемой узкой бумажке бежали из аппарата сведения ставки, - тревога, тревога, тревога...». (Tolstoj Chleb 1937, 36) Mit dem Wechsel des Schauplatzes geht zugleich ein Wechsel in der Figurenrolle Lenins und Stalins einher. In dieser Szene stehen nicht mehr die persönlichen Eigenschaften ihrer Charaktere im Vordergrund. Auftrag der Szene ist es vielmehr, sie in ihrer Rolle als politische Führer vorzuführen. Lenins Arbeitszimmer im Smol’nyj wird so zur Projektionsfläche einer Figurengestaltung, welche die offizielle Darstellung ihrer Figuren aufgreift und im Handlungszusammenhang des Erzählten verankert. Damit läßt auch dieser Erzählabschnitt eine Interdependenz von Schauplatz und Figur erkennen, die das semantische Profil ihrer Figuren bestätigt durch die Wahl des Handlungsortes determiniert.696 In seinem formalen Aufbau folgt der Erzählabschnitt der zuvor analysierten Szene. Er zerfällt ebenfalls in zwei Teile, wobei der erste auch hier dazu dient, die Figur Lenins in ihrer Rolle als politischer Führer darzustellen. Er sichtet die eingehenden Nachrichten von der Front und schreibt bis spät in die Nacht an einem Artikel über den Aufbau des Sozialismus. Dadurch wird er zum idealen Führer, der Tag und Nacht für den Sieg der Revolution arbeitet und sich sowohl durch seinen Optimismus als auch durch seinen Glauben an die revolutionäre Kraft des Volkes in seinem Amt legitimiert:697 «Победу и успех революции он возлагал на творческие силы народных масс и проводил линию оптимизма через все беды, страдания и испытания. Он указывал на то, что революция уже вызвала к жизни сильный, волевой, творческий тип российского человека. Он со страстью, с провидением утверждал, что история России – история великого народа и будущее его велико и необъятно, если это понять и захотеть, чтобы так было. 'Понять, захотеть и – будет', социализм был для него так же реален и близок, как свет рабочей лампы, падающей на лист бумаги, по которому торопливо – с брызгами чернил – бежало его перо...» (Tolstoj Chleb 1937, 36) Ihre Motivation bezieht die Handlung aus einer Retrospektive, die in die Gegenwartshandlung der Szene eingefügt wird. Sie zeigt, daß sich das Zentralkomitee am Abend zuvor in Lenins Arbeitszimmer versammelt hat, um über das weitere Vorgehen nach Tolstoj Chleb 1937, 34ff. Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95 und Veldhues 1997, 73. 697 Diese Identität wird in den offiziellen Rezensionen bestätigt: vgl. hierzu Gurštejn 1938, 258 sowie Čarnyj 1939, 84 und Alpatov 1955, 91. 695 696 Stalin an der Südfront: Textanalyse 135 den Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk zu beraten.698 Im Mittelpunkt dieses Rückblicks steht eine Auseinandersetzung zwischen Lenin und Trockij. Trockij verteidigt seine Entscheidung, einen Waffenstillstand ohne Friedensvertrag zu unterzeichnen und widerspricht damit der Forderung Lenins, der die sofortige Wiederaufnahme von separaten Friedensverhandlungen fordert. In der Abstimmung, die den Höhepunkt der Szene markiert, wird der Vorschlag Lenins abgelehnt, da Trockij von den Vertretern der Linken Kommunisten unterstützt wird.699 Der Retrospektive kommen zwei Funktionen zu. Zum einen bestätigt sie die zu Beginn eingesetzte Figurenrolle Lenins und bindet seine Figur in eine Handlung ein, die ihre Darstellung als politischer Führer rechtfertigt.700 Zum anderen trägt sie einen Konflikt in den Handlungszusammenhang der Erzählung ein, der die Figuren Lenins und Stalins in die zentrale Auseinandersetzung der Erzählung einbezieht und es ermöglicht, ihre offizielle Darstellung durch die im Text konfigurierte Figurenrolle zu bestätigen. Die Retrospektive fungiert so als indirekte Exposition, die die Ereignisse der Gegenwartshandlung ebenso motiviert, wie die in ihr begründete Darstellung Lenins und Stalins.701 Die aktuelle Handlung der Szene zeigt einen weiteren Versuch Lenins, die Mitglieder des Zentralkomitees für einen Separatfrieden mit Deutschland zu gewinnen. Sie greift damit eine Auseinandersetzung auf, die es erlaubt, die literarische Rolle ihrer Figuren zu konfigurieren und durch ihre Position im literarischen Konflikt zu legitimieren.702 Durch die Überlagerung von Handlung und Figur entsteht eine funktionale Rolle, die sie in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und zu den zentralen Charakteren der Szene werden läßt.703 Nachdem die Charakterisierung Lenins abgeschlossen ist, wechselt auch in diesem Kapitel die Figurenkonstellation der Szene. Die Mitglieder des Zentralkomitees betreten den Raum und versammeln sich in Lenins Arbeitszimmer, um noch einmal die aktuelle politische und militärische Lage zu diskutieren. Lenin faßt die im Laufe der Nacht einTolstoj Chleb 1937, 36. Tolstoj Chleb 1937, 36. 700 Die Szene greift damit eine Auseinandersetzung auf, die ein Jahr später im Kurzen Lehrgang in die offizielle sowjetische Geschichtsschreibung eingeht. Auch dort wird sie zur zentralen Auseinandersetzung innerhalb des Zentralkomitees und dient dazu, Eigenschaften wie Logik, Kompromißlosigkeit, Unnachgiebigkeit und Entschlossenheit zu dokumentieren, mit denen Lenin gegen die politische Opposition vorgeht: „Alle Konterrevolutionäre, von den Menschewiki und Sozialrevolutionären bis zu den abgefeimtesten Weißgardisten, betrieben eine wütende Agitation gegen die Unterzeichnung des Friedens. Ihre Linie war klar: sie wollten die Friedensverhandlungen vereiteln, eine Offensive der Deutschen provozieren und die Existenz der noch nicht gefestigten Sowjetmacht aufs Spiel setzen., die Errungenschaften der Arbeiter und Bauern in Gefahr bringen. Ihre Verbündeten bei diesem ruchlosen Treiben waren Trotzki und dessen Handlanger Bucharin, der zusammen mit Radek und Pjatakow an der Spitze einer parteifeindlichen Gruppe stand, die sich zur Tarnung Gruppe ‚linker Kommunisten’ nannte. Trotzki und die Gruppe ‚linker Kommunisten’ eröffneten innerhalb der Partei einen wütenden Krieg gegen Lenin und forderten die Fortführung des Krieges.“ (Kurzer Lehrgang o.J., 291f.) 701 Lämmert 1967, 104ff. bezeichnet die Rückwende, die die Funktion einer nachgeordneten Exposition erfüllt, als „aufbauende Rückwendung“. Sie trägt Material nach, „das den isoliert vergegenwärtigen Handlungseinsatz in einen verständlichen Zusammenhang einfügt und gleichzeitig die Entfaltung künftiger Phasen unterbaut.“ Genette 1994, 32ff. beschreibt die Retrospektive als zweite Erzählung beschreibt, die der „Basiserzählung“ untergeordnet ist. Sie dient dazu, die Basiserzählung zu ergänzen und ein zeitlich früheres Ereignis in den Handlungszusammenhang einzutragen. 702 Zu diesem Verhältnis von Figur und Handlung vgl. Tomaševskij 1967, 153, sowie Červenka 1978, 122f. und Lotman 1973, 364ff. 703 Vgl. hierzu Greimas 1971, 120, der die literarischer Figur als Schnittpunkt einer funktionalen und einer semantischen Rolle beschreibt. 698 699 Stalin an der Südfront: Textanalyse 136 gegangenen Meldungen zusammen und erneuert seine Forderung nach einem sofortigen Friedensschluß mit Deutschland. Seine Rede greift den zuvor angelegten Konflikt noch einmal auf und entwirft damit einen Fiktionsraum, der die Intrige der nachfolgenden Handlung in Gang setzt: «В девятом часу в кабинете Ленина снова собрался Центральный комитет. Десять человек, не снимая шапок и верхней одежды, сели перед столом. Ленин, перебирая в плохо сгибающихся озябших пальцах путающуюся бумажную ленту, начал прямо с сообщения ставки за эту ночь. – Немцы проявляют все признаки наступления... (Голос его был глухой и злой. Был виден только его залисый лоб и путающаяся в пальцах бумажная лента.) Осталось три часа... Три часа в которые мы еще можем спасти все... Нельзя терять не минуты... Мы можем предотвратить катастрофу... Мы еще можем предложить мир. Он говорил сжато, как бы вколчивая мысли. » (Tolstoj Chleb 1937, 36) Im Gegensatz zu der Retrospektive ist die Figurengestaltung in diesem Teil der Erzählung dialogisch gestaltet. Die Szene markiert damit eine Pause im Erzählten, die weniger dazu dient, die zuvor angelegte Handlung weiterzuführen, als dazu, die Figuren Lenins und Stalins in ihrer Rolle als politische Führer vorzuführen.704 Durch die dialogische Gestaltung wird die Szene zur Nahaufnahme, die die offizielle Repräsentation ihrer Personen verdoppelt und in einem vermeintlich authentischen Wort begründet.705 Sie überträgt den kanonischen Satz semantischer Merkmale in die im Text konfigurierte Figurenrede und kann sie so als scheinbar faktische darstellen.706 Die Szene nimmt damit eine Dramatisierung des Erzählten vor, die die offizielle Repräsentation ihrer Personen bestätigt und durch eine dialogisch gestaltete Figurenkonzeption authentifiziert.707 Die Funktion der dialogischen Figurengestaltung besteht dabei vor allem darin, die in der offiziellen Geschichtsschreibung vorgegebene Darstellung in eine nachträglich fingierte Handlungsgegenwart zu übertragen, die die vermeintlich authentische Ich-Identität Lenins und Stalins rechtfertigt und ihre Rolle als politische Führer legitimiert.708 Gleichzeitig wird in dem Dialog ein Bezug von Handlung und Figur hergestellt, der die im historischen Diskurs vorgeschriebene Rollenkonfiguration bestätigt. Sie wird in die Figurenperspektive Lenins und Stalins eingetragen und durch die direkte Rede als vermeintlich authentisches Handeln (re)präsentiert.709 Dadurch entsteht ein semantisches Profil, das die offizielle Darstellung ihrer Personen rechtfertigt und durch die im Text gestaltete Figurenrolle wiederholt.710 Unmittelbar nachdem Lenin seine Forderung nach einem Separatfrieden vorgebracht hat, ergreift Stalin das Wort. Er führt den von Lenin begonnenen Lagebericht aus und unterstützt dessen Forderung nach Friedensverhandlungen mit Deutschland. Auch in Zu dieser Funktion der Figurenrede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f., Hamburger 1987,134f. und O’Neill 1994, 58ff. 705 Genette 1994, 123f. spricht von der mimetischsten Form der erzählenden Prosa, in der die Figur selber zu reden scheint. Sie erzeugt einen Eindruck von Unmittelbarkeit, der darauf beruht, daß der Erzähler vollständig hinter der Figur verschwindet. 706 Vgl. hierzu Genette 1994, 120ff. sowie Lämmert 1967, 204ff. und Bal 1985, 148f. 707 Aristoteles 1994, 19ff. zählt sowohl die Sprache als auch die Erkenntnisfähigkeit zu den grundlegenden Gestaltungselementen der literarischen Figuren. Während er die Sprache zu den Mitteln der Nachahmung zählt, rechnet er die Erkenntnisfähigkeit der einzelnen Charaktere zu den nachgeahmten Gegenständen. Beide begründen das Prinzip der mimetischen Repräsentation und erhöhen die Wahrscheinlichkeit der literarischen Figur. 708 Zu dieser Funktion der epischen Erzählung vgl. Hamburger 1987, 57ff. 709 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 207ff. sowie Hamburger 1987, 156ff. 710 Vgl. hierzu Lotman 1973, 366f. sowie Tomaševskij 1967, 154f. und Červenka 1978, 122f. 704 Stalin an der Südfront: Textanalyse 137 dieser Szene bleibt sein Auftritt vollkommen unmotiviert. Die Anwesenheit seiner Figur wird weder in der äußeren Handlung noch in der Rede einer der Figuren begründet: «Сталин, стоявший у стола, заложив руки за спину, проговорил сейчас же: - Вопрос, товарищи, стоит так: либо поражение нашей революции и связывание революции в Европе, либо же мы получаем передышку и укрепляемся... Этим же задерживается революции на Западе... Либо передышка, либо гибель революции... Другого выхода нет...» ( Tolstoj Chleb 1937, 37) Dem unvermittelten Handlungseinsatz kommen ebenfalls zwei Funktionen zu. Zum einen kann er den dramatischen Effekt der Szene erhöhen, indem er den Auftritt Stalins in eine Epiphanie verwandelt, die den Mythos von seiner Allgegenwart im literarischen Text vergegenwärtigt (und die realistische Gestaltung seiner Figur verläßt).711 Zum anderen kann er die Figur Stalins in eine Rolle kleiden, ohne daß diese im Text begründet wird. Durch den nicht vermittelten Handlungseinsatz entsteht auch in diesem Erzählabschnitt die Illusion einer kontinuierlichen Handlung, welche die Konfigurationssituation der Szene über den Rahmen der dargestellten Ereignisse hinaus erweitert. Sie erweckt den Eindruck, als hätten Lenin und Stalin schon längere Zeit gemeinsam in Lenins Arbeitszimmer diskutiert, bevor die Mitglieder des ZK eintreten.712 Die Identität Stalins wird damit auch in dieser Szene durch eine rein imaginäre Handlung konstituiert, die ihn in seine Rolle als politischer Führer einsetzt, ohne diese Rolle im Text vorzubereiten. Seine Figur wird auch hier mit einer fertigen Rolle in den Handlungszusammenhang der Szene eingefügt, die im weiteren Verlauf der Handlung nur noch bestätigt und als vermeintlich authentische vorgeführt werden muß. Im Unterschied zu allen anderen Mitgliedern des Zentralkomitees sitzt Stalin nicht vor dem Schreibtisch, sondern steht mit auf dem Rücken verschränkten Händen neben Lenin. Dadurch wird die Idee von den zwei Führern der Revolution erneut durch die räumliche Anordnung der Charaktere vergegenwärtigt und in die Gegenwartshandlung der Szene eingetragen. Die literarische Rekonstruktion seiner Figur folgt so auch in diesem Kapitel einer Darstellungsnorm, die den Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern durch die räumliche Ordnung der Szene repräsentiert.713 Dieses Verfahren übernimmt eine legitimatorische Funktion, über die Michail Jampol’skij schreibt: „The doubling of the two figures of authority turns into a categorical canon. Starting with the 1930s the figures of Lenin and Stalin are depicted simultaneously in most paintings. In those paintings, which represent Lenin alive as a rule Stalin stands behind him, duplicating by his profile the profile of the founding father. After Lenin’s death the situation is inverted: now behind Stalin’s back appears the sculptural figure of the founding father.” (Yampolsky 1993, 111) Die so hergestellte Figurenkonstellation wird durch die formale Konfiguration des Dialogs bestätigt. Die Position, die Stalin im Gefüge der literarischen Charaktere zugewiesen wird, wird dadurch unterstrichen, daß er unmittelbar nach Lenin das Wort ergreift. Damit wird die zu Beginn angelegte Figurenkonstellation in eine hierarchisch organisierte Kommunikation überführt, die seine Rolle auch durch die formale Struktur des Dialogs zum Ausdruck bringt. Seine Figur wird mit einem Privileg der Rede ausgestattet, das die im Text vorgenommene Rollenzuweisung aufgreift und in das semanti- Vgl. hierzu Weber 1975, 106ff. Zu dieser Funktion nicht vermittelter Handlungseinsätze vgl. Lämmert 1967, 104 sowie Lotman 1973, 327, Veldhues 1997, 97 und Genette 1994, 77f. Weber 1975, 106ff., beschreibt den damit einhergehenden Informationsvorbehalt als Verfahren zur Inszenierung literarischer Überraschungsmomente. 713 Vgl. hierzu noch einmal Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95 und Veldhues 1997, 73. 711 712 Stalin an der Südfront: Textanalyse 138 sche Profil seiner Figur überträgt. Die so inszenierte Überlegenheit spiegelt sich aber auch in der inhaltlichen Gestaltung seiner Rede. So ist es Stalin, der in der Lage ist, die richtigen Schlüsse aus der von Lenin skizzierten Situation zu ziehen und die Fehleinschätzung ihrer politischen Feinde aufzudecken. Die Erzählung zeigt ihn damit als Führer der Revolution, der über die Vorgänge im Land nicht nur informiert ist, sondern diese abschließend bewerten kann. Dadurch wird seine Figur mit einem Wissen ausgestattet, das seine Position in der Hierarchie der Figurenkonstellation rechtfertigt und in einem scheinbar faktischen Wissen begründet. Die Repräsentation Stalins beruht so auf einer diskrepanten Informiertheit der Charaktere, die seine Figur in der Figurenhierarchie der Erzählung positioniert und die hierarchisch organisierte Kommunikation legitimiert.714 3.2.2 Stalin ergreift die Initiative: Figurenrede und innere Handlung Gleichzeitig trägt seine Rede ein semantisches Merkmal in die Charakterisierung seiner Figur ein, das zum dominierenden Differenzkriterium für die Darstellung Lenins und Stalins wird: Während Lenin die Revolution plant und organisiert, ist Stalin derjenige, der sie ausführt und realisiert.715 Die dialogische Gestaltung seiner Figur dient so dazu, ein semantisches Profil zu entwerfen, das seine Figur mit Eigenschaften wie Rationalität, Entschlossenheit, Klarheit und Logik ausstattet. Diese Eigenschaften werden durch die direkte Rede im Text vergegenwärtigt und als vermeintlich authentische Eigenschaften Stalins dargestellt. Damit wird eine Darstellung seiner Figur wiederholt, die ebenfalls im offiziellen Stalinkult vorgegeben ist.716 Auch dort erscheint Stalins als Taktiker der Revolution, der sowohl mit der praktischen als auch der theoretischen Seite des revolutionären Kampfes vertraut ist.717 3.2.3 Der Mythos von der Allwissenheit Stalins: Figurenrede und äußere Handlung Die so angelegte Figurencharakteristik wird in einer weiteren Replik Stalins bestätigt. Auf den Einwand eines der Linken Kommunisten, daß die Kriegsvorbereitungen der Deutschen lediglich eine Machtdemonstration seien, die keinerlei militärische Absichten erkennen lasse, antwortet er: «Военный механизм сделан для войны, а не для демонстрации. Немцы подготовили наступление и будут наступать, потому что мы им не предложили мира. Если не предлагают мира, то всякий здравомыслящий человек понимает, что предлагают войну... Через три часа немцы начнут войну... А это будет означать то, что через пять минут ураганного огня у нас не останется ни одного солдата на фронте...» (Tolstoj Chleb 1937, 37) Auch diese Replik stattet seine Figur mit einem Wissen aus, das ihre Inszenierung als politischer Führer rechtfertigt. Sie demonstriert eine Überlegenheit, die auch hier auf der diskrepanten Informiertheit der literarischen Charaktere beruht.718 Die Erzählung Vgl. hierzu Lotman 1973, 376, der das damit einhergehende Differenziationsprinzip als grundlegendes Verfahren der literarischen Figurengestaltung beschreibt. 715 Vgl. hierzu auch Dobrenko 1993, 86. 716 Vgl. hierzu Hellebust 1994, 113 und Dobrenko 1993, 87ff. 717 Vgl. hierzu Jaroslavskij 1941, 150 sowie Vorošilov 1940, 35, Mikojan 1940, 75f., Molotov 1940, 22, Kurze Lebensbeschreibung 1945, 80f. und Čeremin 1950, 4. 718 Vgl. hierzu noch einmal Lämmert 1967, 196ff. sowie Mukařovský 1967, 115ff, der das Verhältnis der sprechenden Personen zu den Grundbedeutungen des Dialogs zählt. Zur Bedeutung einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe vgl. Weber 1975, 45ff. 714 Stalin an der Südfront: Textanalyse 139 bedient sich damit einer Figurengestaltung, welche die Bedeutung Stalins aus seiner Relation zu den anderen Charakteren ableitet.719 Diese werden zur Folie einer Stalininszenierung, deren wichtigste Aufgabe darin besteht, das offiziell dekretierte Stalinbild durch ihr im Text konfiguriertes Verhalten zu beglaubigen. Die Überlegenheit Stalins wird aber auch durch die stilistische Textur seiner Rede im Text vergegenwärtigt. Sie läßt - im Gegensatz zu der vorhergehenden Rede Lenins keine Anzeichen einer emotionalen Regung erkennen. Seine Rede wird damit zu einer weiteren Maske, welche die offizielle Darstellung seiner Figur im Text vertritt.720 Sie repräsentiert Eigenschaften wie Entschlossenheit, Handlungsfähigkeit und Kompromißlosigkeit und bestätigt damit ein semantisches Profil, das bereits zuvor in den literarischen Text eingesetzt worden ist. Die stilistisch nicht markierte Rede wird damit zum formalen Äquivalent einer Figurencharakteristik, die die unangreifbare Logik Stalins zum Ausdruck bringen soll und seine tatsächliche Rede durch eine literarisch inszenierte ersetzt.721 Diese Überlegenheit Stalins wird dadurch unterstrichen, daß der von ihm vorhergesagte Angriff der Deutschen stattfindet, unmittelbar nachdem er seine Rede beendet hat. In einem auktorialen Nachwort wird der von Stalin prognostizierte Angriff angekündigt.722 Dadurch ergibt sich eine Übereinstimmung von subjektiver und objektiver Perspektivierung, die den Mythos von der Allwissenheit Stalins im literarischen Text vergegenwärtigt. Er beruht auf einer Kombination von Figuren- und Erzählertext, die mit der unterschiedlichen Perspektivierung des Erzählten spielt und die im Text konfigurierte Figurenperspektive Stalins an die objektive Darstellung im Erzählertext angleicht.723 Die so vorgenommene Inszenierung Stalins wird aber auch durch die Beschreibung seiner äußeren Verhaltensweisen verstärkt. So wird die zweite Replik seiner Figur durch eine Geste eingeleitet, die ebenfalls damit beauftragt ist, die Überlegenheit Stalins im Text zu demonstrieren. Die Inszenierung seiner Figur beruht damit auch in dieser Szene auf einem Nebeneinander von direkter und indirekter Figurencharakteristik, welche die Wahrnehmung seiner Figur verdoppelt und die offizielle Darstellung seiner Figur in einer äußeren Handlung begründet:724 «Сталин, вынув из рта трубку, медленно повернул к нему голову и – холодно [...].» (Tolstoj Chleb 1937, 37) Mit der Pfeife wird ein weiteres Merkmal der offiziellen Stalindarstellung in den Text eingefügt. Sie wird noch häufiger zum Zeichen seiner Identitätsstiftung und begründet, wie der Schnurrbart und die Kleidung, ein Ähnlichkeitsprinzip, das die Übereinstimmung von Abbild und Urbild garantiert. Die Pfeife wird damit zu einem weiteren Vgl. hierzu Červenka 1978, 120ff., Lotman 1973, 418ff. und O’Neill 1994, 51, der die kontrastive Figurengestaltung zu den indirekten Charakterisierungsverfahren zählt. 720 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153 sowie Hellebust 1994,113. 721 Vgl. hierzu noch einmal den Artikel, der 1936 anläßlich der Verfassungsrede Stalins in der Правда erscheint. In ihm nimmt Tolstoj eine Beschreibung der Rede Stalins vor, die alle diese Eigenschaften repräsentiert: Tolstoj 1936e, 150ff. Papernyj 1985, 182 spricht in seiner Analyse der Stalinkultur von einer Hierarchie der Rede, welche die hierarchisch organisierte Gesellschaftsstruktur der dreißiger Jahre widerspiegelt. 722 Tolstoj Chleb 1937, 37. 723 Zur unterschiedlichen Perspektivierung des Erzählten vgl. Genette 1994, 132ff. sowie Bal 1985, 104f., Doležel 1972,381ff. und O’Neill 1994, 60 und 87ff. 724 Zum Nebeneinander von direkter und indirekter Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff. 719 Stalin an der Südfront: Textanalyse 140 ideographischen Zeichen, das die Figur Stalins kontextunabhängig identifiziert:725 Modorov, J.V. Stalin und M.J. Kalinin (1938) Im Unterschied zu Stalins vorhergehenden Auftritten wird seine Identität in dieser Szene nicht durch die Beschreibung seines Äußeren hergestellt. Seine Figur wird gleich zu Beginn durch die Nennung ihres Namens in den Verlauf der Handlung eingesetzt, so daß der Wiedererkennungseffekt in diesem Teil der Erzählung allein auf der Evokation seines Namens beruht.726 Damit wird sein Name zur Chiffre, welche die mythische Repräsentation seiner Person aufgreift und in den Text der Erzählung überträgt. Mit ihm wird zugleich ein distinktiver Satz semantischer Merkmale in den Text eingefügt, der im weiteren Verlauf der Erzählung zu einer eigenständigen Figurensemantik ausgebaut wird. Er versammelt alle kanonischen Eigenschaften Stalins und trägt sie als fertige Figurenbeschreibung in den Text der Erzählung ein. Der Name Stalins wird damit zum Doppelgänger, der seine literarische Figur authentifiziert. Vladimir Papernyj schreibt über die Namensmythologie der Stalinzeit: «В культуре 2 происходит внешне парадоксальный, но по существу единый процесс прирастания имени к человеку и одновременно освобождения имени, приобретения именем возможности самостоятельного функционирования, приобретения им права представлять своего носителя, даже заменять его.» (Papernyj 1985, 152) Die Darstellung Stalins wird dabei auch in dieser Szene in die Rollenkonfiguration Lenins eingeschrieben. Seine Darstellung wird in unmittelbarer Anlehnung an die zu Beginn angelegte Rollenkonzeption Lenins gestaltet und auch hier durch die (literarisch inszenierte) Autorität seiner Figur legitimiert. Seine Rolle ist damit unmittelbar von der Rollenkonfiguration Lenins abhängig und wird durch dessen Identität als politischer Führer präfiguriert. Nur so kann die Erzählung eine Darstellung fingieren, die im offiziellen Stalinkult zwar vorgeschrieben ist, tatsächlich jedoch nicht existiert.727 Uspenskij 1971, 761f. sowie Čeredničenko 1994, 67 und Faryno 1991, 254, der zwischen symbolischen und fakultativen Gesten unterscheidet. Während die symbolischen Gesten die literarische Figur identifizieren, dienen die fakultativen Gesten dazu, ihren inneren Zustand im Text zu vergegenwärtigen. Folgt man dieser Unterscheidung, so kommt dem Pfeiferauchen die Funktion einer symbolischen Geste zu. Obwohl auch sie die Figurenperspektive Stalins zum Ausdruck bringt, dient sie in erster Linie dazu, seine mythische Identität im Text zu repräsentieren. 726 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 156, der den Namen zu den Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung zählt, mit der eine Reihe fester Motive auf eine Figur übertragen werden kann. 727 Vgl. Deutscher 1989, 178ff., Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 58ff., Slusser 1987, 219ff. und Ree 2002, 73ff. 725 Stalin an der Südfront: Textanalyse 141 3.3 Gruppenbild mit Stalin: Die endgültige Hierarchie der literarischen Charaktere Die nächste Szene, in der Stalin auftritt, findet sich im folgenden Erzählabschnitt. Dieser greift die Handlung der vorhergehenden Szene wieder auf und setzt die Darstellung Lenins und Stalins als politische Führer fort. Im Mittelpunkt dieser Szene steht eine weitere Zusammenkunft des Zentralkomitees, wobei es Lenin diesmal gelingt, dessen Mitglieder von der Notwendigkeit eines Separatfriedens mit Deutschland zu überzeugen.728 Der Abschnitt beginnt mit einem Bericht über den im vorhergehenden Erzählabschnitt bereits angekündigten Angriff der deutschen Truppen: «То, что предвидел Ленин, - случилось: Советская Россия стояла пeред готовым к прыжку противником безоружная и обнаженная. Солдаты влезали в поезда, на крыши вагонов, цепляясь за буфера и ступеньки, грозили смертью машинистам... [...] Немцы ждали этого. У них все было обдумано и приготовлено для глубокого наступления.» (Tolstoj Chleb 1937, 37) Nachdem die neuesten Entwicklungen an der Front in diesem narrativen Bericht zusammengefaßt worden sind, kehrt die Erzählung noch einmal in den Smol’nyj zurück. Dieser Ortswechsel vollzieht sich in einem nicht vermittelten Handlungssprung. Dadurch wird eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse fingiert, die die Zusammenkunft des Zentralkomitees und den Angriff der deutschen Truppen parallelisiert.729 Durch diese Montage entsteht eine Dramatik, welche die dargestellten Ereignisse mit Spannung auflädt und die Darstellung Lenins und Stalins vorbereitet. Sie werden auch hier im zentralen Konflikt der Erzählung positioniert und als handelnde Figuren präsentiert.730 Die einzige Figurenrede ist ein Monolog, der die Figur Lenins in ihrer Identität als politischer Führer bestätigt.731 Im Gegensatz zu den vorhergehenden Szenen ist die Darstellung Lenins und Stalins nicht dialogisch gestaltet, sondern narrativ. Mit diesem Wechsel des Darstellungsmodus ändert sich auch der Darstellungsauftrag der Szene. In ihrem Mittelpunkt steht nicht mehr eine detaillierte Charakterisierung ihrer Figuren, sondern ihre Einbindung in den zu Beginn skizzierten Handlungsverlauf. Dazu wird die im vorhergehenden Erzählabschnitt vorgenommene Figurencharakteristik aufgegriffen und in einer eigenständigen Handlung vorgestellt. Die Bedeutung des Erzählabschnitts besteht so darin, daß er eine Überlagerung von Handlung und Figur inszeniert, welche die offizielle Repräsentation ihrer Figuren wiederholt und auch hier durch ihre literarisch gestaltete Rolle beglaubigt. Durch die im Text hergestellte Handlungsfunktion kann sowohl die dialogische Gestaltung ihrer Figuren als auch ihre Position in der Figurenkonstellation der vorhergehenden Szenen gerechtfertigt werden:732 «Вслед за этими словами начался водоворот в накуренной комнате – слов, восклицаний, бешеных жестов. Сталин и Свердлов придвинулись к Ленину. И сразу тишина. Действительно, нельзя было терять ни минуты. Началось голосование, и на этот раз Ленин проломил брешь: большинством одного голоса Центральный комитет постановил послать германскому правительству радиотелеграмму и соглaсии подписать мир.» (Tolstoj Chleb 1937, 38) Tolstoj Chleb 1937, 37f. Vgl. hierzu Genette 1994, 21ff. sowie Lämmert 1967, 82ff. und Veldhues 1997, 91. 730 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 82ff. sowie Genette 1994, 61ff. 731 Tolstoj Chleb 1937, 37f. Zur Bedeutung des Monologs vgl. Mukařovský 1967, 145ff. 732 Zum Verhältnis von Handlung und Figur vgl. Lotman 1973, 360ff. sowie Tomaševskij 1967, 154f. und Veldhues 1997, 55ff. 728 729 Stalin an der Südfront: Textanalyse 142 In dieser Szene wird ein Handeln der Figur Stalins inszeniert, das ihre Charakterisierung aus den vorausgehenden Erzählabschnitten weiterführt. Sie dokumentiert auch hier Eigenschaften wie Entschlossenheit und Kompromißlosigkeit und dient in erster Linie dazu, das semantische Profil seiner Figur durch eine abschließende Handlung zu belegen.733 Die literarische Identität seiner Figur wird so nicht allein durch ihre Figurenrede hergestellt, sondern auch durch eine äußere Handlung, die sie als historisch überliefert präsentiert. Die Imagination einer konkreten Handlung gehört so ebenfalls zu den literarischen Verfahren, mit deren Hilfe die Erzählung die offiziell vorgeschriebene Identität Stalins beglaubigt und durch ihre literarische Verdoppelung authentifiziert. Dabei wird die Darstellung Stalins auch in dieser Szene in unmittelbarer Abhängigkeit von der literarischen Repräsentation Lenins gestaltet. Sie wird in eine Rollenkonfiguration eingeschrieben, die über das semantische Profil seiner Figur vorbereitet und in dessen nachträglich inszenierter Figurenperspektive begründet wird.734 Über die räumliche Konfiguration der Szene wird die Figur Stalins in die Zentralperspektive der Erzählung eingebunden und über den Umweg der narrativ vermittelten Handlung in das Rollenprofil Lenins integriert. So wird seine Darstellung einmal mehr durch die räumliche Konfiguration der Szene konstruiert. Sie wird zur Projektionsfläche einer Handlung, welche die Figuren Lenins und Stalins zusammenschließt und die Verbundenheit ihrer politischen Positionen dokumentiert. Diese Perspektivierung wird dadurch gerechtfertigt, daß die im Text beschriebene Abstimmung die politische Führerschaft Lenins bestätigt und damit zugleich die Position Stalins und Sverdlovs sanktioniert. Durch ihren Zusammenschluß wird die Zentralperspektive der Erzählung installiert und die endgültige Hierarchie der literarischen Charaktere etabliert. Dabei folgt auch diese Szene einer Episode, die wenig später im Kurzen Lehrgang der KPdSU(b) in das offizielle Gedächtnis der sowjetischen Geschichtsschreibung eingetragen wird. Diese Übereinstimmung ist auch der Grund für die Anwesenheit Sverdlovs im Text. Seine Darstellung erklärt sich nicht aus dem Handlungszusammenhang der Szene, sondern geht auf die Darstellung der offiziellen Geschichtsschreibung zurück.735 Die Szene beruht so auf einem Abbildungsverhältnis, das die Authentizität der Ereignisse durch die Übereinstimmung der unterschiedlichen Diskurse dokumentiert.736 Die literarische Repräsentation Stalins wird damit auch in dieser Szene von einer Darstellung bestimmt, die weniger dazu dient, ein tatsächliches Handeln zu porträtieren, als dazu, die offizielle Darstellung seiner Figur im literarischen Text zu repräsentieren. Erst unter dem Dogma der Widerspiegelungstheorie kann diese symbolisch vermittelte Handlung zum vermeintlich authentischen Verhalten umgedeutet werden.737 Zur Bedeutung der Figurenhandlung als Verfahren der Figurencharakterisierung vgl. Červenka 1978, 118f. sowie Faryno 1991, 162 und 249 und O’Neill 1994, 50. 734 Zur Charakterisierung der literarischen Figur als Summe ihrer Übereinstimmung und Differenz zu allen anderen Charakteren vgl. Lotman 1973, 376 und 388 sowie Červenka 1978, 119f. 735 Vgl. hierzu den Kurzen Lehrgang o.J., 293f. 736 Vgl. hierzu auch Papernyj 1985, 173ff., der von einer grundsätzlichen Übersetzbarkeit der einzelnen Künste im Sozialistischen Realismus ausgeht. 737 Daß die Szene ein vermeintlich authentisches Handeln Stalins zeigen soll, zeigen die Rezensionen. Sie heben die Differenz zwischen Text und Wirklichkeit auf und erklären die Ereignisse der Szene zur Reproduktion einer scheinbar faktischen Vergangenheit: vgl. hierzu Čeremin 1950, 10 sowie Alpatov 1955, 91. 733 Stalin an der Südfront: Textanalyse 143 3.4 Der Mythos vom Oberbefehlshaber oder Der militärische Konflikt 3.4.1 Der Smol’nyj als Kommandozentrale: Narrative Figurenexposition Die nächste Szene zeigt zum wiederholten Male Lenin und Stalin im Smol’nyj.738 Im Gegensatz zu den vorhergehenden Erzählabschnitten erscheinen sie in diesem Teil der Erzählung nicht mehr nur als politische, sondern auch als militärische Führer. Dieser Wechsel in der Rollenkonfiguration ihrer Figuren wird erneut durch einen Wechsel des Schauplatzes vorbereitet, der das semantische Profil ihrer Figuren legitimiert. Dazu wird ein Konflikt in den Handlungszusammenhang der Erzählung eingesetzt, der die Ereignisse der nachfolgenden Szene motiviert und ihre Darstellung als militärische Führer rechtfertigt.739 So erfährt man in den vorhergehenden Erzählabschnitten, daß die sowjetische Führung ein Telegramm an die deutsche Regierung geschickt hat, in dem sie sich zu sofortigen Friedensverhandlungen bereit erklärt. In einer dramatischen Auseinandersetzung ist es Lenin gelungen, die Mitglieder der politischen Opposition davon zu überzeugen, dem Friedensvertrag zuzustimmen, da nur ein Waffenstillstand mit Deutschland die nötige Atempause für den Aufbau einer neuen Regierung gewährleisten könne.740 Unmittelbar, nachdem der Friedensvertrag unterschrieben worden ist, besetzen die deutschen Truppen weite Teile des sowjetischen Territoriums und drohen, Moskau und Petrograd einzunehmen.741 Dadurch entsteht ein literarischer Konflikt, der die Konfigurationsstruktur der vorhergehenden Szene aufhebt und die politische durch eine militärische Auseinandersetzung ersetzt. Mit dieser Verschiebung des literarischen Konflikts geht zugleich eine Verschiebung der konfigurativen Situation einher. 742 Der nachfolgende Erzählabschnitt zeigt den Smol’nyj nicht mehr als politische Machtzentrale, sondern als Sitz des militärischen Oberkommandos, von dem aus die Verteidigung des Landes befehligt wird. In den Fluren des Smol’nyj bereiten sich Arbeiter und Soldaten auf ihren Einsatz an der Front vor, Waffen werden ausgegeben und erste Einheiten rücken ab.743 Dieses Szenario wird zum Hintergrund für eine Darstellung, die Lenin und Stalin noch vor ihrem ersten Auftreten in die militärische Topographie des Schauplatzes einbezieht: «В коридорах Смольного рабочие двигались сплошной стеной: один – вверх по лестницам, другие, с оружием и приказами, наспех избросанными на клочках бумаги, - вниз, в морозную ночь, на вокзалы. В третьем этаже, где находился кабинет Ленина – в этой давке протискивались вестовые курьеры, народные комиссары, секретари партийных комитетов, военные члены Всероссийского центрольного испольнительного комитета и Петроградского совета.» (Tolstoj Chleb 1937, 40) Die Darstellung Lenins und Stalins wird so auch in dieser Szene durch eine Beschreibung des Schauplatzes antizipiert, die ihre Inszenierung als militärische Führer recht- Tolstoj Chleb 1937, 40f. Zum Zusammenhang von Figur und Handlung vgl. Lotman 1973, 366f. sowie Červenka 1978, 122f., Bal 1985, 91ff. und Veldhues 1997, 63f., der die Figurenrollen in Abhängigkeit von der Konfliktrelevanz der einzelnen Charaktere definiert. 740 Tolstoj Chleb 1937, 37f. 741 Tolstoj Chleb 1937, 38ff. 742 Zur Bedeutung der Konfigurationssituation im literarischen Text vgl. Tomaševskij 1967, 134 und Veldhues 1997, 64. 743 Tolstoj Chleb 1937, 40f. 738 739 Stalin an der Südfront: Textanalyse 144 fertigt und im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet.744 Der zuvor inszenierte Konflikt wird damit zur wichtigsten Voraussetzung, um die politische durch eine militärische Führerschaft ergänzen zu können.745 Wie die beiden vorhergehenden Szenen zerfällt auch dieser Erzählabschnitt in zwei Teile. Auch er porträtiert zuerst die Figur Lenins, bevor er die Figur Stalins in den Handlungszusammenhang des Textes integriert. Dabei weist bereits der Darstellungsmodus der Eingangssequenz daraufhin, daß es in ihr weniger darum geht, die Figur Lenins in ihrer Rolle als militärischer Führer vorzuführen, als darum, diese Rolle im Handlungsverlauf des Erzählten zu begründen. Da seine Darstellung ausschließlich durch die Stimme des Erzählers vermittelt wird, konfigurieren die ersten Textsequenzen eine Rolle, die seine Bedeutung als militärischer Führer rechtfertigt und im Ereigniszusammenhang der Szene begründet. Durch die imaginäre Kamerafahrt, die der Erzähler zu Beginn des Kapitels durch die Räume des Smol’nyj unternimmt, wird seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und noch vor ihrem tatsächlichen Auftritt zum zentralen Charakter der Szene stilisiert.746 Nachdem alle kanonischen Eigenschaften Lenins in das semantische Profil seiner Figur eingetragen worden sind, wendet sich die Erzählung auch hier der Darstellung Stalins zu. Dessen Integration in den Handlungszusammenhang der Szene findet erneut durch einen nicht vermittelten Handlungssprung statt, so daß auch hier die Illusion einer kontinuierlichen Handlung entsteht, die das Dargestellte über die Grenzen der Szene hinaus erweitert.747 Dadurch erweckt die Erzählung den Eindruck, als hätten Lenin und Stalin die ganze Zeit über gemeinsam in Lenins Arbeitszimmer verbracht und die notwendigen Vorbereitungen für den Krieg mit Deutschland getroffen. Die Figur Stalins wird so auch in dieser Szene durch eine Handlung charakterisiert, die ihn in sein Amt als militärischer Führer einsetzt, ohne daß diese Identität im Text vermittelt wird. Sie wird in die Konfigurationssituation der Szene eingeschrieben und kann als vermeintlich authentische dargestellt werden. Dadurch gelingt es Tolstoj, die Figur Stalins mit einer Figurenrolle auszustatten, deren rein imaginäre Identität sie noch vor ihrem ersten Eingreifen in die Handlung an ihre Darstellung im offiziellen Stalinkult angleicht. Durch den nicht vermittelten Handlungssprung wird seine Figur auch hier mit einem fertigen Rollenprofil in den Text eingefügt, das im weiteren Verlauf der Szene bestätigt wird. In dem Moment, in dem die Erzählung Stalin in den Zusammenhang der Szene einbezieht, sitzt er an einem provisorisch eingerichteten Schreibtisch und nimmt die eingehenden Nachrichten von der Front entgegen: «Здесь же, освобождив от бумаг и книг место за столом, работал Сталин. Сведения с фронта поступали ужасающие, позорные. Старая армия окончательно отказывалась повиноваться. Матросский отряд, на который возлагались большие надежды не приходя даже в соприкосновение с неприятелем, оставил Нарву и покатился до Гатчины...» (Tolstoj Chleb 1937, 41) Zu diesem Verhältnis von Schauplatz und Figur vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Veldhues 1997, 73 und Bal 1985, 95. 745 Zum Verhältnis von Handlung und Figurenrolle vgl. Tomaševskij 1967, 152ff. sowie Červenka 1978, 122f. und Greimas 1971, 157. 746 «Владимир Ильич у себя в кабинете – возбужденной, быстрый, насмешливо-колочный, решительный - руководил бурей: рассылал тысячи записок, сотни людей.» (Tolstoj Chleb 1937, 40) 747 Zum unvermittelten Wechsel des Erzählfokus vgl. Genette 1994, 134ff. sowie Uspenskij 1970, 109ff. und Bal 1985, 104f., die von einer externen, nicht-charaktergebundenen Fokalisierung des Erzählten spricht. 744 Stalin an der Südfront: Textanalyse 145 Tatsächlich wird die Rollenkonfiguration Stalins jedoch auch in dieser Szene durch die zuvor angelegte Rolle Lenins bestimmt. Auch seine Identität als militärischer Führer wird in die Rollenkonzeption Lenins eingeschrieben und zu einer analogen Rolle ausgebaut. Die konkrete Ausgestaltung seiner Rolle ist damit einmal mehr in der mythischen Autorität Lenins begründet und kann in dessen vollständig kanonisierter Rolle verankert werden. Diese Angleichung ihrer Figurenrollen dient auch hier dazu, eine Identität Stalins zu fingieren, die in der offiziellen Geschichtsschreibung zwar vorgeschrieben ist, jedoch durch keine konkrete Handlung belegt werden kann.748 Die so angelegte Figurenrolle wird auch in dieser Szene durch die räumliche Nähe der Figuren unterstrichen. Dazu wird die räumliche Trennung zwischen Lenin und Stalin aufgehoben und der Arbeitsplatz Stalins mit dem Lenins zusammengelegt. Damit greift die Szene eine ikonographische Ordnung auf, welche die Identität ihrer Figuren erneut durch ihre Anordnung im (literarisch gestalteten) Raum repräsentiert.749 Sie soll einmal mehr den Mythos von ihrer gemeinsamen Führerschaft in den Handlungszusammenhang der Erzählung eintragen und auf ihre Darstellung als militärische Führer übertragen. Damit wird auch die Darstellung Stalins als militärischer Führer durch ein ikonographisches System fundiert, das die Identität seiner Figur durch die sekundär semantische Bedeutung des literarischen Schauplatzes legitimiert und diese zur Konfiguration seiner Figurenrolle heranzieht.750 3.4.2 Stalin als militärischer Führer: Diskrepante Informiertheit als Verfahren der literarischen Figurengestaltung Ungeachtet dieser Angleichung zwischen den Rollenprofilen Lenins und Stalins wird eine erste Differenz in das semantische Profil ihrer Figuren eingesetzt: Während Lenin die Mobilmachung im Smol’nyj befehligt, steht Stalin in unmittelbarem Kontakt zur Front. Damit wird eine Opposition ihrer Figurencharakteristik etabliert, die in den vorhergehenden Szenen bereits angelegt worden ist: Während Lenin als Führer erscheint, der die Verteidigung des Landes von Petrograd aus organisiert, ist es Stalin, der die militärische Operation an der Front überwacht.751 Sein semantisches Profil wird dadurch um die Vorstellung einer militärischen Führerschaft erweitert, die die Pläne zur Verteidigung des Landes nicht nur erarbeitet, sondern ihre Durchführung vor Ort befehligt.752 Zur nachträglichen Adaption des Leninkults vgl. Dobrenko 1993, 79 sowie Löhmann 1990, 305f. Vgl. hierzu noch einmal Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95. 750 Lotman 1973, 346 spricht von einer „Polyphonie der Räume“, die jeweils einer (oder mehreren) Figur(en) zugeordnet sind und deren Identität in der imaginären Textwelt repräsentieren. Papernyj 1985, 130 konstatiert für die sowjetische Kultur der späten dreißiger Jahre eine Hierarchie der Räume, die die Bedeutung ihres jeweiligen Darstellungsgegenstandes widerspiegeln und so zum Abbild einer hierarchisch organisierten Öffentlichkeit werden. 751 Vgl. hierzu auch Dobrenko 1993, 86. 752 Damit folgt die Erzählung einem semantischen Profil, das in der offiziellen Stalinbiographie vorgegeben ist. In der Kurzen Lebensbeschreibung heißt es: „Der unmittelbare Inspirator und Organisator der wichtigsten Siege der Roten Armee war Stalin. An alle Fronten, an denen das Schicksal der Revolution entschieden wurde, schickte die Partei Stalin. Er war der Schöpfer der bedeutungsvollsten strategischen Pläne. Stalin leitete unmittelbar entscheidende Kampfoperationen.“ (Kurze Lebensbeschreibung 1945, 38) Und Emeljan Jaroslavskij schreibt über Stalins Einsatz im Bürgerkrieg: «В этот период к огромному опыту товарища Сталина в различных областях революционной деятельности прибавился новый большой опыт – опыт полководца, опыт руководителя и организатора Красной Армии, организатора побед советской власти на военных фронтах.» (Jaroslavskij 1941, 98) 748 749 Stalin an der Südfront: Textanalyse 146 Diese Differenz wird auch durch die Beschreibung der äußeren Handlung im Text vergegenwärtigt. Sie schildert, wie Lenin in seinem Arbeitszimmer hin und her läuft, Telefonate führt, Anweisungen schreibt und Befehle erteilt, während Stalin bewegungslos an seinem Schreibtisch sitzt und sich über die neuste Entwicklung an der Front informiert. Damit wird eine äußere Handlung inszeniert, die ganz unmittelbar zur Charakterisierung seiner Figur beiträgt. Sie repräsentiert Eigenschaften wie Ruhe, Konzentration und Entschlossenheit und entwirft ein semantisches Profil, das im weiteren Verlauf der Szene zu einer eigenständigen Figurensemantik ausgebaut wird.753 Sie wird zum Ausdruck einer Figurencharakteristik, die seine offizielle Darstellung rechtfertigt und seine Inszenierung als militärischer Führer legitimiert. So steht am Anfang dieser Szene eine Figurengestaltung, die durch ihre Beschreibung im Erzählertext vergegenwärtigt wird und die mythische Identität Stalins durch eine narrative Figurenexposition reproduziert. Die so vorgenommene Inszenierung Stalins wird bereits im nachfolgenden Dialog bestätigt. Er unterbricht die narrative Informationsvermittlung der Szene und dient in erster Linie dazu, Stalin in seiner Rolle als militärischer Führer vorzuführen.754 Dabei kommt auch diesem Dialog die Aufgabe zu, das zuvor angelegte Rollenprofil zu rechtfertigen und in der Rede Stalins zu begründen. Diese dokumentiert nicht nur seinen Glauben an den Sieg der Revolution, sondern belegt darüber hinaus, daß er sowohl über die Vorgänge an der Front als auch über die Ereignisse im Hinterland informiert ist. Damit wird seine Figur mit einem Wissen ausgestattet, daß ihre Position in der Figurenkonstellation der Szene legitimiert und das ihm im offiziellen Stalinkult zugewiesene Wissen als militärischer Führer rekonstruiert: «В минуты передышки Владимир Ильич, навались локтями на кипы бумаг на столе, глядел в упор в глаза Сталина: - Успеем? Немецкие драгуны могут уже завтра утром быть у Нарвских ворот. Сталин отвечал тем же ровным, негромким, спокойным голосом, каким вел все разговоры: - Я полагаю – успеем... Роздано винтовок и пулементов...» (Tolstoj Chleb 1937, 41) Die Legitimation seiner Figurenrolle beruht so auch in dieser Szene auf einer nachträglich manipulierten Informationsvergabe, die seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und in einem scheinbar authentischen Wissen begründet.755 Der Dialog trägt damit zu einer Charakterisierung seiner Figur bei, die ihre Beschreibung im Erzählertext vervollständigt und in der scheinbar überlieferten Rede seiner Figur verankert. Damit erhält seine Figur ein eigenständiges semantisches Profil, das sie aus der Darstellung Lenins befreit und mit einer eigenständigen Figurenrolle ausstattet. Die Erzählung greift dabei auf eine Technik der literarischen Figurengestaltung zurück, die bereits Stalins Darstellung als politischer Führer bestimmt. Diese stattet seine Figur mit einer Figurensemantik aus, die im Erzählertext vorbereitet und in einer nachträglich konfigurierten Figurenrede beglaubigt wird. Dieser Wechsel von Erzähler- und Figurenrede geht mit einem Wechsel ihrer jeweiligen Erzählfunktion einher: Während die Beschreibung im Erzählertext in erster Linie dazu dient, die Figurenrolle Stalins zu konfi- Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff., Faryno 1991 249 und O’Neill 1994, 50. 754 Zur Funktion des Dialogs vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Mukařovský 1967, 115ff., Genette 1994, 123f., Leibfried 1972, 243f. und Bal 1985, 148f. 755 Vgl. hierzu Lotman 1973, 377ff. sowie Tomaševskij 1967, 152ff. und Červenka 1978, 120ff. Zur Bedeutung einer nachträglich manipulierten Informationsvergabe vgl. Weber 1975, 65ff. sowie Tomaševskij 1967, 140. 753 Stalin an der Südfront: Textanalyse 147 gurieren, dient die direkte Rede seiner Figur dazu, diese zu einer scheinbar realen Charakterisierung seiner Figur auszubauen.756 Die Vorstellung vom militärischen Wissen Stalins wird damit nicht allein durch die Stimme des Erzählers im Text vergegenwärtigt, sondern durch eine Figurenrede, welche die offizielle Repräsentation seiner Figur authentifiziert. Daß die Charakterisierung Stalins im Mittelpunkt der Szene steht, zeigt sich nicht nur daran, daß seine Redebeiträge die Lenins quantitativ überwiegen. Die Dominanz seiner Figur zeigt sich auch am qualitativen Aufbau des Dialogs. In ihm wird ein Informationsdefizit Lenins inszeniert, das einzig dazu dient, die Überlegenheit Stalins im literarischen Text zu vergegenwärtigen.757 Während die Figurenrede Lenins aus einem einzigen Fragesatz besteht, der das für die Darstellung Stalins notwendige Informationsdefizit in den literarischen Text einträgt, besteht die Figurenrede Stalins aus einer Reihe von Aussagesätzen, die seine Inszenierung als militärischer Führer beglaubigen. Die Rede Lenins dient damit lediglich dazu, die nachfolgende Antwort Stalins zu motivieren. Durch das Übergewicht der Repliken Stalins entsteht ein monologisierter Dialog, der seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und zusammen mit der Konfigurationsstruktur des Dialogs auch die hierarchische Ordnung der literarischen Charaktere verkehrt. Jan Mukařovský schreibt über den monologisierten Dialog: „Zu einer Vorherrschaft eines Sprechenden über den anderen kommt es aus verschiedenen Gründen: durch bessere Informiertheit, durch ein Übergewicht des Intellekts, der sozialen Stellung, des Alters usw. Aber immer verkörpert derjenige, der das Übergewicht gewinnt, die Tendenz zur Monologisierung des Dialogs, und diese Tendenz erhält auch ihren sprachlichen Ausdruck (im Satzbau, in der Wortwahl usw.); sie wirkt freilich auch auf den semantischen Aufbau, der in den Äußerungen dessen, der im Dialog sein Übergewicht geltend macht, beginnt, eine Tendenz zu ununterbrochener logischer Kontinuität ohne semantische Wenden zu bekunden.“ (Mukařovský 1967, 146) Damit wiederholt der Dialog eine Figurencharakteristik, die bereits durch den situativen Kontext der Erzählung vorgegeben ist. Die Beschreibung der Szene greift auf ein Darstellungsprinzip zurück, das sich an die formale Syntax der (russischen) Ikonenmalerei anlehnt. Auch in ihr wird die semantisch wichtige Figur unbeweglich dargestellt, während die weniger wichtigen Figuren in Bewegung gezeigt werden können.758 Die Beschreibung der äußeren Handlung nimmt so an einer indirekten Charakterisierung Stalins teil, die seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und die zu Beginn angelegte Figurenhierarchie aufhebt. Seine Darstellung wird mit einer symbolischen Bedeutung aufgeladen, die sie von Beginn an zum zentralen Charakter der Szene stilisiert und diese Stilisierung durch die im Text widergegebene Figurenrede legitimiert. Die so inszenierte Überlegenheit Stalins wird durch seine abschließende Replik noch einmal bestätigt. Sie zeigt, daß er nicht nur über die Vorgänge in den eigenen Reihen informiert ist, sondern auch über das militärische und taktische Vorgehen seiner Gegner. Damit wird eine Figurencharakteristik verstärkt, die ebenfalls bereits in seiner Darstellung als politischer Führer angelegt worden ist. Sie wird auf seine Inszenierung als militärischer Führer übertragen und ebenfalls über den Umweg seiner Figurenrede als vermeintlich authentische (re)präsentiert. Sie greift den Mythos von seiner Allwissenheit Zu den unterschiedlichen Verfahren der indirekten Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Faryno 1991, 249, O’Neill 1994, 49ff. und Červenka 1978, 118f. 757 Zur Konstruktion psychischer Subjekte im literarischen Dialog vgl. Mukařovský 1967, 128ff. 758 Uspenskij 1971, 787. 756 Stalin an der Südfront: Textanalyse 148 wieder auf und begründet ihn auch hier in einem Informationsvorsprung, der seine Figurenrolle in einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe legitimiert.759 So dient auch dieser Dialog dazu, das kanonische Porträt Stalins im literarischen Text zu vergegenwärtigen und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen. Er kann seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigen und die im Text inszenierte Figurenperspektive authentifizieren: «Он прочел справку. Немeцкое командование уже осведомлено о настроении рабочих... Шпионов достаточно... С незначительными силами немцы вряд ли решатся лезть сейчас в Петроград...» (Tolstoj Chleb 1937, 41) Die Inszenierung seiner Figur wird dabei auch in diesem Erzählabschnitt durch die nachfolgenden Ereignisse bestätigt. Der narrative Bericht, der das Geschehen der nachfolgenden Handlung zusammenfaßt, zeigt, daß die deutschen Truppen tatsächlich über Spione von der Bewaffnung der Petrograder Arbeiter erfahren haben und nach einem ersten Zusammenstoß mit bewaffneten Arbeiterregimentern ihr Vorhaben, die Stadt zu besetzen, aufgeben.760 Damit wird auch in diesem Abschnitt eine Identität von Rede und Handlung fingiert, die Stalins Rolle als militärischer Führer im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet. Sie beruht auf einer Überblendung von Handlung und Figur, die seine Darstellung beglaubigt und die im Text geschaffene Identität als scheinbar faktische präsentiert.761 Tatsächlich bedient sich Tolstoj jedoch einer Darstellungstechnik, in der figurale und auktoriale Erzählperspektive aufeinander bezogen werden und eine scheinbar authentische Darstellung fingieren. Die Worte Stalins werden dabei zur Vorausdeutung, die die Ereignisse der nachfolgenden Szene ordnet. Durch die Angleichung von Erzähler- und Figurenperspektive erhalten sie einen Erfüllungscharakter, der seine Identität als militärischer Führer dadurch rechtfertigt, daß er die ihm attestierte Weitsicht im literarischen Text repräsentiert. Die so inszenierte Figurensemantik beruht auf einer Korrespondenz von antizipierter und nachträglich fingierter Handlung, deren gegenseitige Bespiegelung die mythisch überhöhte Identität Stalins rechtfertigt, sie gleichzeitig aber als literarische Konstruktion denunziert.762 Dabei zeichnet sich die Figurencharakteristik Stalins auch in dieser Szene durch eine Wiederholung der semantischen Merkmale aus. Die Eigenschaften, die in der direkten Rede seiner Figur vergegenwärtigt werden, werden durch ihre Beschreibung im Erzählertext verifiziert. Während seine Rede ihn in seiner neuen Rolle als militärischer Führer vorstellt, wird in der Stimme des Erzählers ein semantisches Profil aktualisiert, das die in ihr konfigurierten Eigenschaften auf seine Darstellung als militärischer Führer überträgt.763 Damit beruht die Inszenierung seiner Figur auch in dieser Szene auf einer ÜberAuch bei dieser Charakterisierung bezieht sich Tolstoj auf eine offizielle Stalindarstellung, über die es in der Kurzen Lebensbeschreibung heißt: „Er durchschaute und durchkreuzte die geschicktesten und heimtückischsten strategischen Pläne der Feinde und warf ihre gesamte Kriegswirtschaft, Kriegskunst und Kriegserfahrung über den Haufen.“ (Kurze Lebensbeschreibung 1945, 37) 760 Tolstoj Chleb 1937, 41. 761 Zur Funktion des narrativen Berichts vgl. Lämmert 1967, 91f. sowie Genette 1994, 68ff. und 117ff. 762 Es handelt sich dabei um eine eingeschobene Phasenvorausdeutung, die Lämmert von einer Vorausdeutung unterscheidet, welche die Handlungsstränge der ganzen Erzählung gliedert: Lämmert 1967, 163ff. 763 Auch hier repräsentieren sie Eigenschaften wie Ruhe, Konzentration, Stärke und Gelassenheit, die das offizielle Porträt seiner Figur bestimmen. Sie werden durch die Attribute «ровным, негромким, 759 Stalin an der Südfront: Textanalyse 149 einstimmung von Erzähler- und Figurenrede, welche die offiziell kanonisierten Eigenschaften seiner Person objektiviert und durch ihre gegenseitige Bestätigung authentifiziert. Durch dieses Verfahren entsteht eine Kontinuität, die die Differenz zwischen Text und Wirklichkeit aufhebt und die literarische auf die außerliterarische Figur abbildet. Durch den Einschub «каким вел все разговоры» wird eine Identität Stalins fingiert, die die Grenzen der literarischen Repräsentation übersteigt und die reale Person mit ihrer literarischen Konstruktion identifiziert. Dadurch entsteht ein semantisches Profil, das in der offiziellen Stalindarstellung vorgegeben und im literarischen Text bestätigt wird. In einem 1939 erschienenen Artikel greift Tolstoj diese Identität noch einmal auf, wenn er über die Rede Stalins schreibt: «Раскрывает зеленую папку. Брови его поднимаются двумя резкими изломами. Он начинает говорить негрoмко, как всегда – спокойно, разделяя слово от слова, четко оформляя каждую мысль, находя наиболее ясную и простую формулировку, понятную каждому... « (Tolstoj 1939, 265) Doch bevor die Rollenkonfiguration Stalins im nachfolgenden Kapitel weitergeführt wird, wird sie in einem letzten narrativen Bericht bestätigt. In diesem Abschnitt dokumentiert der Erzähler seinen Einsatz als Oberkommandierender der revolutionären Einheiten und trägt damit eine Handlung in den Zusammenhang der Szene ein, der seine Darstellung als militärischer Führer durch eine eigenständige Handlung legitimiert. Die Erzählung zeigt, wie sich Lenin und Stalin mit dem aus Mogilev abberufenen Stab beraten und über den Einsatz der Arbeiterregimenter diskutieren.764 In dieser Szene, die keine dialogische Gestaltung ihrer Charaktere vornimmt, erscheinen sie als militärische Führer, die den Plan der Sachverständigen billigen und den Einsatz der revolutionären Einheiten befehligen. Sie werden damit zu übergeordneten Sendern, die die Verteidigung des Landes nicht nur organisieren, sondern initiieren.765 Die Erzählung zeigt sie als literarische Subjekte, deren Rolle als übergeordneter Sender sowohl durch ihr Können als auch durch ihr Wissen im literarischen Text vergegenwärtigt wird.766 Mit diesem Wechsel ihrer Handlungsfunktion ist die Konfiguration ihrer Figurenrolle abgeschlossen. Sie markiert einen ersten Höhepunkt in der Gestaltung ihrer Figuren und nimmt eine Figurencharakterisierung vor, die in den nachfolgenden Szenen ausgebaut wird. Ihre Darstellung als politische und militärische Führer ist so in einem Akt der literarischen Repräsentation begründet, der die Verfahren der literarischen Figurengestaltung aufgreift und auf ihre Darstellung als militärische Führer überträgt. Der formale Aufbau der Erzählung wird so von einer Sujetkonstruktion bestimmt, welche die offizielle Repräsentation ihrer Figuren verdoppelt und durch die Abfolge der dargestellten Ereignisse im Text legitimiert.767 спокойным» in den Text der Erzählung eingetragen: vgl. hierzu auch Hellebust 1994, 113. Tolstoj Chleb 1937, 41. 765 Zur Funktion des übergeordneten Senders vgl. Bal 1985, 26ff. sowie Greimas 1971, 118ff. Zu Stalin als übergeordnetem Sender vgl. auch Hellebust 194, 112ff. 766 Vgl. hierzu Greimas 1971, 118, der die Inszenierung des literarischen Subjekts auf Eigenschaften zurückführt, die durch die Verben ‚können’ und ‚wissen’ zusammengefaßt werden können. 767 Damit folgt die Erzählung einer Rollenkonfiguration, die in allen offiziellen Geschichtsdarstellungen vorgegeben ist. Sowohl in der 1939 erschienenen Stalinbiographie als auch in den Festschriften zu seinem fünfzigsten, sechzigsten und siebzigstem Geburtstag wird diese Darstellung beibehalten. Sie alle zeigen Stalin zuerst in seiner Eigenschaft als politischer und dann in seiner Eigenschaft als militärischer Führer und kanonisieren damit eine Darstellung, der auch die Sujetkonstruktion der Erzählung folgt. Vgl. hierzu Jaroslavskij 1941, 90ff. sowie K pjatidesjatiletiju 1930, 8, 20ff. und 44ff., K šestidesjatiletiju 1940, 3, 18ff. und 32ff. und Kurze Lebensbeschreibung 1945, 29ff. 764 Stalin an der Südfront: Textanalyse 150 3.5 „Umzug“: Die Uniform als Maske Zum vorerst letzten Mal tritt Stalin zu Beginn des dritten Kapitels in Erscheinung. Die Szene schildert den Umzug der sowjetischen Regierung von Petrograd nach Moskau. Dieser wird dadurch motiviert, daß die Sicherheit der sowjetischen Regierung in Petrograd durch einen bevorstehenden Angriff deutscher und finnischer Truppen gefährdet ist und der Rätekongreß eine Verlegung der Hauptstadt beschlossen hat.768 In dieser Szene, die die Darstellung Lenins als politischer Führer fortsetzt, wird Stalin lediglich im Erzählertext erwähnt. Er betritt zusammen mit Lenin den Bahnsteig, um den Zug nach Moskau zu besteigen. Die Abreise Lenins und Stalins steht im Gegensatz zu dem in der Eingangssequenz geschilderten Chaos.769 Ihre literarische Repräsentation wird durch eine Kontrastierung der Schauplätze vorbereitet, welche die Rollenkonfiguration ihrer Figuren aufgreift und im literarischen Text vergegenwärtigt.770 Die Position, die ihnen in der Figurenkonstellation der Szene zugewiesen wird, zeigt sich dabei daran, daß sie im Unterschied zu allen anderen Charakteren ungehinderten Zugang zum Bahnsteig haben und von dem Kanzleichef des Rates der Volkskommissare begleitet werden, der für die persönliche Sicherheit Lenins verantwortlich ist. Ihr Auftritt wird so in eine literarische Situation gekleidet, die ihre zuvor angelegte Figurenrolle widerspiegelt und auf den Handlungszusammenhang der hier analysierten Szene überträgt. Der Mythos von den zwei Führern der Revolution wird damit auch in ihr durch eine hierarchisch geordnete Figurenkonstellation repräsentiert, die durch die Gestaltung des literarischen Handlungsortes in den Text der Erzählung eingetragen werden kann: «Съезд советов вынес решение – перенести столицу в Москву, чтобы лишить соблазна немцев и финнов коротким налетом покончить с большeвистским правительством. В Петрограде, на Николаевском вокзале, было подано три поезда; в одном должен был уехать Ленин и члены Центрального комитета, в двух других – Всероссийский центральный исполнительный комитет и учреждения первой важности.» (Tolstoj Chleb 1937, 43) Im Unterschied zu den vorhergehenden Erzählabschnitten werden die Figuren Lenins und Stalins diesmal nicht nacheinander in den Handlungszusammenhang der Szene einbezogen, sondern von Anfang an in einer gemeinsamen Handlung zusammengeschlossen. Dadurch wird der Mythos von ihrer gleichberechtigten Führerschaft auch in dieser Szene durch die räumliche Nähe ihrer Figuren verdeutlicht und durch eine abschließende Handlung legitimiert:771 Tolstoj Chleb 1937, 43ff. «Много разного народа шаталось по площади перед вокзалом, размешивая ногами весеннюю грязь на вывороченном булыжнике. Была дрянная, ветреная погода. Латышские стрелки сурово проверяли пропуска у дверей вокзала. Но люди просачивались и без пропусков, - махая через заборы на железнодорожные пути, где в беспорядке стояли полуразбитые составы, дымили, шипели, отчаянно свистели маневренные паровозы.» (Tolstoj Chleb 1937, 43) 770 Zum Zusammenhang von Rollenkonfiguration und Schauplatz vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Veldhues 1997, 73 und Bal 1985, 95. 771 Zu der so vorgenommenen Rollenkonfiguration Lenins und Stalins sei hier ein Auszug aus dem 1940 erschienenen Artikel «Ленин и Сталин – организаторы Красной Армии и вдохновители ее побед» zitiert, der diese Rolle offizialisiert: «Революционный гений великих вождей пролетариата, их обширные знания и опыт обеспечели глубокое понимание природы гражданской войны, как высшый, наиболее открытой и острой формы классовой борьбы пролетариата и руководимого им трудового крестьянства против разбитых в Октябре эксплоататорских классов России и их иностранных союзников. Исходя из этой природы гражданской войны, Ленин и Сталин умели 768 769 Stalin an der Südfront: Textanalyse 151 «Только около полуночи на перроне 'царского павильона' появились: близорукий, озабоченный, говорливый управляющий делами Совета народных комиссаров, ведавший личной охраной Ленина; Владимир Ильич с толстой связкой рукописей; Сталин в солдатской шинели и ушастой шапке; чернобородый, нeздорово бледный Свердлов...» (Tolstoj Chleb 1937, 43) Das im Text beschriebene Äußere Stalins steht dabei in genauem Gegensatz zu der äußeren Erscheinung Lenins. Während dieser durch die Akten als politischer Führer identifiziert wird, ist Stalin durch Mantel und Soldatenmütze eindeutig als militärischer Führer kodifiziert.772 Durch die kontrastive Beschreibung ihrer Figuren wird seine Figur in eine Rolle gekleidet, die im weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt und zur dominanten Figurenrolle Stalins ausgebaut wird. Sie zeigt ihn als militärischen Führer, der – im Gegensatz zu Lenin – an den militärischen Kampfhandlungen teilnimmt. So wird über die äußere Beschreibung ihrer Figuren eine Differenz aktualisiert, die im vorhergehenden Kapitel angelegt und im weiteren Verlauf der Erzählung ausgebaut wird. Sie wird über den Kleiderwechsel Stalins im literarischen Text vergegenwärtigt und folgt einer Beschreibung, die seine offizielle Darstellung als militärischer Führer in den literarischen Text transportiert. Mit der äußeren Beschreibung seiner Figur entwirft die Erzählung eine Maske, die die im vorhergehenden Kapitel vorgenommene Figurencharakteristik offizialisiert und durch die äußere Erscheinung Stalins legitimiert.773 Dabei bezieht auch diese Szene ihre literarische Repräsentation aus einer kanonischen Darstellung, welche die Identität der einzelnen Figuren aus ihrer Vorlage im offiziellen Stalinkult ableitet. In Bildern wie „I.V. Stalin und K.E. Vorošilov auf dem Kreml’“ (1938) von A.M. Gerassimov, „Stalin besucht die Allunions-Landwirtschaftsausstellung“ (Ende der dreißiger Jahre) von P. Sokolov-Skalja oder dem Plakat „Stalin am Ruder“ wird Stalin ebenfalls in Uniform gezeigt. 774 Damit wird das Kostüm Stalins zum eigenständigen Text, der die literarische Identität seiner Figur rechtfertigt und sie unabhängig von der literarischen Handlung identifiziert:775 „The military uniform of Stalin appears to be a sign of such designation on the battlefield of the past (to take part in revolutionary battles was a form of legitimization for many Soviet leaders of the ‚heroic’ period). On the more visible level Stalin imitates the imperial attitude of the 18th to 19th centuries, when the custom of European monarchs was to appear almost always in some regimental uniform, or in that of an army general.” (Yampolsky 1993, 107) Wie in allen anderen Szenen beruht die Wiedererkennbarkeit seiner Figur damit auch in diesem Erzählabschnitt auf einer Entgrenzung von Text und Wirklichkeit, die die verschiedenen Formen der medialen Repräsentation zueinander ins Verhältnis setzt und ihre Darstellung aneinander angleicht.776 Die literarische Vergegenwärtigung Stalins geht so auch hier aus einer nachträglich fingierten Übereinstimmung der Diskurse hervor, die seine Darstellung als vermeintlich authentische präsentiert: во всех случаях выбирать именно те формы и методы решения военных задач, которые соответствовали данной обстановке, данным условиям.» (Boltin 1940, 274) 772 Vgl. hierzu Sinjawskij 1989, 117ff. 773 Tomaševskij bezeichnet die Kleidung der Figuren als einen Bestandteil ihrer „Maske“, die zu ihrer indirekten Charakterisierung beiträgt und die äußere Gestalt der Figuren bestimmt: Tomaševskij 1967, 153. 774 Vgl. hierzu auch die Ausstellungsbeschreibungen von Nejman 1939, 249ff. sowie den Artikel Красная Армия в живописи 1940, 167ff. 775 Vgl. hierzu Faryno 1991, 181. 776 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 171ff. Stalin an der Südfront: Textanalyse 152 Gerassimov, A.M, I.V. Stalin und K.E. Vorošilov Stalin am Ruder (1933), Plakat auf dem Kreml’ (1938) Sokolov-Skalja, P., Stalin besucht die Allunions-Landwirtschaftsausstellung (Ende der dreißiger Jahre) Die in der Aufzählung erwähnte Figur Sverdlovs spielt dabei keine Rolle. Obwohl die räumliche Konfiguration der Szene sie in die Führung der sowjetischen Regierung einbezieht, wird sie durch die Beschreibung ihres Äußeren gleich wieder aus dieser Führung ausgegrenzt. Sie wird im folgenden mit keinem weiteren Wort erwähnt. 3.6 Die historische Mission: Stalin rettet die Revolution 3.6.1 Endgültige Figurenkonstellation Der nächste Auftritt Stalins findet sich erst wieder am Ende des neunten Kapitels.777 In den dazwischenliegenden Erzählabschnitten sind alle weiteren Charaktere in den Verlauf der Handlung eingeführt und die unterschiedlichen Konflikte entwickelt worden. Die Erzählung nähert sich ihrem ersten Höhepunkt: die militärische Katastrophe steht bevor.778 Nachdem in den beiden vorhergehenden Erzählabschnitten sowohl der militäri- 777 778 Tolstoj Chleb 1937, 107f. Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 105f. Stalin an der Südfront: Textanalyse 153 sche als auch der politische Konflikt eingesetzt worden sind, wechselt die Erzählung am Ende dieses Kapitels noch einmal ihren Schauplatz und zeigt nun Lenin und Stalin im Kreml’.779 Diese Verlegung des Handlungsorts hat eine erneute Verschiebung ihrer Rollenkonfiguration zur Folge. In diesem Teil der Erzählung erscheinen sie nicht länger als Revolutionsführer, sondern als Oberbefehlshaber, die die Verteidigung des Landes von Moskau aus organisieren.780 Somit wird auch diese Szene durch einen situativen Kontext eröffnet, der die Darstellung Lenins und Stalins rechtfertigt und ihre Rolle durch die Wahl des Schauplatzes präfiguriert. Dieser repräsentiert einen Handlungsraum, der den indirekt vollzogenen Rollenwechsel vorbereitet und im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet.781 Das zuvor angelegte Rollenprofil wird so durch eine Darstellung ergänzt, die ihre Figuren in den zentralen Konflikt der Erzählung einbezieht und ihre literarischen Rollen durch den zuvor skizzierten Verlauf der Ereignisse prädisponiert.782 Der formale Aufbau der Szene läßt erkennen, daß es in ihr nicht nur darum geht, die so eingesetzte Figurenrollen im Handlungsverlauf des Erzählten zu verankern. Die dialogische Gestaltung des Erzählabschnitts weist vielmehr darauf hin, daß es in ihm auch darum geht, Lenin und Stalin in ihrer neuen Rolle zu porträtieren. Dazu wird die zu Beginn angelegte Figurenrolle einmal mehr durch eine nachträglich fingierte Figurenrede bestätigt. Während die Position ihrer Figuren im Handlungsverlauf das Rollenprofil ihrer literarischen Charaktere konfiguriert, wird die Charakterisierung ihrer Figuren durch ihre dialogische Gestaltung im Text vorgenommen.783 Erst durch diese Überschneidung von funktionaler und semantischer Rolle entsteht eine literarische Figur, die die offizielle Darstellung ihrer Personen aufgreift und als vermeintlich authentische legitimiert.784 Um ihre literarischen Charaktere im Text präsentieren zu können, greift die Erzählung auf eine Konfigurationssituation zurück, die bereits in den vorhergehenden Erzählabschnitten die literarische Darstellung ihrer Figuren bestimmt. Auch diesmal sitzen Lenin und Stalin in Lenins Arbeitszimmer und diskutieren die aktuelle politische und militärische Lage.785 Im Mittelpunkt der Szene steht ein weiteres Gespräch, das ihre zuvor beschriebene Handlungsfunktion rechtfertigt und durch die wörtliche Rede ihrer Figuren legitimiert. Damit ist die Konfigurationssituation der Szene ganz unmittelbar von ihrem Darstellungsauftrag abhängig. Sie entwirft eine Kommunikationssituation, die den Darstellungsmodus des Erzählten motiviert und eine Dramatisierung ihrer literari- Tolstoj Chleb 1937, 107. Die Erzählung folgt damit einer Identitätsstiftung, die in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung vorgegeben ist. Auch dort endet die Darstellung der Revolutionsepoche mit dem Einmarsch der deutschen Armee in Rußland und wird durch die Darstellung der Bürgerkriegsereignisse abgelöst: Kurzer Lehrgang o.J., 245ff. und 304ff. 781 Zu dieser Funktion des Schauplatzes: Lämmert 1967, 28 sowie Lotman 1973, 327ff. und Bal 1985, 95. 782 Zum Zusammenhang von Handlungsfunktion und Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 154, Lotman 1973, 360ff. sowie Bal 1985, 79ff., Veldhues 1997, 54f. und Červenka 1978, 122f. 783 Zu den Verfahren der Rollenkonfiguration vgl. Tomaševskij 1967, 152f. sowie Červenka 1978, 118f., Lotman 1973, 377ff. und Greimas 1971, 157. Zur Bedeutung der direkten Rede für die indirekte Figurencharakteristik vgl. Lämmert 1967, 204ff., Leibfried 1972, 243f., Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. 784 Zu dem Verhältnis von Figurenrolle und Figurencharakteristik vgl. Červenka 1978, 118f. sowie Veldhues 1997, 60ff., Lotman 1973, 377ff. und Greimas 1971, 120. 785 Tolstoj Chleb 1937, 107f. 779 780 Stalin an der Südfront: Textanalyse 154 schen Figuren erlaubt.786 Das zu Beginn entworfene Szenario dient aber nicht nur dazu, einen Handlungszusammenhang herzustellen, der die dialogische Gestaltung ihrer Figuren rechtfertigt. Der situative Kontext der Eingangssequenz trägt selbst zur Charakterisierung ihrer Figuren bei. Wie die vorhergehenden Erzählabschnitte spielt auch diese Szene spät abends, womit sie indirekt den unermüdlichen Einsatz Lenins und Stalins für den Sieg der Revolution dokumentiert. Damit kommt sowohl dem literarischen Ort als auch der literarischen Zeit eine symbolische Bedeutung zu.787 Beide repräsentieren im offiziellen Stalinkult kanonisierte Eigenschaften Lenins und Stalins und tragen sie über die Raum-ZeitStruktur der Szene in den Text der Erzählung ein.788 Die Szene wird durch eine literarische Situation bestimmt, die weniger den tatsächlichen Zeit-Raum ihrer Zusammenkunft benennt, als einen imaginären, der der Charakterisierung ihrer Figuren untergeordnet ist.789 Dadurch entsteht ein Verweisverhältnis von Schauplatz und Figur, das die Mythographie des offiziellen Stalinkults aufgreift und als vermeintlich authentische präsentiert. Durch die Überlagerung von historischem, literarischem und mythischem Handlungsort entsteht eine literarische Fiktion, deren imaginärer Schauplatz zugleich die semantischen Merkmale Lenins und Stalins im Text vergegenwärtigen kann. Erst durch das offiziell kodifizierte Abbildungsverhältnis der Widerspiegelungstheorie werden Ort und Zeit der Handlung zu historisch überlieferten Daten, deren Faktizität durch die offizielle Referenzfunktion literarischer Zeichen hergestellt wird und nicht durch die im literarischen Diskurs geforderte Widerspiegelungsfunktion:790 «Владимир Ильич щелкнул выключителем, гася лампочку на рабочем столе (электричество надо было экономить). Потер усталые глаза. За незанавешенным раскрытым окном еще синели тихий вечер. Засыпая, возились галки на кремлевской башне...» (Tolstoj Chleb 1937, 107) Wie alle anderen Szenen, die Lenin und Stalin in ihrer Rolle als politischer oder militärischer Führer porträtieren, beginnt auch diese Szene ohne formale Exposition. Damit weist die Erzählung ein Darstellungsverfahren auf, das die Unmittelbarkeit der literarischen (Re)Präsentation erhöht und die Erwartungshaltung des Lesers steigert.791 Die Realitätsillusion der Szene beruht auf einem Verdecken der Erzählerinstanz, deren Verschwinden die Wirkung der literarischen Illusion verstärkt und den Eindruck einer fiktiven Handlungsgegenwart evoziert.792 Das Erzählte wird im Hier und Jetzt der Figuren verankert und zu ihrer nachträglich inszenierten Gegenwart ausgebaut. Die Szene wird Zur szenischen Darstellung der Figuren als Verfahren der indirekten Figurencharakteristik vgl. Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff. und Hamburger 1987, 134f. 787 Vgl. hierzu Veldhues 1997, 72ff. sowie Lämmert 1967, 27f. und Tomaševskij 1967, 143f. 788 Sie werden damit zum Chronotopos, dessen Raum-Zeit-Struktur auch die literarische Figurengestaltung bestimmt: Bachtin 1986, 262f. Zum Mythos von dem unermüdlichen Einsatz Lenins und Stalins vgl. Jaroslavskij 1941, 83 sowie Švernik 1940, 111ff. 789 Zur doppelten Referenzfunktion des literarischen Schauplatzes vgl. Lämmert 1967, 28 sowie Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff., Lotman 1973, 327ff. und Tomaševskij 1967, 144. 790 Searle 1992, 44ff. rechnet die Angaben von Ort und Zeit zu den „singulären bestimmten hinweisenden Ausdrücken“, die vom Sprecher dazu verwandt werden, ein Objekt durch eine eindeutige Referenz zu identifizieren. 791 Vgl. hierzu Weber 1975, 92ff., der von einer Motivationsersparnis spricht, die den Zusammenhang des Erzählten auf den weiteren Verlauf der Erzählung verweist und zu den Verfahren gehört, welche die Spannung der Erzählung steigern. 792 Vgl. hierzu die Ausführungen im einleitenden Teil dieser Analyse, die unter dem Punkt 1.7.4 mit dem Titel „Die Abwesenheit einer narrativen Instanz“ zusammengefaßt sind. 786 Stalin an der Südfront: Textanalyse 155 damit zu einer weiteren Nahaufnahme, die das Bild Lenins und Stalins vervollständigt und die Authentizität ihrer Figuren dadurch erhöht, daß die dialogische Gestaltung sie in ihrer vermeintlich authentischen Ich-Identität vorführt.793 Der so hergestellte Eindruck von Unmittelbarkeit beruht auf einem nachträglich inszenierten Informationsdefizit, das die formale Exposition ihrer Figuren aufhebt und auf den binnensemantischen Zusammenhang des Erzählten verschiebt.794 So kann die Erzählung verdecken, daß es sich bei den Figuren Lenins und Stalins ebenfalls um literarische Charaktere handelt, deren im Text fingierte Anwesenheit aus den Verfahren einer literarischen Illusionsbildung hervorgeht.795 Durch die fehlende Exposition wird aber nicht nur die Spannung der Szene gesteigert. Sie führt zugleich dazu, daß die im vorhergehenden Erzählabschnitt eingesetzte Figurenkonstellation auf die hier analysierte Szene übertragen wird.796 Dadurch entsteht eine Darstellung, die den Mythos von den zwei gleichberechtigten Führern aufgreift und auf ihre Inszenierung als Bürgerkriegshelden transponiert. Er wird auch hier durch die räumliche Nähe ihrer Figuren im Text veranschaulicht und über die formale Ordnung der Szene aktualisiert.797 Die literarische Ikonographie ihrer Figuren beruht so auf einer konstanten Figurenkonstellation, die von Szene zu Szene transportiert wird und die Darstellung Lenins und Stalins unabhängig von der jeweiligen Handlung bestimmt.798 Die Figur Stalins wird dabei auch in diesem Kapitel erst in den Handlungszusammenhang einbezogen, nachdem die Figur Lenins in ihrem Amt als militärischer Führer vorgestellt worden ist. Damit folgt die Konfiguration seiner Figurenrolle einem Muster, das in den zuvor analysierten Erzählabschnitten bereits angelegt worden ist. Die Rolle Stalins wird auch hier in die Figurenrolle Lenins eingeschrieben und in dessen Autorität verankert. Sie ist damit auch in dieser Szene durch die Darstellung Lenins vorherbestimmt und durch die Kanonisierung seiner Figurenrolle legitimiert. Die Angleichung ihrer Figurenrollen wird damit zu einem der zentralen Verfahren, mit dem die Erzählung die literarische Repräsentation Stalins rechtfertigt. Sie dient dazu, eine Lücke im historischen Diskurs zu füllen, der seine Identität als Bürgerkriegsheld offizialisiert, aber durch kein überliefertes Handeln konkretisiert. Die Angleichung ihrer Figurenrollen trägt so dazu bei, eine historische Identität zu fingieren, die im offiziellen Stalinkult vorgegeben ist, aber erst durch die nachträglich inszenierte Handlungsgegenwart der literarischen Erzählung zu einer vermeintlich authentischen Vergangenheit ausgebaut werden kann.799 Vgl. hierzu Lämmert 1968, 204ff. sowie Leibfried 1972, 243f., Bal 1985, 148f. und Genette 1994, 123f. Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 189f. sowie Weber 1975, 63ff., der diese Form der Informationsvergabe als lückenhafte Information bezeichnet. 795 Daß gerade die szenische Gestaltung der Erzählsequenzen ihr Ziel in einer Vergegenwärtigung der literarischen Charaktere hat zeigen Hamburger 1987, 78ff., Genette 1990, 761ff. und Cohn1990, 784ff. 796 Zum Verhältnis von eingebautem Informationsvorbehalt und literarischer Inszenierung vgl. Weber 1975, 106ff. 797 Vgl. hierzu Lotman 1973, 327ff. sowie Tomaševskij 1967, 153, die beide ausdrücklich auf den Zusammenhang von Schauplatz und Figur verweisen. 798 Vgl. hierzu Genette 1994, 86ff., der solche Wiederholungen als pseudo-iterative Szenen bezeichnet, die zu den klassischen Figuren der narrativen Rhetorik gehören und dazu dienen, die Imagination einer Ereignishaftigkeit zu imaginieren, das immer wieder geschieht und für das die im Text beschriebene Szene nur ein Beispiel ist. 799 Zu dieser Funktion der literarischen Erzählung vgl. Hamburger 1987, 78ff., Genette 1990, 761ff. und Cohn 1990, 784ff. 793 794 Stalin an der Südfront: Textanalyse 156 Dabei wird die Figur Stalins auch in dieser Szene durch einen nicht vermittelten Handlungseinsatz in den Zusammenhang der Erzählung integriert. Da seinem Auftritt keine Exposition vorausgeht, entsteht auch hier die Illusion einer kontinuierlichen Handlung, die die Ereignisse über die Grenzen der dargestellten Szene hinaus ausweitet.800 Die fehlende Exposition führt so auch in diesem Teil der Erzählung dazu, daß seine Rolle als militärischer Führer in den Text der Erzählung eingesetzt wird, ohne selbst Gegenstand der Erzählung zu sein. Seine Figur wird damit einmal mehr durch eine rein imaginäre Handlung in den Handlungsverlauf der Szene einbezogen, die seine Identität als Führer im Bürgerkrieg rechtfertigt und seine Figur im Handlungszusammenhang des Erzählten positioniert.801 Auch sie wird im weiteren Verlauf der Szene zu einer eigenständigen Rollenkonfiguration ausgebaut und durch die nachfolgenden Ereignisse bestätigt. Die literarische Repräsentation Stalins beruht damit auf einer Figurenkonzeption, die von einer Szene in die nächste übertragen wird. Sie wird in Abhängigkeit von dem jeweiligen Darstellungsauftrag der Szene entworfen und über die formale Struktur der Erzählabschnitte konfiguriert.802 Damit folgt die Erzählung einer Figurengestaltung, die nicht nur inhaltlich sondern auch formal stark stereotypisiert ist. Sie wird durch die Darstellung in der bildenden Kunst bestätigt und zu einer Darstellung ausgeweitet, die sowohl die Position als auch die Funktion Stalins im offiziellen Stalinkult legitimiert.803 Darüber hinaus wird durch den unvermittelten Auftritt Stalins eine Epiphanie inszeniert, die den Mythos von seiner Allgegenwart in den Text der Erzählung einträgt. Die nicht vermittelte Anwesenheit seiner Figur trägt zu einer Mystifikation seiner Person bei, welche die Grenzen der realistischen Figurengestaltung überschreitet und sie mit einer Aura des Sakralen umgibt. Der nicht vermittelte Handlungseinsatz wird so zum literarischen Verfahren, mit dem die Erzählung die außerliterarische Identität Stalins in den Handlungszusammenhang der Erzählung überträgt.804 Dieser Eindruck wird dadurch verstärkt, daß Lenin gleich zu Beginn der narrativen Sequenz die Schreibtischlampe löscht. Dadurch wird die Szenerie in ein göttliches Dunkel getaucht, das die Mystifikation Stalins unterstreicht.805 Die realistische Motivierung seiner Handlung dabei vor allem dazu, die literarische Inszenierung zu verdecken. Sie verwandelt die Geste Lenins in eine scheinbar motivierte Handlung und kann zusammen mit dieser auch die Darstellung Stalins von dem Verdacht der literarischen Stilisierung befreien.806 Im Unterschied zu den zuvor analysierten Unterkapiteln ergreift in dieser Szene zuerst Stalin das Wort. Damit wird die in den vorhergehenden Erzählabschnitten angelegte Vgl. hierzu Lämmert 1967, 85. Es handelt sich dabei um eine lückenhafte Informationsvergabe, die den Leser mit einem Rätsel konfrontiert, das er nur durch die Imagination einer nicht dargestellten Handlung lösen kann. Zur lückenhaften Informationsvergabe im literarischen Text vgl. Weber 1975, 63ff. 802 Daß mit der Wiederholung im formalen Aufbau der Szenen eine Verfremdung einhergeht, zeigt Viktor Šklovskij in seinem Aufsatz „Der Zusammenhang zwischen den Verfahren der Sujetfügung und den allgemeinen Stilverfahren“. Für ihn stellen Stufenbau und Verlangsamung literarische Verfahren dar, die den Fortgang der Erzählung verzögern und die Wahrnehmung des Erzählten verfremden. So kann die Spannung der Erzählung gesteigert und die Aufmerksamkeit des Lesers erhöht werden: Šklovskij 1916, 63ff. 803 Vgl. hierzu auch Löhmann 1990, 64ff. sowie Yampolsky 1993, 109ff. und Heizer 99ff. und 132ff. 804 Vgl. hierzu Gozman/Ėtkind 1989, 340ff., die die Mystifikation der Macht als zentrales Element totalitärer Herrschaftssysteme beschreiben. 805 Vgl. hierzu Faryno 1991, 308, der in seiner Analyse der Farben im literarischen Text die Farbe Schwarz als sakrales Licht interpretiert, das die göttliche Finsternis repräsentiert. 806 Zur realistischen Motivierung literarischer Handlungen vgl. Tomaševskij 1967, 147ff. 800 801 Stalin an der Südfront: Textanalyse 157 Figurensemantik aufgegriffen und in eine Figurenkonstellation überführt, die verdeutlicht, daß sich seine Figur zu einem literarischen Charakter emanzipiert, der der Figur Lenins in bezug auf die militärische Verteidigung des Landes überlegen ist.807 Diese Überlegenheit wird sowohl durch den formalen als auch den inhaltlichen Aufbau des Dialogs im Text vergegenwärtigt. Sie zeigt sich daran, daß die Redebeiträge Stalins die Lenins auch in dieser Szene sowohl quantitativ als auch qualitativ dominieren. Si ist es in dieser Szene erneut Stalin, der die Lage an der Front analysieren kann und den entscheidenden Plan zur Verteidigung Caricyns entwirft.808 Diese Dominanz seiner Figur ist dem Dialog von Anfang an eingeschrieben. Seine Replik zeigt ihn noch einmal als militärischen Führer, der sowohl über die Ereignisse an der Front als auch über die Lebensmittelversorgung im Land informiert ist. Seine Darstellung ist damit in einem Informationsvorsprung begründet, der seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und zum zentralen Charakter der Szene werden läßt.809 Damit greift die Szene ein semantisches Profil wieder auf, das in den vorhergehenden Kapiteln bereits angelegt worden ist. Es wird zum zentralen Element seiner Figurengestaltung und dient auch hier dazu, die Legitimation seiner Figurenrolle zu erhöhen: «- Я только что получил сведения, правда, еще не проверенные, - сказал Сталин. - В Царицыне, Саратове и Астрахани советы отменили хлебную монополию и твердые цены... Головотяпы! – Владимир Ильич потянулся за карандашом, но не взял его. – Слушайте, - ведь это же – чорт знает что такое! - Не думаю, чтобы – просто головотянство... На Нижнем Повольже с хлебозаготовками настоящая вакханалия...» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Der literarische Dialog dient so auch in dieser Szene dazu, ein literarisches Porträt zu entwerfen, das die zuvor angelegte Semantisierung seiner Figur bestätigt und durch die direkte Rede seiner Figur verifiziert.810 Diese Figurensemantik wird in unmittelbarer Abhängigkeit von der Figurenrede Lenins konfiguriert, dessen Unsicherheit der Informiertheit Stalins gegenübersteht. Damit geht die Überlegenheit Stalins auch in dieser Szene auf eine diskrepante Informiertheit ihrer Figuren zurück, die zur indirekten Charakterisierung seiner Figur beiträgt. Sie wird durch eine kontrastive Figurengestaltung unterstrichen, welche die literarische Inszenierung seiner Person rechtfertigt und über die semantische Opposition im Text vergegenwärtigt.811 Sie zeigt, daß er der Figur Lenins von Anfang an überlegen ist und dessen Darstellung endgültig zum Spiegel des offiziellen Personenkults umfunktioniert wird. Die Repliken Lenins dienen so auch in dieser Szene lediglich dazu, die Rede Stalins zu motivieren und dessen Figurensemantik in seiner eigenen Rede zu bestätigen. Die so inszenierte Überlegenheit Stalins wird durch eine weitere Replik verdeutlicht. Er teilt Lenin mit, daß nicht nur das Getreidemonopol abgeschafft worden ist, sondern Zum Verhältnis der sprechenden Subjekte im Dialog vgl. Mukařovský 1967, 115. Daß dies nicht in allen Szenen der Fall ist, zeigen die Erzählabschnitte, in denen Lenin alleine dargestellt wird. Sie stellen seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse und zeigen ihn als literarischen Charakter, der sowohl den Dialog als auch die Handlung der einzelnen Szenen beherrscht: vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 44f. sowie Tolstoj Chleb 1937, 61ff. 809 Vgl. hierzu Greimas 1971, 118, der die literarischen Figuren nicht nur in Subjekte und Objekte der Handlung unterteilt, sondern in Adressanten und Adressaten. Diese Unterscheidung macht er an dem jeweiligen Wissen der einzelnen Figuren fest. In dieser Szene wird die Figur Stalins mit einem Wissen ausgestattet, das ihn eindeutig als Adressant identifiziert und damit den Subjektstatus seiner Figur unterstreicht. 810 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Leibfried 1972, 243f., Genette 1994, 132f. und Bal 1985, 148f. 811 Lotman 1973, 376. 807 808 Stalin an der Südfront: Textanalyse 158 eine totale Blockade der Transportwege bevorsteht. Auch dieses Wissen stattet seine Figur mit einem Informationsvorsprung aus, der sowohl die Position in der Figurenkonstellation als auch die zu Beginn angelegte Handlungsfunktion legitimiert. Sie wird in der Figurenperspektive seiner Figur verankert und damit als vermeintlich authentisches Wissen inszeniert:812 «Еще хуже на Северном Кавказе и в Ставропольской губернии. Не сегодня – завтра Краснов перережет дорогу на Тихорецкую, мы потеряем и Кавказ и Ставрополь... Так дальше никуда не годится...» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Die literarische Repräsentation Stalins bedient sich damit auch in dieser Szene einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe, die die Figuren Lenins und Stalins zueinander ins Verhältnis setzt und die zu Beginn angelegte Figurenkonstellation abschließend legitimiert.813 Die Figurenrede bezieht sich aber nicht nur auf die Charakterisierung der literarischen Figuren, sondern auch auf ihre Position im zuvor inszenierten Konflikt. Durch die dialogische Gestaltung der Szene werden Figurenrede und Handlung aufeinander bezogen.814 Daraus resultiert eine Überlagerung von Handlung und Figur, welche die Rollenkonfiguration ihrer literarischen Charaktere festlegt und sowohl die Figur Lenins als auch die Figur Stalins im Handlungszusammenhang der Szene positioniert. Auf diese Art und Weise wird eine Handlung fingiert, die nicht nur den zukünftigen Schauplatz der Handlung antizipiert, sondern auch die Handlungsfunktion Stalins legitimiert.815 Dazu entwirft die Erzählung eine funktionale Rolle, die seine Identität als militärischer Führer rechtfertigt und im Ereigniszusammenhang der Szene begründet. Sie wird durch eine Überblendung von Figurenrede und Handlung im Text vergegenwärtigt, die seine Figur in die äußere Handlung einbezieht und sein Wissen durch den nachträglich fingierten Zusammenhang der historischen Ereignisse beglaubigt. So dient die dialogische Gestaltung der Szene nicht nur dazu, die Figur Stalins in ihrer Rolle als Führer im Bürgerkrieg zu charakterisieren. Sie dient auch dazu, die zu Beginn angelegte Rolle im Gesamtzusammenhang der Ereignisse zu begründen und in seiner eigenen Figurenperspektive zu verankern. Die Frage Lenins, welche Vorschläge Stalin zur Lösung der von ihm aufgezeigten Krise zu machen habe, bestätigt diese Figurenkonzeption. Sie liefert auch hier den erzähltheoretischen Vorwand für die weitere Charakterisierung Stalins und trägt ein Informationsdefizit in das semantische Profil seiner Rede ein, das die zu Beginn angelegte Figurenrolle legitimiert. Die Überlegenheit Stalins wird dabei auch hier sowohl durch die formale als auch die inhaltliche Struktur des Dialogs zum Ausdruck gebracht. Der Frage Lenins stehen eine Reihe von Aussagen entgegen, die Stalins Eignung als militärischer Vgl. hierzu Genette 1994, 120ff., für den die direkte Rede die mimetischste Form der Figurendarstellung ist. Sie erscheint als Zitat, in dem der Erzähler hinter die Figur zurücktritt. Dadurch entsteht der Eindruck einer unmittelbaren Repräsentation, die zu den wichtigsten Zielen der realistischen Figurengestaltung gehört. Bal 1985, 148f. bezeichnet die Figurenrede als eingebetteten Text, der einer eigenständigen Binnenerzählung gleichkommt. 813 Vgl. hierzu Weber 1975, 65ff., der zwischen einer anonym und einer personal perspektivierten Informationsvergabe unterscheidet. 814 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 207ff. sowie Hamburger 1987, 156ff. 815 Mukařovský bezeichnet das Verhältnis zwischen den Gesprächteilnehmern und der realen Situation als zweiten Grundaspekt des Dialogs. Dieser Bezug bestimmt die semantische Konstruktion des Dialogs ebenso, wie die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern: Mukařovský 1967, 115f. 812 Stalin an der Südfront: Textanalyse 159 Führer unter Beweis stellen und das militärische Wissen seiner Figur repräsentieren. Damit steht im Mittelpunkt dieser Szene eine Darstellung, die die zuvor angelegte Figurensemantik aufgreift und zu einer einheitlichen Figurensemantik verdichtet: « – Конкретно – что вы предлагаете, товарищ Сталин? [...] – Мы недооцениваем значение Царицына. На сегодняшний день Царицын – основной форпост революции, - сказал он [...]. – Магистраль тихорецкая – Царицын – Поворино – Москва – единственная оставшаясь у нас питающая артерия. Потерять Царицын – значит дать соединиться донской контрреволюции с казацкими верхами Астраханского и Уральского войска. Потеря Царицына немедленно создаст единый фронт контрреволюции от Дона до чехословаков. Мы теряем Каспий, мы оставляем в беспомощном состоянии советские войска Северная Кавказа.» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Der Mythos von dem militärischen Können Stalins beruht damit auch in dieser Szene auf einer nachträglich inszenierten Informationsvergabe, die seine Position in der Hierarchie der literarischen Charaktere rechtfertigt und seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt. Der Dialog dient so ebenfalls dazu, die zuvor angelegte Figurensemantik Stalins aufzugreifen und in seiner eigenen Rede zu begründen.816 Er stattet seine Figur auch hier mit einem Wissen aus, das die offizielle Repräsentation seiner Person beglaubigt und seine militärische Weitsicht als vermeintlich authentische präsentiert. Die Erzählung nimmt damit eine Charakterisierung seiner Figur vor, die seine Rolle als militärischer Führer rechtfertigt und seine Entsendung nach Caricyn vorbereitet. Die Darstellung Stalins geht damit auch in dieser Szene auf eine offiziell kanonisierte Figurenbeschreibung zurück, die zu Beginn der Szene eingesetzt und in ihrem weiteren Verlauf bestätigt wird. Je nach Rezeptionshaltung erscheint Stalin damit entweder als epischer Held, dessen semantisches Profil bis ins kleinste Detail überliefert ist817 oder aber als klischierte Figur, deren permanente Übereinstimmung mit ihrem eigenen semantischen Profil die nachträgliche Konstruktion seiner Figur offenbart.818 3.6.2 Stalins Plan zur Rettung Caricyns: Seine Entsendung an die Front Nachdem die zu Beginn angelegte Figurencharakteristik auch in dieser Szene noch einmal bestätigt worden ist, entwickelt Stalin seinen Plan zur Verteidigung Caricyns. Dieser markiert einen weiteren Höhepunkt seiner Figurengestaltung und dient ebenfalls dazu, die offizielle Darstellung seiner Person durch ihre literarische Reproduktion zu beglaubigen. Im Verlauf des Dialogs greift Lenin diesen Plan auf und bestätigt ihn in seiner eigenen Rede. Dadurch wird eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven inszeniert, die den Vorschlag Stalins rechtfertigt und in der Figurenperspektive Lenins begründet.819 In der 1938 erschienenen Rezension von A. Gurštejn heißt es dazu: «Большие впечатление производят страницы, рисующие беседу Ленина со Сталиным тихим весенным вечером в Кремле. Сталин выдвинул задачу обороны Царицына как основного форпоста революции, как питающей ее артерии. Ленин, чьи мысли были сосредоточены 'на вопрос и главном – о хлебе', радостно подхватил план Сталина.» (Gurštejn 1938, 259) Damit wird die Figur Lenins zur höchsten Legitimationsinstanz für die FigurenVgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Leibfried 1972, 243f., Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. Vgl. hierzu Lotman 1973, 378. 818 Vgl. auch hierzu Lotman 1973, 382, der darauf hinweist, daß mit der Darstellung erwarteter Handlungen die Informativität des Textes abnimmt, während die Redundanz zunimmt. Eine ähnliche Position vertritt Červenka 1978, 121, der darauf verweist, daß die auch in dieser Erzählung intendierte Autonomie der literarischen Charaktere abnimmt, sobald der Bedeutungskomplex einer Figur zum koventionalisierten Schema wird und von Text zu Text weitergeführt wird. 819 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. 816 817 Stalin an der Südfront: Textanalyse 160 charakteristik Stalins und kann dessen semantisches Profil im literarischen Dialog der Szene beglaubigen. Die Rede Lenins weitet die Beschaffung von Getreide zum Kreuzzug aus und nimmt damit eine Symbolisierung vor, die im weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt wird. Durch seine Figurenrede wird der Einsatz Stalins in eine sakrale Metaphorik gekleidet, die seine Entsendung nach Caricyn noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung zur historischen Mission überhöht und ihn bereits an dieser Stelle der Erzählung zum mythischen Befreier stilisiert. Durch die Perspektivierung in seiner Figurenrede kann die im historischen Diskurs lediglich indirekt vorgenommene Semantisierung Stalins expliziert und in die Rezeptionsperspektive der Erzählung eingetragen werden: «Владимир Ильич включил лампочку. Белый свет лег на бумаги и книги, на большие с рыжеватыми волосками, его руки, торопливо искавшие какой-то листочек. Сталин сказал вполголоса: - Все наше внимание должно быть сейчас устремлено на Царицын. Оборонять его можно, - там тридцать пять, сорок тысяч рабочих и в округе –-богатейшие запасы хлеба. За Царицын нужно драться. Владимир Ильич нашел, что ему было нужно, быстро облокотился, положив ладонь на лоб, пробежал глазами исписанный листочек. – Крестовой поход за хлебом нужно возглавить, - сказал он. - Ошибка, что этого не было сделано раньше. Прекрасно! Прекрасно! – Он откинусля в кресле, и лицо его стало оживленным, лукавым. – Определяется центр борьбы – Царицын. Прекрасно! И вот тут мы и победим...» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Auch in diesem Dialog bleibt die zuvor eingesetzte Differenz ihrer Figurencharakteristik bestehen. Während Stalin in dieser Szene erneut als derjenige erscheint, der über die Lage an der Front informiert ist und die notwendigen Schlüsse aus der militärischen Situation ziehen kann, erscheint Lenin als derjenige, der den Plan Stalins billigt und im Gesamtzusammenhang der politischen und militärischen Lage bewertet.820 Damit wird die zuvor gestiftete Identität ihrer Figuren weitergeführt und auf die hier analysierte Szene übertragen. Sie wird im literarischen Dialog bestätigt und zu einer Figurencharakteristik ausgeweitet, die die grundsätzlich andere Handlungsfunktion ihrer Figuren erklärt. Diese wird im Ereigniszusammenhang der Szene begründet und als vermeintlich authentische präsentiert. Die im Dialog inszenierte Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven dient aber nicht nur dazu, die literarische Darstellung Stalins in der Figurenperspektive Lenins zu legitimieren. Sie dient auch dazu, den Mythos von ihrer gleichberechtigten Führerschaft im Handlungszusammenhang des Erzählten zu verankern. Dazu wird die zuvor gezeigte Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven noch einmal aufgegriffen und zu einer eigenen Handlungssequenz ausgebaut. Sie stellt die innere Verbundenheit Lenins und Stalins in den Mittelpunkt und dient vor allem dazu, die offizielle Identität ihrer Figuren in den literarischen Text zu übertragen. Die Angleichung ihrer Figurenperspektiven wird so zum literarischen Verfahren, das die offiziell propagierte Nähe Lenins und Stalins in den Text der Erzählung einträgt und im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet.821 Sie wird durch den liebevollen Blick repräsentiert, mit dem Stalin auf die ZuVgl. hierzu noch einmal die 1938 erschienene Rezension von A. Gurštejn, der diese Identität Stalins ebenfalls bestätigt: Gurštejn 1938, 239. Darüber hinaus greifen auch die zu Stalins sechzigstem Geburtstag erschienenen Texte Molotovs und Vorošilovs den Mythos von dem Einsatz Stalins an der Front auf und tragen ihn in dessen offizielle Biographie ein: Molotov 1940, 22 und 28 sowie Vorošilov 1940, 34. 821 Zur nachträglichen Perspektivierung des Erzählten vgl. Lotman 1973, 395ff. sowie Červenka 1978, 84, der die literarische Syntax einer Erzählung und deren spezifische Verbindung der bedeutungsstiftenden Elemente als zentrale Voraussetzung für die Sinnstiftung literarischer Texte beschreibt. Dabei wird der 820 Stalin an der Südfront: Textanalyse 161 stimmung Lenins reagiert. Er weitet die Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven auch in dieser Szene zu einer emotionalen Beziehung aus, die den Mythos von ihrer unverbrüchlichen Freundschaft in das semantische Profil ihrer Figuren einträgt. Damit wird einer der zentralen Topoi des offiziellen Stalinkults in den Text der Erzählung übernommen und durch die literarisch gestaltete Innenperspektive ihrer Figuren legitimiert. Die Szene dokumentiert damit eine Figurenkonzeption, welche die vorformulierte Identität ihrer Figuren rechtfertigt und durch die im Text entworfene Figurenperspektive vergegenwärtigt.822 Auch sie ist nicht im Kontext der Erzählung begründet, sondern wird aus der offiziellen Stalinmythographie in den Zusammenhang der Erzählung überführt: «Сталин усмехнулся под усами. Со сдержанным восхищением он глядел на этого человека – величайшего оптимиста истории, провидящего в самые тяжелые минуты трудностей то новое, рождаемое этими трудностями, что можно было взять, как оружие для борьбы и победы...» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Der Abschnitt trägt eine Reihe von Eigenschaften in den literarischen Text ein, die sowohl die Figur Lenins als auch diejenige Stalins charakterisieren. Dazu inszeniert der Text eine Innenperspektive Stalins, die die Nähe ihrer Figuren bestätigt und auf die literarische (Re)Konstruktion seiner Figur überträgt.823 Sie wird in Form der erlebten Rede in den Text der Erzählung eingetragen und versieht seine Figur mit einer Figurenperspektive, die sowohl die Darstellung Lenins als auch die Darstellung seiner eigenen Figur rechtfertigt.824 Während die Figur Stalins mit emotionalen Eigenschaften wie Zuneigung, Respekt und Bewunderung ausgestattet wird, werden der Figur Lenins Eigenschaften wie Zuversicht, Weitsicht und Entschlossenheit zugewiesen. Beide Merkmalkomplexe stellen ein semantisches Profil dar, das ihre Darstellung im offiziellen Stalinkult aufgreift und die ihnen zugewiesene Handlungsfunktion im Kontext der Erzählung legitimiert.825 Der Erzählung gelingt es so, über den Umweg der erlebten Rede eine Figurencharakteristik zu entwerfen, die sowohl die Darstellung Lenins als auch die Stalins rechtfertigt und ihre literarischen Charaktere an ihre Vorbilder im offiziellen Stalinkult angleicht.826 Dadurch wird die Figur Stalins mit einer Innerlichkeit ausgestattet, die seine Beziehung zu Lenin beglaubigt und in einer emotionalen Nähe verankert. Damit wird die zuvor inszenierte Darstellung Stalins vervollständigt und in einer nachträglich fingierten Figurenperspektive begründet.827 Sie rechtfertigt auch hier in realistischen Erzählungen traditionell niedrige Grad an Explizitheit durch die reine Konfrontation der Bedeutungen ersetzt. 822 Vgl. hierzu auch die offiziellen Rezensionen: Čarnyj 1939, 85 sowie Alpatov 1955, 91 und Čeremin 1950, 10. 823 Vgl. hierzu Lotman 1973, 380f., der über die gegenseitige Bespiegelung der literarischen Figuren schreibt: „Ein überaus wesentliches Element ist schließlich, daß der Held in der Beschreibung einer anderen Figur, ‚mit deren Augen’, d.h. in deren Sprache gegeben werden kann. Wie die eine oder andere Figur transformiert wird, indem sie in die Sprache fremder Anschauungen übersetzt wird, das charakterisiert den Träger der Sprache und den, von dem er berichtet, gleichermaßen.“ 824 Zur Funktion der erlebten Rede vgl. Genette 1994, 124ff. sowie Cohn 1978, 99ff. und Hamburger 1987, 80ff. 825 Vgl. hierzu die bereits 1924 erschienenen Texte „Über Lenin“ und „Über die Grundlagen des Leninismus“, die sowohl das semantische Profil Lenins als auch die in diesem Abschnitt rekonstruierte Beziehung zwischen Lenin und Stalin kodifizieren: Stalin 1952a, Bd. 6, 47ff. sowie Stalin 1952b, Bd. 6, 62ff. Zur Kanonisierung des offiziellen Leninbildes vgl. Tumarkin 244ff. sowie Velikanova 1996, 123ff. 826 Zur Funktion der erlebten Rede vgl. Genette 1994, 122ff. sowie Cohn 1978, 99ff. 827 Diese Darstellung korrespondiert mit einer Rückkehr zur Intimität, die Vladimir Papernyj für die Kultur der Stalinzeit feststellt. Sie entspricht einer neuen Individualität, die dem kollektiven Körper der Stalin an der Südfront: Textanalyse 162 das Vertrauen, das Lenin seiner Person entgegenbringt und wird damit zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für seine Entsendung an die Südfront.828 Das Verfahren der erlebten Rede ermöglicht es aber auch, die Figur Stalins zu charakterisieren, ohne ihn in einem inneren Monolog zitieren zu müssen. Da die Grenze zwischen Erzähler- und Figurentext in der erlebten Rede fließend ist, können offizielle und literarisch fingierte Rede ineinander übergehen und eine Innenperspektive Stalins entwerfen, die offiziell propagierte und literarische Identität aufeinander abbilden.829 Dadurch kann Tolstoj die offiziell vorgeschriebene Beziehung zwischen Lenin und Stalin im Text veranschaulichen, ohne sich der Häresie eines nicht überlieferten Zitats auszusetzen. Die erlebte Rede wird so zum literarischen Verfahren, mit dessen Hilfe die Merkmale des offiziellen Stalinbildes auf die literarische Figur Stalins übertragen werden können, ohne daß diese in den überlieferten Quellen verifiziert werden müssen. Dadurch ist es möglich, die rein imaginären Eigenschaften seiner Person im Text zu vergegenwärtigen und auf die tatsächliche Person Stalin zu beziehen. Die Szene repräsentiert damit eine der wichtigsten Differenzen zwischen historischem und literarischem Text: Während der historische Diskurs darauf angewiesen ist, das Handeln Stalins narrativ zu vermitteln, kann der literarische Text eine Figurenperspektive entwerfen, die seine Darstellung in einer nachträglich inszenierten Subjekthaftigkeit begründet.830 Gleichzeitig gelingt es durch die Oszillation von Figuren- und Erzählerrede, die radikal subjektive Perspektivierung der Figur Stalins aufzubrechen und Innenund Außenperspektive zusammenzuschließen. So ist es möglich, die Innenperspektive Stalins zu objektivieren und als vermeintlich authentische darzustellen. Die so angelegte Figurenrolle wird durch das offizielle Mandat bestätigt, mit dem dieser Teil der Erzählung endet. In diesem Mandat wird Stalin als Sonderbevollmächtigter der Sowjetregierung an die Südfront geschickt und zum Leiter der dortigen Lebensmittelversorgung ernannt. Die Erzählung greift damit auf eine Darstellung zurück, die bereits in dem 1929 erschienenen Text „Сталин и Красная Армия“ zur offiziellen Motivation seiner Entsendung erhoben wird.831 Die Version der Erzählung unterscheidet sich aber insofern von ihrer Vorlage, als daß Stalin in ihr von vornherein die zivile und die militärische Verwaltung unterstellt wird. Damit sind die beiden im Verlauf der Erzählung angelegten Rollenkonfigurationen zusammengeführt und werden noch vor seiner Abreise nach Caricyn zu einer einheitlichen Rolle zusammengefügt: «'Член Совета народных комиссаров, народный комиссар Иосиф Виссарионович Сталин, назначается Советом народных комиссаров общим руководителем продовольственного дела на юге России, облеченным чрезвычайными правами. Местные и областные совнаркомы, совдены, ревкомы, штабы и начальники отрядов, железнодорожные организации торгового флота, речного и продовольственные организации, все комиссары обязываются исполнять распоряжения товарища Сталина.'» (Tolstoj Chleb 1937, 108) zwanziger Jahre entgegensteht: Papernyj 1985, 127ff. Die Episode unterliegt damit einer rein ästhetischen Motivation, die in erster Linie dazu dient, den offiziellen Stalinkult im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen. Im Unterschied zur realistischen Motivation besteht die Funktion der ästhetischen Motivierung nicht darin, die Illusion von Wirklichkeit zu erhöhen, sondern darin, die nachträglich gestiftete Sujetkonstruktion binnensemantisch zu legitimieren: vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 145f. 829 Vgl. hierzu Cohn 1978, 102ff. sowie Genette 1994, 124ff. und Hamburger 1987, 80ff. 830 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 78ff., die die erlebte Rede als zentrales Verfahren beschreibt, um die Gestalten in ihrer fiktiven Ich-Identität zur Darstellung zu bringen. 831 Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 45. 828 Stalin an der Südfront: Textanalyse 163 Mit dieser offiziellen Ernennung ist die Konfiguration seiner Figurenrolle abgeschlossen. Sie bereitet seinen Einsatz an der Südfront vor und trägt damit zu einer nachträglichen Legitimation seiner Figurenrolle bei. Diese Rollenkonfiguration wird im weiteren Verlauf der Erzählung aufgegriffen und durch seinen Einsatz in Caricyn ergänzt. 3.6.3 Das Bild des Führers Neben der unterschiedlichen Rollenkonfiguration weist die Szene noch auf eine weitere Differenz zwischen den Figuren Lenins und Stalins hin. Sie bezieht sich auf die im Text inszenierte Körperlichkeit, die auch hier zum Ausdruck ihrer Figurensemantik wird. Während die Erzählung Lenin mit einer Gestik ausstattet, die die Lebhaftigkeit seiner Figur unterstreicht, bleibt die Figur Stalins beinahe regungslos. Die einzige Bewegung, die im Text beschrieben wird, ist das Anzünden eines Streichholzes. Diese Geste bleibt vollkommen unmotiviert. Es wird weder daraufhingewiesen, daß Stalin raucht, noch ob er sich eine Pfeife oder eine Zigarette anzündet. Damit bricht die vermeintlich realistische Motivation dieser Geste zusammen und es offenbart sich eine ästhetische Motivation, die einzig dazu dient, seine äußere Erscheinung im literarischen Text zu vergegenwärtigen.832 Die hier dargestellte Handlung liefert lediglich den Vorwand für eine Beschreibung seines Gesichts, die noch einmal die Überlegenheit seiner Figur demonstriert. Auch hier steht die Beschreibung seiner Augen im Mittelpunkt, wobei die im folgenden zitierte Passage eine Gebärde des Blicks inszeniert, die noch einmal die geistige Sehkraft Stalins repräsentiert:833 «Сталин потер спичку о коробку, головка, зашипев, отскочила, он чиркнул вторую, - огонек осветил его сощуренные будто усмешкой, блестевшие глаза с приподятыми нижними веками.» (Tolstoj Chleb 1937, 108) Seine vom Lichtschein erhellten Augen werden auch in dieser Szene zur metonymischen Repräsentation seiner Figur, die ihre literarische Beschreibung an seine offizielle Darstellung angleicht und Urbild und Abbild aufeinander bezieht. Sie verweisen auch hier auf die militärische und politische Weitsicht Stalins und statten seine Figur mit einer Figurensemantik aus, die seine Entsendung an die Südfront erklärt. Die Beschreibung im Erzählertext dient so dazu, ein Rollenprofil zu antizipieren, das seine Darstellung als Führer im Bürgerkrieg rechtfertigt und den von ihm entwickelten Plan zur letztendlichen Legitimation dieser Figurenkonzeption werden läßt.834 Die Differenz zwischen den Charakteren Lenins und Stalins zeigt sich aber nicht nur in der äußeren Handlung ihrer Figuren. Sie spiegelt sich auch auf der stilistischen Ebene ihrer Repliken. Während die Rede Lenins mit allen Zeichen einer individuellen Sprache ausgestattet ist, weist die Figurenrede Stalins auch in dieser Szene keinerlei Anzeichen einer individuellen Sprachverwendung auf. Sie folgt auch hier den schriftsprachlichen Normen und stattet seine Figur so mit einem semantischen Profil aus, das die auf der inhaltlichen Ebene angelegten Eigenschaften auf der formalen Ebene seiner Figurenrede verdoppelt. Sie werden über die stilistische Textur seiner Rede in den Text der Erzäh- Zu den verschiedenen Arten der Motivation vgl. Tomaševskij 1967, 149ff. Zu den unterschiedlichen ikonographischen Bedeutungen des Auges vgl. den Eintrag „Auge, Auge Gottes“ im Lexikon der christlichen Ikonographie 1990, Bd.1, 222ff. 834 Zum Verhältnis von direkter und indirekter Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Červenka 1978, 117ff.. 832 833 Stalin an der Südfront: Textanalyse 164 lung eingetragen und damit zu vermeintlich authentischen Eigenschaften umgedeutet.835 So wird seine Figur auch hier mit einer Mündlichkeit ausgestattet, die sie in einer Hierarchie der Rede etabliert, die Vladimir Papernyj für die Kultur der dreißiger Jahre diagnostiziert: «Античное презрение к 'писание' странным образом уживалось в культуре 2 с иудеохристианским отношением к Писанию. Культура 2 – это тоже в известном смысле культура Книги, а люди этой культуры – некоторым образом люди Слова. [...] Поэтому в полной мере словом владеет лишь первый человек в иерархии, причем ему позволено наиболее письменное (то есть, восточное) отношение к слову. [...] А чем ниже место человека в иерархии, тем более античное отношение к слову ему предписано: возгласы, приветствия, выкрики, и – на самом нижем уровне – безмолвные аплодисменты.» (Papernyj 1985, 182) Durch diese Verdoppelung von direkter und indirekter Figurencharakterisierung entsteht eine Figurensemantik, die innere und äußere Figurenperspektive aufeinander abbildet und zu einer einheitlichen Figurencharakteristik ausbaut. Sie gleicht sowohl die innere als auch die äußere Darstellung Stalins an sein offiziell kanonisiertes Vorbild an und stiftet damit eine Identität, die keinen Interpretationsspielraum für die Wahrnehmung seiner Figur zuläßt. Durch den Einschub «сказал он, как всегда » (Tolstoj Chleb 1937, 108) wird auch hier eine Übereinstimmung von literarischer und authentischer Figurencharakteristik fingiert, die über den literarischen Text hinausweist und die reale Person in den literarischen Abbildungsprozeß einbezieht. Hinter dem nur scheinbar realen Fluchtpunkt der literarischen Repräsentation bleibt jedoch verborgen, daß es sich auch hierbei lediglich um eine medial erzeugte Identität handelt, hinter der die reale Person Stalins auch heute noch verborgen bleibt. 3.7 „Tat-Orte“: Stalin in Caricyn 3.7.1 Figurenexposition und literarischer Konflikt Die offizielle Ankunft Stalins in Caricyn findet sich am Ende des zehnten Kapitels.836 Dieses Unterkapitel setzt sich aus mehreren Szenen zusammen und ist das umfangreichste der hier analysierten Erzählabschnitte. Neben der Ankunft Stalins zeigt es erste Entscheidungen, die er als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung trifft. Damit folgt das Kapitel einem Aufbau, der die zuvor angelegte Rollenkonfiguration aufgreift und im Kontext der dargestellten Ereignisse legitimiert.837 Sowohl seine Eigenschaft als Sonderbevollmächtigter der Lebensmittelversorgung als auch seine Identität als militärischer Führer werden im Verlauf dieses Kapitels zu einer eigenständigen Figurenrolle ausgebaut und im Ereigniszusammenhang des Erzählten begründet.838 In den einzelnen Szenen werden jeweils spezifische Eigenschaften seiner Figur in den Text der Erzählung eingesetzt und über alle zur Verfügung stehenden Kanäle authentifiziert. Damit ist der formale Aufbau in diesem Teil der Erzählung ebenfalls unmittelbar von seinem Darstellungsgegenstand abhängig. Er dient nicht dazu, die tatsächliche Ankunft Zu dieser Bedeutung der Figurenrede vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Lämmert 1967, 204ff., Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. 836 Tolstoj Chleb 1937, 115ff. 837 Zum Zusammenhang von Handlung und Figur vgl. Tomševskij 1967, 154 sowie Červenka 1978, 122f., Lotman 1973, 366f. und Veldhues 1997, 60f. 838 Zur literarischen Figur als Summe ihrer distinktiven Merkmale vgl. Lotman 1973, 377ff. sowie Červenka 1978, 120f. und Tomaševskij 1967, 152. 835 Stalin an der Südfront: Textanalyse 165 Stalins in Caricyn zu rekonstruieren, sondern dazu, dessen legendäre Repräsentation im Handlungszusammenhang der Szenen zu beglaubigen. Während sich die ersten Teile der Erzählung stark an die Geschichtsdarstellung im Kurzen Lehrgang und die offizielle Stalinbiographie anlehnen, folgt die Darstellung Stalins in Caricyn dem bereits 1929 veröffentlichten Artikel «Сталин и Красная Аримия» von Kliment Vorošilov.839 Die dort zusammengefügten Handlungselemente werden in die Erzählung übertragen und zur Gegenwartshandlung der einzelnen Szenen ausgebaut. Durch diese Übertragung kann die offizielle Repräsentation Stalins bestätigt und in einer vermeintlich authentischen Vergangenheit begründet werden. Sie wird durch die Übereinstimmung von historischem und literarischem Diskurs beglaubigt und durch die Verfahren der literarischen Figurengestaltung in den Text der Erzählung übertragen. Standen im ersten Teil der Erzählung die klassifikatorischen Elemente seiner Figurenkonzeption im Vordergrund, so werden sie im weiteren Verlauf der Erzählung durch eine Reihe konkreter Handlungen ergänzt, die diese Darstellung rechtfertigen. Sie präsentieren den Einsatz Stalins in Caricyn als historisch überliefertes Ereignis und können die im historischen Diskurs vorgeschriebenen Handlungselemente als vermeintlich authentische präsentieren.840 Wie weit diese Identität von historischer und literarischer Handlung die Wahrnehmung der Erzählung bestimmt, zeigt die 1950 erschienene Monographie von A.S. Čeremin. Er nimmt die Nacherzählung der im Text dargestellten Ereignisse im Präsens vor und löscht sowohl die zeitliche als auch die mediale Differenz zwischen Text und Wirklichkeit. In seiner Besprechung wird die Erzählung zum Tatsachenbericht, die den Widerspiegelungsauftrag der Erzählung rechtfertigt und die grundsätzliche Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem negiert: «В повести показано, как действует великая сила сталинского руководства. В короткое время положение в Царицыне коренным образом изменяется. Наступает перелом во всех сферах жизни. [...] Толстой подробно показывает о разоблачении Сталиным зaмаскировавшихся белогвардейских агентов – ставленников Троцкого, о том, как решительными действиями Сталина были парализованы вредительские козни самого Троцкого.» (Čeremin 1950, 12) Mit der Reise Stalins nach Caricyn wird die Handlung an ihren endgültigen Schauplatz verlegt. Noch vor seiner Ankunft werden die zentralen Konflikte auf den zukünftigen Ort der Handlung übertragen und in einer Reihe eigenständiger Erzählsequenzen vorgeführt. In diesen Erzählabschnitten werden sowohl der politische als auch der militärische Konflikt aktualisiert und auf den finalen Schauplatz der Handlung verschoben. Dabei erscheint Caricyn bereits in der einleitenden Beschreibung als Ort, an dem Korruption und Mißwirtschaft herrschen. Die militärischen Behörden versagen ebenso wie die zivilen Verwaltungsstellen und während sich die Bourgeoisie am Strand vergnügt, müssen die Arbeiter in den Fabriken hungern.841 Damit inszeniert die Erzählung einen literarischen Konflikt, der die zuvor angelegte Handlungsfunktion Stalins bestätigt und auf den Handlungszusammenhang der nachfolgenden Ereignisse überträgt.842 Die InszeVorošilov 1930, 45ff. Zur Handlung als Mittel der indirekten Figurengestaltung vgl. Faryno 1991, 249, O’Neill 1994, 50 und Červenka 1978, 118f. 841 Tolstoj Chleb 1937, 108ff. 842 Zum Zusammenhang von Handlung und Figur vgl. Červenka 1978, 122 sowie Tomaševskij 1967, 154 und Veldhues 1997, 60f. 839 840 Stalin an der Südfront: Textanalyse 166 nierung des Schauplatzes wird so auch in diesem Teil der Erzählung zu einer der wichtigsten Voraussetzungen, um die literarische Figur Stalins zu legitimieren. Er trägt eine semantische Differenz in den Kontext des Erzählten ein, die sowohl den Verlauf der nachfolgenden Handlung als auch die Figurenrolle Stalins motiviert.843 Damit beruht die literarische (Re)Konstruktion seiner Figur auch in diesem Teil der Erzählung auf einer nachträglich fingierten Vergangenheit, die seine Rolle durch die Inszenierung imaginärer Handlungsorte determiniert. Die Rolle Stalins ist in einer Reihe von Mangelsituationen begründet, die sowohl seine Darstellung als auch die Handlungsfunktion seiner Figur bestimmen. Diese Mängel werden durch die Beschreibung des Schauplatzes im Text vergegenwärtigt und noch vor der Ankunft Stalins zur Handlungsmotivation seiner Figur ausgebaut.844 Damit bestätigt sich einmal mehr der unmittelbare Zusammenhang von Schauplatz und Figur. Dieser wird zum eigentlichen Darstellungsgegenstand der Erzählung und bestimmt nicht nur das semantische Profil Stalins, sondern auch die Konstruktion aller anderen Bedeutungselemente. Damit folgt auch dieses Kapitel einer Sujetkonstruktion, die nicht durch die historischen Ereignisse, sondern durch den offiziellen Stalinkult vorgegeben ist. Mit der Fahrt nach Caricyn verläßt die Figur Stalins ihre zuvor konfigurierte funktionale Rolle. Sie überschreitet die Grenzen des ihr zugewiesenen semantischen Feldes und wird als handelnde Figur in Szene gesetzt.845 Nach seiner Abreise aus Moskau erscheint Stalin nicht länger als militärischer Führer, der zusammen mit Lenin die Verteidigung des Landes koordiniert, sondern als Sonderbevollmächtigter der Regierung, der die Verteidigung der Stadt vor Ort organisiert.846 Damit nimmt die Erzählung eine Veränderung seiner Rollenkonfiguration vor, die durch das im vorhergehenden Kapitel abgedruckte Mandat vorbereitet wird. Es stattet die Figur Stalins mit einer Lizenz zum Handeln aus, die allen anderen Figuren fehlt.847 Dadurch wird die Figur Stalins mit einer semantischen Differenz versehen, die seine literarische Repräsentation bestätigt und in einer scheinbar authentischen Handlung begründet. Die einleitenden Erzählsequenzen dienen so nicht zuletzt dazu, eine Handlung zu fingieren, die diesen Rollenwechsel rechtfertigt und seine Darstellung als handelnde Figur legitimiert. Die Ankunft Stalins in Caricyn markiert einen weiteren Höhepunkt der Erzählung. Dies zeigt sich auch am formalen Aufbau des Kapitels. Die elliptischen Auslassungen zwischen den einzelnen Episoden werden kleiner und das Tempo der Erzählung nimmt ab.848 Es kommt zu einer Verdichtung des Erzählten, die die Ankunft Stalins mit Spannung auflädt und seine Figur im zentralen Konflikt der Erzählung positioniert. Dazu findet eine erste Eskalation des lokalen Konflikts statt. Die Arbeiter des örtlichen SägeZu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 306f. sowie Lämmert 1967, 28 und Bal 1985, 95. 844 Vgl. hierzu Stückrath 1990, 286ff. sowie Veldhues 1997, 60f. 845 Vgl. hierzu Lotman 1973, 360ff. sowie Veldhues 1997, 60f. und Tomaševskij 1967, 136, der von einer Schürzung des Knotens spricht, der den Beginn einer Handlung markiert. 846 Vgl. hierzu Lotman 1973, 360ff., der zwischen passiven Figuren unterscheidet, die selbst keine Handlungsträger sind und passiven Figuren, die als nicht-handelnde Handlungsträger inszeniert werden. Zu dieser zweiten Gruppe gehört im ersten Teil der Erzählung auch die Figur Stalins. Zur Definition des literarischen Helden als Figur, die die Grenzen ihres eigenen semantischen Feldes überschreitet vgl. Lotman 1973, 361. 847 Lotman 1973, 365. 848 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 82ff. sowie Genette 1994, 61ff. 843 Stalin an der Südfront: Textanalyse 167 werks halten eine Versammlung ab und fordern von den lokalen Behörden die Auslieferung von Brot, das seit dem Morgen nicht mehr ausgegeben wird.849 Auf dieser Versammlung treten sowohl die Arbeiter als auch die lokalen Militär- und Zivilbeamten auf. Durch das Nebeneinander ihrer Figurenperspektiven entsteht ein Konflikt, der die Figurenrolle Stalins rechtfertigt und noch vor seinem Auftreten in den Handlungszusammenhang der Erzählung einsetzt. Sie wird durch eine alternierende Perspektivierung in den Text der Erzählung eingetragen, deren mehrfaches Erzählen die Handlungsfunktion seiner Figur bestätigt und durch ein Kontrastgefüge konkurrierender Figurenperspektiven rechtfertigt. So kann die Erzählung eine Handlungsfunktion Stalins etablieren, ohne daß seine Figur selbst zum Gegenstand des Erzählten wird.850 Sie wird durch einen ‚Schrei nach Brot’ in den Text der Erzählung eingetragen, der die mythische Konfiguration seiner Figurenrolle unterstreicht und seine Stilisierung zum mythischen Heilsbringer vorwegnimmt: «У стола появился Ерман, лицо его дергалось. С ним подошла широкая костлявая старуха в зеленых штанах, в солдатской рубашке,- из-под красноармейского картуза висели ее коe-как подобранные серые волосы. Это была известная всему 'Грузолесу' Саша Трубка, чернорабочая откатчица, член Царицынского совета и исполкома. Ей закричали: - Саша, чего штаны надела? Она отвечала низким голосом: - Расскажу, потерпи... Но добродушных было мало: толпа накаленная речами, заволновалась и теснее начала продвигаться к столу, на котором показался Ерман. Раздавались голоса: - Дохозяйничались... – Опять уговаривать пришел?.. Мы сыты! – Ты брось углублять... Хлеба давай!..» (Tolstoj Chleb 1937, 113f.) So steht am Anfang dieses Kapitels eine Figurenexposition, die in der Figurenrede der nachgeordneten Charaktere vorbereitet und durch die dargestellten Ereignisse beglaubigt wird. Sie stattet die Figur Stalins mit einer Bedeutung aus, die seine Darstellung im offiziellen Stalinkult bestätigt und die Ereignisse noch vor seiner Ankunft auf seine Figur zentriert.851 3.7.2 Lizenz zum Handeln: Indirekte Figurenexposition Die Ankunft Stalins in Caricyn wird aber nicht nur durch den zu Beginn inszenierten Konflikt vorbereitet. Ihr geht eine Exposition seiner Figur voraus, die sie noch vor ihrem tatsächlichen Erscheinen im Gefüge der hierarchisch organisierten Figurenkonstellation positioniert.852 Dazu wird die Nachricht von seiner Ankunft sowohl aus der Sicht der konterrevolutionären Verschwörer als auch aus der Sicht der revolutionären Arbeiter kommentiert. In einem ersten Kapitel informiert der Vorsitzende des Exekutivkomitees den Bürgermeister darüber, daß am nächsten Tag ein Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung in Caricyn eintrifft. Als der Bürgermeister erfährt, daß der Bevollmächtigte Stalin ist, reagiert er gelassen.853 Damit wird eine Figurenperspektive etabliert, die der zuvor inszenierten Bedeutung Stalins entgegensteht. Dieser Bruch wird im weiteren Tolstoj Chleb 1937, 112ff. Zur Funktion kontrastierender Blickpunkte für die Sinnproduktion literarischer Texte vgl. Lotman 1973, 395ff. sowie Červenka 1978, 52f. und 84f. und Tomaševskij 1967, 135f. 851 Vgl. hierzu noch einmal Lotman 1973, 395ff. sowie Tomaševskij 1967, 135f. und Červenka 1978, 52f. 852 Zur Funktion der Exposition vgl. Tomaševskij 1967, 139f. 853 «В комнату вошел запоздавший гость – невысокий, худощавый, загорелый до лилового цвета молодой человек, с большими черными глазами – председатель Царицынского исполкома Яков Зиновьева Ерман. Быстро кивая сидящим за столом, он дошел к Москвалеву и зашептал ему в ухо. - Кто? – громко спросил Москвалев. – Сталин. – Когда? – Видимо – завтра. - Ну, что же, встретим... Садись... Водку пьешь?» (Tolstoj Chleb 1937, 112) 849 850 Stalin an der Südfront: Textanalyse 168 Verlauf der Erzählung zum zentralen Konflikt der Szene ausgebaut und zur Figurencharakteristik Stalins herangezogen.854 Er trägt eine Differenz in das semantische Profil der literarischen Figuren ein, welche die nachfolgende Handlung initiiert und die Darstellung Stalins antizipiert. Seine Figur wird durch eine diskrepante Informiertheit von Leser und Figur in der Figurenkonstellation der Szene positioniert, die die Überlegenheit seiner Figur im Bewußtsein des Lesers verankert, noch bevor sie in der inneren Kommunikationssituation der Erzählung begründet wird.855 Sie beruht so einmal mehr auf einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe, die die Diskrepanz zwischen Leser und Figur offenbart und eine erste, imaginäre Hierarchie der Charaktere etabliert. Diese Charakterisierung wird durch eine weitere Exposition ergänzt. In ihr wird der Wahrnehmung des Bürgermeisters die Sicht der revolutionären Arbeiter entgegengestellt. Sie beschließen am Ende einer Versammlung, sich zu einem Regiment zu formieren und gemeinsam an die Front zu ziehen. Diese Entscheidung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der bevorstehenden Ankunft Stalins. Diese wird zur letztendlichen Motivation ihrer Handlung und setzt eine revolutionäre Begeisterung frei, die ihren vorhergehenden Debatten fehlt: «- [...] Давайте уж лучше поминать за дело, мужики... Не дадимся, чтобы нам, как гусям, казачишки головы повертели. На помощь нам идет большая армия из-под Лихой. Завтра приезжает из Москвы верховный комссар Сталин. И мы еще в башке ногтями дерем! Организуйте полк 'Грузолеса'. Вон и грузовики с винтовками стоят. Разбирай – и завтра на фронт... Медленно, окутанные пылью, проплыли к трибуне два грузовика с оружием. 'Даешь!' закричали грубые голоса. В толпе началась давка, к матросу, сидевшему на куче ружей на первом грузовике, начали протискиваться добровольцы – все больше, все горячее...» (Tolstoj Chleb 1937, 115) Damit erscheint die Figur Stalins als übergeordneter Sender, der das Handeln der Arbeiter initiiert, bevor er selbst in den Handlungszusammenhang der Erzählung eingreift. Die Szene setzt damit eine Figurenrolle fort, die in den vorhergehenden Erzählabschnitten angelegt worden ist. Sie wird durch die Figurenperspektive der Arbeiter bestätigt und als vermeintlich authentische verifiziert. Durch diese Exposition kann sie in eine mimetische Repräsentation verwandelt werden, die durch den Entschluß der Arbeiter beglaubigt wird. Damit wird eine Wahrnehmung seiner Figur inszeniert, die die offizielle Darstellung seiner Person rechtfertigt und ihre außerliterarische Bedeutung legitimiert.856 Während mit der Figurenperspektive des Bürgermeisters eine kontrastierende Figurenperspektive eingesetzt worden ist, wird mit der Figurenperspektive der Arbeiter eine Wahrnehmung etabliert, die die ideale Rezeption seiner Figur in Szene setzt.857 Sie wird durch den weiteren Verlauf der Handlung gerechtfertigt und zur idealen Wahrnehmung ausgebaut. Im Gegensatz zu den vorhergehenden Erzählabschnitten wird die Figur Stalins in diesem Teil der Erzählung also durch eine indirekte Exposition charakterisiert, Zur Bedeutung konkurrierender Figurenperspektiven für den Bedeutungsaufbau literarischer Charaktere vgl. Lotman 1973, 415ff. sowie Červenka 1978, 118ff. 855 Vgl. hierzu Weber 1975, 65ff. sowie Lämmert 1967, 203f. 856 Zur Figurenbeschreibung in der Figurenrede anderer literarischer Charaktere vgl. Červenka 1978, 118ff. sowie O’Neill 1994, 51 und Tomaševskij 1968, 153. 857 Die Erzählung erscheint damit als zusammengesetzter Diskurs, der die Darstellung Stalins durch eine Kombination mehrerer Standpunkte rekonstruiert: O’Neill 1994, 60. 854 Stalin an der Südfront: Textanalyse 169 die dazu dient, die im Text angelegte Figurenrolle vorzubereiten und seine Figur in der Figurenkonstellation der Erzählung zu etablieren. Die Exposition Stalins erfolgt in beiden Szenen durch die Nennung seines Namens. Dieser wird zur symbolischen Repräsentation, die die zuvor angelegten Merkmale aufgreift und noch vor seinem Auftreten in den Handlungszusammenhang der Szene einträgt. Damit fungiert sein Name als Chiffre, die die offizielle Beschreibung seiner Figur rechtfertigt und den im Text entwickelten Satz distinktiver Merkmale unter einer einheitlichen Bezeichnung versammelt. 858 Er verklammert literarische und historische Person und gibt eine Rollenkonfiguration vor, die die literarische Rekonstruktion seiner Figur authentifiziert. Sein Name wird zum literarischen Zeichen, das die Identität seiner Figur unabhängig vom literarischen Text repräsentiert und die mimetische Widerspiegelungsfunktion legitimiert.859 Ein weiteres Mal wird der Name Stalins kurz vor seiner Ankunft in Caricyn in die Erzählung eingefügt. Der Bürgermeister wühlt in einem Stapel alter Zeitungen und sucht die Правда vom 31. Mai. Er liest sich das offizielle Mandat zur Ernennung Stalins durch und begibt sich danach direkt zum Bahnhof.860 Diese Szene verfolgt zwei Ziele. Zum einen dient sie dazu, die unter dem Namen Stalins kodifizierte Rolle in den Ereigniszusammenhang der Szene einzutragen861 und zum anderen nimmt sie eine Veränderung im semantischen Profil des Bürgermeisters vor, die den Konflikt der nachfolgenden Ereignisse vorbereitet. Angesichts der Sondervollmachten Stalins läßt er eine Verunsicherung erkennen, die die zuvor inszenierte Figurencharakteristik aufhebt. So wird noch vor dem tatsächlichen Erscheinen Stalins eine Hierarchisierung der Charaktere angedeutet, die die Figurenkonstellation der nachfolgenden Handlung bestimmt und durch die Darstellung der nachgeordneten Charaktere legitimiert. Sie wird von Anfang an von einer Darstellung Stalins beherrscht, der alle anderen Charaktere untergeordnet sind. Damit wird bereits in Abwesenheit Stalins ein Rollenprofil konfiguriert, das die Handlungsfunktion seiner Figur rechtfertigt und im Gefüge der literarischen Charaktere exponiert. Die nachfolgenden Szenen dienen einzig dazu, die so angelegte Figurenrolle zu bestätigen und als vermeintlich authentische vorzuführen. Während die Überlegenheit Stalins in diesem Teil der Erzählung noch auf seiner Ernennung durch das von Lenin unterzeichnete Mandat beruht, wird sie im weiteren Verlauf des Kapitels zu einer Figurencharakteristik ausgebaut, die in der Perspektive seiner Figur verankert wird. Damit folgt auch dieser Teil der Erzählung einer Darstellung, die eine vorformulierte Rolle in den Text der Erzählung einsetzt und diese durch eine literarisch gestaltete Handlung authentifiziert: «Он нашел номер московской 'Правды' от тридцать первого мая. Несколько раз, нахмурясь, перечел мандат – народному комиссару Сталину, облеченному чрезвычайными правами... Поскреб ногтями полный небритый подбородок. Нетерпеливо закрутил ручку телефона, вызывая личного секретаря. – Петр Петрович, когда московский поезд? Минут через сорок?.. Ага!.. Позвоните там всем, - надо встретить... Уже позвонили? Хорошо, я сейчас подъеду...» (Tolstoj Chleb 1937, 115) Zur Funktion des Namens vgl. Tomaševskij 1967, 152f. sowie Veldhues 1997, 103 und Uspenskij 1970, 29ff. 859 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 150ff. sowie Searle 1992, 243ff. 860 Tolstoj Chleb 1937, 115. 861 Zum Zusammenhang von Handlung und Figur vgl. Červenka 1978, 122f. sowie Tomaševskij 1967, 154 und Veldhues 1997, 60f. 858 Stalin an der Südfront: Textanalyse 170 Zur ersten Projektionsfläche dieser Darstellung wird der Bahnhof von Caricyn. Er ist schmutzig und verwahrlost, eine Tatsache, die dem Bürgermeister erst auffällt, als die Ankunft Stalins bevorsteht. Damit wird eine Perspektivierung des Schauplatzes vorgenommen, die eine erste Differenz in der Figurenperspektive der literarischen Charaktere erkennen läßt. Sie dokumentiert einen Mangel an Organisation, der nicht nur die im folgenden einsetzende Handlung motiviert sondern auch die Darstellung Stalins perspektiviert:862 «Вокзал был дрянной, деревянный, низеньки, с выбитыми окошками. На исковыренном перроне – мусор, на ржавых путях – мусор... Поднимется ветер – все это полетит в рожу... Хоть бы подмели, все-таки, ай-ай, товарищи, - сказал Сергей Константинович подошедшему к нему члену железнодорожной коллегии. Тот тоже будто в первый раз увидел все это запустение. – Да, запакощено основательно... Вопрос этот надо поднять...» (Tolstoj Chleb 1937, 115f.) Mit der Beschreibung des Bahnhofs wird ein situativer Kontext entworfen, der die Bedeutung Stalins noch einmal durch die Imagination des literarischen Handlungsortes vorwegnimmt. Er setzt eine semantische Differenz zwischen Figur und Schauplatz ein, die zusammen mit der nachfolgenden Handlung auch das Handeln Stalins motiviert.863 Der Schmutz und die Unordnung auf dem Bahnhof markieren so jene „Relation von Differenz“864, ohne die weder eine Sujetentwicklung noch die Figurendarstellung Stalins motiviert werden kann. In der 1950 erschienenen Monographie von A.S. Čeremin wird diese Opposition von Schauplatz und Figur auf die historischen Ereignisse zurückprojiziert. Sie wird einer Historisierung unterworfen, welche die literarische Konstruktion des Erzählten verdeckt und zur historischen Vergangenheit erklärt, die einmal mehr die Differenz zwischen Text und Wirklichkeit suspendiert: «Уже сaмое описание товарища Сталина вызывает ощушение того, что этот приезд явится поворотным пунктом в развитии событий. На всех тех, кто сопровждает товарища Сталина, лежит отпечаток какой-то особенной организованности и дисциплинированности. Их суровый облик, собранность и деловитость представляют яркий контраст с той беспечностью и расхлябанностью, которые были до этого типичны для царицынской обстановки. У прибывших всё рассчитано, всё предусмотрено: на площадках – броневики, на случай нападения, и в конце поезда – платформы с запасными рельсами и шпалами, на случай порчи пути.» (Čeremin 1950, 10f.) Der verwahrloste Bahnhof steht damit repräsentativ für die allgemeinen Zustände in der Stadt. Seiner Beschreibung kommt die Aufgabe zu, die Figurencharakteristik Stalins zu unterstreichen und die Rollenkonfiguration seiner Figur zu legitimieren.865 So wird seine Figur noch vor ihrer Ankunft mit einer Rolle ausgestattet, welche die zu Beginn angelegte Handlungsfunktion rechtfertigt und im Kontext des Erzählten verankert. Diese wird in den nachfolgenden Szenen beglaubigt und durch die nachträglich fingierte Handlungsgegenwart einer literarisch gestalteten Vergangenheit authentifiziert.866 Vgl. hierzu Stückrath 1990, 286ff. sowie Veldhues 1997, 56f. Vgl. hierzu Lotman 1973, 360ff., der die Differenz zwischen dem semantischen Profil des Helden und den seiner Figur zugeordneten semantischen Feldern als wichtigste Voraussetzung für den Einsatz einer Handlung beschreibt. 864 Lotman 1973, 360. Vgl. hierzu aber auch Lotman 1973, 350ff. 865 Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95 und Veldhues 1997, 73. 866 Zu dieser Funktion der (historischen) Romane vgl. noch einmal Schörken 1981, 112ff. sowie Lützeler 1989, 13f. und Hamburger 1987, 79f. 862 863 Stalin an der Südfront: Textanalyse 171 3.7.3 Ankunft und narrative Figurenbeschreibung Die tatsächliche Ankunft Stalins findet statt, nachdem der Schauplatz exponiert und die Rollenkonfiguration seiner Figur im Text vergegenwärtigt worden ist. Kurz bevor der Zug, mit dem Stalin aus Moskau anreist, in Caricyn eintrifft, versammelt sich ein Empfangskomitee aus führenden Vertretern der Stadt auf dem Bahnhof.867 Durch ihre Zusammenkunft entsteht eine Erwartungshaltung, die das gesamte Geschehen auf den Moment der Ankunft projiziert und diesen zum Höhepunkt der Szene stilisiert. Die so inszenierte Spannung beruht auf einer ‚voraussetzungsvollen Informationsvergabe’, die ein Ereignis avisiert, das im weiteren Verlauf der Handlung bestätigt wird.868 Es entsteht ein literarischer Kontext, der die Figur Stalins noch vor ihrem Auftreten in den Handlungszusammenhang der Szene einbezieht und ihr Erscheinen zum wichtigsten Ereignis der Szene überhöht. Die Bedeutung, die seiner Figur durch diese Ereigniskonstruktion zugewiesen wird, wird durch das Verhalten der nachgeordneten Charaktere unterstrichen. Ihre Unsicherheit setzt die Figurenkonzeption des vorhergehenden Erzählabschnitts fort und dient auch hier dazu, die Überlegenheit Stalins in Szene zu setzen. Die literarische Repräsentation seiner Figur beruht damit auf einer nachträglichen Perspektivierung, die ihre offizielle Darstellung in die Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere verlegt und die in den vorhergehenden Erzählabschnitten angelegte Hierarchie der literarischen Charaktere aktualisiert: «На перроне появились: длинный, с маленькой головой Ковалевский, Носович, Чебышев; отпыхиваясь – пришел плотный, красный, весь круглый Тулак, - командующий царицынским резервом. Пришел Ерман с членами исполкома... Председатели профсоюзов... Собралось чeловек двадцать пять. Носович, подойдя со спины к Москалеву, спросил осторожно: - А не вызвать нам оркестр, все-таки? – Стоит ли? Как-то уж очень получится по-провинциальному... – Слушаюсь...» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Stalin kommt mit einem Sonderzug in Caricyn an, dessen Lokomotive mit Maschinengewehren besetzt ist und von einer Einheit Moskauer Arbeiter eskortiert wird. Ihm sind mehrere Güterwagen angehängt, auf denen zwei Panzerwagen sowie Schwellen und Schienen für die Reparatur der Eisenbahnwege mitgeführt werden: «Подошел московский поезд. На паровозе – спереди – пулементы. На площадках – две броневика. В хвосте – платформы со шпалами и рельсами.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Diese Beschreibung des Zuges macht deutlich, welche Handlungsfunktion der Figur Stalins im weiteren Verlauf der Erzählung zukommt. Wie Figurenhandlung und Figurenbeschreibung trägt auch die Ausstattung des Zuges zur indirekten Charakterisierung seiner Figur bei. Während Arbeitereskorte und Schienen ihn in seinem Amt als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung bestätigen, deuten Panzerwagen und Maschinengewehre auf seine Identität als militärischer Führer hin. Die von Stalin mitgeführten Gegenstände werden zu Requisiten, die die offizielle Darstellung seiner Figur bestätigen und die Figurenrolle der nachfolgenden Kapitel vorwegnehmen.869 Vor dem Hintergrund einer mangelnden Versorgung mit Waffen und Material sowie permanent gesprengter Eisenbahnlinien weisen sie auf eine Handlungsfunktion hin, die im Tolstoj Chleb 1937, 116. Weber 1975, 58ff. 869 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153, der die äußeren Attribute des Helden zu den Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung zählt. 867 868 Stalin an der Südfront: Textanalyse 172 weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt und in den folgenden Szenen ausgebaut wird.870 Sie repräsentieren Eigenschaften wie Ordnung, Weitsicht und Organisationstalent, die durch die Beschreibung des Zuges im Handlungszusammenhang der Szene verankert werden.871 Der literarische Charakter Stalins wird so noch vor seinem Erscheinen mit einer Figurensemantik ausgestattet, die die zukünftige Bedeutung seiner Figur vorbereitet. 3.7.4 Die Aura der Undurchdringlichkeit Während die vorhergehenden Erzählabschnitte überwiegend dialogisch gestaltet sind, wird die Ankunft Stalins in Caricyn narrativ vermittelt.872 Sie wird ausschließlich im Erzählertext beschrieben und erst am Ende durch eine dialogische Gestaltung seiner Figur ergänzt. Dadurch ist es möglich, die Figur Stalins in den Handlungszusammenhang der Szene einzubinden und die zuvor angelegte Rollenkonfiguration in einer äußeren Handlung zu begründen.873 Die narrativ vermittelte Ankunft Stalins wird damit zur Projektionsfläche einer Figurencharakteristik, die im offiziellen Stalinkult vorgegeben ist und durch die äußere Handlung im literarischen Text vergegenwärtigt wird.874 Sie soll die zuvor entworfene Rollenkonfiguration rechtfertigen und durch die Beschreibung einer konkreten Handlung verifizieren.875 Doch bevor die Figur Stalins in den Handlungsverlauf der Szene eingreift, werden zwei Erzählsequenzen eingeschoben, die sie charakterisieren. Sie dienen dazu, seine Figurenrolle zu konfigurieren und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen. Die erste Erzählsequenz zeigt, wie der Zugkommandant den Bahnsteig betritt, noch bevor Stalin den Zug verläßt, und sich nach dem Stationsvorsteher erkundigt. Sein Auftritt unterstreicht die zuvor angelegte Bedeutung Stalins und stellt ein retardierendes Moment dar, das das tatsächliche Erscheinen seiner Figur verzögert. Dadurch wird der Auftritt Stalins mit einer Spannung aufgeladen, die seine Position in der Figurenhierarchie der Szene rechtfertigt und durch die formale Gestaltung der Erzählsequenz vergegenwärtigt.876 Seine Figur wird noch vor ihrem tatsächlichen Auftreten mit einer Bedeutung aufgeladen, die ihre Position im Gefüge der hierarchisch organisierten Figuren bestätigt: «Первым соскочил на перрон комендант – жилистый, черноватый человек, весь в черной коже, с деревянным чехлом маузера на боку. Ни на кого не глядя, резким голосом подозвал начальника станции...» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Danach verlassen die Arbeiter den Zug und postieren sich entlang des Bahnsteigs. Ihre Disziplin wird zum Ausdruck einer Figurenperspektive, die zur unmittelbaren Projektionsfläche für die Figurengestaltung Stalins wird. Diese wird durch die äußere Panzerwagen und Schienen stellen Requisiten dar, die es der Figur Stalins ermöglichen, handlungskonstitutiv in die unterschiedlichen Konflikte einzugreifen. 871 Vgl. hierzu noch einmal Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. 872 Tolstoj Chleb 1937, 116. 873 Zur Funktion einer narrativen Figurenexposition vgl. Tomaševskij 1967, 153. 874 Zur Überlagerung von Handlung und Figur vgl. Lotman 1973, 366f. sowie Tomaševskij 1967, 154f. und Červenka 1978. 122f. 875 Zur äußeren Handlung als Element der literarischen Figurengestaltung vgl. Tomaševskij 1968, 153 sowie Červenka 1978, 118f und O’Neill 1994, 50. 876 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 136 sowie Lämmert 1967, 22f. und Šklovskij 1916, 54ff., der das Prinzip der Gradation als Verfahren beschreibt, das zur Verfremdung der Wahrnehmung beiträgt. 870 Stalin an der Südfront: Textanalyse 173 Handlung in die Figurenperspektive der Arbeiter übertragen und als vermeintlich authentische Wahrnehmung präsentiert.877 Durch den Respekt, den sie der Figur Stalins entgegenbringen, wird diese mit einer Autorität ausgestattet, die ihre Darstellung im offiziellen Stalinkult bestätigt und durch eine wechselnde Perspektivierung legitimiert.878 Die Beschreibung der Arbeiter trägt so eine Rezeptionshaltung in den literarischen Text ein, die die offizielle Wahrnehmung Stalins reproduziert und seine Figur zum zentralen Subjekt der Szene stilisiert: «Затем начали сходить вооруженные винтовками московские рабочие, одетые вразнобой, - в рубахах, пиджаках, кожаных куртках, кепках, - все перепоясанные новыми патронташами. У всех – неприветливые, худые, суровые лица. Без говора, без шуток – стали вдоль вагонов, опустив винтовки ложами на асфальт.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) In dieser Szene wird die Figur Stalins zum Zentrum, um das sich das gesamte literarische Personal gruppiert. Damit greift die Erzählung ein Darstellungsprinzip auf, das sich ebenfalls auf die formale Syntax der Ikone bezieht. Auch in der Ikonenmalerei wird der zentrale Heilige in den Mittelpunkt gestellt und von den weniger wichtigen Figuren umgeben.879 So wird die Bedeutung Stalins durch ein Verfahren in den Text eingetragen, das die literarische Erzählung aus einem anderen Darstellungssystem rekrutiert. Der literarische Raum übernimmt somit einmal mehr eine symbolische Funktion, die die offiziell vorgeschriebene Darstellung seiner Figur bestätigt und in den Text der Erzählung überträgt. Nachdem die Ankunft Stalins in der Figurenperspektive der Arbeiter gespiegelt worden ist, betritt er selbst den Bahnsteig. Am Anfang dieser Szene steht eine Figurenbeschreibung, die sich einmal mehr auf die äußere Erscheinung seiner Figur bezieht. Sie trägt eine Reihe semantischer Merkmale in das Arsenal seiner distinktiven Merkmale ein, die sowohl die nachfolgende Charakterisierung als auch die Handlungsfunktion seiner Figur legitimieren.880 Die Uniformjacke, die seine äußere Erscheinung dominiert, zeigt ihn auch hier als militärischen Führer und greift damit eine Rollenkonfiguration wieder auf, die bereits in den vorhergehenden Szenen die Identität seiner Figur bestimmt.881 Sie wird auch hier zur „Maske“882, die die Rolle Stalins präfiguriert und seine Figur textübergreifend identifiziert. Sie trägt Eigenschaften wie Ordnung, Disziplin und Entschlossenheit in das semantische Profil seiner Figur ein und nimmt damit an einer indirekten Charakterisierung teil, die die literarische Repräsentation Stalins durch seine äußere Erscheinung legitimiert.883 Die Kleidung wird erneut zum eigenständigen Text, der die Figur Stalins Vgl. hierzu Lotman 1973, 380ff. sowie Tomaševskij 1967, 158 und Červenka 1978, 118. Vgl. hierzu noch einmal Lotman 1973, 380f. sowie Červenka 1978, 118. 879 Vgl. hierzu Uspenskij 1971, 787 und 790. 880 Tomaševskij 1967, 153. 881 Vgl. hierzu Sinjawskij 1989, 117ff. sowie Yampolsky 1993, 107f. 882 Tomaševskij 1967, 153, der die Kleidung ebenso wie das Aussehen oder die Lebensgewohnheiten des Helden als Masken bezeichnet, die seine Figur charakterisieren. 883 Vgl. hierzu Vorošilov 1940, 35, der zu Stalins sechzigstem Geburtstag schreibt: «В годы гражданской войны могучая воля Сталина, твердая, как сталь, сталинская рука, исключительное хладнокровие и непоколебимость в любых условиях обстановки, требовательность к себе и окружающим, при исключительной заботе о людях, - вдохновали бойцов, командиров, комиссаров и политработников нашей армии на героизм, подвиги и отвагу [...].» Vgl. hierzu auch Mikojan 1940, 76 sowie Čeremin 1950, 4 und Čarnyj 1939, 85. 877 878 Stalin an der Südfront: Textanalyse 174 kontextunabhängig charakterisiert und ihre literarische Repräsentation authentifiziert.884 Die so angelegte Figurenbeschreibung wird in den nachfolgenden Szenen bestätigt und zu einer eigenständigen Figurensemantik ausgebaut: «На площадку классного вагона вышел человек в черной – до ворота застегнутой – гимнастерке, в черных штанах, заправленных в мягкие сапоги. Худощавое смуглое лицо его было серьезное и спокойное, усы прикрывали рот. Он взялся за поручень площадки и неторопливо сошел.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Die äußere Beschreibung Stalins dient auch hier dazu, eine körperliche Präsenz zu fingieren, die die Grenzen des literarischen Textes überschreitet. Sie ist auch in dieser Szene auf eine Übereinstimmung von Urbild und Abbild ausgerichtet, die die vermeintlich authentische Rekonstruktion seiner Figur beglaubigt und durch die im Text inszenierte Körperlichkeit authentifiziert. Als Zeichen dieser Ähnlichkeit fungiert neben der Kleidung einmal mehr sein Schnurrbart, der keine andere Figur charakterisiert. Er wird erneut zum ideographischen Zeichen, das die Figur Stalins unabhängig vom literarischen Kontext identifiziert.885 Dadurch entsteht ein literarisches Porträt, das die offizielle Wahrnehmung seiner Person rekonstruiert und durch die Imagination einer realen Körperlichkeit legitimiert.886 Durch die Vermittlung im Erzählertext erscheint die Beschreibung Stalins als vermeintlich authentische Darstellung, die durch die Stimme des Erzählers objektiviert werden kann.887 Tatsächlich ist es jedoch erst die Stimme des Erzählers, die Figurenbeschreibung und Figurencharakteristik zueinander ins Verhältnis setzt und die historisch-konkrete Widerspiegelung seiner Person garantiert. Dadurch, daß sie das Äußere Stalins mit Attributen wie «серьезное» und «спокойное» belegt, nimmt sie eine Charakterisierung vor, die Figurenbeschreibung und Figurensemantik aneinander angleicht und seinen Körper zur Projektionsfläche des offiziellen Stalinkults werden läßt. Damit fungieren Körper und Antlitz als Spiegel, die sein öffentlich inszeniertes Ideal reflektieren und durch ihre Wiederholung im literarischen Text verifizieren. Nachdem die Figur Stalins mit allen kanonischen Eigenschaften in den Text eingesetzt worden ist, wendet sich die Erzählung erneut den Vertretern Caricyns zu: «Первым, шаря глазами по окнам вагонов, увидел его Москалев. Широко улыбаясь, помахивая протянутой рукой – поспешил навстречу. Возволнованно подошел Ерман. Осторожно, - не доходя трех шагов и вытянувшись, - Носович.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Obwohl diese Szene keinen Hinweis auf die politische Intrige ihrer Figuren liefert, wird dem Leser durch den Informationsvorsprung, den er zu diesem Zeitpunkt besitzt, deutlich, daß ihre Begrüßung nur vorgetäuscht ist. Das Verhalten Moskalevs und Ermans steht in genauem Gegensatz zu ihrem zuvor geschilderten Verrat888 und offenbart eine Faryno 1991, 181. Vgl. hierzu Čeredničenko 1994, 67, die das Bild Stalins als Montage einzelner Elemente beschreibt, zu denen sie neben Pfeife und Uniform auch den Schnäuzer zählt. Ossip Mandelštam bestätigt diese Ikonographie, wenn er sie in seinem ‚Epigramm gegen Stalin’ parodiert: «Его толстые пальцы, как черви, жирны,/А слова, как пудовые гири, верный./Тараканьи смеются усища,/И сияют его голенища.» (Mandelstam 1986, 164) 886 Vgl. hierzu Cohn 1978, 21, die diese Form der Figurencharakterisierung als Form bezeichnet, die vor allem in den Romanen des 19. Jahrhunderts zu finden sei: „While prolonged inside views were largely restricted to first-person forms, third-person novels dwelt on manifest behaviour, with the characters’ inner selves revealed only indirectly through spoken language and telling gesture.” 887 Zur scheinbar objektiven Beschreibung des abstrakten Erzählers vgl. Doležel 1972, 383ff. sowie Barthes 1968, 174ff. und Ricoeur 1991, Bd.3, 259ff. 888 Vgl. hierzu Tolstoj Chleb 1937, 45-48 und 108-112. 884 885 Stalin an der Südfront: Textanalyse 175 Differenz, die die Unaufrichtigkeit ihres Handelns belegt. Damit wird ein Informationsdefizit in die äußere Kommunikationssituation der Szene eingesetzt, das ihre Figuren noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung charakterisiert und in der Figurenkonstellation der Szene positioniert. Durch die Diskrepanz, die zwischen innerer und äußerer Kommunikationssituation entsteht, wird eine Figurenkonstellation inszeniert, die die Darstellung Stalins rechtfertigt und durch die diskrepante Informiertheit von Leser und Figur im literarischen Text vergegenwärtigt. Sie ist in einer nachträglich fingierten Mitteilungskonstruktion begründet, die die Spannung der Szene steigert und die Figur Stalins in den Mittelpunkt der Ereignisse rückt.889 Der nächste Abschnitt wendet sich dann wieder Stalin zu. Er ergreift das Wort und begrüßt die Vertreter der örtlichen Behörden. Er nähert sich ihnen mit einer sachlichen Distanz, die einmal mehr die Überlegenheit seiner Figur demonstriert. Sein Gesichtsausdruck läßt eine rätselhafte Undurchschaubarkeit erkennen, die die Handlungsmotivation seiner Figur verbirgt und die Dominanz seiner Figur unterstreicht. Seine Mimik bewegt sich zwischen Lächeln und Spott und repräsentiert damit eine Mehrdeutigkeit, die die im folgenden implizierte Drohung legitimiert: «- Здраствуйте, товарищи – отчетливо сказал им Сталин, и не то веселые, не то насмешливые морщинки пошли от углов его глаз. Он поздоровался, нe выделяя никого, со всеми – не слишком горячо и не слишком сухо.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Diese Darstellung beruht auf einer uneindeutigen Informationsvergabe, die das semantische Profil seiner Figur erweitert und mit einer Aura des Undurchdringlichen umgibt.890 Dieser Effekt entsteht durch eine Figurengestaltung, die die tatsächliche Motivation seines Handelns verbirgt und den Eindruck des Geheimnisvollen verstärkt. Die literarische Stilisierung seiner Figur beruht so auf einer nachträglich inszenierten Mitteilungskonstruktion, die die Aussage über sein Verhalten absichtlich widersprüchlich gestaltet und einer eindeutigen Interpretation entzieht. Sie geht auf eine Semantisierung seiner Figur zurück, die ihr Verhalten doppelt kodiert und damit weder für den Leser noch für die Vertreter der Stadt erkennbar macht.891 Damit wird seine Figur sowohl gegenüber dem Leser als auch gegenüber den literarischen Charakteren mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, der die zuvor inszenierte Überlegenheit seiner Figur rechtfertigt und seine Position in der hierarchischen Figurenkonstellation rechtfertigt.892 3.7.5 Stalin als Sonderbevollmächtigter der Regierung: Erzähler- und Figurenrede Nachdem Stalin die Vertreter der Stadt begrüßt hat, beginnt er mit der Arbeit. Er bittet sie zu einer ersten Besprechung und wendet sich, ohne weiter Zeit zu verlieren, seinem Salonwagen zu. Dieser Handlungseinsatz hebt den situativen Kontext der vorhergehenden Szene auf und markiert den Beginn einer Handlung, die Stalin in seinem Amt als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung zeigt. Auch dieser Abschnitt wird von einer äußeren Handlung begleitet, die die Konfiguration seiner Figurenrolle bestäVgl. hierzu Weber 1975, 63ff. Weber 1975, 113ff. 891 Daß es sich dabei um eine planmäßig manipulierte Informationsvergabe handelt, die das formale System der Erzählung ausblendet und auf der reinen Wahrnehmungsebene verbleibt, zeigt Weber 1975, 114ff. 892 Zur Bedeutung der unterschiedlichen Blickpunkte für die Konstruktion der literarischen Figur vgl. Lotman 1973, 378ff. sowie Červenka 1978, 120f. 889 890 Stalin an der Südfront: Textanalyse 176 tigt und die seine Figur durch eine eigenständige Handlung charakterisiert. Sie demonstriert die Konzentration und die Entschlossenheit, mit der er sein Amt als Sonderbevollmächtigter wahrnimmt und greift damit ein semantisches Profil auf, das im ersten Teil der Erzählung angelegt worden ist. Die narrativ vermittelte Handlung dient so auch in diesem Teil der Erzählung dazu, eine Charakterisierung Stalins vorzunehmen, die sein offiziell vorgeschriebenes Rollenprofil bestätigt und vermittels einer äußeren Handlung in den Kontext des Erzählten einfügt. Diese Handlung wird in direkter Abhängigkeit von der kanonischen Darstellung Stalins konfiguriert und dient einzig dazu, dessen offizielle Repräsentation im Text zu verankern: «Быстрым движением зрачков оглядел всех, кто был на перроне: Товарищи, попрошу ко мне в вагон. Повернулся спиной, поднялся на площадку и скрылся в вагоне, не оглядываясь и не повторяя приглашения.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Das Verhalten Stalins zeigt aber nicht nur die Entschlossenheit, mit der er sein Amt als Sonderbevollmächtigter in Caricyn antritt. Es demonstriert darüber hinaus auch, daß ihn die Anwesenheit der drei Konterrevolutionäre in keiner Weise beunruhigt. Die im Text dargestellte Figurenhandlung wird damit zum Ausdruck einer Innenperspektive, die von Anfang an die Überlegenheit seiner Figur dokumentiert. Sie wird in eine äußere Handlung gekleidet, welche die absolute Autorität seiner Figur legitimiert.893 Der nicht vermittelte Handlungseinsatz dient so dazu, die zu Beginn vorgenommene Charakterisierung seiner Figur zu bestätigen und durch eine äußere Handlung vorzuführen.894 Der unvermittelte Einsatz der Handlung wird zum Mittel einer Figurengestaltung, die die Autonomie seiner literarischen Figur unterstreicht und sie als handelnde Figur präsentiert.895 Die literarische Repräsentation Stalins folgt damit auch in diesem Kapitel einer mehrfachen Semantisierung: Während die ihr zugewiesene Figurencharakteristik im ersten Teil des Kapitels in der Perspektive der nachgeordneten Charaktere vorbereitet wird, wird sie durch ihre Beschreibung im Erzählertext exponiert und am Ende durch eine konkrete Handlung legitimiert. Sie wird im weiteren Verlauf der Szene durch eine dialogische Gestaltung seiner Figur ergänzt, die die zuvor angelegte Figurensemantik aufgreift und in der wörtlichen Rede seiner Figur verankert. Die Erzählung bedient sich damit aller zur Verfügung stehenden Mittel der literarischen Figurengestaltung.896 Sie werden in dem Wechsel von Erzähler- und Figurenrede aufeinander bezogen und gestalten eine Figurensemantik, die die offizielle Darstellung Stalins durch ihre literarische Verdoppelung authentifiziert.897 Diese Identität von narrativer und dialogischer Figurengestaltung wird bereits im nachfolgenden Abschnitt umgesetzt. Er zeigt, wie Stalin die Vertreter der städtischen BehörZur Bedeutung der äußeren Handlung vgl. Hamburger 1987, 134ff. sowie Tomaševskij 1967, 158, Červenka 1978, 118 und O’Neill 1994, 50. 894 Vgl. hierzu Čeremin 1950, 11, der diese Interpretation der Handlungssequenz bestätigt, wenn er in seiner Monographie schreibt: «Вопреки ожиданию царицынских руководителей, что встреча будет носить официально-торжественный характер, Сталин сразу же, не теряя времени, приступил к делу.» 895 Vgl. hierzu Lotman 1973, 364f., der die bewegliche von der unbeweglichen Figur dadurch unterscheidet, daß die aktive Figur „über die Lizenz für einige Handlungen verfügt, die den anderen [Figuren, U.J.] verboten sind.“ 896 Vgl. hierzu Lotman 1973, 359ff. sowie Tomaševskij 1967, 153ff., Červenka 1978, 118, Hamburger 1987, 129ff., O’Neill 1994, 49ff. und Faryno 1991, 101ff. 897 Zur realistischen Figurengestaltung vgl. Faryno 1991, 249, der darauf hinweist, daß die realistische Literatur auf die Schaffung einheitlicher Objekte abzielt. 893 Stalin an der Südfront: Textanalyse 177 den einer ersten Befragung unterzieht. Die Szene verlagert die Handlung ins Innere seines Waggons und hebt damit die zu Beginn inszenierte Differenz zwischen Schauplatz und Figur wieder auf. Der Waggon erscheint als Filiale des Kreml’ und repräsentiert damit einen Tat-Ort, der die Figurensemantik Stalins legitimiert.898 Durch seine Rückkehr in den Waggon entsteht eine Identität von Schauplatz und Figur, die die Figurenkonzeption der vorhergehenden Erzählabschnitte fortführt und auf die Konfigurationssituation der hier analysierten Szene überträgt.899 Dem Wechsel des Handlungsorts kommt damit auch in diesem Erzählabschnitt eine konstitutive Bedeutung zu. Er stellt ein sekundär semantisches System zur Verfügung, das die jeweilige Rolle Stalins vergegenwärtigen und seine Figur in der Figurenkonstellation der Szene verankern kann.900 Diese Inszenierung wird durch die räumliche Anordnung der Charaktere untermauert. Während sich die Vertreter der örtlichen Behörden setzen, geht Stalin im Raum auf und ab. Damit wird die Statik seiner bisherigen Darstellung aufgehoben und durch eine äußere Handlung ersetzt, die ihn von Anfang an als aktive Figur zeigt.901 Der dialogischen Gestaltung Stalins geht so eine Darstellung voraus, die die offizielle Repräsentation seiner Figur bestätigt und durch die Konfiguration des situativen Kontextes legitimiert.902 Die Handlungsfunktion Stalins wird dabei einmal mehr durch eine Geste unterstrichen, die ihn unmittelbar vor dem Einsetzen des Dialogs als Träger der Handlung identifiziert. Bevor er mit der Befragung beginnt, zündet er sich erneut eine Pfeife an. Durch diese Wiederholung wird das Anzünden der Pfeife zur symbolischen Geste, die seine Figur kontextunabhängig charakterisiert.903 Sie vergegenwärtigt eine Überlegenheit, die das semantische Profil seiner Figur bestätigt und sie noch vor dem Einsetzen der nachfolgenden Handlung in der Figurenkonstellation der Szene positioniert. Damit dient diese Geste auch hier dazu, seine offizielle Identität im Text zu vergegenwärtigen und durch die Inszenierung einer äußeren Handlung zu vergegenwärtigen.904 Dem Anzünden der Pfeife kommen damit zwei Funktionen zu. Während die Pfeife einerseits als Requisit fungiert, das die Figurenrolle Stalins repräsentiert, erscheint sie andererseits als ideographisches Zeichen, das – wie Schnäuzer und Uniform - die Identität seiner literarischen Reproduktion garantiert.905 Diese Figurencharakteristik wird im weiteren Verlauf der Erzählung durch die dialogische Gestaltung seiner Figur bestätigt. Sie greift den bis dahin zusammengestellten Satz distinktiver Merkmale noch einmal auf und überträgt ihn in eine Figurenrede, die die Vgl. hierzu Čeremin 1950, 11f. Mit der Rückkehr in den Waggon kehrt Stalin in ein semantisches Feld zurück, das seine Identität als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung rechtfertigt und die Handlungsfunktion seiner Figur legitimiert: Lotman 1973, 344ff. 900 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Bal 1985, 95 sowie Lotman 1973, 327ff. und Veldhues 1997, 73. 901 Zur äußeren Handlung als Teil der Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Červenka 1978, 118f., Hamburger 1987, 134f., Faryno 1991, 162ff. und O’Neill 1994, 50. 902 Zur offiziellen Darstellung Stalins vgl. Vorošilov 1938, 46ff. sowie Gurov 1938, 209ff. und Boltin 1940, 280. 903 Faryno 1991, 254. 904 Zu dieser Funktion der Geste vgl. Tomaševskij 1978, 158, der sie zu den indirekten Charakterisierungstechniken zählt. Zum Verhältnis von direkter und indirekter Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Červenka 1978, 118f. und Hamburger 1987, 134ff. 905 Vgl. hierzu Čeredničenko 1994, 67 sowie Uspenskij 1971, 761f. 898 899 Stalin an der Südfront: Textanalyse 178 semantischen Merkmale als scheinbar faktische Eigenschaften Stalins präsentiert.906 Dazu werden die Fragen, die Stalin an die Vertreter der öffentlichen Institutionen richtet, als indirekte Rede im Erzählertext zusammengefaßt. Sie belegen seine Identität als politischer und militärischer Führer und können die narrativ vermittelte Identitätsstiftung der vorhergehenden Erzählabschnitte in einer scheinbar authentischen Rede begründen.907 Diese stellt Eigenschaften wie Entschlossenheit und Disziplin in den Vordergrund und wiederholt damit eine Figurencharakteristik, die in den vorausgehenden Erzählsequenzen vorbereitet worden ist. Die so konfigurierten Eigenschaften werden im nachfolgenden Dialog wieder aufgegriffen und in der Figurenrede Stalins beglaubigt. Damit wird eine Figurengestaltung realisiert, die im offiziellen Stalinkult begründet ist: «Когда все разместились в салоне, Сталин, раскурив трубку и похаживая около стола, начал задавать вопросы: о запасах хлеба в крае, о работе продотрядов, о предпологаемом урожае, о количестве штыков на фронте, о резервах, о продвижении противника, о его силах, - десятки короткых и точных вопросов – Москалеву, Ерману, Тулаку, Носовичу... Когда тот, кого спрашивал, начинал пространно разжевывать, - Сталин прерывал: - Мне нужны цифры, объяснений нужно...» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Die Auflistung der Fragen stellt eine narrativisierte Form der Rede dar, die Genette als distanzierteste und am stärksten reduzierte Form der literarischen Figurenrede beschreibt. In ihr geht es weniger darum, die literarische Figur durch die Wiedergabe ihrer scheinbar mimetischen Rede zu verifizieren, als darum, die narrativ entworfene Figurencharakteristik in die Figurenperspektive Stalins zu verlegen.908 Sie übernehmen damit eine dokumentarische und keine repräsentative Funktion. Die Figur Stalins wird sowohl durch die Quantität als auch die Qualität seiner Fragen zum dominierenden Charakter der Szene stilisiert. Sie repräsentieren eine Figurensemantik, die die zuvor inszenierte Überlegenheit seiner Figur rechtfertigt und in ihre literarisch gestaltete Innenperspektive überträgt.909 Diese Überlegenheit wird durch die narrative Beschreibung seiner Fragen verdeutlicht und durch die Adjektive «короткий» und «точный» in das semantische Profil seiner Figur eingetragen. Die Form der indirekten Rede ermöglicht es so, die zuvor inszenierte Figurencharakteristik aufzugreifen und durch eine direkte Attribuierung im Erzählertext zu explizieren. Die Erzählung fingiert so eine Mündlichkeit, die die Figur Stalins sowohl durch den Inhalt als auch den Ausdruck seiner Rede charakterisiert. Die Überlegenheit Stalins wird damit nicht nur durch die äußere Handlung sondern auch durch die indirekte Figurenrede im Text vergegenwärtigt.910 Die Interferenz von Figuren- und Erzählerrede dient dabei vor allem dazu, die Darstellung Stalins zu authentifizieren und durch den Wechsel von Erzählerund Figurenperspektive zu objektivieren.911 Zu dieser Funktion der Figurenrede vgl. Genette 1994, 120ff. sowie Lämmert 1967, 204ff., Hamburger 1987, 156ff. und Bal 1985, 148f. 907 Zur Funktion der indirekten Rede vgl. Bal 1985, 146 sowie Veldhues 1997, 100f., Lämmert 1967, 234f. und O’Neill 1994, 58ff. 908 Vgl. hierzu Genette 1994, 122f. der zwischen einer narrativisierten und einer transponierten Form der indirekten Rede unterscheidet. 909 Vgl. hierzu noch einmal Hamburger 1987, 78ff., die darauf verweist, daß nur im literarischen Text Personen als Subjekte mit einer eigenen Bewußtseinsebene ausgestattet werden können. Dem Verb ‚sagen’ (und seinen Varianten) kommt dabei die Funktion zu, anzuzeigen, daß ein innerer Vorgang im Text verlautbart und damit für den Leser wahrnehmbar wird. 910 Tomaševskij 1967, 153 zählt sowohl die Äußerung als auch das Verhalten der Figuren zu den indirekten Charakterisierungstechniken. 911 Zur wechselnden Perspektivierung vgl. Genette 1994, 121ff. sowie Veldhues 1997, 100ff. und Bal 906 Stalin an der Südfront: Textanalyse 179 Die so inszenierte Figurencharakteristik wird auch durch die abschließende Replik Stalins zum Ausdruck gebracht. Seine Forderung nach konkreten Zahlen dokumentiert einmal mehr die Entschlossenheit, mit der er seinem Amt als Sonderbevollmächtigter nachkommt, und wird damit zum Ausdruck einer Figurenperspektive, die das zuvor angelegte Profil seiner Figur legitimiert.912 Diese Überlegenheit bestimmt auch die Figurengestaltung des folgenden Erzählabschnitts, der sich erneut den Vertretern der städtischen Behörden zuwendet. Ihre Darstellung dient auch in diesem Teil der Erzählung dazu, die literarische Gestaltung Stalins zu beglaubigen und durch eine Übertragung in die Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere zu verstärken. Ihre Wahrnehmung unterstreicht den zuvor inszenierten Wissensvorsprung seiner Figur und trägt damit zu einer literarischen Gestaltung bei, die über den Umweg einer kontrastiven Figurengestaltung im Text vergegenwärtigt wird. Durch die diskrepante Informiertheit der literarischen Figuren wird eine Darstellung Stalins legitimiert, die seine offizielle Repräsentation beglaubigt und in der Wahrnehmung der nachgeordneten Charaktere reproduziert.913 Der Wechsel vom Träger der Perspektive zum perspektivierten Objekt914 dient so dazu, das semantische Profil seiner Figur zu bestätigen und in der Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere zu begründen. Diese ordnen sich selbst der Figurenperspektive Stalins unter und nehmen damit eine Hierarchisierung der literarischen Charaktere vor, die die bis dahin lediglich indirekt inszenierte Überlegenheit Stalins in den Handlungszusammenhang der Szene einträgt. Sie wird in der Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere bestätigt und durch ihre erlebte Rede im Erzählertext zusammengefaßt.915 Dadurch wird eine Figurencharakteristik beglaubigt, die bis dahin vor allem über die Beschreibung der äußeren Handlung in den Text der Erzählung eingeschrieben worden ist: «Собеседники его понемногу убеждались, что ему, должно быть, все уже известно - и состояние на фронтах, и цифры хлебных излишков, и все непорядки и неполадки и даже то, чего не знают они, царицынские вожди...» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Da die Figurenkonzeption Stalins nicht aus der indirekten Semantisierung eines literarischen Dialogs rekonstruiert werden muß, sondern durch die erlebte Rede der nachgeordneten Charaktere direkt thematisiert werden kann, trägt der Abschnitt zu einer Charakterisierung seiner Figur bei, die die zuvor angelegte Figurensemantik aufgreift und im literarischen Text veranschaulicht. Die anfängliche Wahrnehmung seiner Figur wird durch die Wahrnehmung der anderen Figuren verdoppelt und um eine Rezeptionsperspektive ergänzt, die sie im internen Kommunikationssystem der Erzählung begründet. Sie wird in die Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere übertragen und damit als vermeintlich authentische Wahrnehmung ausgegeben.916 Die Dar1985, 104f. Zur Funktion der direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f. und Leibfried 1972, 224f. 913 Zur Funktion der gegenseitigen Bespiegelung vgl. Lotman 1973, 380f. sowie Červenka 1978, 120f. und Tomaševskij 1967, 153, der die Beschreibung des Helden durch andere Figuren zu den Verfahren der direkten Figurencharakterisierung zählt. 914 Zu dieser Unterscheidung vgl. Bal 1985, 104f. die zwischen einer „internal/character-bound focalisation“ und einer „external/non-character-bound focalisation“ differenziert. 915 Zur Funktion der erlebten Rede vgl. Cohn 1978, 99ff. sowie Bal 1985, 137ff. und Hamburger 1987, 80ff. 916 Vgl. hierzu noch einmal Hamburger 1987, 80ff., die die erlebte Rede als „äußerste Konsequenz der Verben der inneren Vorgänge“ bezeichnet, die vor allem darauf ausgerichtet ist, die literarischen Figu912 Stalin an der Südfront: Textanalyse 180 stellung der örtlichen Beamten wird damit ebenfalls zu einer Projektionsfläche des Stalinkults, der weniger darum geht, die historischen Ereignisse zu rekonstruieren, als darum, die offizielle Repräsentation seiner Person im literarischen Text zu verifizieren. 3.7.6 Stalin in Aktion: Dialogische Figurengestaltung Der Topos von der allumfassenden Überlegenheit Stalins steht auch im Mittelpunkt der nachfolgenden Szenen. Diese bestehen aus einer Reihe von Dialogen, die die Dominanz seiner Figur sowohl über die formale als auch die inhaltliche Gestaltung seiner Rede demonstrieren. Doch bevor die Erzählung die Figurenrolle Stalins durch die Inszenierung einer figuralen Rede im Text vergegenwärtigt, wird sie noch einmal in einer narrativen Szene exponiert. Diese faßt ein Gespräch zwischen Stalin und dem Bürgermeister von Caricyn zusammen und gibt damit eine Auseinandersetzung wieder, in der von Beginn an die Figur Stalins dominiert. Der Bürgermeister kann die meisten Fragen Stalins nicht beantworten und hat dessen Wissen nichts entgegenzusetzen. Um diese Diskrepanz ihrer Figurenperspektiven im literarischen Text zu verdeutlichen, wird die Darstellung Stalins erneut in die Wahrnehmung des Bürgermeisters übertragen.917 Dazu inszeniert die Erzählung auch hier eine erlebte Rede, die die offizielle Beschreibung Stalins aufgreift und in der Figurenperspektive des Bürgermeisters reproduziert. Die Legitimation seiner Figurenrolle ist damit einmal mehr in einer nachträglich manipulierten Perspektivierung begründet, die seine offizielle Darstellung rechtfertigt und durch eine diskrepante Informiertheit der literarischen Charaktere bestätigt.918 Die offizielle Darstellung seiner Person wird so erneut durch eine kontrastive Figurengestaltung verifiziert, die zu den zentralen Verfahren der literarischen Staliniana gehört. Gleichzeitig greift die Erzählung das Motiv der Undurchdringlichkeit noch einmal auf. Es dient auch in dieser Szene dazu, eine Figurenperspektive Stalins zu entwerfen, die seine zuvor inszenierte Überlegenheit dokumentiert: «Беседа продолжалась долго. Москалев очень хотелось бы перейти к общереволюционным темам: с жаром, большими словами, как он умел, поговорить так, что показать москвичу, что здесь тоже не лаптем щи хлебают. Но он никак не мог разорвать круг оцепляющих его точно анализирующих вопросов. Было непонятно – куда клонит Сталин.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Der Eindruck der Undurchdringlichkeit beruht auch hier darauf, daß die Erzählung die Handlungsmotivation Stalins verbirgt. Durch die eingeschränkte Perspektivierung seiner Figur wird sie der Allwissenheit des abstrakten Erzählers entzogen und auf ihre äußere Wahrnehmung reduziert.919 Dadurch entsteht ein Informationsdefizit, das den Wissensvorsprung seiner Figur verdeutlicht und ihre Position in der Figurenkonstellation der Szene legitimiert.920 Die erlebte Rede dient so einmal mehr dazu, eine Hierarchie der literarischen Charaktere zu etablieren, die durch ihre gegenseitige Bespiegelung beglaubigt wird. ren in ihrer fiktiven Ich-Identität im Text zu vergegenwärtigen. Vgl. hierzu auch Cohn 1978, 107ff. Kontrastive Figurengestaltung: Lotman 1973, 379ff. sowie Červenka 1978, 118f. und O’Neill 1994, 51. 918 Vgl. hierzu noch einmal Cohn 1978, 99ff. sowie Bal 1985, 137ff. und Lämmert 1967, 235f., der darauf hinweist, daß die Form der erlebten Rede es ermöglicht, die Innenperspektive einer Figur zu vergegenwärtigen, ohne sie in Form der direkten Rede wiedergeben zu müssen. 919 Vgl. hierzu Genette 1994, 134ff. und 241ff. sowie Bal 1985, 104f., Doležel 1972, 381ff. und Booth 1974, Bd.1, 169f. 920 Weber 1975, 65ff. 917 Stalin an der Südfront: Textanalyse 181 Nachdem die Position Stalins in der hierarchischen Ordnung der literarischen Charaktere festgelegt worden ist, zeigt der nachfolgende Abschnitt ein Gespräch zwischen ihm und dem Vorsitzenden des lokalen Verteidigungsrats, Nosovič. Auch dieser Dialog wird durch eine narrative Passage eingeleitet, die die vorhergehende Darstellung Stalins legitimiert. Dazu inszeniert die Erzählung ein Verhalten der literarischen Charaktere, das sie von Anfang an in eine hierarchische Figurenkonstellation überführt. Der Dialog wird durch eine konfrontative Figurenbeschreibung eröffnet, die den Konflikt der nachfolgenden Szene vorwegnimmt und die literarischen Figuren durch ihr im Text beschriebenes Verhalten identifiziert.921 Die Figur Stalins wird so noch vor dem Einsetzen des Dialogs mit einer Figurencharakteristik ausgestattet, die ihre Position in der Figurenhierarchie verdeutlicht und die zuvor angelegte Figurensemantik in den Handlungszusammenhang der Szene einsetzt: «Носович сидел настороженно, не курил предложенных московских папирос, отвечал сухо и точно, и несколько раз, - оказалось ему,- поймал на себе быстро из-под приподнятых нижних век -, острый взгляд Сталина.» (Tolstoj Chleb 1937, 116) Zum Ausdruck dieser Figurencharakteristik wird einmal mehr der Blick, mit dem Stalin Nosovič fixiert. Er stattet seine Figur mit einer Scharfsicht aus, die den Wissensvorsprung der vorhergehenden Erzählabschnitte zusammenfaßt und die literarisch gestaltete Überlegenheit seiner Figur signalisiert. So wird die zuvor eingesetzte Figurenkonstellation auch hier durch eine äußere Handlung fundiert, die die literarische Charakterisierung Stalins repräsentiert und authentifiziert. Die Überlegenheit Stalins wird auch hier dadurch beglaubigt, daß sie in der Figurenperspektive Nosovičs widergespiegelt wird. Durch die erlebte Rede wird es möglich, die im offiziellen Stalinkult vorgegebene Wahrnehmung zu bestätigen und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen.922 Sie wird aus dem ideologischen Diskurs in den literarischen Text übertragen und im inneren Kommunikationssystem der Erzählung begründet. Der Wechsel von abstrakt und personal perspektivierter Informationsvergabe dient so dazu, eine Darstellung Stalins zu rechtfertigen, die in der Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere vorbereitet und im weiteren Verlauf der Szene bestätigt wird.923 Der anschließende Dialog greift die so inszenierte Figurengestaltung wieder auf und überträgt sie in die Figurenrede Stalins. Dadurch kann das semantische Profil seiner Figur beglaubigt und als vermeintlich authentisches dargestellt werden.924 Der Dialog dokumentiert einen Glauben an die revolutionäre Kraft des Volkes, der das semantische Profil seiner Figur erweitert und mit einer nachträglich inszenierten Handlungsmotivation ausstattet. Damit wird ein Aspekt in das semantische Profil seiner Figur eingetragen, der die Handlungsfunktion seiner Figur rechtfertigt und seine literarische Inszenierung bewahrheitet. Diese Inszenierung wird durch die direkte Rede im Text vergegenwärtigt und in der Figurenperspektive Stalins verankert. Sein Glaube an die Vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f., O’Neill 1994, 50 und Faryno 1991, 249f. Vgl. hierzu noch einmal Cohn 1978, 99ff. sowie Hamburger 1987, 80ff., Bal 1985, 137ff. und Lämmert 1967, 235f., der die mediale Fähigkeit der erlebten Rede darin sieht, daß sie die äußeren Vorgänge durch den erlebten Eindruck ersetzt und die Erzählgegenstände im Medium der Personenaussage präsentiert. 923 Vgl. hierzu Bal 1985, 104f. sowie Hamburger 1987, 134f., O’Neill 1994, 58ff. und Genette 1994, 124f. 924 Zur Funktion der direkten Rede vgl. Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff. und Bal 1985, 148f. 921 922 Stalin an der Südfront: Textanalyse 182 Revolution erscheint damit nicht länger als Teil einer offiziellen Rhetorik, sondern kann als vermeintlich authentische Eigenschaft Stalins vorgestellt werden, die die literarische Gestaltung seiner Figur legitimiert.925 Sie ist auch hier in einem Wissen begründet, das die Dominanz Stalins rechtfertigt und seine Position in der Figurenkonstellation der Szene legitimiert: «На вопрос – чем он объясняет успех противника за последние дни – Носович ответил осторожно: - Еще месяца назад казаки стреляли самодельными снарядами. Я буду иметь удовольствие показать вам снаряды сделанный из консервной банки, - музейный курьез... Теперь они получили хорошее снаряжение и отличные пушки. Вопрос решается перевесом огневых точек на фронте... – А не объясняете вы наши неуслуги недостаточной политической подготовкой? – спросил Сталин. – За огневой ружей сидит человек. Сколько ни будь у полководца огневых точек, если его солдаты не подготовлены правильной агитацией, и ничего не сможет сделать против революционно воодушевленных бойцов – даже с гораздо меньшим количеством огневых ружей.» (Tolstoj Chleb 1937, 116f.) Die Funktion des Dialogs besteht darin, die zu Beginn angelegte Figurensemantik zu vervollständigen und durch die im Text inszenierte Rede zu beglaubigen.926 Sie zeigt Stalin als militärischen Führer, der sowohl mit der operativen als auch mit der propagandistischen Kriegsführung vertraut ist und die absichtliche Desinformation seiner Gegner durchschaut. Dadurch wird seiner Figur ein Wissen attestiert, das die diskrepante Figurengestaltung rechtfertigt und die konfrontative Gestaltung der literarischen Figuren endgültig in eine hierarchische überführt. Diese beruht auch in dieser Szene auf einer diskrepanten Informiertheit der Charaktere, die die Wahrnehmung Stalins rechtfertigt und durch eine nachträglich inszenierte Informationsvergabe perspektiviert. Die so hergestellte Figurenhierarchie wird durch das im Text beschriebene Verhalten der Figuren verdoppelt. Sie zeigt sich daran, daß die anfängliche Überheblichkeit Nosovičs einer Unsicherheit weicht, die zur unmittelbaren Projektionsfläche für die Darstellung Stalins wird. In dem nachfolgenden Abschnitt steht dem Verhalten Nosovičs eine Beschreibung Stalins entgegen, die einmal mehr die Dominanz seiner Figur unterstreicht. Zu Beginn dieser Szene wechselt die Erzählung erneut ihren Darstellungsmodus und schiebt eine weitere narrative Passage ein. Sie greift die Handlung der vorherigen Erzählsequenzen wieder auf und weitet sie zu einer Handlung aus, die zum wiederholten Mal die Überlegenheit Stalins demonstriert. Sie wird auch in diesem Erzählabschnitt durch den Blick repräsentiert, mit dem er auf die Antworten Nosovičs reagiert. Er bringt auch hier ein Wissen zum Ausdruck, das die Identitätsstiftung der anderen Erzählabschnitte bestätigt und in der Figurenperspektive Stalins verankert.927 So wird die dialogisch gestaltete Konzeption seiner Figur durch eine äußere Handlung begleitet, die ihr semantisches Profil legitimiert. Auch diese Darstellung wird in der Figurenperspektive Nosovičs bestätigt, bevor sie durch die dialogische Gestaltung der literarischen Figuren beglaubigt wird: «Чтобы обдумать ответ, Носович взял папироску и чувствовал теперь, что Сталин уже не мельком – пристально разглядывает его. – Я согласен, что это новая тактика революции. – Он постарался твердо ответить на взгляд Сталина. – Но под огнем неприятеля трудно перестраивать психики бойца. Под огнем неприятеля он больше верит пушкам, чем книжкам. В тылу, при формировании, разумеется, воспитание – это все...» (Tolstoj Chleb 1937, 117) Zu dieser Inszenierung Stalins vgl. Texte wie Blumental’ 1933, 157ff. oder Boltin 1940, 274ff. Vgl. hierzu noch einmal Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 137ff., Tomaševskij 1967, 153 und Genette 1994, 123f. 927 Zu dieser Eigenschaft Stalins vgl. Kaganovič 1940, 58, der sie zu Stalins sechzigstem Geburtstag in die offizielle Biographie seiner Person einträgt. 925 926 Stalin an der Südfront: Textanalyse 183 Durch die diskrepante Informiertheit der literarischen Charaktere wird eine Inszenierung Stalins vorgenommen, die den Mythos von seiner Allwissenheit im literarischen Text vergegenwärtigt. Dieser wird durch den Informationsvorsprung seiner Figur sowohl gegenüber den nachgeordneten Charakteren als auch gegenüber dem Leser behauptet und durch die Verfahren der indirekten Figurencharakteristik konfiguriert. Die literarische Inszenierung seiner Figur wird durch eine Relation der unterschiedlichen Blickpunkte legitimiert, die ihre offizielle Bedeutung reproduziert.928 Das gezielt eingesetzte Informationsdefizit führt zu einer Wahrnehmung, die die zu Beginn angelegte Figurensemantik bestätigt und in der Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere rekonstruiert.929 Die so hergestellte Figurensemantik wird auch in der folgenden Replik Stalins beglaubigt. In ihr wird der Informationsvorsprung der vorhergehenden Erzählabschnitte aktualisiert und in die Perspektive seiner literarischen Figur übertragen. Damit dokumentiert seine Rede auch hier ein Wissen, das die Überlegenheit seiner Figur belegt und durch ihre dialogische Gestaltung authentifiziert.930 Auch diese Charakterisierung wird durch eine äußere Handlung begleitet. Sie stellt noch einmal den Blick, mit dem Stalin auf Nosovič reagiert, in den Mittelpunkt und bedient sich damit einer Charakterisierungstechnik, die seine literarische Rolle auch hier durch die im Text imaginierte Figurenhandlung legitimiert.931 Sie wird zum Ausdruck einer Figurenperspektive, die das semantische Profil seiner Figur bestätigt und im literarischen Text präsentiert. Die Überlegenheit seiner Figur wird dadurch unterstrichen, daß er sich noch vor dem Ende des Dialogs von Nosovič abwendet. Auch diese Handlung wird zur symbolischen Repräsentation einer Figurencharakteristik, die die Dominanz seiner Figur verdeutlicht und die literarisch gestaltete Figurenperspektive durch eine äußere Handlung verstärkt. Die Legitimation seiner Figurenrolle ist so auch in diesem Teil des Dialogs in einer kontrastiven Figurensemantik begründet, die ihre offizielle Darstellung legitimiert: «У Сталина снова побежали морщинки и век на виски, он отвернусля от Носовича, чтобы выколотить трубку и – как бы – мимоходом: - Где и перестраивать психику, как не под огнем неприятеля, там-то и перестрaивать... Теперь товарищи, я попрощу остаться товарищей Москалева и Ермана.» (Tolstoj Chleb 1937, 117) Doch bevor die Auseinandersetzung zwischen Stalin und Nosovič eskaliert, wird dieser von Stalin entlassen. Damit bleibt die zuvor inszenierte Diskrepanz ihrer Figurenperspektiven bestehen und die Lösung des Konflikts wird auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Dadurch entsteht ein Spannungsbogen, der das Konfliktpotential der Erzählung steigert und durch die Lösung einer Reihe nachgeordneter Konflikte ersetzt. 3.7.7 Erster Sieg: Stalin regelt die Lebensmittelversorgung Einer dieser Konflikte steht im Zentrum der nachfolgenden Erzählsequenz. Er wird in einem Dialog zwischen Stalin und dem Bürgermeister eingesetzt, der sich um die ausVgl. hierzu Lotman 1973, 395ff. sowie Bal 1985, 104f. und Genette 1994, 138ff., der von einem alternierenden Fokalisierungswechsel spricht. 929 Die Figur Stalins wird dadurch mit einem Informationsvorsprung ausgestattet, der nicht nur ihre Überlegenheit demonstriert, sondern auch die Spannung der Erzählung steigert: Weber 1975, 63ff. 930 Vgl. auch hier noch einmal Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 148f., Genette 1994, 123f., Tomaševskij 1967, 153 und Leibfried 1972, 224f. 931 Zur Funktion der äußeren Handlung vgl. Hamburger 1987, 134f. sowie Červenka 1978, 118f. und Tomaševskij 1967, 153. 928 Stalin an der Südfront: Textanalyse 184 bleibenden Lebensmitteltransporte in das sowjetische Hinterland dreht. Auch dieser Dialog ist von Anfang an auf die Figurenperspektive Stalins ausgerichtet. Er dokumentiert einmal mehr die Überlegenheit seiner Figur und stattet sie mit einem Informationsvorsprung aus, der auch hier die offizielle wie literarische Darstellung seiner Figur legitimiert.932 Auch dieser Dialog wird von einer Reihe narrativer Einschübe unterbrochen, die die dialogisch gestaltete Figurenperspektive der vorhergehenden Erzählabschnitte aufgreifen und durch eine vermeintlich objektive Beschreibung ergänzen. Die Charakterisierung Stalins findet damit auch in dieser Erzählsequenz durch eine gegenseitige Bestätigung von innerer und äußerer Figurenhandlung statt, wodurch die dialogisch gestaltete Figurensemantik in einem vermeintlich authentischen Handeln begründet werden kann.933 Die Überlegenheit Stalins zeigt sich auch in diesem Dialog in einem Wissensvorsprung, der sowohl durch die äußere Handlung als auch durch die direkte Rede im Text vergegenwärtigt wird. Er wird gleich zu Beginn in den literarischen Text eingetragen und durch eine Geste repräsentiert, die die Figurencharakteristik der vorhergehenden Erzählabschnitte weiterführt. Nachdem sich Stalin zu Moskalev und Erman an den Tisch gesetzt hat, wischt er mit einer beiläufigen Handbewegung die Asche vom Tisch. Diese Geste demonstriert eine Überlegenheit, die erkennen läßt, daß er die Szene von Anfang an beherrscht. Bei dieser Bewegung handelt es sich um eine fakultative Geste, die weniger dazu dient, die Figur Stalins zu identifizieren als dazu, den inneren Zustand seiner Figur zu kommentieren.934 Sie trägt zu einer indirekten Charakterisierung bei, die das semantische Profil der vorhergehenden Kapitel rekapituliert und noch vor dem Einsetzen der nachfolgenden Handlung in die Gegenwartshandlung des hier analysierten Erzählabschnitts transportiert.935 Diese Figurencharakterisierung wird wiederum durch das Verhalten der nachgeordneten Charaktere bestätigt. Ihre Nervosität verweist von Anfang an auf die Dominanz Stalins, die auch in diesem Teil der Erzählung durch eine Konfrontation der unterschiedlichen Figurenperspektiven in Szene gesetzt wird. Das Verhalten der beiden nachgeordneten Charaktere wird im Verlauf des Dialogs immer unsicherer und bringt eine Unterlegenheit zum Ausdruck, die am Ende dazu führt, daß sie sich der Position Stalins unterordnen.936 Um diese Hierarchisierung der Charaktere zu bestätigen, wird die Figur Stalins auch in diesem Dialog mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, der ihre Position in der Figurenkonstellation der Szene legitimiert. Er setzt den Erklärungsversuchen Moskalevs und Ermans ein Faktenwissen entgegen, das ihre Antworten von vornherein als Ausreden entlarvt. Damit wird auch diese Szene von einer Figurenperspektive Stalins dominiert, die einzig dazu dient, die Überlegenheit seiner Figur zu demonstrieren. Da diese Fakten selbst dem Leser unbekannt sind, wird das Wissen Stalins zu einem Informationsvorsprung ausgebaut, der die Wahrnehmung seiner Figur über die Grenzen der Erzählung hinaus bestimmt.937 Damit wird eine Perspektivierung seiner Figur etaVgl. hierzu noch einmal Lotman 1973, 395ff. sowie Červenka 1978, 118ff. Zu den unterschiedlichen Verfahren der Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1978, 153 sowie Červenka 1978, 118ff., Faryno 1991, 101ff. und O’Neill 1994, 49ff. 934 Faryno 1991, 254. 935 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153. 936 Vgl. hierzu Lotman 1973, 295ff. sowie Genette 1994, 132ff. 937 Zur Funktion einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe vgl. Weber 1975, 65ff. sowie 932 933 Stalin an der Südfront: Textanalyse 185 bliert, die ihre Darstellung im offiziellen Stalinkult dadurch legitimiert, daß sie sowohl die literarischen Charaktere als auch den Leser hierarchisch organisiert. Diese Perspektivierung bestimmt den gesamten weiteren Verlauf des Dialogs und wird dadurch unterstrichen, daß sich weder Moskalev noch Erman gegen die Argumente Stalins behaupten können: «Когда в салоне остались только Москалев и Ерман, он [Сталин, U.J.] сел к столу, ладонью стряхивал пепел с клеенки. – Здесь, на путях, маршрутный состав с зерном. Давно он стоит? Ерман вспыхнул, точно его ударили по лицу. Москалев ответил, прищуриваясь на окно: - Дня два, три... - Больше, - сказал Сталин. - Одинадцать дней. Почему он не был отправлен? Москалев нахмурился, пальцы его застучали по клеенке. [...] Вчера рабочие устроили такую угрозу... Он засопел носом, ожидая, что Сталин начинает спорить. Но Сталин не стал спорить. Он спросил еще: - В городе свободная продажа хлеба? – Ну да... – Чем это объясняется? Москалев гуще засопел, но понял, что ссориться на надо. – Тем объясняется, товарищ Сталин, что вы мало знаете наши особенные условия. В городе тысяч сто разных обывателей, мещан...[...] Посади я их всех на паек - ну и назавтра разнесут совет... Хуже того – отряды повернут с фронта: у каждого здесь папаша, мамаша... Сталин перeвернул голову к молчавшему, опустив глаза, Ерману. – Вы тоже так думаете? – Нет, я не так думаю, - резко ответил Ерман. – Считаю положение в городе ненормальным... – Вот видите – уже два различных мнения...» (Tolstoj Chleb 1937, 117) Die semantische Konstruktion Stalins wird auch in diesem Dialog durch eine Reihe von Merkmalen bestimmt, die dazu dienen, das offizielle Stalinbild im Text zu präsentieren. Die Eigenschaften, die der Dialog zur Charakterisierung seiner Figur beisteuert, sind Sachlichkeit, Konzentration, Ruhe und Entschlossenheit. Sie werden sowohl über die inhaltliche als auch die formale Struktur des Dialogs im Text repräsentiert.938 Während die inhaltliche Gestaltung seiner Rede in erster Linie dazu dient, die Allwissenheit Stalins im literarischen Text zu vergegenwärtigen, dient die formale Struktur seiner Rede dazu, die semantischen Eigenschaften seiner Figur im Text zu verdeutlichen. Die stilistische Textur seiner Rede wird damit zum unmittelbaren Ausdruck einer Figurencharakteristik, die die offizielle Repräsentation seiner Person bestätigt und auf ihre literarische Reproduktion überträgt.939 Der größte Teil der Figurenrede Stalins besteht aus kurzen, präzisen Fragen, welche die zuvor angelegte Figurensemantik unterstreichen und durch die mimetische Funktion seiner Rede hervorheben.940 Seinen Fragen stehen die Repliken der nachgeordneten Charaktere entgegen, die sowohl inhaltlich als auch formal die Diskrepanz ihrer Figurenperspektiven offenbaren. Die Inszenierung seiner Figur beruht damit auf einer Gegenüberstellung unterschiedlich konfigurierter Figurenreden, die zur unmittelbaren Projektionsfläche für die literarische Gestaltung Stalins werden. Sie tragen die kanonischen Eigenschaften des offiziellen Stalinkults in das semantische Profil seiner Figur ein und bestätigen damit die zu Beginn angelegte Figurenkonstellation.941 Die Authentizität der Darstellung beruht damit auch in diesem Teil der Erzählung auf einer Figurengestaltung, die – dialogisch gestaltet – die offizielle Darstellung Stalins rekapituliert. Diese Konfrontation der unterschiedlichen Figurenperspektiven wird im weiteren Verlauf des Dialogs aufgehoben. Dazu werden die Standpunkte der nachgeordneten Charaktere der Figurenperspektive Stalins untergeordnet. Die Hierarchisierung der Lotman 1973, 395ff. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 148f. und Genette 1994, 123f. 939 Tomaševskij 1967, 153. 940 Tomaševskij 1967, 153 beschreibt die direkte Rede als eine weitere Maske der literarischen Figur. 941 Vgl. hierzu noch einmal Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. 938 Stalin an der Südfront: Textanalyse 186 Charaktere geht so mit einer Hierarchisierung der Blickpunkte einher, die die literarische Imagination Stalins beglaubigt und durch eine Angleichung aller zur Verfügung stehenden Figurenperspektiven rechtfertigt.942 Die so inszenierte Dominanz seiner Figur zeigt sich auch im formalen Aufbau des Dialogs. Während zu Beginn die Repliken der nachgeordneten Charaktere überwiegen, wird der zweite Teil des Dialogs durch die Figurenrede Stalins beherrscht. Die qualitative Dominanzrelation seiner Figurenrede wird so durch eine quantitative ergänzt. Diese Technik legt zugleich eine Rezeptionsperspektive fest, die über die formale Struktur des Dialogs gesteuert wird. Sie fällt mit der Zentralperspektive des Textes zusammen und gibt eine Wahrnehmung des Erzählten vor, die die offizielle Darstellung Stalins im Text rekonstruiert.943 Nachdem die Figur Stalins in ihrem Amt als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung vorgeführt worden ist, konfrontiert er die Vertreter der örtlichen Behörden mit einem Telegramm, das er von Lenin erhalten hat. In diesem Telegramm beschreibt Lenin die katastrophale Versorgungslage in Moskau und Petrograd und verstärkt damit den zu Beginn inszenierten Mangel. Sein Bericht trägt eine Information in den Dialog ein, die die Figurenperspektive Stalins bestätigt und seine im folgenden vorgebrachte Forderung nach einer Rationierung der Brotzuteilung legitimiert. Durch das Telegramm wird ein Informationsgefälle in die Kommunikationsstruktur der Szene eingesetzt, das die Darstellung Stalins durch die im Text inszenierte Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven beglaubigt.944 Die damit einhergehende Hierarchisierung der literarischen Charaktere wird dadurch unterstrichen, daß Moskalev angesichts des Telegramms verstummt und sich endgültig der Anordnung Stalins fügt. Mit dieser abschließenden Etablierung einer hierarchischen Figurenkonstellation ändert sich noch einmal die formale Organisation des Dialogs. Er besteht nicht länger aus Rede und Gegenrede der literarischen Figuren, sondern wird durch eine Äußerung Stalins dominiert, die ihn endgültig als zentrale Figur der Szene etabliert. Seine Replik läßt erkennen, daß er sowohl über die Vorgänge in der Stadt als auch über die Lage in Moskau und Petrograd informiert ist und unterstellt ihm damit ein Wissen, das allen anderen Figuren fehlt. Noch während Moskalev und Erman das Telegramm lesen, ordnet er die Rationierung der Brotausgabe an und macht damit deutlich, daß er in der Lage ist, die notwendigen Konsequenzen aus der politischen Lage zu ziehen. Damit trägt seine Rede ein Wissen in das semantische Profil seiner Figur ein, das seine Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung wiederholt und durch die Handlungsfunktion seiner Figur legitimiert.945 Sie wird sowohl über die formale als auch die inhaltliche Gestaltung seiner Figurenrede bestätigt und durch die direkte Rede im Text repräsentiert. Diese setzt die Dialogizität des vorhergehenden Erzählabschnitts außer Kraft und markiert den Beginn Zum Problem der Perspektivierung vgl. Genette 1994, 132ff. sowie Lotman 1973, 395ff., der von drei möglichen Positionen ausgeht: von der Position der Wahrheit, der Nicht-Wahrheit und des Übergangs. 943 Zur Bedeutung der Quantität dialogischer Redebeiträge vgl. Mukařovský 1967, 137ff., der die Dialogizität beziehungsweise Monologizität eines Gesprächs sowohl an dem Umfang der einzelnen Repliken als auch an der Häufigkeit ihrer semantischen Richtungswechsel festmacht. 944 Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 115ff., der den Dialog nicht nur durch das Verhältnis der Gesprächspartner bestimmt sieht, sondern auch durch ihr jeweiliges Verhältnis zur äußeren Situation. 945 Zur direkten Rede als Verfahren der Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1953, 153 sowie Lämmert 1967, 204ff., Bal 1985, 148f. und Genette 1994, 123f. 942 Stalin an der Südfront: Textanalyse 187 eines Monologs, der keiner Bestätigung durch die nachgeordneten Charaktere mehr bedarf. Die Erzählung inszeniert so ein autoritäres Wort, das die Figurencharakteristik Stalins rechtfertigt und durch die formale Textur seine Rede legitimiert.946 Seine Rolle als Sonderbevollmächtigter der Regierung ist damit nicht mehr allein in seiner nominellen Ernennung durch Lenin begründet, sondern in einer Autorität seiner Figur, die durch die monologische Rede im Text vergegenwärtigt wird: «Сталин достал из папки листочек. – Это получено сегодня в пути. – Он положил на стол перед Москалевым телеграмму подписанную Лениным: 'О продовольствии должен сказать, что сегодня вовсе не выдают ни в Питере, ни в Москве. Положение совсем плохое. Сооб-щите, можете ли принять экстренные меры, ибо кроме как от вас добыть неоткуда.' – Мое предложение, - сказал Сталин (покуда Москалев читал телеграмму и затем молча подвинул ее по столу – Ерману), - поставить в исполкоме вопрос о прекращении безобразного разбазаривания хлеба. Пролетариат в Москве, в Иванове, в Питере получает осьмушку. Владимир Ильич телеграфирует, что и этой осьмушки уже не выдают. Это означает, что в опасности не только эти города, но в опасности революция. Ради удобства десяти тысяч беженцев в Царицыне мы не можем лишать революцию хлеба... » (Tolstoj Chleb 1937, 117) Mit dieser Passage wird eine Darstellung aufgegriffen, die in dem Text «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov vorgegeben ist.947 Sie wird zur Handlungsgegenwart der Szene ausgebaut und soll die offizielle Darstellung Stalins in einer nachträglich fingierten Wirklichkeit begründen. Dem Dialog kommen damit zwei Funktionen zu: Während er einerseits die Position Stalins im Gefüge der literarischen Charaktere etabliert, soll er andererseits ein semantisches Profil konfigurieren, das seine Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung rechtfertigt. Die so vorgenommene Inszenierung wird im folgenden Abschnitt bestätigt. In ihm wird die Überlegenheit Stalins durch eine Unbeholfenheit Moskalevs konterkariert, die sowohl durch die dialogische Gestaltung als auch durch die Beschreibung seiner äußeren Handlung im Text vergegenwärtigt wird. Um der Kritik Stalins zu entgehen, verlegt sich der Bürgermeister darauf, einen Diskurs zu adaptieren, der seine kommunistische Gesinnung dokumentieren soll. Doch noch während er versucht, Stalin durch die Übernahme dieser Sprachmaske zu beeindrucken, wird er von Erman unterbrochen, der den Täuschungsversuch Moskalevs in seiner eigenen Rede entlarvt. Durch diese Beschreibung wird die Figur des Bürgermeisters zur Karikatur, dessen im Text beschriebenes Verhalten unmittelbar auf die Überlegenheit Stalins verweist. Die Legitimation der Figurenrolle Stalins beruht demnach auch hier auf einer kontrastiven Figurengestaltung, die die Figurenperspektive Stalins rechtfertigt und zur Zentralperspektive der Erzählung erhebt: «– Посадить Царицын на паек! – Москалев попробовал толкнуть от себя стол, он не сдвигался. Он тяжело вылез, прошелся, поддернул галифе: - Мы тем и горды, что в кошмарных условиях, когда вся контрреволюционная сволочь кричит: - 'большевистское хозяйство – это голод и разруха!', превратили Царицын в цветующий город... Заводы вырабатывают почти пятьдесят процентов довоенного, - это при наличии фронта. Увеличена сеть школ... Профсоюзными организациями охвачены почти все массы трудящихся... Колоссальное поднято женское движение... Проводятся мероприятия по созданию общественных работ. – Ты забыл еще музыку на бульварах, перебил его Ерман дрожащим голосом, офицерские кабаки с танцами... И что соль спекулянты вздули уже до ста рублей пуд.» (Tolstoj Chleb 1937, 117f.) Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 145ff. sowie Bachtin 1934/35, 172ff., der das monologische Wort als autoritäres Wort beschreibt, das eine bedingungslose Akzeptanz fordert. 947 Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 45f. 946 Stalin an der Südfront: Textanalyse 188 Diese Gestaltung der literarischen Charaktere wird im nächsten Abschnitt durch eine äußere Handlung ergänzt. Sie zeigt, wie Moskalev erneut versucht, Stalin von der Entscheidung abzubringen, Brot und Getreide zu rationieren. Er blickt immer wieder zu Stalin, um sich zu versichern, welchen Eindruck seine Rede auf ihn macht. Damit wird eine Differenz in die Figurenperspektive ihrer Charaktere eingetragen, die den Konflikt der vorhergehenden Erzählabschnitte aufgreift und im literarischen Text vergegenwärtigt. Es kommt zu einer Eskalation ihrer Auseinandersetzung, die mit einer Niederlage Moskalevs endet. Damit betreibt die Erzählung eine Demontage seiner Figur, die ganz unmittelbar auf die Darstellung Stalins verweist:948 «- Накипь! Это накипь! – крикнул Москалев. – Раздавим! – Он покосился на Сталина, - тот невозмутимо попыхивал трубкой. – Вопрос гораздо глубже... Царицынский пролетариат сам, своими руками, строит свое будущее... Царицынский пролeтарий верит мне, Москалеву, что я доведу его до окончательной победы. А я посажу его на голодный паек, я брощу его в общероссийский котел... Потому, что ивано-вознесенские рабочие получают осьмушку... Он этого не поймет... Говоря все это, Москалев 'учитывал' впечатление, и оно складывалось не в его пользу.» (Tolstoj Chleb 1937, 118) Die so etablierte Figurenperspektive wird auch hier durch eine narrative Passage bestätigt. Sie fingiert eine Innenperspektive Moskalevs, deren einzige Aufgabe darin besteht, die indirekt vermittelte Überlegenheit Stalins im Text zu vergegenwärtigen. Dazu entwirft die Erzählung eine erlebte Rede, die die literarische Gestaltung Stalins erneut in der Wahrnehmung des Bürgermeisters spiegelt. Durch dieses Verfahren kann die offizielle Darstellung seiner Figur gerechtfertigt und als vermeintlich authentische dargestellt werden.949 Die Inszenierung Stalins beruht damit auch in dieser Szene auf einer alternierenden Perspektivierung, die das semantische Profil seiner Figur bestätigt und dadurch legitimiert, daß die narrative Figurenbeschreibung durch eine personal perspektivierte vervollständigt wird. Dieser Wechsel soll die rein imaginäre Identität seiner literarischen Figur verdecken und im internen Kommunikationssystem der Erzählung begründen.950 Die literarische Repräsentation seiner Figur hat ihren Ursprung damit nicht länger in einem offiziell vorgeschriebenen Stalinbild, sondern in einer nachträglich fingierten Wirklichkeit, deren Realitätseffekte den Darstellungsauftrag der Erzählung kaschieren. Der Wechsel der Darstellungsperspektive verfolgt aber noch ein weiteres Ziel. In der erlebten Rede wird die Beschreibung Stalins durch eine Reihe von Adjektiven ergänzt, mit deren Hilfe die implizit vermittelte Figurencharakteristik im Text expliziert werden kann. Dazu wird die Figurensemantik der vorhergehenden Erzählsequenzen aufgegriffen und durch eine direkte Merkmalattribuierung ergänzt.951 Es entsteht ein semantisches Profil, das die offizielle Darstellung Stalins rechtfertigt und durch die Überlagerung von Erzähler- und Figurentext im Text (re)präsentiert.952 Es entsteht ein Verweissystem von direkter und indirekter Figurencharakteristik, das Handlung und Figur miteinander verschaltet und die zuvor inszenierte Überlegenheit Stalins als scheinbar reale präsentiert. Die so hergestellte Figurenhierarchie wird in der Figurenperspektive Moskalevs beglaubigt und durch das Verhalten Stalins authentifiziert: Lotman 1973, 376 und 388. Zur Funktion der erlebten Rede vgl. Bal 1985, 104f. sowie Cohn 1978, 99ff., Hamburger 1987, 80ff., O’Neill 1994, 59 und Genette 1994, 125f. 950 Vgl. hierzu Genette 1994, 132ff., Lämmert 1967, 235f. und Weber 1975, 65ff. 951 Zum Verhältnis von direkter und indirekte Figurencharakterisierung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118ff. und Bal 1985, 79ff. 952 Vgl. hierzu Doležel 1972, 385ff. sowie Genette 1994, 132ff. und Bal 1985, 104f. 948 949 Stalin an der Südfront: Textanalyse 189 «Сталин спокойно предоставлял высказываться, но что-то непохоже было, что этого человека можно пошатнуть. С веселыми глазами, осведомленный, непроницаемый – хоть и не нажимает на чрезвычайные полномочия, но они у него в кармане. И, пожалуй, не попасть с ним в ногу – оставит позади.» (Tolstoj Chleb 1937, 118) Dieser Abschnitt leitet gleichzeitig eine Wende in der semantischen Konstruktion des Dialogs ein. Moskalev gibt seine zuvor eingenommene Verteidigungshaltung auf und ordnet sich der Figurenperspektive Stalins unter. Als er nicht mehr weiß, was er sagen soll, ergreift Stalin das Wort und fordert die sofortige Einrichtung eines Getreidemonopols sowie die Einführung von Lebensmittelkarten. Doch bevor Stalin seinen Plan ausführt und damit endgültig in seinem Amt als Sonderbevollmächtigter der Lebensmittelversorgung bestätigt wird, wird ein Dialogabschnitt in die Szene eingefügt, der seine Forderung im Willen des Volkes begründet. Im Gegensatz zu Moskalev ist sich Stalin sicher, daß das Volk der Rationierung von Brot zustimmt und bereit ist, dieses Opfer für den Sieg der Revolution zu bringen. Mit dieser Rede wird das semantische Profil seiner Figur um einen Aspekt erweitert, der die im Text entworfene Figurensemantik beglaubigt und die funktionale Rolle seiner Figur legitimiert. Dieser Dialogabschnitt trägt den Mythos von einer Nähe zwischen Volk und Führer in den Handlungszusammenhang der Szene ein953 und steht im Dienst einer Figurencharakteristik, die die offizielle Identität Stalins durch eine imaginäre Übereinstimmung der (Figuren)Perspektiven legitimiert. Zum formalen Ausdruck dieser Übereinstimmung wird das Sprichwort, mit dem Stalin seine Rede beginnt. Es bricht die stilistische Faktur seiner bisherigen Repliken auf und soll seine Verbundenheit mit dem Volk dokumentieren, die auch hier durch die direkte Rede seiner Figur im Text vergegenwärtigt wird. Sie dient ausschließlich dazu, den Darstellungsauftrag der Szene zu realisieren und die Figurengestaltung Stalins durch eine weitere Instanz zu legitimieren.954 Der Mythos von der Nähe zwischen Stalin und dem Volk wird sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene seiner Figurenrede im Text verdeutlicht und erscheint so als authentische Darstellung, die der Text nicht erfindet, sondern widerspiegelt: «- Говорю все это, товарищ Сталин, к тому, чтобы вы учли всю сложность ситуации, стоящей перед нами... [...] Поймут ли? Бoюсь, боюсь... – Волков бояться – в лес не ходить... Не разделяю ваших опасений, Сергей Константинович, - весело сказал Сталин, как будто довольный, что известный этап уже пройден. – Рабочие поймут, если им объяснить. Рабочие прекрасно поймут, что хлебная монополия и карточная система тяжелее, пожалуй, чем драться в окопках, но они поймут, что это и есть сейчас главный фронт революции... И они принесут эту жертву, если им хорошо и тольково разъяснить...» (Tolstoj Chleb 1937, 118) Stalins Ausführungen werden durch eine Innenperspektive seiner Figur beglaubigt, die erkennen läßt, daß die Auseinandersetzung mit den Vertretern der örtlichen Behörden überwunden und der erste Konflikt behoben ist. Damit imaginiert die Erzählung ein Handeln, das die zuvor angelegte Handlungsfunktion seiner Figur bestätigt. Da seine Rede dazu beiträgt, die vorhergehende Situation zu verändern, erscheint er als aktive Figur, die handlungskonstitutiv in den literarischen Konflikt eingreift. Das autoritativ vorgeschriebene Stalinbild wird so durch eine Handlung repräsentiert, in der die per- Zu dem Mythos von Volk und Führer vgl. Švernik 1940, 111ff., Škirjatov1940, 150ff. sowie Jaroslavskij 1941, 146ff. und Kurze Lebensbeschreibung 1945, 82. 954 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 182, der eine Hierarchie der Rede aufstellt, die sich an dem geschriebenen Wort ausrichtet. In dieser Hierarchie markieren Sprichwörter und traditionelle Redewendungen die Sprachebene des Volkes. Am Ende stehen nonverbale Äußerungen wie Ausrufe oder der wortlose Applaus. 953 Stalin an der Südfront: Textanalyse 190 formative Kraft seiner Worte das reale Handeln Stalins ersetzt.955 Erst nach dieser Bestätigung seiner Figurenperspektive ordnet Stalin konkrete Maßnahmen zur Überwindung der Lebensmittelkrise an. Sie stoßen auf das Unverständnis Moskalevs und weisen damit noch einmal auf die Diskrepanz ihrer Figurenperspektiven hin. Auch diese Konfrontation wird durch einen Dialog in den Text eingetragen, der in erster Linie dazu dient, die zuvor angelegte Identität Stalins zu bestätigen und seine Überlegenheit zu dokumentieren. Gegenstand dieser letzten Auseinandersetzung sind die Tagesordnungspunkte für die Parteikonferenz, die Stalin für den nächsten Morgen einberuft. Während sich Moskalev außer Stande sieht, die Tagesordnungspunkte in der verbleibenden Zeit zusammenzustellen, ist Stalin sofort in der Lage die Tagesordnungspunkte aufzulisten. Pfeife und Tischtuch dienen ihm als Tableau für einen imaginären Text, der – in die direkte Rede übertragen – ein weiteres Mal die Überlegenheit seiner Figur demonstriert. Seine Rede läßt erkennen, daß er über alle Vorgänge in der Stadt informiert ist und die notwendigen Entscheidungen treffen kann. Damit wird das semantische Profil seiner Figur in einem Wissen begründet, das sowohl durch die außerliterarische als auch die im Text vorgestellte Autorität seiner Figur beglaubigt wird. Er fingiert ein Handeln, das über die interne Verweisstruktur der Erzählung verifiziert wird und seinen Status als handelnde Figur unterstreicht: «Концом трубного мундштука Сталин начал проводить по клеенке черточки, как бы строчки. – Вопрос об осуществлении монополии и карточной системы, борьба за транспорт, усилие военного командования, борьба с контрреволюцией, укрепление партийной организации и развертывание массово-политической работы, борьба против распущенности, смятения и хаоса. Повестка будет большая...» (Tolstoj Chleb 1937, 118) Dieser Überlegenheit Stalins hat Moskalev nichts mehr entgegenzusetzen. Wortlos verläßt er den Waggon und gewinnt erst in der sicheren Abgeschlossenheit seines Wagens die Sprache wieder. Doch auch hier ist er nicht in der Lage einen zusammenhängenden Text zu sprechen, sondern kann die zuvor geschilderten Ereignisse lediglich mit einem resignativen „jaaa...“ kommentieren. Die Überlegenheit Stalins wird so von einer äußeren Handlung begleitet, die seine Position in der Figurenkonstellation der Szene dadurch legitimiert, daß sie die nachgeordneten Charaktere demontiert. Da die Allwissenheit Stalins mit einem Verstummen Moskalevs einhergeht, etabliert die Szene eine Hierarchie der Rede, die seine Figur endgültig zur zentralen Figur der Szene stilisiert: «Уходя, Москалев задержался в дверях на секунду, но не обернулся, - хотя он на хвост себе наступать никому не позволял, кашлянул густо, тяжело спустился с вагонной площадки и, только уже развалясь в машине, проговорил: 'Да-а-а.'» (Tolstoj Chleb 1937, 118) Der letzte, rein narrativ gestaltete Abschnitt dieses Kapitels zeigt Stalin dann in seinem Amt als Sonderbevollmächtigter der Lebensmittelversorgung und faßt die Maßnahmen zusammen, die er in dieser Eigenschaft ergreift. Er dient weniger dazu, seine Figur zu charakterisieren, als dazu, die zuvor angelegte Figurencharakteristik im Zusammenhang der dargestellten Ereignisse zu begründen. Dazu werden die zuvor angelegten Eigenschaften aufgegriffen und konkrete Handlungen vorgeführt, die die literarische Repräsentation seiner Figur rechtfertigen. Sie werden zum konkreten Handeln seiner Figur ausgebaut, die durch das interne Verweissystem der Erzählung verifiziert werden könVgl. hierzu Austin 1979, 25ff., der den performativen Sprechakt dadurch von dem rein konstativen unterscheidet, daß er nichts behauptet, sondern etwas tut. Dementsprechend kann der performative Sprechakt auch nicht wahr oder falsch sein, sondern ge- oder mißlingen. 955 Stalin an der Südfront: Textanalyse 191 nen. Der zusammenfassende Bericht dient dazu, eine Handlungsrelevanz Stalins zu inszenieren, die die Handlungsfunktion seiner Figur bestätigt und durch den literarisch gestalteten Bezug von Handlung und Figur legitimiert.956 Die in ihm vorgestellten Ereignisse beziehen sich auf die zuvor zusammengestellten Tagesordnungspunkte und dokumentieren ein Handeln, das einmal mehr die Entschlossenheit seiner Figur unter Beweis stellt. Dadurch, daß er sein eigenes Programm in die Tat umsetzt inszeniert die Erzählung eine Rolle, die seine Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung rechtfertigt und durch ein literarisch inszeniertes Handeln dokumentiert. Sie stellt Stalin im Mittelpunkt der Ereignisse und kann ihn so als handelndes Subjekt in Szene setzen. Seine Darstellung wird durch eine symbolische Bedeutung von Raum und Zeit unterstrichen, die auch in diesem Abschnitt dazu dient, die mythische Identität seiner Figur im Text zu vergegenwärtigen. Die Zeit-Raum-Konstellation der nachfolgenden Erzählsequenz weist darauf hin, daß Stalin Tag und Nacht arbeitet, um die Verteidigung der Stadt zu organisieren. Der Bericht greift damit eine Darstellung auf, die in dem Text Kliment Vorošilovs über Stalin und die Rote Armee offiziell vorgeschrieben ist.957 Sie wird in den literarischen Text übertragen und in der dort konfigurierten Handlung begründet:958 «К этому времени вагон Сталина, отведенный на запасные пути, был включен в городскую телефонную сеть. Сталин начал работу. Два его секретаря, молчаливые и бесшумные, вызывали по телефонам председателей и секретарей партийных и советских организацией, учреждений, подготовляли материалы, стенографировали, впускали и выпускали вызванных... Председатель Чека влез в вагон веселый, как утреннее солнце, ушел с другой площадкой – бледный и озабоченный... Председатель железнодорожной санитарной коллегии, не дожидаясь вызова в вагон, распорядился подмести вокзал и перрон, для чего был послан грузовик в слободу за мещанками. В порядке общественной нагрузки их привезли вместе с метлами, от страха и досады они подняли такую пыль, что пришлось отказаться от этой формы борьбы с антисанитарным состоянием. Весь день шли разные люди по ржавым путям, спрашивая вагон Сталина. Составлялась полная картина всего происходящего в городе, в крае и на фронтах. К ночи стали приходить рабочие: представители фабричных комитетов и некоторые одиночные низовые работники. И только, когда за изломанными станционными заборами, за решетчатым виадкуком, за убогими крышами, за темной Волгой разлился зеленый свет и разгорелась безоблачная заря, - в сталинском вагоне погас свет – сразу во всех окнах.» (Tolstoj Chleb 1937, 118f.) Das Telegramm, das Stalin am Ende dieser Szene an Lenin schickt, dient dazu, diese Handlungsfunktion abschließend zu bestätigen. Es faßt noch einmal die zuvor beschriebene Handlung zusammen und dokumentiert die ersten Erfolge, die der Einsatz Stalins in Caricyn mit sich bringt. Damit wird ein Bezug von Handlung und Figur hergestellt, der seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und erkennen läßt, daß seine Ankunft zur unmittelbaren Lösung des Konflikts beiträgt. Der letzte Abschnitt dient so dazu, einen Handlungszusammenhang herzustellen, der die zuvor angelegte Rollenkonfiguration bestätigt und seine Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung Zum Verhältnis von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154f. sowie Červenka 1978, 123f. und Lotman 1973, 365f. 957 Vorošilov 1930, 45 und 50. 958 Vgl. hierzu auch in der 1955 erschienenen Monographie von A.V. Alpatov: «Писатель показывает нам в главе десятой вагон Сталина на царицынских путях, ставший средоточием всей работой по укреплению обороны города: целые дни к вагону Сталина тянутся, идут по ржавым путям тысячи разных людей, - рабочие, представители фабричных комитетов, низовые работники.» (Alpatov 1955, 92) 956 Stalin an der Südfront: Textanalyse 192 legitimiert. Das Telegramm verlegt die zuvor inszenierte Handlung in die Figurenperspektive Stalins und kann die objektive Beschreibung im Erzählertext durch seine subjektive Wahrnehmung ergänzen. Mit diesem Wechsel der Darstellungsperspektive geht zugleich ein Wechsel in der Perspektivierung der dargestellten Ereignisse einher. In dem Telegramm erscheinen die meisten der zuvor gezeigten Ereignisse als vollzogen, so daß die Handlungsfunktion Stalins diesmal durch eine wechselnde Perspektivierung vorgetäuscht werden kann. Dadurch wird noch einmal eine performative Kraft seiner Rede inszeniert, die auch hier ein rein diskursives Handeln fingiert: «Утром была послана телеграмма – вне очереди – Москва, Кремль, Ленину: 'Шестого прибыл в Царицын. Несмотря на неразбериху в всех сферах хозяйственной жизни, все же возможно навести порядок. [...] Добился введения карточной системы и твердых цен в Цаирцыне. Того же надо добиться в Астрахани и Саратове, иначе через эти клапаны спекуляции утечет весь хлеб. [...] Я принужден поставить специальных комиссаров, которые уже вводят порядок, несмотря на протесты коллегий. [...] Усследование показало, что в день можно пустить по линии Царицын – Поворино – Москва восемь и более маршрутных поездов. [...] Послал нарочного в Баку, на-днях выезжаю на юг. Уполномоченный по товарообмену... сегодня будет арестован за мещочничество и спекуляцию казенным товаром...'» (Tolstoj Chleb 1937, 119) 3.8 Rollenwechsel: Stalin als Sonderbevollmächtigter an der militärischen Front 3.8.1 Ein weiterer Lebensmitteltransport: äußere Handlung und Figurencharakteristik Das nächste Mal wird Stalin zu Beginn des zwölften Kapitels in den Handlungszusammenhang der Erzählung einbezogen.959 Dieser Erzählabschnitt setzt die Rollenkonfiguration des vorhergehenden Kapitels fort und zeigt ihn ein weiteres Mal in seiner Eigenschaft als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung. Im Mittelpunkt dieses Unterkapitels steht aber nicht mehr die Lösung der Versorgungskrise, sondern die Reorganisation der zivilen und militärischen Behörden in Caricyn. Mit dieser Verschiebung des literarischen Konflikts geht zugleich eine Verschiebung in der Konfiguration der Figurenrolle Stalins einher. Er agiert nicht mehr ausschließlich als Leiter der Lebensmittelversorgung, sondern wird in sein Amt als militärischer Führer initiiert. Dieser Wechsel in der Rollenkonfiguration seiner Figur wird durch eine Eskalation des militärischen Konflikts vorbereitet, der in den Erzählabschnitten geschildert wird, die dem hier analysierten Erzählabschnitt vorausgehen. In ihnen erfährt der Leser, daß die konterrevolutionären Truppen dicht vor Caricyn stehen und die Stadt von den wichtigsten Transportwegen abgeschnitten ist.960 Die konterrevolutionären Einheiten unter General Krasnov haben sich vereinigt und verstärken ihren Angriff gegen die revolutionären Bauernverbände am Don. Dieser Konsolidierung der gegnerischen Kräfte steht die Gründung erster regulärer Einheiten der revolutionären Arbeiter entgegen.961 Sie formieren sich zu einem einheitlichen Zug, der sich Richtung Caricyn bewegt und von Kliment Vorošilov befehligt wird.962 Nach mehreren Scharmützeln können sie einen größeren Sieg über die konterrevolutionären Einheiten erzielen. Einem Befehl Stalins Tolstoj Chleb 1937, 138ff. Tolstoj Chleb 1937, 123ff. 961 Tolstoj Chleb 1937, 126. 962 Tolstoj Chleb 1937, 129f. 959 960 Stalin an der Südfront: Textanalyse 193 aus Caricyn folgend, wehren sie eine Generaloffensive der gegnerischen Armee ab und drängen deren Truppen ins Hinterland zurück.963 In diesen Erzählsequenzen wird eine Handlung inszeniert, die die gesamte weitere Darstellung Stalins bestimmt. Sie nehmen eine Verschaltung von Handlung und Figur vor, die seinen literarischen Charakter in den militärischen Konflikt integriert und noch vor seinem nächsten Einsatz in der Figurenkonstellation der Erzählung positioniert. So wird bereits durch die formale Struktur der Erzählung eine Handlungsfunktion in Szene gesetzt, die Stalins Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und die im Text konfigurierte Figurenrolle legitimiert. Sie wird im weiteren Verlauf des Kapitels aufgegriffen und durch die dort geschilderten Ereignisse bestätigt.964 Die Episoden des hier analysierten Unterkapitels sind überwiegend narrativ gestaltet. In ihrem Mittelpunkt steht eine äußere Handlung, die das Rollenprofil Stalins beglaubigen und sein in der offiziellen Geschichtsschreibung vorgeschriebenes Handeln im Ereigniszusammenhang des Erzählten begründen soll.965 Auch dieses Unterkapitel setzt sich aus einer Reihe von Handlungssequenzen zusammen, die einen jeweils anderen Aspekt der offiziellen Stalinmythographie in den Text der Erzählung eintragen. Dazu greift auch ihre Darstellung auf den 1929 veröffentlichten Text «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov zurück und verwandelt ihn in eine Vorlage, die die literarische Repräsentation Stalins legitimiert.966 Der in dem Artikel beschriebene Einsatz Stalins in Caricyn wird in den Handlungszusammenhang der Erzählung übertragen und durch eine Reihe konkreter Handlungen verifiziert. Die narrativ vermittelten Passagen übernehmen damit die Funktion eines (vermeintlich) authentischen Berichts, der die fehlende Dokumentation der historischen Fakten dadurch kompensiert, daß die Erzählung eine literarisch fingierte Handlung inszeniert.967 Die Authentizität des Erzählten beruht somit auch in diesem Teil der Erzählung auf einer nachträglich fingierten Handlungsgegenwart, die den fiktionalen Auftrag der Erzählung verdeckt und durch die Illusion einer literarisch gestalteten Vergangenheit ersetzt.968 Die so entworfene Wirklichkeitsillusion kann durch den abstrakten Erzähler beglaubigt und als scheinbar authentische präsentiert werden.969 Doch die Abfolge der einzelnen Szenen und die beinahe rituelle Wiederholung der immer gleichen Handlungselemente geben letztlich den Darstellungs- Tolstoj Chleb 1937, 136ff. Zum Verhältnis von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154, Lotman 1973, 366f. sowie Červenka 1978, 122f. 965 Zur narrativen Vermittlung der Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153, Bal 1985, 79ff. sowie Veldhues 1997, 54f. 966 In dem Text heißt es: «В Царицыне он [Сталин, U.J.] застает невероятный хаос не только в советских, профессиональных и партийных организациях, но еще большую путаницу и неразбериху в органах военного командования. Тов. Сталин на каждом шагу наталкивается на препятствия общего характера, мешaющие ему выполнить его прямую задачу. Эти препятствия обусловливались прежде всего быстро растущей казачьей контрреволюцией, которая получала в это время обильную поддержку от немецких оккупантов, занявших Украину. Казачьи контрреволюционные банды вскоре захватывают ряд близлежащих от Царицына пунктов и тем самым не только срывают возможность планомерной заготовки хлеба для голодающих Москвы и Ленинграда, но и для Царицына создают чрезвычайную опасность.» (Vorošilov 1930, 45) Vgl. hierzu auch Gurov 1938, 209f., wo der Text Vorošilovs fast wörtlich übernommen wird, ohne als Zitat gekennzeichnet zu sein. 967 Vgl. hierzu Genette 1994, 117ff. sowie Lämmert 1967, 87 und 91f. 968 Vgl. hierzu den Punkt 2.7 Zur Funktion realistischer Schreibverfahren. 969 Zum abstrakten Erzähler vgl. Tomaševskij 1967, 141 sowie Barthes 1968, 175 und Doležel 1972, 386f. 963 964 Stalin an der Südfront: Textanalyse 194 auftrag der Erzählung preis und lassen die Literarizität des Erzählten erkennen. Die erste Szene dieses Unterkapitels beginnt mit einem weiteren Blick in Stalins Salonwagen. Er zeigt, wie dieser inmitten von Schriftstücken, Dokumenten und Materialproben die Abfertigung von Lebensmitteltransporten nach Moskau organisiert. Die in der Eingangsszene aufgezählten Gegenstände bestätigen die im vorhergehenden Kapitel angelegte Handlungsfunktion und setzen eine Darstellung Stalins in Szene, die die literarische Identität seiner Figur authentifiziert. Sie erscheinen als Beweisstücke, die seine Rolle als Leiter der Lebensmittelversorgung rechtfertigen und durch die Imagination einer konkreten Handlung legitimieren. Die überall im Raum verteilten Gegenstände werden so zu Requisiten, die das semantische Profil seiner Figur beglaubigen und durch eine nachträglich (re)konstruierte Handlung vergegenwärtigen.970 Sie repräsentieren sowohl die praktische als auch die theoretische Arbeit, mit der Stalin die Versorgungskrise löst, und bereiten damit eine Figurencharakteristik vor, die in den nachfolgenden Erzählsequenzen bestätigt wird: «В салон-вагоне повсюду – на стульях, на столе, на полу – лежали куски материй, образцы железа, скобяных изделий, папки с бумагами, кучки зерна, газеты, рукописи.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Mit dieser Szene wird zugleich ein situativer Kontext entworfen, der die hier analysierte Erzählsequenz an die Konfigurationssituation des vorhergehenden Erzählabschnitts anschließt. Dadurch entsteht die Illusion einer kontinuierlichen Handlung, die die verschiedenen Handlungsstränge über die Grenzen der Kapitel und Unterkapitel hinaus miteinander verknüpft. Der nicht vermittelte Handlungseinsatz dient auch hier dazu, eine fortlaufende Handlung zu inszenieren, die den Eindruck erweckt, als habe Stalin die ganze Zeit über in seinem Salonwagen gearbeitet.971 Seine Figurenrolle wird somit auch in dieser Szene durch eine rein imaginäre Handlung gestaltet, die auch diesmal in den Zusammenhang der Szene eingesetzt wird, ohne im Text begründet zu sein. Auch sie ist im offiziellen Stalinkult vorgegeben und wird noch vor dem Einsatz der nachfolgenden Handlung auf die Figur Stalins übertragen. Der Salonwagen fungiert einmal mehr als Tat-Ort, der die literarische Repräsentation seiner Figur beglaubigt und seine Identität als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung im Text repräsentiert. Seine Imagination soll die offizielle Darstellung Stalins rechtfertigen und als vermeintlich authentische vorführen.972 Neben den unterschiedlichen Requisiten ist es in diesem Kapitel vor allem die Figur der Stenotypistin, deren Anwesenheit die offizielle Darstellung Stalins authentifiziert. Sie wird gleich zu Beginn in die Konfigurationssituation der Szene eingefügt und soll die Position Stalins in der hierarchisch organisierten Figurenkonstellation legitimieren. Ihr literarischer Charakter, der an keiner anderen Stelle der Erzählung erwähnt wird, wird zur Projektionsfläche eines Stalinkults, der die offizielle Inszenierung seiner Person rechtfertigt und durch die interne Relation der literarischen Figuren gestaltet.973 Ihr kommt die Aufgabe zu, die in den vorhergehenden Erzählabschnitten konfigurierte Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 48f. sowie Veldhues 1997, 91. 972 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 306f. sowie Lämmert 1967, 28 und Bal 1985, 95. 973 Zur Korrelation der unterschiedlichen Charaktere als Verfahren der Figurencharakterisierung vgl. Červenka 1978, 120f. sowie Lotman 1973, 378ff. 970 971 Stalin an der Südfront: Textanalyse 195 Figurenrolle zu offizialisieren und Stalin in seinem Amt als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung zu repräsentieren. Die Konfiguration ihrer Figurenrolle ist rein funktional und dient ausschließlich dazu, den literarischen Charakter Stalins in Szene zu setzen. Sie wird zu keiner eigenständigen Figurenrolle ausgebaut und bleibt bis zum Ende des Kapitels der literarischen Figurengestaltung Stalins untergeordnet. Die Figur der Stenotypistin übernimmt aber noch eine weitere Funktion. Durch ihre Anwesenheit wird eine Rahmenhandlung geschaffen, die die kurz darauf einsetzende Figurenrede Stalins rechtfertigt und in der internen Kommunikationssituation der Szene begründet.974 Die Rede Stalins erscheint damit nicht länger als nachträglich fingierte Figurenrede, sondern als historisch überlieferte Rede, deren Notwendigkeit im Kontext der historischen Ereignisse begründet ist. Die Gegenwart der Stenotypistin wird zum formalen Anlaß, um die Figurenrede Stalins zu motivieren und von dem Verdacht der literarischen Fälschung zu befreien. Sie begründet eine Figurenrede, die die Figurengestaltung der vorhergehenden Erzählabschnitte aufgreift und in die Perspektive seiner eigenen Figur überträgt. Das Telegramm, das er am Ende dieser Szene an Lenin diktiert, erscheint damit als vermeintlich historisches Dokument, das die Innenperspektive Stalins widerspiegelt und seine Identität als Sonderbevollmächtigter der Regierung rechtfertigt. Die in ihm zusammengefaßten Ereignisse statten seine Figur mit einer Handlungsfunktion aus, die sowohl seine Position in der Figurenkonstellation der Szene als auch die literarisch gestaltete Figurenrolle bestätigt.975 Die direkte Rede wird damit einmal mehr zum literarischen Verfahren, das die offizielle Darstellung seiner Person beglaubigt und durch eine nachträglich fingierte Figurengestaltung authentifiziert. Gleichzeitig dient die Rahmenhandlung dazu, eine Mündlichkeit zu inszenieren, welche die mythische Identität Stalins in den Text der Erzählung einträgt. Da die Stenotypistin das Telegramm in den Telegrafen tippt, ohne es vorher zu notieren, wird eine mündliche Rede Stalins in Szene gesetzt, die jede Differenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache negiert. Dadurch entsteht eine stilistische Textur, die die Überlegenheit seiner Figur demonstriert und als scheinbar authentische in den Text einträgt.976 Da die Erzählung seine Rede auf den Moment ihrer Äußerung zurückführt, wird eine literarische Stimme inszeniert, die auch hier den Schriftraum der Erzählung transzendiert. Sie zielt auf eine Identität von gesprochenem Wort und Sinn, die das Verfahren der literarischen Figurengestaltung kaschiert und durch die Illusion einer realen Anwesenheit ersetzt.977 Die Authentizität der hier inszenierten Figurenrolle beruht darauf, daß die Erzählung das geschriebene Wort auf das gesprochene zurückführt und die literarischen Zeichen durch die imaginäre Gegenwart Stalins beseelt:978 «У опущенного окна за низеньким столиком сидела машинистка, тоненькие пальцы ее лежали на Vgl. hierzu Bulgakowa 1994, 67 und Bazin 1950, 217, der diese Szenen in Stalinfilmen nach 1945 analysiert und die Funktion der stummen Charaktere darin sieht, daß sie Stalin vor der Peinlichkeit eines Selbstgesprächs bewahren. 975 Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die Figurencharakteristik vgl. Červenka 1978, 118ff. sowie Tomaševskij 1967, 153. 976 Vgl. hierzu den Artikel, den Tolstoj zwei Jahre später zu Stalins sechzigstem Geburtstag verfaßt. Er beschreibt eine öffentliche Rede Stalins und trägt alle kanonischen Eigenschaften in das semantische Profil seiner Figur ein: Tolstoj 1939, 265f. Die gleiche Beschreibung findet sich in einem Artikel, den Tolstoj anläßlich der Verfassungsrede Stalins im November 1936 veröffentlicht: Tolstoj 1936e, 151f. 977 Derrida 1979, 131ff. 978 Das im Text zitierte Telegramm ist in der Werkausgabe Stalins nicht enthalten. 974 Stalin an der Südfront: Textanalyse 196 шрифте. [...] Сталин диктовал: [...]» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Während in der Malerei der Topos des schreibenden Stalin dominiert, greift die Erzählung immer wieder auf die mündliche Rede seiner Figur zurück.979 Sie hat damit die Möglichkeit, eine Anwesenheit zu behaupten, die über das interne Kommunikationssystem der Erzählung hinaus in die Wahrnehmung des Lesers übertragen wird. Intendiert ist eine Realpräsenz, die den literarischen Text in ein ‚lebendiges Zeichen’ verwandelt, dessen physische Präsenz das tote Wort der Schrift animiert. Vergleicht man das Telegramm mit der formalen Syntax anderer Telegramme, so zeigt sich, daß die elliptischen Auslassungen, die die Stilistik dieser Textart prägen, zugunsten einer Sprachmaske aufgegeben werden, die ihren Ursprung weniger in der Grammatik des Genres, als in der Figurencharakteristik Stalins hat.980 So läßt sich an diesem Teil der Erzählung nachweisen, daß der Anspruch auf Authentizität, der durch das Telegramm behauptet wird, durch einen Darstellungsauftrag außer Kraft gesetzt wird, der die rein repräsentative Funktion der Figurenrede dokumentiert. In dieser Szene kommt aber auch dem Schauplatz eine zusätzliche Bedeutung zu. Ein imaginärer Blick durch das Fenster des Salonwagens zeigt, daß sich der Bahnhof von Caricyn grundlegend verändert hat: die Schienen sind repariert, der Bahnhofsplatz ist gefegt: «За окном было чисто вымытенное вокзальное поле, где вдали сходились полосы рельсов.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Mit dieser Beschreibung wird ein Schauplatz inszeniert, dessen Imagination ebenfalls zur indirekten Charakterisierung Stalins beiträgt.981 Er repräsentiert eine Handlungsfunktion, die noch vor dem Einsetzen der nachfolgenden Ereignisse in den Zusammenhang der Szene eingesetzt und im weiteren Verlauf des Kapitels bestätigt wird. Sie läßt erkennen, daß bereits die erwartete Ankunft Stalins zu einer Veränderung der Situation führt, die seine Funktion als handelnde Figur präfiguriert. Die Beschreibung des Bahnhofs wird damit zum nachträglich konstruierten Objekt, das die Rollenkonfiguration Stalins rechtfertigt und durch die sekundär semantische Funktion literarischer Schauplätze antizipiert. Durch die gegenseitige Bespiegelung von Schauplatz und Figur wird die offizielle Darstellung seiner Person beglaubigt und als vermeintlich authentische dargestellt. Die so entworfene Handlungsfunktion wird durch die offizielle Rezeption der Erzählung unterstrichen. In einer 1950 erschienenen Monographie wird der Einsatz Stalins in Caricyn ebenfalls zu einem Handeln ausgebaut, das durch die Veränderungen im öffentlichen Stadtraum sichtbar wird. Die im Text beschriebene Handlungsfunktion wird ebenfalls in unmittelbaren Zusammenhang mit der Ankunft seiner Person gestellt und scheint bereits durch die Etymologie seines Namens vorgegeben zu sein: «В повести показано, как действует великая сила сталинского руководства. В короткое время положение в Царицыне коренным образом изменяется. Наступает перелом во всех сферах жизни. Ликвидируются путаница и неразбериха, которым пользовались для своих тёмных целей враги советской власти. Налаживается работа всех звеньев советского и партийного аппарата. Во всём наводится революционный порядок.» (Čeremin 1950, 12) Vgl. hierzu Yampolsky 1993, 108f. Brandstetter 1968, 23ff. 981 Zur Funktion der literarischen Beschreibung vgl. Lämmert 1967, 88ff. sowie Genette 1994, 71ff. 979 980 Stalin an der Südfront: Textanalyse 197 Diese Projektion wird am Ende des Abschnitts noch einmal aufgegriffen und in die Figurenperspektive der Stenotypistin übertragen. Dazu entwirft die Erzählung eine erlebte Rede, welche die Beschreibung der äußeren Vorgänge aufgreift und durch ihre unmittelbare Wahrnehmung ersetzt.982 Die Funktion dieses Substitutionsprozesses besteht darin, die zuvor inszenierte Darstellung Stalins zu rechtfertigen und als vermeintlich authentische vorzuführen. Durch die wechselnde Perspektivierung kann die indirekte Charakterisierung seiner Figur ergänzt und ihre Figurenrolle in der Figurenperspektive eines der Stenotypistin bestätigt werden.983 Dadurch wird eine Wahrnehmung seiner Figur in den Text eingetragen, die durch die Innenperspektive der Stenotypistin beglaubigt und im literarischen Text verankert wird: «Негромкий ровный голос за ее спиной, казалось, наполнял это залитое черным мазутом, исполосованное сталью пространство особенным и важным значением.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Gleichzeitig etabliert dieser Abschnitt eine Rezeptionsperspektive, die den literarischen Charakter Stalins emotional überhöht und zum zentralen Charakter der Erzählung stilisiert.984 Durch die Einschränkung der Erzählperspektive wird er in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und eine Rezeptionshaltung vorgegeben, die den affektiven Zugang zu seiner Figur erhöht.985 Der Wechsel von Erzähler- und Figurenperspektive dient dazu, die durch den formalen Aufbau der Szene konfigurierte Darstellung seiner Figur zu bestätigen und durch ihre Übertragung in die Figurenperspektive der Stenotypistin zu beglaubigen.986 Der bis dahin lediglich indirekt hergestellte Bezug von Schauplatz und Figur wird in der erlebten Rede der Stenotypistin expliziert und als Leseanweisung in den Text der Erzählung eingetragen. Damit wird ein Verfahren der literarischen Figurengestaltung ent-deckt, das die poetische Überhöhung Stalins rechtfertigt und durch die wechselnde Perspektivierung legitimiert. Nachdem seine Figur im Handlungszusammenhang der Szene positioniert worden ist, wird sie durch das Telegramm, das er diktiert, ein letztes Mal in ihrer Rolle als Leiter der Lebensmittelversorgung vorgeführt. In diesem Telegramm ordert Stalin Material, das für die Beschaffung und den Transport von Lebensmitteln und Getreide nach Moskau benötigt wird. Dadurch wird eine Verantwortlichkeit seiner Figur inszeniert, die das zuvor angelegte Rollenprofil bestätigt und durch das im Text abgedruckte Telegramm offizialisiert. Die zuvor konfigurierte Figurenrolle kann so ein letztes Mal beglaubigt und als vermeintlich authentische dargestellt werden.987 Dazu etabliert das Telegramm ein Zur Funktion der erlebten Rede vgl. Cohn 1978, 99ff. sowie Genette 1994, 123f. und Lämmert 1967, 235f., der ihre Bedeutung darin sieht, daß sie eine Unmittelbarkeit der Aussage vorspiegelt und gleichzeitig die Mitteilungsfähigkeit des Erzählers auf die Innenperspektive der Figuren ausdehnt. 983 Zur Unterscheidung von direkter und indirekter Figurencharakterisierung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Bal 1985, 79ff. und Veldhues 1997, 54f. 984 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 154, der den Held als die Figur beschreibt, deren Darstellung am stärksten emotionalisiert wird: «Персонаж, получающий наиболее острую и яркую эмоциональную окраску, именуется героем. Герой – лицо, за которым с наибольшим напряжением и вниманием следит читатель. Герой вызывает сострадание, сочувствие, радость и горе читателя.» 985 Vgl. hierzu Texte wie den einleitenden Artikel in dem 1940 erschienenen Band zu Stalins sechzigstem Geburtstag oder die am Ende des gleichen Bandes veröffentlichten Erinnerungsberichte und Grußbotschaften: Stalin. K šestidesjatiletiju 1940, 12ff sowie 191ff. und 311ff. Groys 1988, 77 spricht von einem „Kult der Liebe“, der eine innere Utopie schafft und die Dankbarkeit zu Stalin ausdrückt. Vgl. hierzu auch Čeredničenko 1994, 36. 986 Vgl. hierzu Lotman 1973, 380f. sowie Bal 1985, 137ff., Cohn 1978, 107ff. und Lämmert 1967, 235f. 987 Zu dieser Funktion der direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Tomaševskij 1967, 153, Bal 982 Stalin an der Südfront: Textanalyse 198 monologisches Wort, das sowohl formal als auch inhaltlich die Überlegenheit seiner Figur demonstriert.988 Es stattet seine Figur mit einer Autorität aus, die ihre Position in der hierarchisch organisierten Figurenkonstellation rechtfertigt und seine Rolle als Leiter der Lebensmittelversorgung authentifiziert. Der von ihm georderte Nachschub soll den in der offiziellen Geschichtsschreibung vorgeschriebenen Einsatz Stalins bestätigen und durch ein konkretes Handeln dokumentieren. Die Ausführlichkeit der aufgezählten Gegenstände trägt dabei unmittelbar zur Charakterisierung seiner Figur bei. Sie verweist auf die Sorgfalt und die Umsicht, mit der Stalin die Verteidigung der Stadt organisiert. Auch diese Eigenschaften werden durch die direkte Rede auf die Figur Stalins übertragen und als vermeintlich authentische vorgeführt: «На немедлнную заготовку и отправку в Моску десяти миллионов пудов хлебы и тысяч десяти голов скота необходимо прислать... 75 миллионов деньгами, по возможности мелкими купюрами, и разных товаров миллионов на тридцать шесть: вилы, топоры, гвозды, болты, гайки, стeкла оконные, чайная и столовая посуда, косилки и части к ним, заклепки, железо шиное круглое, лобогрейки, катки, спички, части конной упражи, обувь, ситец [...] скипидар, сода...» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Der nachfolgende Abschnitt stellt einen Rückblick auf die Tage seit Stalins Ankunft dar. Auch er dient dazu, eine Darstellung zu beglaubigen, die in der offiziellen Geschichtsschreibung vorgegeben ist und durch einen narrativen Bericht bestätigt werden soll.989 Im Mittelpunkt dieser Berichterstattung steht die Organisation aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die Stalin zur Verteidigung der Stadt mobilisiert. Dazu trägt die Erzählung eine Reihe von Ereignissen in die Gegenwartshandlung der Szene ein, die seine Identität als politischer Führer unterstreichen und durch die im Text beschriebenen Ereignisse verifizieren. Dem narrativen Bericht kommt die Aufgabe zu, eine Handlungsfunktion zu inszenieren, die durch die Stimme des abstrakten Erzählers objektiviert und als vermeintlich authentisches Geschehen in den Text der Erzählung eingetragen werden kann.990 Damit wird die Figurenrolle Stalins auch hier durch eine äußere Handlung konfiguriert, die seine offizielle Darstellung rechtfertigt und durch die im Text beschriebenen Ereignisse legitimiert: «За эти несколько дней в Царицыне все было поднято на ноги. Партийная конференция, съезд профессиональных союзов, конференция заводских комитетов, чрезвычайные собрания с участием массовых организаций, митинги – следовали без перерыв.» (Tolstoj Chleb 1937, 139) 991 Gleichzeitig wird der Einsatz Stalins in Caricyn in den Kontext der historischen Ereignisse eingeordnet. Die bis dahin als lokaler Konflikt inszenierte Auseinandersetzung wird zu einem historischen Konflikt ausgeweitet, der die Verteidigung der Stadt zur Verteidigung der gesamten Revolution werden läßt. Die Beschreibung im Erzählertext dient so dazu, eine Wirklichkeit zu fingieren, die die Darstellung des offiziellen Stalinkults reproduziert und den Einsatz Stalins in Caricyn mit einer historischen Bedeutung auflädt, die ihn zur historischen Mission überhöht.992 Diese wird auf die Beschreibung 1985, 148f. und Genette 1994, 123. Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 108ff. sowie Bachtin 1934/35, 172ff. 989 Zu dieser Funktion des Rückblicks vgl. Lämmert 1967, 128ff. sowie Genette 1994, 32ff. 990 Vgl. hierzu Doležel 1972, 383ff. 991 Vgl. hierzu auch die Darstellung in Vorošilov 1930, 47, wo eine ähnliche Beschreibung der Lage gegeben wird. 992 Vgl. hierzu Doležel 1972, 383ff. sowie Genette 1994, 68ff., Tomaševskij 1967, 141 und Booth 1974, Bd.1, 156. 988 Stalin an der Südfront: Textanalyse 199 der historischen Ereignisse übertragen und zu deren nachträglich inszenierter Vergangenheit ausgebaut. Auf diese Art und Weise wird der Einsatz in Caricyn an seine Bedeutung in der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreibung angepaßt und dessen mythischer Identitätsstiftung unterworfen. Die narrativ vermittelte Überhöhung seines Einsatzes dient dazu, historischen Bericht und nachträgliche Bewertung aufeinander abzubilden und die so geschaffene Fiktion als Widerspiegelung einer faktischen Realität auszugeben:993 «Обороны Царицына, казавшаяся до этого делом одного Царицына, поднималась на высоту обороны всей Советской республики.» (Tolstoj Chleb 1937, 139)994 Die so inszenierte Bedeutung wird im nachfolgenden Abschnitt aufgegriffen. Dazu wird die Figur Stalins in eine Handlung kleidet, die sie erneut zum übergeordneten Sender stilisiert. Sie wird in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und als Führer präsentiert, der die Neuordnung der Stadt nicht nur organisiert, sondern inspiriert. Seine Figur verkörpert eine Idee, die das Handeln der nachgeordneten Charaktere motiviert und sie in ein höheres Wissen initiiert.995 Seine Anwesenheit wird zur Handlungsmotivation der nachgeordneten Charaktere und repräsentiert damit eine Handlungsfunktion, welche die zuvor angelegte Rollenkonfiguration rechtfertigt. Diese wird in den nachfolgenden Szenen bestätigt und durch das im Text beschriebene Verhalten der nachgeordneten Charaktere authentifiziert. Damit wird die zuvor angelegte Figurenrolle Stalins durch einen narrativen Bericht belegt, der seine mythische Identität rechtfertigt und durch die gegenseitige Bespiegelung von Handlung und Figur konkretisiert. Durch den abstrakten Erzähler wird auch sie als scheinbar authentisches Geschehen präsentiert, das die literarische Darstellung Stalins verdeckt und den Darstellungsauftrag der Erzählung realisiert. Durch diesen Rollenwechsel wird seine Figur zum literarischen Subjekt, das sowohl durch sein Handeln als auch durch sein Wissen für die ihm zugewiesene Rolle geeignet ist.996 Die so entworfene Figurenrolle wird auch durch die räumliche Ordnung der Szene vergegenwärtigt. In ihr wird die Figur Stalins im ganz eigentlichen Sinn in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und so bereits durch die formale Ordnung der literarischen Figuren zum zentralen Charakter der Handlung stilisiert. Zum Ort dieser magischen Verwandlung wird sein Waggon, der einmal mehr zum zentralen Schauplatz der Szene wird. Er fungiert auch hier als symbolische Repräsentation, die die offizielle Darstellung Stalins rechtfertigt und die mythische Überhöhung seiner Person legitimiert: «Через сталинский вагон – на путях юго-восточного вокзала – проходили тысячи людей, воспринимая эту основную тему. Сотни партийных и советских учреждений, тонувших в междуведомственной путанице и неразберихе, начинали нащупывать логическую связь друг с другом. Сотни партийцев, зaнимавших канцелярские столы, количество столов в этих учреждениях, насквозь прокуренных махоркой, были оторваны от бумажных волокит и брошены на Vgl. hierzu auch die Darstellung in Vorošilovs «Сталин и Красная Армия», der über den Einsatz Stalins schreibt: «Положение Царицына приобретает громадное значение. При восстании на Дону и при потере Царицына мы рискуем потерять весь производящий, богатый хлебный Северный Кавказ. И т. Сталин это отчетливо понимает.» (Vorošilov 1930, 46) 994 In einem Artikel vom Februar 1936 schreibt Tolstoj: «Вместе с героическим пролетариатом Царицына украинские бойцы начали героическую оборону города, который был в то время, как сказал Сталин, ключом к спасению революции.» (Tolstoj 1936b, 578) Mit dieser Beschreibung nimmt auch Tolstoj an einer Entfiktionalisierung seiner Erzählung teil. 995 Zur Rolle des übergeordneten Senders vgl. Propp 1998, 33ff., Bal 1985, 26ff. und Veldhues 1997, 60f. 996 Vgl. hierzu Greimas 1971, 118ff. 993 Stalin an der Südfront: Textanalyse 200 агитационную работу по заводам и в деревню.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Auch diese Inszenierung wird in der offiziellen Rezeption der Erzählung zur Widerspiegelung einer faktischen Wirklichkeit verklärt: «Всюду его могучая воля и неисчерпаемая энергия поднимают народные массы на бой и на труд, организовывают их, направляют их усилия к единой цели. Для разъяснения трудящимся Царицына стоящих перед ними задач Сталин мобилизовал все партийные и профсоюзные организации города. В течение нескольких дней 'всё было поднято на ноги'. [...] До сознания каждого коммуниста, рабочего, красноармейца были доведены чрезвычайная важность и ответственность их дела для обороны всей Советской республики.» (Čeremin 1950, 11f.) In dem eingeschobenen Rückblick wird aber auch ein Wechsel in der Rollenkonfiguration Stalins vorbereitet, der die gesamte weitere Darstellung seiner Figur bestimmt. Der bis dahin rein zivile Auftrag wird in einen militärischen ausgeweitet und diesem unterstellt. Dem Rückblick kommt damit die Aufgabe zu, den im weiteren Verlauf des Kapitels vollzogenen Rollenwechsel zu motivieren und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu verankern. Er dient dazu, die beiden Rollenkonfigurationen aufeinander zu beziehen und ihren Wechsel durch eine nachgeordnete Handlung zu beglaubigen.997 Die Sicherstellung der Lebensmittelversorgung ist von nun an keine rein zivile sondern eine militärische Aufgabe:998 «Суровой ясностью звучала новая тема: оборона Царицына должна быть наступлением по всему фронту – от севера Воронежской гурбернии до Сальских степей. Должна быть жестоким проведением хлебной монополии. Должна за июнь месяц дать два миллиона пудов хлеба Москве и Питеру.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Doch bevor Stalin endgültig in seine Rolle als militärischer Führer eingesetzt wird, wird seine Darstellung als übergeordneter Sender durch eine abschließende Handlung untermauert. Dazu wird ein Erzählabschnitt eingefügt, der den Initiationsprozeß der Arbeiter vergegenwärtigt und durch ihr im Text beschriebenes Verhalten belegt. 999 Ihr Erkenntnisprozeß wird als vermeintlich authentischer Erkenntnisprozeß dargestellt, der die Rollenkonfiguration Stalins rechtfertigt und durch die wechselnde Perspektivierung nachträglich sanktioniert: «Возбужденные митинги прокатились по заводам и скраинам. Рабочие поняли возложенную на них ответственность за судьбу всей страны – всюду были вынесены резолюции, поддерживающие общереспубликанскую задачу.» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Der nachfolgende Abschnitt zeigt, daß die Arbeiter der von Stalin angeordneten Rationierung von Brot zustimmen. Damit wird eine Handlung fingiert, die die im vorhergehenden Kapitel inszenierte Figurenperspektive Stalins bestätigt und durch das Verhalten der Arbeiter verifiziert. Zum formalen Ausdruck dieser Bestätigung wird eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven, die die Darstellung Stalins rechtfertigt und in der Wahrnehmung der Arbeiter legitimiert:1000 Damit folgt die Erzählung einer Sujetkonstruktion, die ebenfalls in dem Text «Сталин и Красная Армия» vorgegeben ist: «Обстановка становилась все более и более напряженной. Тов. Сталин развивает колоссальную энергию и в самое короткое время из чрезвычайного уполномоченного по продовольствию превращается в фактическую руководителя всех красных сил царицынского фронта.» (Vorošilov 1930, 47) 998 Damit wird ein Topos aufgegriffen, der in der offiziellen Stalindarstellung zu einem der wichtigsten Gründe für die militärischen Erfolge Stalins wird: vgl. hierzu Blumental’ 1933, 158f. und Boltin 1940, 283ff. 999 Zur Funktion der perspektivierten Informationsvergabe vgl. Cohn 1978, 107ff. sowie Genette 1994, 134ff. 1000 Diese Übereinstimmung ihrer Positionen wird in der 1939 erschienenen Rezension von M. Čarnyj 997 Stalin an der Südfront: Textanalyse 201 «И когда эта ответственность была вещественно выражена в немедленном прекращении свободной продажи хлеба и в переходе на хлебную карточку с полуфунтом на пай, рабочие ответили: согласны...» (Tolstoj Chleb 1937, 138) Die so angelegte Figurenrolle Stalins wird auch in den nachfolgenden Erzählabschnitten bestätigt. Sie zeigen das verwandelte Bild der Stadt und schaffen damit eine Projektionsfläche, die ganz unmittelbar auf die Konfiguration seiner Figurenrolle verweist. Sie zeigen, wie die zuvor angelegten Konflikte gelöst werden und das anfängliche Chaos durch straffe Organisationsstrukturen ersetzt wird. Die Beschreibung der Stadt dient so dazu, die zuvor konfigurierte Rolle Stalins zu beglaubigen und im Zusammenhang der Erzählung zu begründen. Sie dokumentiert ein Handeln, das die offizielle Darstellung seiner Figur bestätigt und im Text repräsentiert.1001 Der Text eine Handlung, die ebenfalls in dem Text «Сталин и Красная Армия» vorgegeben ist.1002 Die dort konfigurierte Handlungsfunktion wird über eine Reihe literarischer Bilder im Text vergegenwärtigt, die alle gleichermaßen auf die zu Beginn angelegte Rollenkonfiguration Stalins verweisen. Die Legitimation seiner Rolle beruht so auf einer nachträglich inszenierten Wirklichkeit, die die offizielle Darstellung seiner Person legitimiert und durch die Imaginationspraktiken der literarischen Erzählung authentifiziert: «За несколько дней город изменился, - будто трезвым утром после разгула. По улицам пошли патрули. Опустела оркестровая раковина в городском саду, и напротив нее двери шашлычного и чебуречного заведения оказались заколоченными крест-накрест досками. Во всех частных лавчонках на витринах остались лишь гуталин, повидло, сарептская горчица в корявых баночках и мухи, густо ползавшие по пылным стеклам. Хлеб как предмет торговли исчез.» (Tolstoj Chleb 1937, 138f.) 3.8.2 Stalin als militärischer Führer Nachdem die offizielle Darstellung Stalins legitimiert worden ist, kehrt die Erzählung in die Handlungsgegenwart der Szene zurück. Sie greift die zu Beginn angelegte Konfigurationssituation wieder auf und zeigt Stalin noch einmal in seinem Salonwagen. Er diktiert ein weiteres Telegramm, das er von Caricyn aus nach Moskau schickt.1003 In diesem Telegramm agiert er schon nicht mehr als Leiter der Lebensmittelversorgung, sondern als militärischer Führer, der die Verteidigung der Stadt organisiert. Die Rückkehr ins Innere seines Waggons dient so dazu, den zuvor angelegten Rollenwechsel zu bestätigen und durch die Konfigurationssituation der Szene im Text zu vergegenwärtigen.1004 Der unvermittelte Handlungssprung, der diesen Rollenwechsel einleitet, dient einmal mehr dazu, eine Handlungskontinuität herzustellen, die das zuvor angelegte Rollenprofil aufgreift und auf seine Identität als militärischer Führer überträgt.1005 Dadurch entsteht eine bestätigt, der sie – im Gegensatz zu der Erzählung - implizit formuliert: «Рабочие поняли. Они принесли и эту и многие другие жертвы во имя революции. Они пошли за своими вождями, за Лениным и Сталиным – и победили.» (Čarnyj 1939, 87) Zur nachträglichen Perspektivierung des Erzählten vgl. noch einmal Genette 1994, 134ff. sowie Lotman 1973, 398ff., der darauf hinweist, daß die Korrelation unterschiedlicher Blickwinkel ein wesentliches Element realistischer Literatur darstellt. 1001 Zur Funktion der Beschreibung vgl. noch einmal Lämmert 1967, 88ff. sowie Genette 1994, 71ff. 1002 Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 47f. 1003 Diese Wiederholung der Ereignisse trägt einen weiteren Aspekt der offiziellen Geschichtsschreibung in den Text der Erzählung ein. Er ist ebenfalls in dem Text Vorošilovs vorgegeben und bezieht sich auf die ständige Verbindung zwischen Lenin und Stalin: «Телеграмма за телеграммой летит по проводам к т. Сталину в Царицын от Ленина и обратно.» (Vorošilov 1930, 44) 1004 Zu dieser Bedeutung des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Lämmert 1967, 28 und Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff., die den Ort im literarischen Geschichtsbewußtsein in einem Spannungsverhältnis von historischem Tatort und literarischer Topographie analysiert. 1005 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 52ff. sowie Genette 1994, 77f. Stalin an der Südfront: Textanalyse 202 imaginäre Handlung, die das zu Beginn angelegte Rollenprofil aktualisiert und von Szene zu Szene überträgt. Das im Text reproduzierte Telegramm trägt dazu bei, die Figur Stalins in ihrer neuen Rolle vorzuführen und den indirekt vollzogenen Rollenwechsel in der direkten Rede zu begründen.1006 Dazu wird seine Figur auch hier mit einem monologischen Wort ausgestattet, das das zuvor konfigurierte Rollenprofil rechtfertigt und über die formale wie die inhaltliche Textur seiner Figurenrede im Text vergegenwärtigt.1007 Dadurch wird eine Autorität seiner Rede inszeniert, die ihn in seinem neuen Amt als militärischer Führer vorführt und seine offizielle Darstellung legitimiert: «– Телеграмма, - вполголоса говорил Сталин, - 'Москва, Высший военный совет... Срочно выслать несколько батарей шестидюймовых и снарядов к ним. Несколько батарей трехдюймовых и снарядов к ним. Десять миллионов трехлинейных русских патронов. Восемь бронированных автомобилей. Особенно важно прислать две группы опытных и преданных летчиков с аппаратами и со снарядами...'» (Tolstoj Chleb 1937, 139)1008 Diesem Rollenwechsel folgt eine Reihe von Szenen, die Stalin in seiner neuen Identität als militärischer Führer darstellen. Sie dienen dazu, diesen Rollenwechsel zu beglaubigen und durch die dargestellten Ereignisse zu beglaubigen. Die erste Szene stellt eine Auseinandersetzung zwischen Stalin und den Vertretern des örtlichen Militärrats in den Mittelpunkt. Stalin bestellt Nosovič und Kovalevskij in seinen Waggon, um mit ihnen die Lage am nordkaukasischen Frontabschnitt zu besprechen. Im Verlauf ihrer Unterredung zeigt sich, daß sie nur schlecht über die Lage an der Front informiert sind und versuchen, Stalin durch falsche Angaben zu täuschen. Die Szene gleicht in ihrem formalen Aufbau der im vorhergehenden Kapitel inszenierten Auseinandersetzung zwischen Stalin und den Vertretern der örtlichen Zivilverwaltung. Durch die parallele Gestaltung wird die in der vorhergehenden Szene inszenierte Figurenhierarchie aufgegriffen und auf die hier analysierte Erzählsequenz übertragen. Zum wichtigsten Verfahren der Figurencharakterisierung wird dabei auch in dieser Szene die Konfrontation der unterschiedlichen Figurenperspektiven.1009 Dazu wird der Konflikt in die Innenperspektive der einzelnen Charaktere übertragen und zu einer nachträglich inszenierten Handlungsgegenwart ausgebaut. Durch diese Übertragung wird es möglich, Handlung und Figur aufeinander zu beziehen und die einzelnen Charaktere über ihr Verhältnis zum literarischen Konflikt zu charakterisieren.1010 Durch diesen Wechsel von direkter und indirekter Figurencharakteristik wird es möglich, die Eigenschaften der literarischen Charaktere im Text zu vergegenwärtigen und ihre Hier- Zur direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 120ff. und Hamburger 1987, 176f. Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 146, der den Monolog als Rede definiert, die ohne den Eingriff eines zweiten Gesprächspartners stattfindet und keine semantischen Richtungsänderungen erkennen läßt. 1008 Das hier zitierte Telegramm ist für den Zeitraum, in dem sich Stalin in Caricyn aufgehalten hat, nicht überliefert. Robert Tucker weist darauf hin, daß Stalin Lenin von Caricyn aus mit Nachschubforderungen ‚bombardiert’, von denen er sich einen endgültigen Sieg der revolutionären Einheiten versprochen hat: Tucker 1973, 195f. Daß der von ihm georderte Nachschub die militärische Lage nicht verbesserte, zeigt das Telegramm, mit dem Trockij die Abberufung Stalins fordert: „I categorically insist on Stalin’s recall. Things are going badly on the Tsaritsyn Front, despite a superabundance of military forces.“ (z.n. Wade 1991, 224) 1009 Vgl. hierzu Lotman 1973, 398ff., Genette 1994, 134ff. sowie Bal 1985, 104f., die zwischen einer internen und einer externen Fokalisierung des Erzählten unterscheidet. 1010 Zu dem Verhältnis von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154, Lotman 1973, 366f., Červenka 1978, 122f. und Veldhues 1997, 55ff. 1006 1007 Stalin an der Südfront: Textanalyse 203 archie durch eine kontrastierende Figurengestaltung zu verifizieren.1011 Die Funktion der Szene besteht darin, die zuvor angelegte Darstellung Stalins zu beglaubigen und in der Figurenperspektive der nachgeordneten Charaktere zu bestätigen. Durch das Nebeneinander der unterschiedlichen Figurenperspektiven wird es möglich, innere und äußere Figurenhandlung aufeinander abzubilden und zu einer einheitlichen Figurencharakteristik zusammenzufügen. Dabei ist die Anordnung der literarischen Charaktere auch in dieser Szene von Anfang an hierarchisch organisiert. Sie wird von einer Darstellung Stalins dominiert, der alle anderen Figuren untergeordnet sind. Diese Hierarchie wird auch hier durch das Verhalten der einzelnen Charaktere zur Anschauung gebracht. Während Kovalevskij und Nosovič verunsichert sind, wird Stalin mit einer äußeren Handlung versehen, die einmal mehr die Überlegenheit seiner Figur demonstriert.1012 Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Stärke der Truppen, die zur Verteidigung Caricyns zur Verfügung stehen. Zu Beginn der Szene sieht man, wie Kovalevskij die Stellung der offiziell verzeichneten Truppenverbände im nordkaukasischen Frontabschnitt aufzählt und ihre Stellungen auf der Karte anzeigt. Noch während er die einzelnen Verbände nennt wechselt die Erzählung ihren Fokus und zeigt, daß Stalin die ganze Zeit über am Fenster auf und ab geht. Dadurch wird eine Gleichzeitigkeit der Handlung inszeniert, die die Handlungsfunktion seiner Figur rechtfertigt und sie auch hier als handelnde Figur identifiziert. Nachdem die Identität seiner Figur so bereits durch die äußere Handlung vorgegeben worden ist, wird sie darüber hinaus durch eine Begrenzung des Erzählhorizonts legitimiert. Dazu (re)konstruiert die Erzählung eine Innenperspektive Stalins, die erkennen läßt, daß er längst über alle Vorgänge an der Front informiert ist und weiß, daß die Angaben Kovalevskijs falsch sind. Dieses Wissen wird in Form der erlebten Rede im Text vergegenwärtigt und kann damit als vermeintlich authentisches Wissen vorgestellt werden.1013 Die Identität seiner Figur beruht so auf einer Übereinstimmung von innerer und äußerer Figurenbeschreibung, die das zuvor angelegte Rollenprofil aufgreift und in die literarisch gestaltete Innenperspektive seiner Figur überträgt. Doch während der Text die Innenperspektive Stalins darstellt, zeigt sein äußeres Verhalten, daß er dieses Wissen vor den beiden anwesenden Figuren verbirgt. Die erlebte Rede ermöglicht es so, einen Informationsvorsprung seiner Figur zu inszenieren, ohne ihn in die Handlungsgegenwart der Szene einzutragen.1014 Dadurch wird der literarische Charakter Stalins mit einem Wissen ausgestattet, das ihn von allen anderen Charakteren unterscheidet und seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt. Da dieses Wissen nur für den Leser erkennbar ist und nicht für die nachgeordneten Charaktere, beruht die Überlegenheit seiner Figur auf einer Differenz von innerer und äußerer Figurensemantik, welche die zuvor angelegte Rollenkonfiguration bestätigt. Die offizielle Identität seiner Figur wird so durch eine nachträglich perspektivierte InformationsVgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153, Červenka 1978, 118ff. und Bal 1985, 79ff. Zum äußeren Verhalten als Verfahren der indirekten Figurencharakterisierung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff. 1013 Vgl. hierzu Genette 1994, 129f., Cohn 1978, 107ff. sowie Hamburger 1987, 80ff. 1014 Dadurch entsteht ein Informationsvorbehalt, der die Spannung der Szene steigert und eine Rätselstruktur in die Wahrnehmung Stalins einträgt: Weber 1975, 63ff. Durch die Vergegenwärtigung in der erlebten Rede entsteht eine perspektivierte Informationsvergabe, welche die Darstellung Stalins nachträglich legitimiert: Weber 1975, 65ff., Cohn 1978, 99ff. und Genette 1994, 134ff. 1011 1012 Stalin an der Südfront: Textanalyse 204 vergabe reguliert, die die Handlungsfunktion seiner Figur dadurch authentifiziert, daß sie einen absichtlich inszenierten Informationsvorsprung in ihr semantisches Profil einträgt. Die narrative Gestaltung der Szene dient so dazu, eine Innenperspektive seiner Figur zu inszenieren, die die zuvor angelegte Darstellung rechtfertigt und durch den Wechsel von Erzähler- und Figurenperspektive im Text vergegenwärtigt. Das Wissen um den Täuschungsversuch wird dadurch zu einem vermeintlich authentischen Wissen, das über den Umweg der erlebten Rede in der Figurenperspektive Stalins begründet werden kann:1015 «Сталин, как бы разминая ноги, ходил вдоль окон со спущенными шторами. Когда докладчик приостанавляливался, - Сталин подтверждал кивком, что внимательно слушает. На самом деле ему давно все стало ясно из этого доклада (с материалами он ознакомился накануне): Ковалевский довольно неискусно 'втирал очки', стотысячная армия существовала только на бумаге.» (Tolstoj Chleb 1937, 139f.) Die so inszenierte Handlungsfunktion wird in der Figurenperspektive Kovalevskijs gespiegelt. Dazu wird auch seine Figur mit einer Innenperspektive ausgestattet, die als erlebte Rede in den Text der Erzählung eingefügt wird. Sie dient dazu, die zuvor inszenierte Darstellung Stalins aufzugreifen in der Wahrnehmung eines der nachgeordneten Charaktere zu bestätigen.1016 Daraus ergibt sich eine Übereinstimmung von direkter und indirekter Figurencharakterisierung, die auch hier dazu dient, die offizielle Darstellung Stalins zu beglaubigen und durch eine wechselnde Perspektivierung zu authentifizieren.1017 Die Überlegenheit Stalins beruht auch in diesem Kapitel auf einer uneindeutigen Informationsvergabe, die die Handlungsmotivation seiner Figur verbirgt und vor den anderen Charakteren verheimlicht. Die im Text fingierte Innensicht Kovalevskijs dient aber auch dazu, die nachfolgende Handlung zu motivieren. Um seine eigene Position zu stärken, beruft er sich auf Trockij, dem er die zuvor genannten Daten mitgeteilt hat und der den Plan zur Verteidigung der Stadt genehmigt. Mit diesem Verhalten kompensiert er eine Unsicherheit, die einmal mehr auf die Überlegenheit Stalins verweist: «Ковалевский, видя, чтo у молчаливого Сталина складывается нежелательное впечатление, поспешил подчеркнуть: - Все эти данные я посылал в Высший военный совет, и Троцкий утвердил дислокацию воиск, равно как и общий план обороны.» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Dabei läßt bereits der formale Aufbau des Textes erkennen, daß sich der hier analysierte Erzählabschnitt seinem ersten Höhepunkt nähert. Der nachfolgende Abschnitt ist nicht mehr narrativ, sondern dialogisch gestaltet. Durch diesen Wechsel im Modus der Erzählung kommt es zu einer Verlangsamung des Erzähltempos, wobei sich die Erzähldistanz verringert und die Intensität der Erzählung steigert.1018 Diese Verdichtung der Erzählung führt zu einer Konfrontation der Figurenperspektiven, die zur Legitimation der Figurenrolle Stalins herangezogen wird. Diese Konfrontation der Figurenperspektiven wird dadurch verstärkt, daß Nosovič gleich im Anschluß an die Antwort Kovalevskijs einen Befehl Trockijs auf den Tisch legt, in dem dieser fordert, die militärische Front zu halten oder, wenn möglich, weiter vorzuschieben. Dieser Befehl führt zu einer endgültigen Eskalation des Konflikts und macht deutlich, daß sowohl Nosovič als Vgl. hierzu Genette 1994, 129f. sowie Cohn 1978, 99ff. und Hamburger 1987, 80ff. Genette 1994, 129f., Cohn 1978, 99ff. und Hamburger 1987, 80ff. 1017 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff. 1018 Vgl. hierzu Genette 1994, 115ff, sowie Lotman 1973, 389ff. und Lämmert 1967, 82ff. 1015 1016 Stalin an der Südfront: Textanalyse 205 auch Kovalevskij Teil einer konterrevolutionären Verschwörung sind.1019 Damit wird ein Differenzkriterium in die Handlungskonstruktion der Szene eingefügt, das die zu Beginn angelegte Gegenüberstellung aufgreift und für die weitere Charakterisierung der Figuren zur Verfügung stellt. Dazu wird der politische Konflikt in eine äußere Handlung überführt, die erkennen läßt, daß sich der Verdacht Stalins bestätigt. Die so inszenierte Wahrnehmung seiner Figur wird durch ein Verhalten bestätigt, die auch hier auf die Überlegenheit seiner Figur verweist. Er macht sich über die Anordnung Trockijs lustig und wirft sie mit dem Hinweis auf den Tisch, daß es sich dabei lediglich um leere Worte handele. Seine Figur wird so auch hier mit einer Figurenperspektive ausgestattet, die die zuvor konfigurierte Handlungsfunktion bestätigt und seine offizielle Repräsentation legitimiert. Die Überlegenheit seiner Figur beruht einmal mehr auf einer Diskrepanz der unterschiedlichen Figurenperspektiven, die die offizielle Darstellung seiner Figur rechtfertigt und im Handlungszusammenhang der Szene aktualisiert.1020 Die Geste, mit der Stalin auf den Befehl Trockijs reagiert, steht damit auch in dieser Szene im Dienst einer indirekten Figurencharakterisierung, welche die Handlungsfunktion seiner Figur antizipiert und durch eine konkrete Handlung im Text repräsentiert. Sie hebt die Differenz zwischen innerer und äußerer Figurengestaltung auf und trägt die Überlegenheit Stalins in den Handlungszusammenhang der Szene ein: «Носович сейчас же протянул приказ за подписью Троцкого – удерживать фронт и в возможном случае – продвигать его... Сталин, прочти, усмехнулся, бросил бумажку на стол. – Удержать, отодвигать, не допускать... Красноречиво...» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Der folgende Abschnitt greift diese Dominanz Stalins wieder auf. Dazu eröffnet die Erzählung einen weiteren Blick in die Innenperspektive seiner Figur. Dieser läßt erkennen, daß er den Angaben Kovalevskijs von Anfang an mißtraut und dessen Zugehörigkeit zur konterrevolutionären Verschwörung durchschaut. Er begründet diesen Verdacht in der Gleichgültigkeit, mit der der militärische Stab auf die Zustände in der Stadt reagiert und nimmt damit eine Charakterisierung vor, die unmittelbar auf seine eigene Figur verweist. Sie zeigt ihn als leidenschaftlichen Revolutionär, dessen Glaubwürdigkeit durch die umgekehrte Verweisstruktur seiner Rede in seiner eigenen Emotionalität begründet wird. Gleichzeitig erscheint Stalin als aufmerksamen Beobachter, dem weder die Vorspiegelung falscher Tatsachen noch die Unsicherheit seiner Gesprächspartner verborgen bleibt. Die erlebte Rede auch mehr dazu, eine Charakterisierung seiner Figur vorzunehmen, die ihre Überlegenheit im literarischen Text vergegenwärtigt und diese in der Innenperspektive seiner Figur verankert. Sie ist in einem Wissen begründet, das nun endgültig in die Gegenwartshandlung der Erzählung eingetragen und damit nicht nur dem Leser sondern auch den nachgeordneten Charakteren deutlich wird. Damit präsentiert die Erzählung ein semantisches Profil, das die offizielle Darstellung seiner Figur Vgl. hierzu noch einmal den Text «Сталин и Красная Армия», in dem dieses Sujetelement offiziell vorgegeben ist: Vorošilov 1930, 50. Tolstoj bestätigt diese Sujetkonstruktion, wenn er in einem 1937 erschienenen Artikel schreibt: «Начало и конец этого романa – это предательство Троцкого. [...] В момент окружения Мамонтовым Царицына [...] Троцкий посылает телеграмму, предлагая руководству обороной немедленно [...] выехать в Козлов, грозя расстрелом за невыполнение. Предательский приказ Троцкого, разумеется, не был выполнен.» (Tolstoj 1937, 672) 1020 Zur Charakterisierung der Figur durch ihre äußere Handlung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. Zum Unterschied von anonym und personal perspektivierter Informationsvergabe vgl. Weber 1975, 65ff. 1019 Stalin an der Südfront: Textanalyse 206 rechtfertigt und in einer vermeintlich authentischen Wahrnehmung begründet:1021 «Наиболее подозрительное в докладе Ковалевского заключалось в спокойном отношении штаба к действительно катастрофическому состоянию самого царицынского фронта: около Царицына находилось всего шесть тысяч штыков и три тысяч в гарнизоне.» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Die Szene endet in einem Dialog über die Waffenstärke der revolutionären Einheiten. Obwohl die Konfrontation der unterschiedlichen Figurenperspektiven auch in diesem Teil der Erzählung fortgesetzt wird, dient er weniger dazu, den Konflikt zu verstärken, als dazu, den Einsatz der nachfolgenden Handlung zu motivieren. Er ermöglicht es, die nachfolgenden Ereignisse im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen und die militärische Auseinandersetzung auf den Handlungsort Caricyn zu verschieben:1022 «- Какими силами располагает Мамонтов? – спросил Сталин. Ковалевский быстро взглянул на Носовича, тот, не поднимая глаз, спокойно: - Сорок-пятьдесят тысяч сабель и штыков... Сталин взял ведомость оружия – всего на фронте Црицына числилось: 8 пушек, 92 пулемета, 9800 винтовок, 600 сабель, 962 тысяч патронов и 1200 снарядов для орудий... – Это все? – Ест кое-что в арсенале, - хмуро ответил Носович.» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Der nachfolgende Absatz beginnt mit einem erneuten Wechsel des Schauplatzes, der durch die Angaben von Ort und Zeit im Text angezeigt wird.1023 Durch die Falschangaben Kovalevskijs gewarnt, überprüft Stalin dessen Angaben im Arsenal. Damit wird ein retardierendes Moment in die Erzählung eingebaut, das die Lösung des Konflikts verzögert und zugunsten einer weiteren Charakterisierung seiner Figur verschiebt. Die Funktion dieser Passage besteht darin, die zu Beginn angelegte Handlungsfunktion zu fundieren und in einer eigenständigen Handlung zu begründen.1024 Dazu wird die Figur Stalins ein konkretes Handeln zugeordnet, das ihre Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und als vermeintlich authentische darstellt. Die so inszenierte Handlungsgegenwart wird in der offiziellen Rezeption der Erzählung bestätigt und zur faktischen Wirklichkeit verdichtet: «Едва приехав, нарком немедленно ориентируется в обстановке, проверяя все, начиная с того, что находится тут же перед глазами.» (Čarnyj 1939, 86) Dadurch, daß er seinen Waggon verläßt, agiert Stalin nicht länger als übergeordneter Sender, sondern wird erneut zur handelnden Figur. Er überwindet die Grenzen des ihm zugewiesenen semantischen Feldes und wird bereits durch die formale Struktur der Erzählung zum zentralen Charakter der Szene stilisiert.1025 Dadurch entsteht eine Übereinstimmung von innerer und äußerer Figurenhandlung, die seine Funktion als Sonderbevollmächtigter rechtfertigt und durch die Darstellung der nachfolgenden Handlung legitimiert. Gleichzeitig wird die zuvor inszenierte Diskrepanz zwischen der unterschiedlichen Figurenperspektiven aufgelöst und die Wahrnehmung der dargestellten Ereignisse auf die Figurenperspektive Stalins verschoben. Durch die narrative Vermittlung der Szene kann auch diese Konstruktion als vermeintlich authentische BeschreiZur Funktion der erlebten Rede als Repräsentation einer indirekt vermittelten Figurenperspektive vgl. Genette 1994, 129f. sowie Cohn 1978, 99ff., Hamburger 1987, 80ff. und Lämmert 1967, 235f. 1022 Er fungiert damit als Ausgangssituation, welche die Lösung des Konflikts durch den Einsatz einer neuen Handlung verschiebt: vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 135f. sowie Veldhues 1997, 67. 1023 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 44. 1024 Mit dieser Handlung wird der zuvor inszenierte Informationsvorbehalt aufgelöst und die Rätselspannung abgebaut: Weber 1975, 63ff. 1025 Vgl. hierzu Lotman 1973, 358ff. 1021 Stalin an der Südfront: Textanalyse 207 bung vorgestellt und durch die Stimme des abstrakten Erzählers beglaubigt werden: «На рассвете Сталин поехал в арсенал. Спустился в подвалы и внимтательно ходил по проходам между сосновых ящиков и пирамид из ручных гранат. Строгий старичок, хранитель арсенала, не мог дать точных сведений – сколько здесь оружия: оно свозилось сюда из разных мест без учета и, по всей видимости, было ломаное, ржавое, негодное...» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Aber auch der Gang in das Arsenal hat eine weitere Funktion. Er inszeniert einen Mangel, der den Einsatz der nachfolgenden Handlung rechtfertigt und die in ihm begründete Darstellung Stalins motiviert. Das Verlassen des Waggons erweist sich als literarisch gestaltete Handlung, die den im folgenden gezeigten Wechsel des Schauplatzes rechtfertigt und damit ganz unmittelbar zur Konfiguration seiner Figurenrolle beiträgt.1026 Mit dem erneuten Wechsel des Handlungsortes geht eine Veränderung seiner Rollenkonfiguration einher, die ihn erneut zum übergeordneten Sender werden läßt und gleichzeitig einen der wichtigsten Aspekte in das semantische Profil seiner Figur einträgt - die Nähe Stalins zum Volk.1027 Im nächsten Erzählabschnitt sieht man, wie Stalin durch die Werkhalle einer Maschinenfabrik geht und – als die Arbeiter ihn erkennen - eine Rede hält: «Из арсенала Сталин поехал на орудийный и машиностроительный завод. Обошел цехи и, когда рабочие, узнав его, собрались на заводском дворе поднялся на грузовик и сказал: Товарищи, республика в опасности... Мы должны переходить в решительное наступление. Долг каждого из нас - удесятерить свои силы и победить. Ни один человек не должен отставаться равнодушным... Сочувствия мало... Нужно поголовно, от мала до велика, взяться за оружие. Нужно работать так, чтобы у твоего станка стояла заряженная винтовка. Пролетариат должен быть весь мобилизован и вооружен. Но, чтобы мы были вооружены, нужно это оружие приготовить. [...] Только что я видел в арсенале тысячи сломанных и заржавленных винтовок, их нужно как можно скорее починить...» (Tolstoj Chleb 1937, 140) In der Rede Stalins wird eine kollektive Identität hergestellt, die den Mythos von seiner Nähe zum Volk in den Text der Erzählung einträgt. Sie schließt die Figuren der Arbeiter und seine eigene zu einem kollektiven Körper zusammen, der den Mythos von ihrer propagandistisch geforderten Einheit versinnbildlicht. Dadurch wird eine Identität von Volk und Führer hergestellt, die das semantische Profil Stalins rechtfertigt und durch die abschließende Replik der Arbeiter bestätigt. Sie ordnen sich der Befehlsgewalt Stalins unter und legitimieren damit eine Darstellung, die seine Rolle als militärischer Führer abschließend authentifiziert:1028 «– Даешь наступление, товарищ Сталин, - ответили ему рабочие.» (Tolstoj Chleb 1937, 140) Die literarische Repräsentation seiner Figur beruht so auf einer Angleichung der Figurenperspektiven, die die offiziell kanonisierte Nähe von Volk und Führer im Text vergegenwärtigt und zur indirekten Legitimation seiner Figurenrolle heranzieht. Ihre Übereinstimmung wird zum formalen Äquivalent einer Mythopoetik, die ihre Anweisung aus dem offiziellen Stalinkult bezieht und durch ihre mediale Repräsentation beglaubigt. Zu den unterschiedlichen Verfahren der Motivation literarischer Handlungen vgl. Tomaševskij 1967, 144ff. 1027 Vgl. hierzu die offiziellen Rezensionen: Usievič 1938, 97ff. sowie Čarnyj 1939, 86f. und Alpatov 1955, 90. 1028 Vgl. hierzu noch einmal Genette 1994, 134ff. sowie Lotman 1973, 380ff., Červenka 1978, 120f. und Bal 1985, 104f., die zwischen einer „internal/character-bound“ und einer „external/non-characterbound focalization“ unterscheidet. 1026 Stalin an der Südfront: Textanalyse 208 Diese Inszenierung wird ebenfalls durch die räumliche Anordnung der literarischen Charaktere unterstrichen. Sie hebt die Bewegung der vorhergehenden Erzählsequenz auf und repräsentiert die Rolle Stalins einmal mehr dadurch, daß sie seine Figur im ganz eigentlichen Sinne des Wortes in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt. So nimmt die Szene eine Legitimation seiner Figurenrolle vor, die bereits durch die formale Syntax der Szene begründet wird. Sie greift auf ein Darstellungssystem zurück, das die funktionale Rolle Stalins auf die ikonographische Ordnung der Szene überträgt und die Bildwirkung der literarischen Imagination zur Rechtfertigung seiner Darstellung in Dienst nimmt. Dadurch kommt es zu einer Konversion literarischer und ikonographischer Elemente, die seine Figurenrolle rechtfertigen, indem sie Text und Bild aneinander angleichen. Die Szene lehnt sich in ihrem formalen Aufbau an eine Reihe von Bildern an, die Stalin ebenfalls inmitten von Arbeitern oder Soldaten zeigen. Die Figur Stalins wird somit bereits über die ikonographische Ordnung der Szene in eine Rolle gekleidet, die die Handlungsfunktion seiner Figur legitimiert.1029 Sie unterstreicht die charismatische Kraft seiner Worte und kann damit die offizielle Repräsentation seiner Figur stützen.1030 Die direkte Rede dient so auch hier dazu, die im Text konfigurierte Rolle zu bestätigen und in der vermeintlich authentischen Innenperspektive seiner Figur zu begründen.1031 Dabei erscheint er noch einmal als übergeordneter Sender, der die Arbeiter inspiriert und ihr Handeln motiviert:1032 «Командный и политический состав и вся красноармейская масса начинают чувствовать, что ими урпавляет твердая революционная рука, которая ведет борьбу за интересы рабочих и крестьян, беспощадно карая всех, кто встречается на пути этой борьбы.» (Vorošilov 1930, 50) Die Konfiguration seiner Figurenrolle wird so gleich dreifach legitimiert. Sie wird zuerst durch das offizielle Mandat Lenins bestätigt, dann in der Autorität seiner eigenen Figur begründet und am Ende im nachträglich kollektivierten Willen des Volkes beglaubigt.1033 Sie werden aus dem offiziellen Stalinkult in die Erzählung übertragen und zu eigenständigen Handlungssequenzen ausgebaut. Mit dieser Szene ist seine Initiation als militärischer Führer abgeschlossen. Sie wird in den nachfolgenden Szenen ausgeführt und durch eine Reihe weiterer Handlungen legitimiert. 3.8.3 Stalins eiserne Hand Zu Beginn der nächsten Szene kehrt die Erzählung noch einmal in den Salonwagen Stalins zurück. Auch sie greift auf die zu Beginn angelegte Konfigurationssituation wieder auf und zeigt Stalin, der ein weiteres Telegramm an Lenin diktiert. Damit wird auch diese Szene durch eine konfigurative Situation eröffnet, die seine Identität als militärischer Führer rechtfertigt und über den situativen Kontext im Text vergegenwärtigt.1034 Dem Telegramm kommt ebenfalls die Aufgabe zu, die literarische Identität Stalins zu rechtfertigen und in einer scheinbar überlieferten Rede zu begründen. Diese Funktion wird auch auf den Inhalt des Telegramms übertragen. Durch die Forderung nach sofor- Vgl. hierzu auch Usievič 1938, 106f. Yampolsky 1993, 106f. 1031 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff., Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. 1032 Vgl. hierzu auch Hellebust 1994, 112ff. sowie Dobrenko 1993, 122. 1033 Vgl. hierzu Dobrenko 2000a, 880, der alle historischen Romane der Stalinzeit damit beauftragt sieht, die Triade ‚Herrscher – historische Gesetzmäßigkeit seiner Herrschaft – Volk’ zu legitimieren. 1034 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. noch einmal Lotman 1973, 327ff. sowie BennholdtThomsen 1990, 128ff. und Lämmert 1967, 28. 1029 1030 Stalin an der Südfront: Textanalyse 209 tiger Absetzung der gesamten militärischen Führung wird eine Befehlsgewalt Stalins inszeniert, die sein Amt als militärischer Führer bestätigt und in einer abschließenden Handlung begründet.1035 Mit dieser Forderung zieht Stalin die Konsequenzen aus der Lage in Caricyn und kompensiert einen Mangel, der in den vorhergehenden Kapiteln immer wieder als Grund für die Niederlage der revolutionären Einheiten genannt worden ist. Dadurch entsteht eine Handlungsfunktion, die seine offizielle Darstellung als historisch überliefertes Handeln darstellt und den Mythos von seinem konsequenten Einsatz in Caricyn legitimiert.1036 Durch das Telegramm wird seine Figur mit einer Handlungskompetenz ausgestattet, die seine Darstellung als militärischer Führer offizialisiert: «Солнце без пощады жгло черное пространство, прочерченное стальными линиями. Худые пальцы машинистки летели по клавиатуре. Сталин продолжал диктовать: 'Нужно со всей остротой поставить вопрос о смене всего военного руководства... Обидие штабов (четыре штаба) превращает фронт в кашу. Общее состояние фронта – отрядная неразбериха. Назначенные сюда военные специалисты (сапожники) работают с непонятной вялостью и халатиностью. Без экстренных и решительных мер нечего и думать об охране железнодорожной линии и о бесперебойной отправке продовольственных грузов...» (Tolstoj Chleb 1937, 140)1037 Durch den im Telegramm beschriebenen Mangel wird aber auch die Konfiguration seiner eigenen Figurenrolle legitimiert.1038 Sie geht mit einer Demontage all derjenigen Figuren einher, die sein Amt als militärischer Führer gefährden könnten. Erst danach zeigt die Erzählung ihn als militärischen Führer, der die endgültige Verteidigung der Stadt organisiert. Das Telegramm dient auch in dieser Szene dazu, eine Figurensemantik zu entwerfen, die seine Identität als militärischer Führer rechtfertigt. Sie unterstreicht noch einmal die Entschlossenheit, mit der er die Verteidigung der Stadt organisiert, und kann damit eine Figurencharakteristik legitimieren, die aus dem offiziellen Stalinkult in die Erzählung übertragen wird. Dadurch entsteht ein semantisches Profil, das seine Darstellung in der offiziellen Geschichtsschreibung rechtfertigt und die in ihr konfigurierten Eigenschaften als vermeintlich authentische präsentiert.1039 Diese Darstellung wird in einer letzten Handlung beglaubigt, die gleichfalls ausschließlich dazu dient, die zuvor angelegten Eigenschaften Stalins im Handlungszusammenhang des Erzählten zu begründen.1040 Der Bahnhofskommandant betritt den Raum und Zur Überlagerung von Handlung und Figur vgl. noch einmal Tomaševskij 1967, 156, Lotman 1973, 366f. und Červenka 1978, 122f. 1036 In der direkten Rede findet eine Projektion von Figurencharakterisierung und Handlung statt, welche die Figur Stalins im Handlungszusammenhang der Ereignisse positioniert und seine Figur zugleich charakterisiert: Lämmert 1967, 204ff. sowie Hamburger 1987, 157ff. 1037 Auch dieses Telegramm ist so nicht überliefert. Es bezieht sich auf ein Telegramm, das Stalin am 07. Juli 1918 aus Caricyn an Lenin schickt: Stalin 1951, Bd.4, 102f. Doch dieses Telegramm wird nur in Teilen übernommen. Der restliche Inhalt des im Text abgedruckten Telegramms bezieht sich auf die Darstellung, die der Text Vorošilovs von dem Einsatz Stalins in Caricyn gibt. Die dort überlieferten Ereignisse werden in die Rede Stalins übertragen und so als vermeintlich authentisches Handeln präsentiert: Vorošilov 1930, 46ff. Stalin ist zu diesem Zeitpunkt tatsächlich Vorsitzender des Militärrats des nordkaukasischen Militärbezirks. Er mischt sich entgegen der ausdrücklichen Weisung aus Moskau in die Angelegenheiten der militärischen Kriegsführung ein und wird, als er den neuberufenen Kommandeur der Südfront, N. Sytin, von seinem Posten entläßt, auf Drängen Trockijs aus Caricyn abberufen: vgl. hierzu Tucker 1973, 192ff. 1038 Vgl. hierzu Lotman 1973, 360ff. sowie Stückrath 1990, 286ff. und Veldhues 1997, 60f. 1039 Vgl. hierzu noch einmal Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f. sowie Bal 1985, 148f. 1040 Vgl. hierzu Lotman 1973, 360ff. sowie Červenka 1978, 122f., Tomaševskij 1967, 153 und Bal 1985, 79ff. 1035 Stalin an der Südfront: Textanalyse 210 überbringt ein Telegramm, in dem ein Angriff auf einen der Lebensmitteltransporte nach Moskau gemeldet wird. Dieser Bericht trägt einen Konflikt in den Erzählzusammenhang ein, der die Konfigurationssituation der vorhergehenden Szene aufhebt und die nachfolgende Handlung initiiert.1041 Er inszeniert einen Konflikt, der das sofortige Eingreifen Stalins nötig macht und nur durch sein entschlossenes Handeln gelöst werden kann. Damit wird ein semantisches Profil konfiguriert, das sowohl über die formale als auch die inhaltliche Gestaltung des Dialogs dargestellt wird.1042 Stalin fordert vom zuständigen Kommandanten, alle zur Verfügung stehenden Getreidezüge abzufertigen, die Bewachung der Züge zu verstärken und jeden Zug mit Schienen und Schwellen auszustatten. Diese Anordnungen repräsentieren ein Handeln, das sowohl die offizielle Darstellung als auch die literarische Reproduktion seiner Figur legitimiert. Damit wird seine Figur noch einmal als handelnde Figur gezeigt, die konstitutiv in den (literarischen) Konflikt eingreift. Ihre Handlungsfunktion wird auch hier durch eine Performanz seiner Rede unterstrichen, die keiner Realisation durch eine weitere Erzählsequenz bedarf.1043 Sie ist allein auf die Macht seiner Worte gegründet und zeigt noch einmal die rein repräsentative Funktion der Szene an: «Вошел комендант, будто высушенный на огне человек – молча положил на стол телеграмму. Она была от очередного маршрутного поезда, везущего в Моску двадцать пять вагонов хлеба и три вагона сушеной рыбы. 'В два часа ночи на разьезде у станции Филоново наш поезд сошел с рельсов ввиду того, что казаками были подложены пироксилиновые шашки. Тут же открылась стрельба со стороны казаков по поезду. Но благодаря нашим пулементам казаки были отогнаны и частью перебиты. Здесь мы простояли целый день и в ночь отправились дальше. [...]' Сталин по телефону вызвал коменданта. Комендант молча появилась в дверях. – Сколько вы отправили сегодня маршрутных? – Три поезда с зерном. – Сколько еще можете отправить? – До полуночи еще три. – Нужно усилить охрану. Прицепляйте к каждому поезду платформу со шпалами и рельсами. – Есть. Комендант неслышно скрылся.» (Tolstoj Chleb 1937, 141) Nachdem der Kommandant den Raum verlassen hat, entläßt Stalin auch die Stenotypistin. Dadurch findet ein erneuter Wechsel der Konfigurationssituation statt, der einmal mehr einen Wechsel in der Rollenkonfiguration Stalins nach sich zieht. In dem nachfolgenden Abschnitt sieht man, wie er allein an seinem Schreibtisch sitzt und arbeitet. In dieser Szene wird ein letzter Aspekt in das semantische Profil seiner Figur eingetragen: sein Amt als Volkskommissar für Nationalitätenangelegenheiten. Auch diese Rolle wird in die Innenperspektive Stalins übertragen und als erlebte Rede im Text repräsentiert.1044 Sie wird damit zu einer vermeintlich authentischen Darstellung, die erkennen läßt, daß er auch während seines Einsatzes in Caricyn über die aktuellen Ereignisse in den anderen Republiken informiert ist. Dadurch wird eine Allwissenheit seiner Figur inszeniert, die ihre Handlungsfunktion rechtfertigt und durch die im Text dar- Tomaševskij 1967, 135f. Auch hier ergibt sich durch die Überlagerung von Handlung und Figurenrede eine zweifache Funktion der Szene: während sie einerseits dazu dient, die Figur Stalins in seiner Eigenschaft als militärischer Führer zu charakterisieren, imaginiert sie andererseits ein Handeln, das in der direkten Rede in die Figurenperspektive Stalins zurückverlegt werden kann: vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Hamburger 1987, 157ff. und Mukařovský 1967, 115ff., der das Verhältnis zwischen den Gesprächsteilnehmern und der gegenständlichen Situation als konstituierendes Merkmal des Dialogs beschreibt und als „Situationsgespräch“ bezeichnet. 1043 Vgl. hierzu Bal 1985, 19 sowie Veldhues 1997, 66. 1044 Diese Darstellung bezieht sich auf eine Reihe von Artikeln, die Stalin unmittelbar vor seiner Abreise nach Caricyn über die Lage im Nordkaukasus geschrieben hat: Stalin 1951c, Bd.4, 82ff. und Stalin 1951d, Bd.4, 89ff. 1041 1042 Stalin an der Südfront: Textanalyse 211 gestellte Handlung legitimiert: «Сталин отпустил машинистку и сел писать письма. Его заботили дела на Кавказе и в Средней Азии. Он писал Степану Шаумяну: '...Общая наша политика в вопросе о Закавказье состоит в том, чтобы заставить немцев официально признать грузинский, армянский и азербайджанский вопросы вопросами внутренными для России, в разрешении которых немцы не должны участвовать. Именно поэтому мы не признаем независимости Грузии признанной Германией...'» (Tolstoj Chleb 1937, 141) Diese Episode wird mit keinem weiteren Wort erwähnt. Sie dient einzig dazu, die Identitätsstiftung Stalins zu vervollständigen und an sein offizielles Vorbild anzugleichen. Der Erzählabschnitt weist somit noch einmal darauf hin, daß die Darstellung Stalins, obwohl sie im Erzählzusammenhang des Textes begründet wird, von einem Darstellungsauftrag überlagert wird, der immer wieder den Rahmen der Erzählung sprengt. Diese bricht an den Stellen auseinander, an denen ein semantisches Profil rekonstruiert werden muß, das im Gesamtzusammenhang der Erzählung nicht begründet werden kann. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses Bild durch die Verfahren der literarischen Figurengestaltung zu authentifizieren und in den Handlungszusammenhang der dargestellten Ereignisse einzutragen.1045 Denn erst nachdem alle kanonischen Eigenschaften Stalins in den Text der Erzählung übertragen und in der Erzählung verankert worden sind, kann die eigentliche Verteidigung der Stadt beginnen. 3.9 Rollenwechsel: Stalin als Oberkommandierender an der Südfront Das nächste Mal greift Stalin im vierten Unterkapitel des zwölften und damit letzten Kapitels in den Verlauf der Handlung ein. Doch bevor die dargestellten Ereignisse mit der Schlacht um Caricyn ihren End- und Höhepunkt erreichen, wird die Figur Stalins in zwei weiteren Erzählabschnitten porträtiert. Der erste (hier analysierte) setzt die Darstellung des vorhergehenden Unterkapitels fort und zeigt ihn noch einmal in seiner Rolle als militärischer Führer. Damit kommt es zu einer Verdichtung seiner Auftritte, deren zeitliche wie räumliche Nähe darauf hinweist, daß sich die Erzählung ihrem endgültigen Höhepunkt nähert.1046 In diesem Teil der Erzählung erscheint er jedoch nicht länger als Sonderbevollmächtigter der sowjetischen Regierung, sondern wird in das Amt des Oberkommandierenden der revolutionären Einheiten an der Südfront eingesetzt. Damit wird der im letzten Erzählabschnitt angelegte Rollenwechsel offizialisiert und zu einer eigenständigen Figurenrolle ausgebaut. Wie die vorhergehenden Erzählabschnitte, dient auch dieser Teil der Erzählung dazu, eine im offiziellen Stalinkult vorgegebene Darstellung zu beglaubigen und in einer nachträglich konfigurierten Handlung zu begründen. 1047 Der Wechsel in der semantischen Konstruktion seiner Figurenrolle wird auch in diesem Teil der Erzählung durch die semantische Konstruktion des Schauplatzes verdoppelt. Im Unterschied zu den vorhergehenden Erzählsequenzen fungiert der Waggon Stalins in diesem Teil der Erzählung nicht mehr als mobile Verwaltungszentrale, sondern wird zur militärischen Kommandostelle, von der aus er die revolutionären Einheiten befehZu dieser Bedeutung der historischen Erzählung vgl. Aust 1994, 10ff. sowie Schörken 1981, 110ff., Börries 1996, 35f., Lützeler 1989, 13ff. und Hamburger 1987, 101ff. 1046 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 73ff. sowie Genette 1994, 61ff. 1047 Zu dieser Funktion der Stalinliteratur vgl. auch Hellebust 1994, 113 und Dobrenko 1993, 87ff. 1045 Stalin an der Südfront: Textanalyse 212 ligt. Die Konfiguration seiner Figurenrolle wird so auch in dieser Szene durch eine Identität des Schauplatzes antizipiert, die seine Darstellung als Oberkommandierender rechtfertigt und durch die Inszenierung des Handlungsortes präfiguriert. Damit verwandelt sich der Schauplatz einmal mehr in ein literarisches Konstrukt, das der Figurengestaltung Stalins untergeordnet ist und seine mythische Identität legitimiert.1048 Die Erinnerung an den Zug, mit dem Trockij als Vorsitzender des Revolutionären Kriegsrats die Front bereist, kann dabei als unmittelbare Vorlage für den im Text rekonstruierten Zug Stalins gelesen werden. Deutlicher als in allen anderen Kapiteln läßt die Beschreibung seines Waggons erkennen, daß die Erzählung nicht nur die historische Rolle Trockijs okkupiert, sondern auch den Panzerzug kopiert, mit dem er die einzelnen Frontabschnitte inspizierte: „Der Zug verband die Front mit dem Hinterland, entschied an Ort und Stelle über die unaufschiebbaren Fragen, klärte auf, rief auf, versorgte, strafte und belohnte. [...] Hier empfing ich unterwegs die Berichterstatter, beratschlagte mich mit den örtlichen militärischen und zivilen Behörden, arbeitete die telegraphischen Eingänge durch, diktierte Befehle und Artikel. [...] Im Zug befanden sich ein Sekretariat, eine Druckerei, ein Telegraphenamt, eine Telefunken- und eine elektrische Station, eine Bibliothek, eine Garage und ein Badebetrieb. [...] Der Zug war nicht nur eine militärisch-administrative und politische, sondern auch eine militärisch-aktive Angelegenheit. Durch viele seiner Eigenschaften erinnerte er mehr an einen Panzerzug als an einen Stab auf Rädern“ (Trotzki 1990, 367ff.) Diese Darstellung wird in den Handlungszusammenhang der Erzählung übertragen und zu einem Handlungsort ausgebaut, der den nachfolgenden Auftritt Stalins legitimiert. Die fehlende Dokumentation seines militärischen Handelns wird so nicht nur durch die Übernahme einer historischen Rolle kompensiert, sondern auch durch die Inszenierung eines Schauplatzes, der zur Kulisse für die literarische Inszenierung Stalins wird. Dessen Einsatz wird so durch die Adaption einer fremden Rolle konfiguriert, die seine Identität als Oberkommandierender rechtfertigt und durch die Inszenierung überlieferter Schauplätze legitimiert.1049 Der Wechsel in der Figurenrolle Stalins spiegelt sich aber auch in Figurenkonstellation der Szene wider. Diese zeigt, wie Stalin mit Vorošilov, Rudnev und Parchomenko, den wichtigsten Kommandeuren der revolutionären Einheiten, in seinem Waggon die aktuelle militärische Lage berät. Dieser Wechsel des literarischen Personals weist darauf hin, daß es in diesem Kapitel nicht mehr um Stalin als Sonderbevollmächtigten der sowjetischen Regierung geht, sondern um seine Darstellung als Oberkommandierender an der Südfront. Mit dem Wechsel seiner Figurenrolle geht darüber hinaus auch ein Wechsel in der formalen Gestaltung der Szene einher. Sie wird nicht länger durch eine dialogische Inszenierung der Charaktere bestimmt, sondern von einem Monolog Stalins beherrscht, dem alle anderen Figuren untergeordnet sind. Die Überlegenheit seiner Figur wird dabei sowohl durch eine qualitative als auch durch eine quantitative Dominanzrelation repräsentiert.1050 Sie stellt ihn noch vor jeder Handlung in den Mittelpunkt der Ereignisse und Zur Bedeutung des Schauplatzes für die Rollenkonfiguration vgl. noch einmal Lotman 1973, 327ff. sowie Bachtin 1937/38, 455ff., der dem literarischen Chronotopos insofern eine gestalterische Bedeutung zuweist, als daß er Raum und Zeit verdichtet und konkretisiert und damit zum Angelpunkt für die Entfaltung der Szenen im Roman wird. Daß im historischen Roman beide Funktionen zusammenfallen zeigt Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff. 1049 Vgl. hierzu auch Dobrenko 1993, 92. 1050 Vgl. hierzu Lotman 1973, 315, der die Komposition einer Erzählung als „syntagmatische Organisiert1048 Stalin an der Südfront: Textanalyse 213 kann ihn allein durch den Umfang seiner Rede als zentralen Charakter identifizieren. Da seine Rede durch keine fremde Figurenrede unterbrochen wird, repräsentiert sie ein autoritatives Wort, das die Handlungsfunktion seiner Figur unterstreicht und über die formale Gestaltung des Dialogs verdeutlicht.1051 Sie vergegenwärtigt eine Autorität, die über die sprachliche Rekonstruktion seiner Figur hergestellt und in den literarischen Text übertragen werden kann.1052 Die formale Gestaltung des Dialogs wird so zum Ausdruck einer Figurensemantik, die die offizielle Darstellung seiner Figur wiederholt und als sprachliche Textur in den Handlungszusammenhang der Erzählung einträgt.1053 Durch die mimetische Funktion der Figurenrede entsteht eine Nahaufnahme, die Stalins Inszenierung als Oberkommandierender an der Südfront rechtfertigt und als vermeintlich authentische Darstellung vorführt. Sie wird in der Figurenperspektive seiner eigenen Figur verankert und durch die direkte Rede im Text vergegenwärtigt. Die Erzählung bedient sich damit eines Darstellungsverfahrens, das Rede und Figur aufeinander bezieht und die formale Konstruktion seiner Figurenrolle durch die formale Konfiguration seiner Figurenrede verstärkt. Die Dominanz der Figurenrede Stalins weist zugleich darauf hin, daß der Grund für die Anwesenheit der nachgeordneten Charaktere weniger im Handlungszusammenhang des Erzählten als im Darstellungsauftrag der Szene zu suchen ist. Ihre Integration in die äußere Handlung dient einzig dazu, die monologische Rede Stalins zu begründen und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu verankern.1054 Sie sollen die Darstellung seiner Figur rechtfertigen und in ihrer eigenen Wahrnehmung verdoppeln.1055 3.9.1 Auftrittsvorbereitung Der Wechsel in der Rollenkonfiguration Stalins wird auch in diesem Teil der Erzählung in den vorausgehenden Erzählabschnitten vorbereitet. In ihnen sieht man, wie die militärischen Verbände, die sich in Richtung Caricyn bewegen, erneut von Kosakeneinheiten angegriffen werden. Ihr Vormarsch kann nur mit Hilfe einer militärischen Einheit sichergestellt werden, die Stalin ihnen aus Caricyn schickt.1056 Nur Dank dieser Unterstützung können die revolutionären Verbände einen Sieg über die Kosaken erringen und deren Abteilungen ins Hinterland vertreiben.1057 Damit wird eine Handlung heit der Sujetelemente“ beschreibt. Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 137ff., der darauf hinweist, daß jede Tendenz zur Monologisierung des (literarischen) Dialogs mit einer Vorherrschaft des Sprechenden über die anderen Gesprächsteilnehmer einhergeht. 1052 Bachtin definiert das autoritative Wort als Wort, das „verlangt, daß wir es anerkennen und uns zu eigen machen. Es wird uns aufgenötigt – unabhängig davon, in welchem Maße wir es für innerlich überzeugend halten. Wir finden es bereits als ein mit Autorität verknüpftes Wort vor.“ (Bachtin 1934/35, 171) 1053 Sie findet ihren sprachlichen Ausdruck, so Mukařovský, im semantischen Aufbau der Rede und zeigt sich in einer nicht unterbrochenen (logischen) Kontinuität ohne semantische Wendungen: Mukařovský 1967, 146f. 1054 Vgl. hierzu Bulgakowa 1994, 67 und Bazin 1950, 217. 1055 Zur Korrelation der unterschiedlichen Figuren(perspektiven) vgl. Lotman 1973, 380ff. sowie Červenka 1978, 120f. und Bal 1985, 79ff. Weber 1975, 65ff. beschreibt dieses Verfahren als perspektivierte Informationsvergabe. 1056 Tolstoj Chleb 1937, 141f. 1057 «По мосту с двигающимся эшелоном, по тысячам людей на отмели упорно и часто били пушки со стороны Пятиизбянской. Но сегодня их снаряды ложились с большим недолетом: отборный царицынский отряд, посланный Сталиным в помощь Ворошилову, выбил казачью батарею из Рубежной балки.» (Tolstoj Chleb 1937, 141) 1051 Stalin an der Südfront: Textanalyse 214 inszeniert, die die Darstellung Stalins als militärischer Führer rechtfertigt und in einer eigenständigen Handlung begründet. Durch die Entsendung der Truppen wird seine Figur mit einer Befehlsgewalt ausgestattet, die den im Text vollzogenen Rollenwechsel bestätigt und seine Darstellung als Oberkommandierender der revolutionären Einheiten legitimiert.1058 Da seine Figur handlungskonstitutiv in den militärischen Konflikt eingreift, wird sie mit einer Handlungsfunktion versehen, die sie von Anfang an als handelnde Figur identifiziert.1059 Die Figurenrolle Stalins wird so durch eine narrativ vermittelte Handlung vorbereitet, die den nachfolgenden Wechsel seiner Figurenrolle andeutet und im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet. Diese Identitätsstiftung wird durch eine zweite Handlung verstärkt. Sie zeigt, wie Stalin Vorošilov einen Panzerspähwagen schickt, der ihm in einer militärischen Auseinandersetzung mit den Kosaken das Leben rettet.1060 Auch diese Erzählsequenz dient dazu, die Figur Stalins im Handlungszusammenhang des Erzählten zu positionieren und seine Rolle als Oberkommandierender an der Südfront zu rechtfertigen. Sie wird in einem konkreten Handeln fundiert und trägt so ganz unmittelbar dazu bei, die mythische Konfiguration seiner Figur durch eine nachträglich inszenierte Handlung zu belegen. 3.9.2 Der situative Kontext Der so vorbereitete Wechsel in der Figurenrolle Stalins spiegelt sich auch in der Eingangssequenz des hier analysierten Erzählabschnitts wider. Dieser zeigt, wie der Waggon Stalins von militärischen Posten bewacht wird, die seine Identität als Oberkommandierender der revolutionären Armee repräsentieren. Die Szene wird so durch eine Darstellung eröffnet, die den nachfolgenden Auftritt Stalins vorbereitet und seine Figur noch vor dem Einsetzen der eigentlichen Handlung in der Figurenkonstellation der Szene positioniert.1061 Gleichzeitig wird der Leser mit einem Informationsdefizit ausgestattet, das die Szene von Anfang an mit Spannung auflädt. Dadurch, daß das Innere des Waggons für den Leser im Verborgenen bleibt, entsteht eine Rätselspannung, die den Auftritt Stalins verheimlicht und die Bedeutung seiner Figur erhöht.1062 Diese wird noch vor ihrem tatsächlichen Erscheinen in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und durch eine künstlich erzeugte Mitteilungskonstruktion zum zentralen Charakter der Szene stilisiert. Durch die manipulative Informationsvergabe wird der Auftritt seiner Figur verzögert und die Erwartungshaltung des Lesers gesteigert. Das diskursiv erzeugte Informationsdefizit stattet die nachfolgende Handlung mit einer künstlich erzeugten Ereignishaftig- Zur Überlagerung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154f. sowie Lotman 1973, 366f. und Červenka 1978, 122f. 1059 Zur handelnden Figur vgl. Lotman 1973, 365f. sowie Veldhues 1997, 63f. 1060 Dieser Abschnitt zeigt, wie Vorošilov mit dem Panzerwagen in einen Hinterhalt der Kosaken gerät, aus dem er sich nur dank des gut gepanzerten und zuverlässigen Wagens retten kann: «Он включил мотор. Затреляли цилиндры, мотор зaревел. Испуганные волы шарахнулись, веревка оборвалась. Лукаш из-под купола загрохотал пулеметом. Кзакаи кинулись по канавам. Броневик пронесся мимо них, обдавая дымом и пулями.» (Tolstoj Chleb 1937, 144) 1061 Sie beruht auf einer Zukunftsspannung, die durch den inszenierten Informationsvorbehalt im Text vergegenwärtigt wird und die Erwartung des Lesers auf die nachfolgende Handlung steigert: Weber 1975, 96f. 1062 Sie wird mit einer Rätselspannung umgeben, die auf einer lückenhaften Informationsvergabe beruht. Durch ihre Übertragung in die perspektivierte Mitteilungskonstruktion der direkten Rede wird sie im Text vergegenwärtigt und zu einem Rätsel der Handlung ausgeweitet: Weber 1975, 63ff. 1058 Stalin an der Südfront: Textanalyse 215 keit aus, die die im folgenden inszenierte Darstellung seiner Figur antizipiert: «Вагон Сталинa никого не пропускали. На путях стояли часовые. По перрону ходил комендант, отвечая всем, кто бы ни стеремился видеть чрезвычайного коммиссара: - Ничего не знаю...» (Tolstoj Chleb 1937, 144) 3.9.3 Indirekte Figurencharakterisierung Mit dem tatsächlichen Auftauchen Stalins wechselt die Erzählung in den Innenraum des Waggons.1063 Der nächste Erzählabschnitt zeigt Vorošilov, Parchomenko und Rudnev, die in Stalins Waggon am Tisch sitzen und von ihren Erlebnissen an der Front berichten. Bereits die Ausstattung der Szene läßt erkennen, daß es sich bei ihrer Unterhaltung um eine informelle Unterredung handelt. Dazu wird die Kulisse mit Requisiten bestückt, die die Zusammenkunft Stalins und der Kommandeure als freundschaftliche identifizieren. Durch die Imagination des Schauplatzes wird zugleich eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven antizipiert, die der konfrontativen Figurengestaltung der vorhergehenden Erzählabschnitte entgegensteht.1064 Die Darstellung Stalins wird so auch in diesem Teil der Erzählung durch eine korrelative Figurengestaltung reguliert, die ganz unmittelbar zur Charakterisierung seiner Figur beiträgt: «В вагоне сидели Ворошилов, Коля Руднев и Пархоменко. На столе – жестяной чайник, стаканы и крошки хлеба. Все трое курили московские папиросы. Была долгая беседа, Ворошилов рассказывал о походе от Харькова до Луганска. Руднев и Пархоменко ревниво вспоминали упущенные подробности.» (Tolstoj Chleb 1937, 144) Nachdem die drei nachgeordneten Charaktere im Handlungsgefüge der Szene positioniert worden sind, wendet sich die Erzählung Stalin zu. Er steht vor einer Karte und spielt mit einem Zirkel. Dadurch wird seine Figur mit einer Handlung ausgestattet, die sie noch vor dem Einsetzen der nachfolgenden Ereignisse als handelnde Figur zeigt.1065 Bereits durch die formale Struktur der Eingangssequenz wird eine Darstellung legitimiert, die im weiteren Verlauf der Erzählung aufgegriffen und zu einer eigenständigen Figurenrolle ausgeweitet wird. Sie wird einmal mehr durch die räumliche Ordnung der Charaktere im Text vergegenwärtigt und nimmt eine Handlungsfunktion vorweg, die die offizielle Repräsentation Stalins authentifiziert:1066 «Сталин, опираясь коленом о банкету, - под картой на стене, - вертя в пальцах маленький циркуль [...]» (Tolstoj Chleb 1937, 144) Mit dieser Beschreibung greift die Erzählung auf eine Inszenierung zurück, die die literarische Repräsentation Stalins an seine Darstellung in der Malerei angleicht. In dem 1936 entstandenen Stahlstich von P. Staronosov erscheint er ebenfalls vor einer Landkarte und wird so allein durch die formale Ausstattung der Szene in seinem Amt als militäri- Der Wechsel des Schauplatzes dient so nicht nur dazu, eine neue Konfigurationssituation zu entwerfen. Er dient auch dazu, die zuvor inszenierte Rätselspannung zu lösen. 1064 Zur symbolischen Repräsentation des Schauplatzes vgl. noch einmal Lotman 1973, 327ff. sowie Lämmert 1967, 28 und Bal 1985, 95. 1065 Zur symbolischen Funktion der äußeren Handlung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118 und Bal 1985, 79ff. 1066 Vgl. hierzu Lotman 1973, 376, der über die Identität literarischer Charaktere schreibt: „Der Charakter einer Figur ist die Gesamtheit aller ihrer im Text gegebenen binären Oppositionen zu anderen Figuren (anderen Gruppen), die Gesamtheit aller Fälle, in denen sie in die Gruppen der übrigen Figuren einbezogen ist, d.h. er ist ein Satz distinktiver Merkmale.“ 1063 Stalin an der Südfront: Textanalyse 216 scher (und politischer) Führer bestätigt: Staronosov, P. Durch die Angleichung von Text und Bild wird die Figur Stalins mit einer Figurencharakteristik ausgestattet, die seine Darstellung als Militärführer rechtfertigt. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Karte. Sie fungiert als Symbol, das den Sieg über Raum und Zeit versinnbildlicht und noch vor jeder Handlung auf die demiurgische Macht seiner Figur verweist.1067 Diese Bedeutung wird durch den Zirkel verdoppelt. Er zeigt Stalin als Baumeister einer neuen Welt, als deren genialer Architekt er in allen Texten gefeiert wird. So wird die Figur Stalins zu Beginn dieser Szene durch eine rein symbolische Zeichenhaftigkeit charakterisiert, die die Figurenrolle der nachfolgenden Handlung antizipiert. Sie wird durch eine Bildlichkeit in den Text eingetragen, die den Handlungszusammenhang der Szene durchbricht und durch eine narrative Digression ersetzt. Daraus resultiert einе fehlende Motivation, die erst im übergeordneten Mythensystem des offiziellen Stalinkults aufgehoben werden kann. Nur durch den Rückgriff auf die offizielle Mythenkonstruktion ist es möglich, die vollkommen unmotivierte Darstellung Stalins zu begründen und als vermeintlich authentische vorzuführen. Die Identitätsstiftung seiner Figur findet so auch in diesem Teil der Erzählung durch eine Entgrenzung von literarischer und bildlicher Repräsentation statt, deren Übereinstimmung das literarische Bild seiner Person verifiziert.1068 Diese Entgrenzung wird einmal mehr durch die Nennung seines Namens reguliert, der seine Person unabhängig von ihrer medialen Repräsentation identifiziert und auf die vermeintlich reale Person ‚Stalin’ zurückprojiziert.1069 Vgl. hierzu Yampolsky 1993, 108f. sowie Bazin 1950, 217 und 219, für den die Karte in den Filmen der späten Stalinzeit die Allgegenwart und Unfehlbarkeit Stalins repräsentiert. 1068 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 173ff., der die Kultur der Stalinzeit dadurch gekennzeichnet sieht, daß sie von einer grundsätzlichen Übersetzbarkeit der Künste ausgeht. 1069 Zu dieser Funktion des Namens vgl. Tomaševskij 1967, 156, der den Namen als verkürzte Charakterisierungstechnik beschreibt. Papernyj 1985, 148ff. bezeichnet die Kultur der Stalinzeit als „Kultur der Namen“, in der die abstrakte Bedeutung der Zeichen durch ein magisches Zeichenverständnis ersetzt wird. In diesem Zusammenhang fungiert der Name Stalins nicht nur als literarisches Zeichen, sondern wird mit einer Physis ausgestattet, die eine Realpräsenz fingiert: «Имена должны как 1067 Stalin an der Südfront: Textanalyse 217 3.9.4 Inszenierte Mündlichkeit Die so vorbereitete Figurenrolle wird in dem zentralen Monolog Stalins ausgeführt. Dieser trägt alle Eigenschaften in das semantische Profil seiner Figur ein, die seine Identität als militärischer Führer bestimmen und die offizielle Biographie seiner Person reproduzieren. Neben dem immer wieder inszenierten Wissensvorsprung sind es vor allem Eigenschaften wie Entschlossenheit, Disziplin, politische und militärische Weitsicht und sein unerschütterlicher Glaube an den Sieg der Revolution, die diese Darstellung rechtfertigen.1070 Sie werden mit dem erneuten Rollenwechsel aktualisiert und auf die Figur Stalins übertragen. Damit offenbart die Erzählung eine Darstellungstechnik, die die Auswahl der verschiedenen Merkmalkomplexe dem Zweck der jeweiligen Szene unterordnet und ausschließlich danach entscheidet, welche Eigenschaften das jeweils aktuelle Rollenprofil Stalins repräsentieren können. Die literarische Darstellung seiner Figur verfährt so nach dem Prinzip der Merkmalwiederholung und Merkmalakkumulation, die durch die Rekurrenz immer gleicher Stereotype als scheinbar authentische vorgeführt werden sollen.1071 Die literarische Repräsentation Stalins beruht darauf, daß ein zuvor angelegter Satz an distinktiven Merkmalen in die Sujetkonstruktion der Erzählung übertragen und dort als vermeintlich authentischer dargestellt wird. Ob diese Übertragung in die ‚Substrukturen’ der Erzählung tatsächlich dazu führt, die Redundanz der Figurengestaltung zu verringern und die Informativität des Textes zu erhöhen, scheint fraglich. Es ist aber eine der wichtigsten Aufgaben der Erzählung, diese Redundanz zu verbergen und durch die Überlagerung von Handlung und Figur mit einer neuen Informativität aufzuladen.1072 Dabei werden die bisher konfigurierten Eigenschaften Stalins durch zwei weitere Merkmalkomplexe ergänzt. Sie beziehen sich auf das taktische und strategische Wissen seiner Person und fügen ein semantisches Profil in die Erzählung ein, das seine Darstellung als militärischer Führer vervollständigt. Sie werden im Verlauf des Kapitels den persönlichen Eigenschaften seiner Figur hinzugefügt und sollen die offizielle Inszenierung seiner Person bestätigen. Durch den Wechsel von einem narrativen zu einem szenischen Darstellungsmodus können sie im Text vergegenwärtigt und als vermeintlich authentische Eigenschaften vorgeführt werden.1073 Die direkte Rede dient so auch hier dazu, die literarische Gestaltung Stalins zu verdecken und seine mythisch überhöhte Identität durch eine nachträglich inszenierte Mündlichkeit zu verifizieren. 3.9.5 Imaginäres Handeln Da die Rede der literarischen Figuren aber nicht allein im Dienst ihrer indirekten Charakterisierung steht, sondern sich immer auch auf die sie umgebende Situation be- бы проиграть ту же драму, что и их носителя. За этим стоит, во-первых, мифологическое отождествление имени и его носителя, во-вторых, представление о возможности почти самостоятельного функционирования имени.» (Papernyj 1985, 151) 1070 Vgl. hierzu die offiziellen Darstellungen seiner militärischen Leistungen in Vorošilov 1930, 62ff., Blumental’ 1933, 149ff., Gurov 1937, 209ff., Boltin 1940, 274ff. und Vorošilov 1940, 34ff. Diese Eigenschaften werden auch in die offizielle Biographie übernommen: Kurze Lebensbeschreibung 1945, 37f. sowie Jaroslavskij 1941, 88ff. 1071 Vgl. hierzu Bal 1985, 85f. 1072 Zu diesem Problem vgl. Lotman 1973, 381ff. 1073 Zu dieser Funktion der direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f., Tomaševskij 1967, 153 und Hamburger 1987, 77f. Stalin an der Südfront: Textanalyse 218 zieht,1074 kommt dem Monolog noch eine weitere Funktion zu. Er stellt eine unmittelbare Beziehung zwischen Handlung und Figur her und zeigt, daß Stalin mit seinem Handeln unmittelbar in den Verlauf des Bürgerkriegs eingreift. Der Monolog dient somit auch dazu, eine äußere Handlung zu fingieren, die Stalins Darstellung als Oberkommandierender an der Südfront rechtfertigt und als scheinbar wahre Überlieferung vorstellt.1075 Im Unterschied zu den vorhergehenden Erzählabschnitten wird diese Handlung jedoch nicht in einer eigenständigen Erzählsequenz bestätigt, sondern allein in der Figurenrede Stalins vermittelt. Dadurch wird eine imaginäre Handlung konstruiert, die seine Darstellung als Oberkommandierender an der Südfront veranschaulicht und in seiner eigenen Rede verankert. Die Überlegenheit seiner Figur ist so in einer performativen Kraft seiner Rede begründet, die dadurch unterstrichen wird, daß die im Text vermittelten Ereignisse nicht durch eine eigenständige Handlung beglaubigt werden müssen.1076 Durch ihre Brechung in der Figurenrede Stalins kommt ihnen eine legitimatorische Funktion zu, die nicht darauf abzielt, die Ereignisse als solche zu schildern, sondern darauf, sie in die Figurenperspektive Stalins einzutragen. Der Wechsel von einer narrativen zu einer monologischen Ereigniskonstruktion ermöglicht es so, eine Verbindung zwischen Wort und Tat herzustellen, die Stalins Aura als genialer Feldherr untermauert und als historisch überlieferte präsentiert. 3.9.6 Gründung der Roten Armee Die Figurenrolle Stalins wird aber nicht allein durch die formale Gestaltung seiner Figurenrede legitimiert. Sie wird auch durch den Inhalt seiner Rede bestätigt. Im Mittelpunkt seines Monologs steht die Gründung der Roten Armee, die eins der wichtigsten Mythologeme des offiziellen Stalinkults in den Text der Erzählung einträgt. Sie dokumentiert ein militärisches Wissen, das seine Darstellung als militärischer Führer authentifiziert und ihm eine militärische Genialität attestiert, die in allen offiziellen Darstellungen vorgeschrieben wird. Damit greift der Erzählung einen Abschnitt aus der militärischen Biographie Stalins auf, der ihn endgültig zum dominierenden Charakter der Erzählung werden läßt. Die Gründung der Roten Armee wird zur mythischen Handlung, die seine Identität als Oberbefehlshaber rechtfertigt und sowohl seine historische als auch seine literarische Darstellung fundiert. Sie wird in den Handlungszusammenhang der Szene eingefügt und als scheinbar authentische Darstellung präsentiert. Dadurch kann die Erzählung eine Rollenkonfiguration beglaubigen, die eigentlich im Propagandaapparat des offiziellen Stalinkults entsteht. Sie kann durch die direkte Rede auf die Figur Stalins übertragen und so als scheinbar authentisches Wissen dargestellt werden. Durch die Überlagerung von Figurenrede und Handlung wird also eine Hand- Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 150f. sowie Lämmert 1967, 207ff. und Hamburger 1987, 157ff. Vgl. hierzu Hamburger 1987, 157ff. sowie Červenka 1978, 122f. und Lämmert 1967, 210, der diese Funktion der direkten Rede folgendermaßen zusammenfaßt: „Allen diesen Stilmitteln liegt die mediale Macht des gesprochenen Wortes zugrunde, disparate Vorgänge dem Erzählfluß einzuverleiben, Fernabliegendes zu aktualisieren und gleichzeitig mit der Vorgangswiedergabe die Charakterzeichnung zu verbinden.“ 1076 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 207ff., der die Bedeutung der Rede darin sieht, daß sie sowohl zur Ordnung und Schürzung der äußeren Handlung als auch zur Charakterisierung der einzelnen Figuren dient. Hamburger 1987, 157ff. bestätigt diese doppelte Funktion des Dialogs, indem sie ihm sowohl eine repräsentative als auch eine schildernde Bedeutung zuweist. 1074 1075 Stalin an der Südfront: Textanalyse 219 lungsfunktion inszeniert, die die rein imaginäre Biographie Stalins bestätigt und durch ihre literarische Verdoppelung verifiziert. Da die Gründung der Roten Armee eigentlich auf einen Befehl Trockijs zurückgeht, dient diese Inszenierung nicht zuletzt dazu, eine Darstellung zu rechtfertigen, die anhand des historischen Materials nicht rekonstruiert werden kann. 3.9.7 Rekonstruktion einer mythischen Identität Doch bevor Stalin seinen Vorschlag zur Gründung der Roten Armee formuliert, werden noch einmal alle Eigenschaften in das semantische Profil seiner Figur eingetragen, die ihn in seiner Rolle als Oberkommandeur der Streitkräfte charakterisieren. Sie werden in den einzelnen Abschnitten seiner Rede vergegenwärtigt und sollen als vermeintlich authentische dargestellt werden. Der erste Abschnitt bezieht sich auf die Lage der Bauern am Don. Stalin informiert die anwesenden Kommandeure darüber, daß diese das Getreidemonopol der Regierung boykottieren und zu den konterrevolutionären Einheiten überlaufen. Dieser Abschnitt zeigt, daß Stalin über die Lage im Hinterland informiert ist und weiß, das die Bauern gegen die Zwangsrequirierungen von Brot und Getreide rebellieren. Damit wird ihm ein Wissen attestiert, das seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und in einem scheinbar authentischen Wissen begründet. Da dieser Konflikt in den vorhergehenden Erzählabschnitten ausführlich dargestellt worden ist, scheint seine Rede ein Wissen zu repräsentieren, das im internen Verweissystem der Erzählung bewahrheitet wird. Da zu diesem Zeitpunkt aber nur der Leser über dieses Wissen verfügt, kann er den nachträglich inszenierten Informationsvorsprung Stalins entdecken und in eine qualitative Eigenschaft seiner Figur verwandeln. Dadurch wird eine Überlegenheit Stalins in Szene gesetzt, die den Mythos seiner Allwissenheit bestätigt und aus dem internen Relationsgefüge der literarischen Figuren auf die Beziehung von Leser und Figur überträgt. Dieser Abschnitt verweist aber auch auf die Bedeutung, die Stalin der Organisation des Hinterlandes beimißt und greift damit eins der zentralen Elemente auf, die im offiziellen Stalinkult das militärische Können Stalins begründen. In der offiziellen Stalinbiographie wird die einheitliche Organisation des Hinterlandes zur entscheidenden Voraussetzung für den Sieg der Roten Armee und verdeutlicht so ein strategisches Wissen Stalins, das seine Eignung zum militärischen Führer dokumentiert.1077 So wird in seiner Rede ein Wissen transportiert, das einzig dazu dient, die offizielle Mythographie seiner Person zu bestätigen. Durch die Überlagerung von Handlung und Figurenrede kann dieses Wissen in der Figurenperspektive Stalins verankert und als historisch überliefertes Wissen vorgestellt werden. Die Rede über die militärische Lage trägt so zu einer indirekten Charakterisierung Stalins bei, die durch die äußere Handlung seiner Figur konkretisiert wird: «-... Справной мужик в октябре дрался за советскую власть. Теперь он повернул против нас. Справной мужик повернул против нас потому, что он ненавидит хлебную монополию, твердые цены, реквизицию и борьбу с мешочнисеством... И вот – результаты... (Он указал циркулем на карту около Поворина). На северном участке у нас в частях Миронова – развал, несколько его конных полков перебежало к Краснову.» (Tolstoj Chleb 1937, 144) Zu diesem Wissen Stalins vgl. Vorošilov 1930, 64 sowie Blumental’ 1933, 158ff., Boltin 1940, 283ff. und Vorošilov 1940, 39. 1077 Stalin an der Südfront: Textanalyse 220 Auch der zweite Abschnitt dient ausschließlich dazu, die Rolle Stalins als militärischer Führer zu authentifizieren. Dieser bezieht sich auf die Stärke der feindlichen Truppen und zeigt, daß Stalin sowohl über die Zahl der Soldaten und die Art ihrer Bewaffnung informiert ist als auch über die militärische Ausbildung seiner Feinde.1078 Dadurch wird seine Figur mit einem Wissen ausgestattet, das allen anderen Figuren fehlt und seine Position in der Figurenkonstellation der Szene legitimiert.1079 Seine Forderung nach einer besseren ideologischen Schulung der Soldaten verweist dabei auf einen weiteren Aspekt, der im offiziellen Stalinkult die militärische Kompetenz seiner Person unter Beweis stellt. Mit dieser Forderung greift die Erzählung eine Darstellung auf, die in dem 1939 erschienenen Text «Сталин и строительствo Красной Армии» von Kliment Vorošilov endgültig in das offizielle Bild seiner militärischen Führerschaft eingetragen wird.1080 Sie bezieht sich auf die Bedeutung, die Stalin dem politischen Apparat der Roten Armee beimißt. Folgt man den Angaben Vorošilovs, repräsentiert der Politapparat für Stalin eine besondere Art der Waffe («особая 'рода оружия'»), welche die Rote Armee von allen anderen Armeen unterscheidet und zu einem der wichtigsten Faktoren für die moralische und militärische Kampfbereitschaft der Soldaten wird. In den Texten Stalins wird der Sieg in einer Schlacht nicht nur durch die militärische Überlegenheit entschieden, sondern auch durch die moralische Verfassung der Soldaten. Die Sorge Stalins um die politische und ideologische Schulung der Roten Armee repräsentiert so ein strategisches Wissen, das die offizielle Darstellung seiner Person wiederholt und den nachträglich kanonisierten Mythenkomplex als vermeintlich authentische Darstellung ausgibt. Dadurch, daß diese Forderungen aus den Schriften Stalins in die direkte Rede seiner Figur übertragen werden, können sie als Wissen in Szene gesetzt werden, das nicht mehr rein diskursiv, sondern scheinbar faktisch überliefert ist: «Краснов сейчас сильнее нас, - это нужно признать, - и численностью и вооружением. Он ведет свою агитацию. А наши четыре штаба никакой агитации не ведут и предоставляют Краснову отрывать от нас колеблющиеся массы. У нас армии нет.» (Tolstoj Chleb 1937, 144) Gleichzeitig wird in diesem Teil des Monologs ein Mangel in der Organisationsstruktur der revolutionären Einheiten aufgedeckt, der im weiteren Verlauf der Szene zur Motivation für die Gründung der Roten Armee ausgebaut wird.1081 Sie trägt einen weiteren Aspekt in das semantische Profil seiner Figur ein und dient ebenfalls dazu, die offizielle Repräsentation seiner Person zu beglaubigen. Der so inszenierte Wissensvorsprung wird im nächsten Abschnitt noch einmal bestätigt. Auch in diesem Teil des Monologs beruht die Überlegenheit Stalins darauf, daß er über Auch diese Darstellung bezieht sich auf die offizielle Mythographie und wird über die kanonischen Texte in das semantische Profil seiner Figur eingetragen: Vgl. hierzu Vorošilov 1940, 38f. sowie die Kurze Lebensbeschreibung 1945, 37, in der es heißt: „Er durchschaute und durchkreuzte die geschicktesten und heimtückischsten strategischen Pläne der Feinde und warf ihre gesamte Kriegswissenschaft, Kriegskunst und Kriegserfahrung über den Haufen.“ 1079 Vgl. hierzu Lotman 1973, 398ff. sowie Červenka 1978, 120f und Genette 1994, 132ff. 1080 Vorošilov 1940, 45f. Gleichzeitig wird Stalin zum idealen Politkommissar verklärt: «У него, у Сталина, должны мы учиться великому искусству политического руководство войсками.» (Vorošilov 1940, 45) 1081 Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 64f., Blumental’ 1933, 164ff., Boltin 1940, 282f. sowie Vorošilov 1934, 36ff. Auch diese Identität wird in der offiziellen Biographie Stalins bestätigt: Kurze Lebensbeschreibung 1945, 30 sowie Jaroslavskij 1941, 93 und 98. 1078 Stalin an der Südfront: Textanalyse 221 die militärische Lage seiner Gegner informiert ist und ihre militärischen Absichten durchschaut. Damit wird die Darstellung seiner Figur durch einen nachträglich inszenierten Informationsvorsprung authentifiziert, der die bereits mehrfach inszenierte Dominanz seiner Figur weiter ausbaut. Der inhaltlich begründete Wissensvorsprung wird durch eine formale Figurencharakterisierung verstärkt. Dazu wird die literarische Repräsentation Stalins in diesem Teil seiner Figurenrede in unmittelbarer Abgrenzung zu dem militärischen Stab konfiguriert.1082 Sie beruht auf einer diskrepanten Informiertheit der Charaktere, die auch hier dazu dient, seine Darstellung als militärischer Führer zu rechtfertigen.1083 Die Legitimation seiner Figurenrolle geht auch in diesem Erzählabschnitt auf eine nachträglich perspektivierte Informationsvergabe zurück, die seine Figur im Handlungszusammenhang der Szene positioniert und ihr semantisches Profil konkretisiert. Da diese Abgrenzung in die Figurenrede Stalins eingebunden wird, bestätigt sie ein Wissen, das seine Überlegenheit im semantischen Profil seiner Figur begründet und daraus eine Legitimation seiner Figurenrolle ableitet, die durch die kontrastive Perspektivierung bestätigt wird: «По сведениям этих дней, Добровольческая армия Деникина, о которой упроно ничего не знают наши военные специалисты, покинула Мечетинскую и Егорлыцкую станицы и развивает успешные операции на стыке Дона и Кубани. Вне всякого сомнения, Деникин направит удары на железнодорожные узлы – Торговую и Тихорецкую – и будет пытаться отрезать от нас группу Калнина и приморскую группу Сорокина. Кроме Красного, мы получаем нового врага: офицерская Добровольческая армия снабжается Антантой, хорошо обучена и пронизана классовой ненавистью. Это опасный враг.» (Tolstoj Chleb 1937, 144) Der nächste Abschnitt bezieht sich dann auf die Führungsschwäche in den eigenen Reihen. Dazu inszeniert die Rede Stalins einen Mangel, der sowohl die Rollenkonfiguration als auch die nachfolgende Darstellung seiner Figur motiviert.1084 Dem Abschnitt kommt dabei eine doppelte Funktion zu: Während das Chaos in der Führungsstruktur der revolutionären Verbände eine Leerstelle inszeniert, die erst durch die Ernennung Stalins zum Oberkommandierenden der Südfront behoben werden kann, schafft sie auf der anderen Seite einen Handlungszusammenhang, der seine Forderung nach einer regulären Armee im Kontext der historischen Ereignisse begründet.1085 Durch diese Verknüpfung von Handlung und Figur ist es möglich, die von Stalin vorgenommene Gründung der Roten Armee als militärische Entscheidung darzustellen, die seine Identität als militärischer Führer rechtfertigt und den Mythos von seinem militärischen Genie literarisch verbürgt. Die Imagination seiner militärischen Führerschaft beruht so auf einem literarischen Verweissystem, das Handlung und Figurenrede aufeinander bezieht und die offizielle Repräsentation seiner Person dadurch legitimiert. Erst durch diese Überschneidung von Figurenrede und imaginärer Handlung kommt es zu einer Identität von historischem und literarischem Diskurs, die das Handeln Stalins rechtfertigt und als vermeintlich authentisches präsentiert. Auch die so Zur Bedeutung der Figurenrelation vgl. Lotman 1973, 376 sowie Červenka 1978, 120f. und Bal 1985, 79ff. 1083 Zur nachträglichen Perspektivierung des Erzählten vgl. Genette 1994, 132ff. sowie Lotman 1973, 398ff. und Bal 1985, 104f. 1084 Vgl. hierzu Stückrath 1990, 286ff. sowie Lotman 1973, 360ff. Vgl. hierzu aber auch Boltin 1940, 279f., der diesen Handlungszusammenhang bestätigt und in das offizielle Gedächtnis der Stalinbiographie einträgt. 1085 Zu dieser Überlagerung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154 sowie Lotman 1973, 365f. und Červenka 1978, 122f. 1082 Stalin an der Südfront: Textanalyse 222 hergestellte Handlungsfunktion wird in dem 1939 erschienenen Text «Сталин и строительство Красной Армии» übernommen und durch eine weitere Überblendung von Handlung und Figur offizialisiert: «Нельза отделить историю и строительство вооруженных сил Советского государства от Сталина. Нельзя говорить и писать о Сталине, чтобы не говорить и не писать о героической истории и героических битвах Красной Армии так же, как нельзя говорить и писать о Красной Армии, чтобы не говорить и не писать о Сталине [...].» (Vorošilov 1940, 32) Die direkte Rede dient so dazu, eine Ereigniskonstruktion zu rechtfertigen, die den Mythos von der militärischen Begabung Stalins beglaubigt und in die Perspektive seiner eigenen Figur verlegt.1086 Seine Figur erscheint damit nicht nur als militärischer Führer, der über alle Bewegungen an der Front informiert ist, sondern auch als Führer, der aktiv in die Lösung des militärischen Konflikts eingreift.1087 Seine Rede dokumentiert damit ein strategisches Wissen, das auf der Grundlage eines nachträglich hergestellten Bezuges von Handlung, Rede und Figur seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt. 3.9.8 Literarische Identitätsstiftung Die von Stalin vorgenommene Gründung der Roten Armee markiert einen weiteren Höhepunkt in der Gestaltung seiner Figur. Sie faßt die Eigenschaften der vorhergehenden Szenen zusammen und verdichtet sie zu einer Figurenrolle, die seine Initiation in das Amt des Oberkommandierenden an der Südfront rechtfertigt. Darüber hinaus wird seine Figur mit einer Reihe von Charaktereigenschaften ausgestattet, die ihr semantisches Profil vervollständigen. Sie dienen auch hier dazu, die Entschlossenheit und die Durchsetzungsfähigkeit seines Handelns zu belegen und ein semantisches Profil zu konfigurieren, das die Darstellung Stalins in einem scheinbar authentischen Persönlichkeitsprofil verankert. So kann durch die Überlagerung von Handlung und Figurenrede ein Persönlichkeitsbild erstellt werden, das das offizielle Stalinbild bestätigt und in einer Reihe von Eigenschaften begründet, die seine nachträgliche Überhöhung rechtfertigen. Auch diese Eigenschaften werden über die direkte Rede im Text vergegenwärtigt und können so als vermeintlich authentische vorgestellt werden:1088 «У нас все еще не могут изжить отрядный способ ведения войны, и не изживают умышлению. Смотреть сквозь пальцы на отрядную неразбериху, терпеть это головотяпство, - если это не простое предателсьтво, - значит, капитулировать. Со всей решимостью, в кратчайший срок, мы должны сформировать из отрядов крупные соединения, подчинить их единому командованию, преданному революции, - должны создать регулярную армию...» (Tolstoj Chleb 1937, 144)1089 Zu dieser doppelten Funktion der direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 209ff. sowie Hamburger 1987, 157ff., Bal 1985, 148f. und Mukařovký 1967, 115f., der das Verhältnis der sprechenden Subjekte, das Verhältnis der Gesprächsteilnehmer zur gegenständlichen Situation und den semantischen Aufbau zu den Grundfunktionen des Dialogs zählt. 1087 Diese Handlungsfunktion wird bereits in dem 1929 erschienenen Text «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov vorgegeben: «В период 1918-1920 гг. Т. Сталин являлся, пожалуй, единственным человеком, которого Центральный комитет бросал с одного боевого фронта на другой, выбирая наиболее опасные, наиболее страшные для революции места. [...] [Т]ам, где в силу целого ряда причин трещали красные армии, где контрреволюционные силы, развивая свои успехи, грозили самому существованию советской власти, где смятение и паника могли в любою минуту превратиться в беспомощность, катастрофу, - там появляется т. Сталин.» (Vorošilov 1930, 44f.) 1088 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f. 1089 Offiziell wird die Rote Armee durch ein Dekret vom 15. Januar 1918 gegründet. Zu ihrem Oberbefehlshaber wird der Volkskommissar für Kriegsangelegenheiten – Lev Trockij – ernannt: Vgl. hierzu das Gründungsdekret in Wade 1991, 92f. In einem Telegramm vom 15. August 1918 fordert Trockij 1086 Stalin an der Südfront: Textanalyse 223 Mit dem Gründungsakt der Roten Armee inszeniert die Erzählung eine Handlung, die den Mythos von der militärischen Führerschaft Stalins beglaubigt und in seiner eigenen Rede verbürgt. Sie wird als rein imaginäre Handlung im Text vergegenwärtigt und durch die performative Kraft seiner Worte realisiert. So wird seine Identität als militärischer Führer durch eine nachträglich konfigurierte Handlung bestätigt, die die Mythenkonstruktion des offiziellen Stalinkults verdeckt und durch eine scheinbar konkrete Handlung ersetzt. Im nachfolgenden Abschnitt zählt Stalin dann die Einheiten auf, die für die Gründung der Roten Armee zur Verfügung stehen. Dadurch wird seine Figur erneut mit einem Wissen ausgestattet, das seine Identität als Oberkommandierender rechtfertigt. Dieses Wissen bezieht sich auch diesmal nicht allein auf die Stärke, Lage und Kampfbereitschaft der einzelnen Verbände sondern auch auf die moralische und politische Verfassung der Soldaten. Mit dieser Aufzählung wird ein doppelter Mythenkomplex aktiviert: einerseits wird die Sorge Stalins um seine Soldaten illustriert und andererseits sein Wissen um die Stärken und Schwächen der eigenen Armee dokumentiert.1090 Damit dient auch dieser Abschnitt vor allem dazu, die offizielle Repräsentation seiner Figur zu beglaubigen und in einem scheinbar faktischen Wissen zu begründen.1091 Dieser Anspruch auf Authentizität wird einmal mehr durch die direkte Rede in den Text übertragen. Sie kann die Aufzählung Stalins bekräftigen und als scheinbar authentisches präsentieren. Da Stalin über ein Wissen verfügt, das allen anderen Figuren fehlt, stattet ihn die Szene mit einem Informationsmonopol aus, das seine Position in der hierarchischen Figurenkonstellation rechtfertigt. Seine Rede wird zum narrativen Bericht, der seine Identität bestätigt und durch den situativen Kontext legitimiert. Der nächste Abschnitt greift dann noch einmal den Konflikt mit den lokalen Behörden und dem Revolutionären Kriegsrat auf. Er wird in die Rede Stalins übertragen und zu einem Konflikt ausgebaut, der nicht nur den politischen sondern auch den militärischen Sieg der revolutionären Einheiten verhindert. Der politische Konflikt wird so zu einem militärischen ausgeweitet, der auch die Handlungsfunktion Stalins ausbaut und auf die Aufdeckung des konterrevolutionären Verrats ausdehnt.1092 Damit wird eine Verdichtung des Erzählten vorgenommen, die seine Figur in den übergeordneten Zusammenhang der Erzählung einbezieht und zugleich die nachfolgende Handlung antizipiert.1093 Durch die Überlagerung von militärischem und politischem Konflikt eine straffere Organisation der revolutionären Einheiten, da ihre Kommandostrukturen zu schwach seien und die kämpfenden Einheiten durch Desertion und Chaos geschwächt würden. Bereits eine Woche später fordert er eine Reorganisation der Kommandostrukturen, die stärker integriert und einem einheitlichen Kommando unterstellt werden sollen: vgl. hierzu Wade 1991, 208f. und 212f. In dem 1930 erschienenen Text «Сталин и Красная Армия» fehlt der Mythos von der Gründung der Roten Armee. Er wird erst zu Stalins sechzigstem Geburtstag in das offizielle Gedächtnis des Stalinkults eingetragen: Vorošilov 1940, 32ff. 1090 Tolstoj Chleb 1937, 144f. Vgl. hierzu auch Blumental’ 1933, 156ff. sowie Boltin 1940, 279ff. und Vorošilov 1940, 38ff. 1091 Da dieser Abschnitt fast ausschließlich aus einer Aufzählung der verschiedenen Einheiten besteht, die in den Verband der Roten Armee aufgenommen werden sollen und weder für die weitere Darstellung Stalins noch für den weiteren Verlauf der Handlung von Bedeutung sind, soll auf ein ausführliches Zitat verzichtet werden: Tolstoj Chleb 1937, 144f. 1092 Zur Konfliktrelevanz als konstitutives Element der Figurengestaltung vgl. Tomaševskij 1967, 152 sowie Veldhues 1997, 56ff. 1093 Zur Überlagerung von Handlung und Figurenrolle vgl. Červenka 1978, 122f. sowie Tomaševskij 1967, 154f. und Lotman 1973, 365f. Stalin an der Südfront: Textanalyse 224 bereitet der Abschnitt einen Konfigurationswechsel seiner Figurenrolle vor, der im weiteren Verlauf der Erzählung vorgenommen wird. Dieser zeigt ihn in seiner doppelten Identität als militärischer und politischer Führer und fügt die beiden Mythenkomplexe zu einer virtuellen Person ‚Stalin’ zusammen. Die in diesem Teil der Erzählung vorgenommene Inszenierung wird dadurch gerechtfertigt, daß das Handeln Stalins in der Figurenperspektive Lenins bestätigt wird.1094 Diese wird als indirekte Rede in die Figurenrede Stalins eingebaut und dient ausschließlich dazu, die zuvor angelegte Darstellung Stalins zu bestätigen. Durch die wechselnde Perspektivierung wird eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven inszeniert, die auch hier die literarische Repräsentation seiner Figur beglaubigt und durch die (literarische) Autorität Lenins verstärkt. Dadurch wird eine Darstellung Stalins legitimiert, die seine Darstellung als zentraler Charakter rechtfertigt und in der Figurenperspektive Lenins verankert: «Вот из чего мы можем создавать костяк армии. Придется ломать сопротивление военных чиновников, они будут жаловаться в Моску, и будут пакостить нам основательно. Придется, может, быть, вступить в конфликт с Высшим военным советом. Но и там мы сломим, - нам поможет Владимир Ильич.» (Tolstoj Chleb 1937, 145) Das Ende des Monologs dient noch einmal dazu, Stalins militärisches Genie zu dokumentieren: er ernennt Kliment Vorošilov zum Kommandanten der Roten Armee und beauftragt ihn mit der Aufstellung der neugegründeten Einheit. Dadurch wird seine Figur mit einer Befehlsgewalt ausgestattet, die sein Amt als Oberkommandeur der Streitkräfte rechtfertigt und sie abschließend in der Figurenhierarchie der Szene positioniert. Sein Amt als Oberkommandierender wird durch die Ernennung Vorošilovs in eine konkrete Handlung überführt und so nachträglich authentifiziert: «Формирование новой Красной Армии, – это будет 10-я армия, - не так ли? – Вы возьмете на себя, Климент Ефремович.» (Tolstoj Chleb 1937, 145) 3.9.9 Die nachgeordneten Charaktere Diese Darstellung wird durch die äußere Handlung Vorošilovs beglaubigt. Sie zeigt, wie er vor Stalin salutiert, als er dessen Befehl entgegennimmt. Damit wird eine äußere Handlung inszeniert, die die Darstellung Stalins rechtfertigt und durch das vermeintlich authentische Verhalten Vorošilovs verifiziert:1095 «У Ворошилова вспыхнули скулы. Снял руки со стола, строго подобрасля.» (Tolstoj Chleb 1937, 145) Die Darstellung Stalins beruht damit einmal mehr auf einer gegenseitigen Bespiegelung der literarischen Charaktere, deren wichtigste Funktion darin besteht, das semantische Profil seiner Figur zu rechtfertigen.1096 Erst durch die Darstellung Vorošilovs wird die zuvor angelegte Figurenkonzeption aus der Figurenperspektive Stalins befreit und zu einer eigenständigen Rolle ausgebaut. Die wechselnde Perspektivierung erweist sich so als zentrales Verfahren, um die Figurenrolle Stalins zu beglaubigen und durch ihre Brechung in der Wahrnehmung der nachgeordneten Charaktere zu objektivieren. Damit findet ein erneuter Wechsel in der Perspektivierung seiner Figur statt: war sie bis dahin Träger der (Figuren)Perspektive erscheint sie nun als fokussiertes Objekt, deren Darstellung durch den Rückgriff auf die Figurenperspektive Lenins legitimiert werden kann: vgl. hierzu Bal 1985, 104f. sowie Lotman 1973, 380f. und Tomaševskij 1967, 153. 1095 Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die Figurencharakteristik vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118 und Bal 1985, 79ff. 1096 Lotman 1973, 376 sowie Červenka 1978, 121f. 1094 Stalin an der Südfront: Textanalyse 225 Diese Funktion kommt auch der abschließenden Bemerkung Parchomenkos zu. Seine Replik zeigt, daß er die Entscheidung Stalins akzeptiert und damit die zuvor eingesetzte Figurenrolle affirmiert. Damit wird eine Übereinstimmung ihrer Figurenperspektiven inszeniert, die die offizielle Repräsentation Stalins bestätigt und durch ihre Spiegelung in der Figurenperspektive Parchomenkos rechtfertigt.1097 Da diese Bestätigung als direkte Rede im Text erscheint, trägt sie dazu bei, die zuvor inszenierte Darstellung seiner Figur zu beglaubigen und die bis dahin lediglich indirekt eingesetzte Wahrnehmungsperspektive zu explizieren: «Пархоменко пробасил в усы: - Правильное решение.» (Tolstoj Chleb 1937, 145) 3.9.10 Rede und Befehl Die so inszenierte Darstellung wird durch den abschließenden Befehl Stalins offizialisiert. Er fordert die einzelnen Einheiten auf, sich zu einer einheitlichen Armee zusammenzuschließen und sich dem Befehl Vorošilovs zu unterstellen. Mit diesem Befehl ist die Gründung der Roten Armee vollzogen und der zuvor inszenierte Mangel behoben. Dadurch wird die Rede Stalins mit einer Autorität ausgestattet, welche die zuvor angelegte Handlungsfunktion aufgreift und im literarischen Text vergegenwärtigt. Sie dient auch hier dazu, ein Handeln zu dokumentieren, das seine rein virutelle Identität realisiert. Wie in den vorhergehenden Erzählabschnitten wird die Handlungsfunktion seiner Figur auch hier durch einen Wechsel der unterschiedlichen Textarten verdeutlicht. Während seine mündliche Rede die offizielle Identität seiner Figur rekonstruiert und eine scheinbar authentische Figurenperspektive inszeniert, dienen Telegramm und Befehl dazu, sie in einem offizialisierten Sprechakt zu begründen. Der Text präsentiert sie als historische Dokumente, die die offizielle Repräsentation seiner Figur beglaubigen und in einer überlieferten Dokumentation begründen. Die Inszenierung Stalins beruht so nicht zuletzt auf einer unterschiedlich institutionalisierten Schrift, die seine Darstellung als Oberkommandierender an der Südfront begründet und durch ihre gegenseitige Bestätigung authentifiziert: «Двадцать пятого июня на фронте – в окопах, по эшелонам, во всех обозах, на большом армейском митинге, в поле перед станцией Кривая Музга – был прочитан приказ: 'Все оставшиеся части бывших 3-й и 5-й армий, части бывшей армии царицынского фронта и части, сформированные из населения Морозовского и Донецкого округов, объединить в одну группу, командующим которой назначается бывший командующий 5-й армией товарищ Климент Ефремович Ворошилов. [...] Приказ был подписан народным комиссаром Сталиным.» (Tolstoj Chleb 1937, 145) 3.10 Stalin und Vorošilov inspizieren die Front 3.10.1 Überfall auf offener Strecke Die nächste Szene, in der Stalin auftritt, findet sich bereits im übernächsten Unterkapitel. In diesem Erzählabschnitt sieht man, wie er zusammen mit Vorošilov in einem Panzerzug die verschiedenen Frontabschnitte inspiziert. In diesem Kapitel wird eine Handlung imaginiert, die in keiner der offiziellen Vorlagen beschrieben ist. Der 1929 erschienene Text «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov weist zwar 1097 Vgl. hierzu Lotman 1973, 398ff. sowie Červenka 1978, 121f. Stalin an der Südfront: Textanalyse 226 darauf hin, daß Stalin die revolutionären Einheiten nicht nur von seinem Hauptquartier aus befehligt, sondern sich selbst an die Front begibt. Für die im Verlauf dieses Unterkapitels geschilderte Inspektionsfahrt existiert jedoch keine konkrete Vorlage, die zu einer eigenständigen Erzählsequenz hätte ausgebaut werden können: «Руководство т. Сталина не ограничивается кабинетом. Когда необходимый порядок наведен, когда восстановлена революционная огранизация, он отправляется на фронт, который к тому времени растянулся на 600 километров слишком.» (Vorošilov 1930, 50) Der literarischen Erzählung kommt so die Aufgabe zu, eine Handlung zu fingieren, die in der offiziellen Geschichtsschreibung zwar kanonisiert, aber nicht mit konkreten Ereignissen ausgestattet worden ist. Sie übernimmt eine kompensatorische Funktion, die die Lücke im historischen Diskurs schließt und die offizielle Darstellung Stalins durch eine nachträglich inszenierte Handlung ergänzt.1098 Daß die Erzählung damit keine rein illustrative Funktion übernimmt, sondern selbst an der Mythenbildung des Stalinkults teilnimmt, soll im folgenden gezeigt werden. Die Erzählung stellt einen Handlungszusammenhang her, der es erlaubt, Stalins Einsatz an der Front zu beschreiben und über den Umweg einer literarischen Handlung zu dokumentieren. Sie wird allein durch die Verfahren der literarischen Figurengestaltung realisiert und zur Widerspiegelung einer historischen Vergangenheit verdichtet. Da ihr die Legitimation einer offiziellen Vorschrift fehlt, wird sie zur Textur, deren nachträglich konstruierte Realität ausschließlich durch die Kompositionsstruktur des Textes legitimiert wird.1099 Damit wird spätestens in diesem Teil der Erzählung deutlich, daß es sich bei der literarischen Rekonstruktion Stalins nicht um die Widerspiegelung seiner tatsächlichen Person handelt, sondern um eine literarische Konstruktion, die seine im offiziellen Stalinkult kanonisierte Darstellung durch ihre literarische Verdoppelung ersetzen soll. Nur unter dem Dogma des Realen kann sie als Repräsentation einer Wirklichkeit gelesen werden, die dem Darstellungsauftrag der Erzählung entspricht und die im Text geschilderten Ereignisse als Widerspiegelung einer historisch überlieferten Person ‚Stalin’ versteht.1100 Seine Figur erweist sich so als literarischer Charakter, dessen Identität in diesem Teil der Erzählung nicht über die Entgrenzung von offizieller und literarischer Repräsentation authentifiziert werden kann, sondern allein durch die binnensemantischen Bezüge des Erzählten. Die Identität zwischen realer und nachträglich inszenierter Person wird auch in dieser Erzählsequenz durch den Namen Stalins gestiftet. Er fungiert einmal mehr als Zeichen, das reale und literarische Figur aufeinander projiziert und so den Abbildungsauftrag der Erzählung legitimiert. Er trägt einen Satz semantischer Merkmale in den Text der Erzählung ein, der die Darstellung Stalins reguliert und es ermöglicht, Urbild und Abbild aneinander anzugleichen. Sein Name wird zur Abbreviatur, die die Darstellung seiner Zu dieser Funktion historischer Romane vgl. Aust 1994, 10ff. und 17ff. sowie Schörken 1981, 110ff., Ricoeur 1991, 253ff., Lützeler 1989, 13ff., Jauß 1984, 325ff. und Hamburger 1987, 101ff. 1099 Vgl. hierzu Červenka 1978, 118ff. sowie Lotman 1973, 358ff. und 377ff. und Tomaševskij 1967, 152. Daß es sich auch bei der nachträglichen Rekonstruktion historischer Ereignisse nur um eine literarische Fiktion handelt, zeigt Hamburger 1987, 101ff. 1100 Vgl. hierzu auch die in den offiziellen Rezensionen immer wieder hergestellte Referenz zwischen Figur und Person: Alpatov 1955, 88ff., Čarnyj 1939, 84ff., Sejfullina 1949, 173 sowie Čeremin 1950, 10ff. und Stscherbina 1954, 97. 1098 Stalin an der Südfront: Textanalyse 227 Figur ebenso verifiziert, wie die immer wieder behauptete Abbildfunktion der Erzählung.1101 Die mimetische Illusion der Erzählung beruht so auf einer Namensmagie, die die literarische Rekonstruktion Stalins verdeckt und durch die mythische Verbindung von Name und Person beglaubigt.1102 3.10.2 Lagebericht Doch bevor die Erzählung Stalin an die Front versetzt, wird das im vorhergehenden Erzählabschnitt konfigurierte Rollenprofil noch einmal aufgegriffen und auf den Handlungszusammenhang der Szene übertragen.1103 Diese beginnt mit einem narrativen Bericht, der die militärischen Aktionen der letzten Tage zusammenfaßt und die Figurenrolle Stalins nachträglich verifiziert. Durch die Zusammenfassung der Ereignisse wird seine Identität als militärischer Führer bestätigt und noch vor seinem Auftreten im Kontext der Erzählung vergegenwärtigt. Obwohl der Bericht in der vermeintlich objektiven Stimme des Erzählers wiedergegeben wird, ist er von Anfang an auf die Figurenperspektive Stalins ausgerichtet. Diese Perspektivierung beruht auf einer Überschneidung von objektiver und rhetorischer Erzählfunktion, die das Geschehene nicht nur darstellt, sondern bewertet.1104 Diese Überlagerung führt zu einer Rekonstruktion der Ereignisse, die im literarischen Text sowohl vergegenwärtigt als auch perspektiviert werden können.1105 Dadurch wird es möglich, offiziell vorgegebene und nachträglich rekonstruierte Geschichtsschreibung aufeinander zu beziehen und zu einer vermeintlich authentischen Darstellung zusammenzuschließen. Durch diese Angleichung von Figuren- und Erzählerperspektive kann eine Figurenrolle Stalins affirmiert werden, die sein zuvor angelegtes Profil als Oberkommandierender an der Südfront beglaubigt. Die dargestellten Ereignisse werden einer nachträglichen Perspektivierung unterzogen, die die Figurenperspektive Stalins rechtfertigt und als Zentralperspektive der Erzählung etabliert. Gleichzeitig dient der Bericht dazu, den militärischen Konflikt erneut zu verschärfen. Die in ihm zusammengefaßten Ereignisse rücken den südlichen Frontabschnitt in den Mittelpunkt des Geschehens und nehmen eine Verdichtung der militärischen Auseinandersetzungen vor, die die Handlung endgültig auf den von Stalin befehligten Frontabschnitt verschiebt: «То, что говорил Сталин в вагоне Ворошилову, оправдалось: в конце июня армия Деникина нанесла ряд сильных ударов по магистрали Царицын – Тихорецкая и отрезала пятидесятитысячную армию Калнина. Южный фронт там самым привлек теперь все внимание.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Zur mythischen Identität des Namens in der Kultur der Stalinzeit vgl. Papernyj 1985,148ff. Zur Bedeutung der Abbreviatur vgl. Handbuch der Ikonenkunst 1966, 178. 1102 Zu dieser Funktion des Namens vgl. Tomaševskij 1967, 152, der den Namen zu den Charakterisierungstechniken der literarischen Figurengestaltung zählt. Searle faßt historische Namen und Daten unter dem Begriff der „singulären bestimmten hinweisenden Ausdrücke“ zusammen. Sie stellen eine eindeutige Referenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem her und dienen dazu, über den Zeichenträger ein bestimmtes Objekt zu identifizieren: Searle 1992, 44ff. und 114ff. Auch Eco zählt Namen, Daten und Orte mit historischer Bedeutung zu den Realisierungsstrategien, mit deren Hilfe der literarische Text den fiktionalen Vertrag außer Kraft setzt: Eco 1994, 133ff. 1103 Die literarische Repräsentation seiner Figur beruht so auch in dieser Szene auf dem Prinzip der Merkmalwiederholung: Bal 1985, 85f. 1104 Vgl. hierzu Booth 1974, Bd. 1, 187ff. und Doležel 1972, 387f. 1105 Vgl. hierzu Lotman 1973, 398ff. 1101 Stalin an der Südfront: Textanalyse 228 Die Eingangssequenz dient so weniger dazu, die vorhergehenden Ereignisse objektiv zu beschreiben, als dazu, die zuvor inszenierte Darstellung Stalins im Text zu begründen.1106 Der narrative Bericht fungiert als formale Exposition, die sowohl die Figurenrolle Stalins als auch den Schauplatz der nachfolgenden Handlung in den Zusammenhang der Erzählung einträgt. Er wird somit zum Rückblick, der die Ereignisse ideologisch motiviert und die Figur Stalins im zentralen militärischen Konflikt positioniert. 3.10.3 Stalin als militärischer Führer Nachdem die Figur Stalins im Zusammenhang der historischen Ereignisse positioniert worden ist, wendet sich die Erzählung der Gegenwartshandlung zu.1107 Diese zeigt Stalin auch weiterhin in seiner Rolle als militärischer Führer und setzt damit eine Rollenkonfiguration fort, die in den vorhergehenden Erzählabschnitten offizialisiert worden ist. Diese Identität wird auch in dieser Szene durch ein Telegramm repräsentiert, das er von seinem Waggon in Caricyn aus an Lenin schickt. Dadurch entsteht eine Handlungskontinuität, die die Figurenrolle Stalins im Rückgriff auf die Konfigurationssituation der vorhergehenden Szene gestaltet und durch eine Reihe stereotyper Handlungen repräsentiert. Dadurch wird eine Handlungsfunktion antizipiert, die im weiteren Verlauf des Kapitels bestätigt und zu einer eigenständigen Figurenrolle ausgebaut wird.1108 Das Telegramm dient auch in dieser Szene dazu, eine Figurenperspektive zu entwerfen, die Stalins Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt. Sein Inhalt zeigt ihn erneut als genialen Feldherrn, der die Lage an der Front richtig bewertet und die notwendigen Maßnahmen ergreift.1109 Dadurch wird seine Figur mit einem Wissen ausgestattet, das ihre offizielle Repräsentation bestätigt und die ihr zugewiesene Handlungsfunktion im Text legitimiert. Das so konfigurierte Rollenprofil wird durch die direkte Rede seiner Figur beglaubigt und als vermeintlich authentische Identität vorgeführt.1110 Dem Telegramm kommt eine weitere Funktion zu. Als schriftlich fixierte Rede dient es dazu, die Figur Stalins indirekt zu charakterisieren und ihre semantische Rolle zu konkretisieren. Das Telegramm übernimmt ebenfalls eine mimetische Funktion und hat die gleiche Aufgabe, wie die direkte Rede.1111 Dazu inszeniert die Erzählung ein imaginäres ‚Ich’, das die im Text dargestellte Handlung auf die Person Stalins überträgt. Das Telegramm fungiert so als indirekte Selbstbeschreibung, mit der die im offiziellen Stalinkult vorgeschriebenen Eigenschaften Stalins in die Figurenperspektive seiner Figur eingetragen und als scheinbar authentische dargestellt werden können. Die Möglichkeit, literarische Figuren in ihrer imaginären Subjekthaftigkeit zu porträtieren, erweist sich damit als eins der Verfahren, um das offiziell in Szene gesetzte Stalinbild als reales auszugeben. Durch die Verwendung des Personalpronomens in der ersten Person Singular wird eine Verbindung von literarischer und historischer Person hergestellt, die die offizielle Zur Funktion des Berichts vgl. Lämmert 1967, 91f. sowie Genette 1994, 68ff. Bei dem einleitenden Bericht handelt es sich also um einen Rückgriff, der die Darstellung Stalins vorbereitet und ergänzt: Lämmert 1967, 122ff. sowie Genette 1994, 32ff. 1108 Zum Schauplatz als identitätsstiftendes Element der Figurengestaltung vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Lämmert 1967, 28, Bennholdt-Thomsen 1990, 128ff. und Bal 1985, 95. 1109 Vgl. hierzu noch einmal den Mythos vom militärischen Können Stalins in Blumental’ 1933, 164ff., Boltin 1940, 282f., Vorošilov 1940, 40f., Kurze Lebensbeschreibung 1945, 38 und Jaroslavskij 1941, 93. 1110 Vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 13f. und Bal 1985, 148f. 1111 Zu dieser Funktion der direkten Rede vgl. Genette 1994, 123f. sowie Bal 1985, 143f. 1106 1107 Stalin an der Südfront: Textanalyse 229 Stalinbiographie bestätigt und durch die indirekte Selbstbeschreibung Stalins verifiziert. Die Eigenschaften, die das Telegramm in seine Figurensemantik einträgt, sind Durchsetzungsvermögen, Entschlossenheit, Mut und Verantwortungsbewußtsein.1112 Dadurch, daß sie in das Telegramm übertragen werden, werden sie zu vermeintlich authentischen Eigenschaften, die die stereotype Repräsentation seiner Figur verdecken. Sie konfigurieren ein semantisches Profil, das das Persönlichkeitsbild der vorhergehenden Szenen wiederholt und die mythische Identität Stalins zu einer scheinbar realen Persönlichkeit umschreibt. So steht am Anfang dieser Szene eine Darstellung, die das im vorhergehenden Kapitel offizialisierte Bild aufgreift und durch die Rede Stalins erneut verifiziert: «'Если бы наши военные 'специалисты' (Сапожники!) не спали и не бездельничали, линия не была бы прервана; и если линия будет восстановлена, то не благодаря военным, а вопреки им... [...] ...Смотреть на это равнодушно, когда фронт Калнина оторван от пункта снабжения, а север – от хлебного района, считаю себя не вправе. Я буду исправлять эти и многие дургие недочеты на местах, я принимаю ряд мер и буду принимать вплоть до семщения губящих дело чинов и командиров, несмотря на формальные затруднения, которые при необходимости буду ломать. При этом понятно, что беру на себя всю ответственность перед всеми высшими учреждениями. ... Спешу на фронт пишу, только по делу.'» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Das Telegramm dient aber nicht nur dazu, die Figur Stalins in ihrer Rolle als militärischer Führer zu bestätigen. Es trägt darüber hinaus einen Konflikt in den Handlungszusammenhang der Szene ein, der die nachfolgende Handlung initiiert. Dazu inszeniert das Telegramm einen Mangel, der die Ereignisse der folgenden Erzählsequenzen rechtfertigt und die Reise Stalins an die Front motiviert.1113 Durch das in dem Telegramm beschriebene Versagen der örtlichen Militärs entsteht eine Leerstelle, die nur durch das entschiedene Handeln Stalins gefüllt werden kann. Das im Text reproduzierte Telegramm antizipiert damit eine Handlungsfunktion, die die offizielle Darstellung seiner Figur rechtfertigt und die Inspektionsreise, die im Mittelpunkt dieses Kapitels steht, im Handlungszusammenhang der Szene begründet.1114 Dadurch wird die Handlungsmotivation der Szene von einer kompositorischen zu einer realistischen umgeschrieben. Dieses Verfahren verdeckt den Darstellungsauftrag der literarischen Erzählung und kann die Abreise Stalins als im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet erscheinen lassen.1115 Das Telegramm dient so nicht nur dazu, die Figurenrolle Stalins zu (re)präsentieren. Es dient auch dazu, eine Reihe von Ereignissen zusammenzufassen, die sein Handeln im weiteren Verlauf des Kapitels antizipieren. Dadurch entsteht eine Überlagerung von Handlung und Figur, die seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und in der Figurenperspektive seiner eigenen Figur verankert.1116 3.10.4 Schauplatzwechsel Nachdem durch den Satz „ich eile zur Front“ die Handlung der nachfolgenden Erzählsequenzen angekündigt worden ist, wechselt die Erzählung zu Beginn des folgenden Abschnitts ihren Schauplatz und zeigt, wie Stalin und Vorošilov die Front inspizieren. Obwohl die Handlung in den einleitenden Erzählsequenzen vorbereitet worden ist, beVgl. hierzu noch einmal Vorošilov 1930, 45ff. sowie Gurov 1938, 210ff., Vorošilov 1940, 35, Mikojan 1940, 75f. und Čeremin 1950, 4. 1113 Vgl. hierzu Stückrath 1990, 286ff. sowie Tomaševskij 1967, 135f. 1114 Zur Überlagerung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154 sowie Lotman 1973, 365f. und Červenka 1978, 122f. 1115 Zur realistischen Motivation der literarischen Fiktion vgl. Tomaševskij 1967, 146ff. 1116 Zur Funktion der direkten Rede vgl. Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff. und Bal 1985, 143f. 1112 Stalin an der Südfront: Textanalyse 230 ginnt sie mit einem Handlungssprung, der die Ereignisse vollkommen unvermittelt in die Handlungsgegenwart der Szene einträgt. Dadurch entsteht die Illusion einer kontinuierlichen Handlung, die die zuvor lediglich angekündigte Inspektionsfahrt zur zentralen Handlung der Szene werden läßt und die Figuren Stalins und Vorošilovs im Ereigniszusammenhang des Erzählten positioniert. Die Handlungskontinuität wird so durch eine imaginäre Handlung hergestellt, die die Technik der literarischen Montage verdeckt. Dadurch wird ein Bezugssystem von Figurenrede und literarischem Geschehen installiert, das die Darstellung Stalins beglaubigt und die diskursive Handlungsanweisung des Telegramms in einem tatsächlichen Handeln begründet. Die Handlung setzt ein, als der Zug auf offener Strecke halten muß, weil das vor ihm liegende Schienenstück gesprengt worden ist. Er befindet sich kurz vor einer Station, die im Hintergrund zu sehen ist. Damit ist der Schauplatz der gesamten nachfolgenden Handlung entworfen. Er läßt erkennen, daß die nachfolgenden Ereignisse nicht mehr in den geschützten Räumen des Panzerwagens spielen, sondern die Figuren Stalins und Vorosilovs an die Front versetzen. Damit wird auch in diesem Erzählabschnitt ein Verweissystem von Schauplatz und Figur etabliert, das die Figurenrolle Stalins vorbreitet und durch den im Text gestalteten Zeit-Raum konfiguriert.1117 3.10.5 Auftrittsvorbereitung und Rätselspannung Der unvermittelte Handlungssprung dient aber nicht allein dazu, die textimmanente Handlungsmotivation der dargestellten Ereignisse zu verdecken. Er trägt auch ein Informationsdefizit in den Zusammenhang der Ereignisse ein, der das dargestellte Geschehen von Anfang an mit Spannung auflädt: «Бронепоезд остановился в глубокой выемке – здесь опять был взорван путь и, видимо, недавно, - одна из шпал еще тлела. Команда разведчиков взобралась по откосу. Выжженная степь была пустынна. Впереди, верстах в двух, торчала водокачка, блестели на солнце крыши станционных построек.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Da der Handlungszusammenhang des Erzählten lediglich beschrieben und nicht begründet wird, entsteht ein Informationsdefizit, das erst im weiteren Verlauf der Erzählung aufgehoben wird. Durch den ausgesparten Zeit-Raum wird ein Informationsvorbehalt in den Handlungszusammenhang der Szene eingebaut, der die nachfolgenden Ereignisse verrätselt und mit einer künstlich erzeugten Spannung ausstattet. Diese beruht auf einer lückenhaften Informationsvergabe, die dem Leser wesentliche Informationen vorenthält und erst nach und nach in den Kontext der Erzählung einfügt.1118 Dadurch wird das Spannungspotential der Erzählung gesteigert und die Erwartungshaltung des Lesers erhöht.1119 Der nächste Abschnitt setzt die Konfiguration dieser Handlungsgegenwart fort. Er zeigt, wie ein Spähtrupp die naheliegende Station untersucht. Die Station ist verlassen, die Einrichtung zerstört. In dieser Szene wird das zuvor angelegte Informationsdefizit weiter ausgebaut. In diesem Teil der Erzählung beruht es darauf, daß die beschriebenen Ereignisse nicht durch die abstrakte Stimme des Erzählers im Text vergegenwärtigt, Zum Zusammenhang von Schauplatz und Figur vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Bal 1985, 95 und Veldhues 1997, 73. 1118 Zur Funktion einer lückenhaften Informationsvergabe vgl. Weber 1975, 63ff. sowie Tomaševskij 1967, 140. 1119 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 139f. sowie Genette 1994, 76ff. und Lämmert 1967, 83. 1117 Stalin an der Südfront: Textanalyse 231 sondern aus Sicht der Soldaten dargestellt werden. Dadurch findet eine Verschiebung der Erzählperspektive statt, die die Motivation der dargestellten Ereignisse verbirgt und durch ihre reine Wahrnehmung ersetzt.1120 Die Ursache für das Geschehene bleibt weiterhin unklar und der zu Beginn angelegte Spannungsbogen wird ein weiteres Mal gesteigert: «Разведчики сошли до станции. Она была покинута. На вокзале выбиты окна, поломаны, телеграфные и телeфонные аппараты. На станционном дворе у двери погреба лежал какой-то разутый человек с порубленной головой.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Dadurch, daß die Wahrnehmung des Erzählten auf die Figurenperspektive der Soldaten reduziert wird, entsteht ein Informationsdefizit, das die zuvor angelegte Spannung ausbaut und zu einem Moment der Bedrohung ausweitet.1121 Damit wird ein situativer Kontext geschaffen, der den Konflikt der vorhergehenden Erzählsequenz aufgreift und auf den hier beschriebenen Schauplatz überträgt. Es entsteht eine semantische Differenz, die die Ereignisse der nachfolgenden Handlung antizipiert und das im folgenden gezeigte Handeln motiviert. Der nächste Abschnitt greift den Informationsvorbehalt der vorhergehenden Erzählabschnitte noch einmal auf und überführt ihn in eine mehrdeutige Mitteilungskonstruktion. Diese ist in einer nachträglich perspektivierten Informationsvergabe begründet, die nur so viele Details preisgibt, wie ein außenstehender Beobachter wahrnehmen kann.1122 Durch diese Einschränkung der auktorialen Erzählperspektive wird die Rätselspannung der vorhergehenden Abschnitte verstärkt und in eine uneindeutige Informationsvergabe überführt, die ebenfalls erst im weiteren Verlauf der Erzählung aufgelöst wird.1123 Der am Ende formulierte Verdacht bietet zwar eine mögliche Lösung an, hebt den zuvor angelegten Doppelsinn des dargestellten Geschehens jedoch nicht auf. Dadurch wird auch hier die Spannung des Erzählten gesteigert und der Eindruck einer bevorstehenden Gefahr erhöht: «Станция – пустынная, маленькая, грабить там, в сущности, было нечего, и такой налет показался странным, - тем более странным, что на пути бронепоезда, секретно покинувшего Царицын, попадалась уже третья разгромленная станиця, - будто это приурочилвалосъ к проходу бронепоезда.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Durch die Beschreibung des Schauplatzes wird aber nicht nur die nachfolgende Handlung mit Spannung aufgeladen sondern auch der Auftritt Stalins verzögert. Der Text inszeniert eine Ereignishaftigkeit, die den Spannungsbogen der dargestellten Ereignisse aufgreift und auf die Figur Stalins überträgt. Der nicht vermittelte Handlungseinsatz dient so nicht zuletzt dazu, die Aufmerksamkeit des Lesers noch vor dem Einsatz der eigentlichen Handlung auf die Figur Stalins zu verweisen. Diese Erzählstrategie bestimmt den gesamten ersten Absatz dieses Kapitels und führt zu einem Zustand gespannter Erwartung, der die Bedeutung Stalins erhöht. Dieser geht im weiteren Verlauf Zur unterschiedlichen Perspektivierung des Erzählten vgl. Genette 1994, 132ff. sowie Bal 1985, 104f., die zwischen einer internen, figurengebundenen und einer externen, charakterunabhängigen Perspektivierung des Erzählten unterscheidet. Lämmert 1967, 88 bezeichnet die Beschreibung als zeitlose Erzählform, die die stärkste Bildwirkung auf den Leser ausübt. 1121 Daß es sich bei diesem Verfahren ebenfalls um eine Technik zur Verrätselung handelt, zeigt Weber 1975, 117. Auch, wenn über die tatsächliche Rezeption der Erzählung nur spekuliert werden kann, weisen die hier verwendeten Verfahren darauf hin, daß sie eine Gefühlsspannung erzeugen sollen, die den Leser affizieren und dadurch die Glaubwürdigkeit der Fiktion erhöhen soll: Weber 1975, 129ff. 1122 Weber 1975, 113ff. 1123 Weber 1975, 118ff. 1120 Stalin an der Südfront: Textanalyse 232 der Erzählung zusammen mit Vorošilov zu der zuvor beschriebenen Station und begibt sich damit direkt in die hier literarische inszenierte Gefahr. Die im vorhergehenden Erzählabschnitt angelegte Mehrdeutigkeit wird erst im folgenden Absatz aufgehoben. Dieser beginnt mit einer Feststellung Vorošilovs, die den im vorhergehenden Erzählabschnitt angedeuteten Verdacht bestätigt und die dargestellten Ereignisse nachträglich perspektiviert. In seiner Figurenrede wird der in den vorhergehenden Abschnitten angelegte Informationsvorbehalt außer Kraft gesetzt und durch eine eindeutige Informationsvergabe ersetzt: «- По линии дано знать, совершенно очевидно, - сказал Ворошилов, походя вместе со Стaлиным к паровозу.» (Tolstoj Chleb 1937, 147) Die Rede Vorošilovs dient aber nicht allein dazu, die Mitteilungskonstruktion der vorhergehenden Erzählabschnitte zu perspektivieren. Sie ist auch damit beauftragt, die Figuren Stalins und Vorošilovs in den Zusammenhang des Erzählten einzufügen.1124 Durch seine Rede werden sie in das Szenario der Gegenwartshandlung integriert und durch die Überlagerung von Handlung und Figurenrede in die Ereigniskonstruktion des Erzählten eingebunden.1125 Gleichzeitig erzeugt der absichtlich eingebaute Informationsvorbehalt einen Überraschungseffekt, der die Aufmerksamkeit des Lesers von der äußeren Handlung auf die Figuren Stalins und Vorošilovs lenkt.1126 Ihr unvermittelter Auftritt stellt sie in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und läßt sie noch vor dem Einsetzen der Handlung zu den zentralen Figuren der Szene werden.1127 Mit ihrem Erscheinen ändert sich zugleich die Kompositionsstruktur der Erzählung. Die Verfahren der analytischen Erzählung, die die Ereignisse der einleitenden Erzählabschnitte verrätselt und den Auftritt Stalins und Vorošilovs vorbereitet haben, werden aufgegeben und durch eine lineare Sujetkonstruktion ersetzt. Um diesen Wechsel der Kompositionsstruktur zu vermitteln, wird eine Erzählsequenz in den Handlungszusammenhang der Szene eingefügt, die die Erzählung zum Stillstand bringt und den Wechsel der Darstellungsverfahren im Kontext der Ereignisse begründet. Sie zeigt, wie die mitgereisten Schienenarbeiter die gesprengten Gleise reparieren, um die unterbrochene Fahrt fortsetzen zu können. Durch diese Handlung entsteht eine Pause, die den Abschluß der vorhergehenden Erzählperiode markiert und den Einsatz der nachfolgenden Handlung motiviert.1128 Diese Pause fungiert als nachträglich konstruierte Handlungsmotivation, die die Darstellung der beiden Erzählabschnitte aufeinander bezieht und den Wechsel von einer analytischen zu einer linearen Sujetfügung begründet.1129 Sie wird sowohl zur End- als auch zur Ausgangssituation, die die beiden ErzählVgl. hierzu Lämmert 1967, 209ff. sowie Hamburger 1987, 157ff. und Mukařovský 1967, 115ff. Zum Zusammenhang von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 152 sowie Čеrvenka 1978, 122f. 1126 Zur Überraschungskonstruktion analytischer Erzählverfahren vgl. Weber 1975, 106ff. Ob dieses Angebot vom Leser realisiert wird, bleibt offen. Auf der formalen Ebene des Textes erweisen sich die von Tolstoj gewählten Verfahren jedoch als Versuch, die Wahrnehmung des Lesers zu manipulieren und eine bestimmte Rezeptionshaltung zu antizipieren. 1127 Zur gegenseitigen Bedingung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154f. sowie Červenka 1978, 122f. und Lotman 1973, 366f. 1128 Vgl. hierzu Genette 1994, 71ff. sowie Lämmert 1967, 88f. 1129 Sie wird damit zur Ausgangssituation, welche die nachfolgende Handlung einleitet und sowohl Subjekt und Objekt der Handlung exponiert. 1124 1125 Stalin an der Südfront: Textanalyse 233 abschnitte miteinander verknüpft und die Ereigniskonstruktion der vorhergehenden Szenen auf die Sujetkonstruktion der nachfolgenden Ereignisse überträgt. Erst so kann das Erzählte als Repräsentation einer Wirklichkeit ausgegeben werden, die nicht in der Sujetkonstruktion der Erzählung, sondern in der faktischen Vergangenheit einer historisch überlieferten Realität begründet ist:1130 «Ремонтные рабочие развинчивали рельсы, убирали поверженные шпалы, стаскивали с платформы запасные. Работы здесь было часа на два.» (Tolstoj Chleb 1937, 147f.) 3.10.6 Stalin und Vorošilov an der Front Durch den Stillstand der Erzählung ist es möglich, eine Handlungssequenz einzuschieben, die die Darstellung Stalins als Oberkommandierender an der Südfront vervollständigt und in einer eigenständigen Handlung begründet. Dazu verlassen Stalin und Vorošilov den Zug und begeben sich zu Fuß zu der nahegelegenen Station: «Расспросив вернувшихся разведчиков, Ворошилов предложил пойти до станции пешком, - в выемке было невыносимо знойко.» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Die zuvor inszenierte Pause dient so dazu, einen Handlungseinsatz zu motivieren, der die Sujetkonstruktion der nachfolgenden Erzählabschnitte rechtfertigt und den Wechsel von einer handlungs- zu einer figurenbezogenen Darstellung begründet.1131 Dadurch werden die dargestellten Ereignisse einer Kompositionsstruktur unterworfen, in der sich literarischer und historiographischer Diskurs annähern und die angebliche Authentizität der dargestellten Ereignisse durch die binnensemantische Ereigniskonstruktion des Erzählten verbürgt werden kann.1132 Die im folgenden gezeigte Handlung dient weniger dazu, eine historische Wirklichkeit zu rekonstruieren, als dazu, die zu Beginn angelegte Darstellung Stalins zu bestätigen und durch eine Reihe semantischer Eigenschaften zu ergänzen. Diese beziehen sich auf die persönlichen Charaktereigenschaften seiner Figur und repräsentieren ein semantisches Profil, das seine Identität als militärischer Führer rechtfertigt. Dieses wird in einer individuellen Persönlichkeit begründet, die den im offiziellen Stalinkult vorgeschriebenen Merkmalkomplex wiederholt. Dazu inszeniert die Erzählung eine Handlung, die es ermöglicht, die offiziellen Eigenschaften seiner Person aufzugreifen und im Handlungszusammenhang des Erzählten zu verifizieren.1133 Sie werden durch eine äußere Handlung im Text vergegenwärtigt, die es ermöglicht, den offiziell vorgeschriebenen Satz semantischer Merkmale auf die literarische Figur Stalin zu übertragen und seine mythisch überhöhte Identität als vermeintlich authentische vorzuführen. Diese Identitätsstiftung wird durch die im Text gezeigte Handlung beglaubigt und als scheinbar reale dargestellt.1134 Vgl. hierzu Iser 1991, 481ff. sowie Jakobson 1921, 374ff., Balibar/Macherey 1974, 212ff., Plumpe 1976, 4f., Piontek 1989, 15ff. und Gebauer/Wulf 1992, 26ff. Daß es sich auch bei mimetischen Schreibstrategien nur um eine symbolische Welterzeugung handelt, deren Realitätseffekte die Identität von Zeichen und Bezeichnetem lediglich vortäuschen, zeigen: Barthes 1968, 178ff. sowie Eisele 1987, 551, Groys 1988, 57ff. und Sinjavskij 1966, 145ff. 1131 Tomaševskij 1967, 146ff. 1132 Vgl. hierzu Mukařovský 1967, 44ff. sowie Červenka 1978, 10ff., Lotman 1973, 19ff. und Iser 1991, 24ff. Der Wahrheitsanspruch des Textes beruht so auf einer Suspension des Fiktionsvertrags, der die poetische Funktion abschwächt und die Referenzfunktion der Zeichen in den Vordergrund stellt. 1133 Zur Charakterisierung literarischer Charaktere durch ihr im Text konfiguriertes Verhalten vgl. Tomaševskij 1967, 158 sowie Bal 1985, 79ff. und Červenka 1978, 118. 1134 Zur Charakterisierung literarischer Figuren vgl. Lotman 1973, 377ff. sowie Bal 1985, 79ff. und 1130 Stalin an der Südfront: Textanalyse 234 Nachdem die Handlung im Zusammenhang der vorhergehenden Ereignisse motiviert worden ist, verlassen Stalin und Vorošilov den Schauplatz der Eingangssequenz und machen sich auf den Weg zu der nahegelegenen Station. In dem Moment, in dem sie sich vom Zug entfernen, verlassen sie zugleich das zuvor konfigurierte semantische Feld und überschreiten eine Grenze, die sie in handelnde Charaktere verwandelt. Ihr Weg wird so zur Grenzüberschreitung, die die Handlung der gesamten nachfolgenden Ereignisse initiiert und ihre Figuren gleichzeitig im Handlungszusammenhang des Erzählten positioniert.1135 Darüber hinaus wird das Moment der Gefahr konkretisiert. Es wird auf den Schauplatz der nachfolgenden Handlung übertragen und zur Handlungsgegenwart der literarischen Figuren ausgebaut. Die einleitenden Szenen dienen so dazu, einen Schauplatz zu fingieren, der die Handlungsfunktion ihrer Figuren rechtfertigt und die ihnen zugewiesene Rolle durch die semantische Differenz der Handlungsorte in Szene zu setzen:1136 «Он [Ворошилов, U.J.] перекинул через плечо карабин. Сталин взял ореховую палочку. Пошли вдвоем по полотну. Выемка завернула направо, и бронепоезда не стало видно. В открытой степи подул горячий, все же приятный ветер. [...] Очень далеко на меловой возвышенности виднелась мельница. Ворошилов указал на нее: 'Оттуда и был налет...'» (Tolstoj Chleb 1937, 148) 3.10.7 Stalin als Herr der Technik Bevor Stalin und Vorošilov die Station erreichen, wird eine weitere Handlungssequenz in den Zusammenhang des Erzählten eingefügt. Sie markiert eine Pause im Erzählten, die ausschließlich dazu dient, die Figur Stalins zu charakterisieren. Sie zeigt, wie Stalin und Vorošilov durch die offene Steppe gehen und sich über die Zukunft der Roten Armee unterhalten. Sie diskutieren einen Offensivplan zur Verteidigung der Eisenbahnlinien und werden so ganz unmittelbar in ihrer militärischen Identität präsentiert. Bei dieser Szene handelt es sich um eine handlungsschwache Erzählsequenz, die ausschließlich der Charakterisierung ihrer Figuren dient. In ihr geht es nicht um die Konfiguration einer funktional bestimmten Figurenrolle, sondern einzig und allein um die semantische Expansion ihrer Charaktere. Sie trägt Eigenschaften in das semantische Profil ihrer Figuren ein, die nicht im Handlungszusammenhang der nachfolgenden Ereignisse verankert werden können und daher in einer eigenständigen Erzählsequenz in den Text eingetragen werden müssen. Durch die Digression des Erzählten wird das semantische Profil ihrer Figuren erweitert und im Handlungszusammenhang der Szene verankert.1137 Der im Text beschriebene Weg kann so als retardierendes Moment gelesen werden, das den Fortgang der Handlung verzögert und einen Stillstand der Erzählung nach sich zieht, der zur Charakterisierung ihrer Figuren genutzt werden kann.1138 Am Anfang dieser Erzählsequenz steht eine narrative Passage, deren wichtigste Funktion darin besteht, die anschließende Figurenrede Stalins zu motivieren. Sie beschreibt Tomaševskij 1967, 153. Vgl. hierzu Lotman 1973, 360f. 1136 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Lämmert 1967, 28 und Bachtin 1937/38, 455ff. 1137 Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153 sowie Bal 1985, 79ff. und Červenka 1978, 118f. 1138 Vgl. hierzu Veldhues 1997, 70f. sowie Tomaševskij 1967, 139, der zwischen statischen und dynamischen Handlungselementen unterscheidet, Lämmert 1967, 82ff. und Genette 1994, 61ff. 1135 Stalin an der Südfront: Textanalyse 235 den Flug einer Gabelweihe, den Stalin aufmerksam beobachtet.1139 Diese Szene, die zu einem absoluten Stillstand der Erzählung führt, imaginiert eine äußere Handlung, die zur Projektionsfläche für die Figurencharakteristik Stalins wird. Sie wird zum Anlaß einer Figurenrede, die einen weiteren Aspekt in das semantische Profil seiner Figur einträgt.1140 Sie zeigt Stalin als Visionär einer neuen sowjetischen Luftwaffe und untermauert damit einmal mehr seine Identität als militärischer Führer.1141 Das Bild der Gabelweihe dient so einer Figurencharakteristik, die die literarische Repräsentation seiner Figur verifiziert und die vollkommen unmotivierte Darstellung im Handlungszusammenhang der Szene begründet. Auch sie wird durch die direkte Rede Stalins im Text vergegenwärtigt und damit als vermeintlich authentische Identität präsentiert:1142 «Сталин рассмeялся, похлопывая себя палочкой по голенищу. - Когда-нибудь научимся строить такие самолеты, - сказал он. – Совершенный полет, совершенное владeние силами. А люди могут летать лучше, если освободить их силы... Мы будем летать лучше.» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Die so hergestellte Identität wird durch die äußere Beschreibung Stalins unterstrichen. Dazu kehrt die Erzählung noch einmal in den Modus der narrativen Berichterstattung zurück. Der abstrakte Erzähler verläßt die Figurenperspektive Stalins und wendet sich dessen Gesicht zu, wobei er einmal mehr den prophetischen Blick in den Mittelpunkt seiner Beschreibung stellt. Auch hier sind es die hochgezogenen Augenlieder, die seine mythische Identität repräsentieren und einen Blick inszenieren, der den militärischen Weitblick Stalins dokumentiert. Er wird zum Propheten einer neuen sowjetischen Luftwaffe, die den endgültigen Sieg über die Natur symbolisiert und Stalins schöpferisches Genie repräsentiert.1143 Damit werden zwei Mythenreihen übereinandergelegt, die das Bild des militärischen Strategen mit dem Bild des göttlichen Demiurgen vereinigen.1144 Sie führen zu einer Apotheose seiner Figur, die nicht mehr allein als genialer Feldherr und Militär gezeigt wird, sondern als Schöpfer einer neuen Armee, die den endgültigen Sieg der Revolution garantiert. Erst nachdem diese Identitätsstiftung im Text vergegenwärtigt worden ist, wendet sich die Erzählung und mit ihr auch die Figur Stalins erneut den Ereignissen der Gegenwartshandlung zu. Diese zeigt, wie Stalin den zuvor unterbrochenen Weg fortsetzt und damit die Handlung der vorhergehenden Erzählsequenz wieder aufgreift. Auch diese Handlung wird durch den abstrakten Erzähler vermittelt und dokumentiert eine Entschlossenheit, die das semantische Profil seiner Figur ergänzt. Sie wird durch die Beschreibung seiner Figurenhandlung in den Text eingetragen, womit nicht nur seine Rede Tolstoj Chleb 1937, 148. Zu dieser Funktion der literarischen Beschreibung vgl. Lämmert 1967, 88. 1141 Vgl. hierzu Günther 1993, 155ff. 1142 Diese Darstellung wird in dem 1939 erschienenen Text «Сталин и строительство Красной Армии» offiziell bestätigt. Dort heißt es: «Сталин неоднократно говорит о летчиках, что их жизнь надо всемерно оберегать, что жизнь летчика 'дороже нам любой машины'. [...] Сталин любит авиацию и ее крылятых людей [...].» (Vorošilov 1940, 43) Dieser Mythos fehlt in dem 1929 erschienenen Text «Сталин и Красная Армия». Es handelt sich also um ein Mythensystem, das nachträglich in das semantische Profil seiner Figur eingetragen wird und seine ursprünglich Darstellung als militärischer Führer überlagert. 1143 Vgl. hierzu Ingold 1992, 11ff., der den Mythos vom Fliegen mit der schöpferischen Inspiration des Dichters gleichsetzt und als schöpferischen Akt beschreibt, der dem imitativen Schaffen des Handwerkers (beziehungsweise Luftfahrtechnikers) entgegensteht. 1144 Vgl. hierzu Groys 1988, 64ff. sowie Yampolsky 1993, 108f. und Sinjavskij 1987, 114ff. 1139 1140 Stalin an der Südfront: Textanalyse 236 sondern auch die im Text inszenierte Körpersprache als literarische Maske fungiert. Sie wird zu einem eigenständigen Zeichen, das die mythische Identität Stalins beglaubigt und seine nachträglich kanonisierten Eigenschaften verifiziert. Die im Text inszenierte Körperlichkeit verdeckt den realen Körper Stalins und ersetzt ihn durch eine nachträgliche Fiktion, deren kinesische und gestische Zeichen unmittelbar zur Charakterisierung seiner Figur beitragen. Sein Körper wird mit einer Ausdruckfunktion ausgestattet, der die rein symbolische Bedeutung seiner Figur verdeckt und die literarische Imagination auf den realen Stalin zurückführt. Der im Text beschriebenen Handlung kommt darüber hinaus die Aufgabe zu, die vorhergehende Erzählsequenz zu beenden und seine Figur erneut in den Handlungszusammenhang der Szene einzubinden: «Нижние веки его приподнялись. Он шагал, не глядя теперь ни на коршунов, ни на сусликов между кустиками полыни.» (Tolstoj Chleb 1937, 148) 3.10.8 Stalin als militärischer Taktiker Aber auch nach dieser Erweiterung seines semantischen Profils kehrt die Erzählung noch nicht zu der am Anfang konzipierten Handlung zurück. Der nachfolgende Erzählabschnitt markiert eine weitere Digression im Erzählten und dient ebenfalls dazu, die Figur Stalins zu charakterisieren. Dazu wird ein umfangreicher Monolog in den Text eingefügt, der die semantische Konstruktion seiner Figur erweitert und durch die Inszenierung einer mündlichen Rede authentifiziert. Die direkte Rede fungiert damit auch in dieser Szene als Verfahren, um die offizielle Darstellung Stalins zu bestätigen und in einer nachträglich konfigurierten Figurenperspektive zu verankern.1145 Die rein repräsentative Funktion des Monologs zeigt sich daran, daß er in den Verlauf der Handlung eingefügt wird, ohne in ihr begründet zu sein. Er steht in keinem logischen Verhältnis zu den zuvor gezeigten Ereignissen und wird lediglich durch die formale Abfolge in die Handlung integriert. Der Monolog erweist sich damit als nachträglich konfigurierte Erzählsequenz, deren Darstellungsauftrag die narrative Struktur der Szene überlagert und den zu Beginn angelegten Handlungszusammenhang des Erzählten sprengt. Dem Monolog Stalins geht eine Rede Vorošilovs voraus, in dem er einen Offensivplan zur Verteidigung der Eisenbahnlinie von Caricyn nach Moskau entwickelt.1146 Nachdem Vorošilov seine Darstellung beendet hat, ergreift Stalin das Wort. Er greift den Plan Vorošilovs auf (ohne sich tatsächlich auf ihn zu beziehen) und ergänzt ihn durch eine Reihe eigener Überlegungen zur taktischen Kriegsführung. Dadurch wird die zuvor angelegte Identität seiner Figur bestätigt und in einer eigenen Erzählsequenz konkretisiert. Sie bereitet eine Figurenrolle vor, die seinen Einsatz in Caricyn rechtfertigt und seine Identität als Oberkommandierender an der Südfront unterstützt. Der Monolog stattet seine Figur mit einem Wissen aus, das ihn als Militär zeigt, der sowohl mit den taktischen als auch technischen Anforderungen einer modernen Kriegsführung vertraut ist. Er trägt damit eine Identität in das semantische Profil seiner Figur Zur Funktion der direkten Rede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 148f., Genette 1994, 123f. und Hamburger 1987, 134ff. 1146 Tolstoj Chleb 1937, 148. Zur offiziellen Darstellung Vorošilovs vgl. Gurštejn 1938, 260 und Usievič 1938, 103. 1145 Stalin an der Südfront: Textanalyse 237 ein, die zeigt, daß Stalin sowohl über ein theoretisches als auch praktisches Wissen der operativen Kriegsführung verfügt. 1147 Seine Figur wird auf diesem Weg mit einer Kompetenz ausgestattet, die seine Darstellung als militärischer Führer rechtfertigt und in einem vermeintlich authentischen Wissen verankert. Dieses Wissen qualifiziert ihn für das im folgenden gezeigten Geschehen ebenso, wie für die anschließende Verteidigung Caricyns: «- Когда мы переформируем армию и призовем семь возрастов, то и тогда противник численно будет сильнее нас. Мы должны создать новую тактику. Наши дивизии не должны быть громоздкими, но гибкими и подвижными, усиленно снабженными пулеметами и артиллерией. [...] Мы должны иметь перевес в технике – создать фронтовую завесу из бронепоездов и бронемашин. Нам нужен воздушный флот. Мы должны создать воздушный флот...» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Durch diesen Monolog gelingt es, den Mythos von der militärischen Führerschaft Stalins im Text zu etablieren und seine Identität als genialer Feldherr im Handlungszusammenhang des Erzählten zu vergegenwärtigen. Der Monolog fungiert so als literarisches Verfahren, das die zuvor angelegte Figurencharakteristik ausbaut und die offiziellen Mythologeme des Stalinkults in der Figurenperspektive Stalins verankert.1148 Die Erzählung rekonstruiert ein semantisches Profil, das wenig später in die offizielle Mythographie des Stalinkults eingeschrieben wird. In dem 1939 erschienenen Text «Сталин и строительство Красной Армии» heißt es: «Сталин всегда лично и непосредственно участвует и руководит вопросами, связанными с технической реконструкцией вооруженных сил Советского Союза. Он является инициатором крупнейших организационных и технических мероприятий в области развития и непрестанного совершенствования советского оружия, он проявляет много внимания и забот военным изобретениям и изобретателям, помогая им в работе.» (Vorošilov 1940, 44) Die so authentifizierte Inszenierung wird durch die Requisiten unterstützt, die den Figuren Stalins und Vorošilovs gleich zu Beginn des Kapitels zugeordnet werden. Während die Figur Vorošilovs durch das Gewehr, das er sich über die Schulter hängt, als Frontsoldat charakterisiert wird, wird die Figur Stalins durch den Nußbaumstecken, den er zu Beginn ihrer Wanderung aufnimmt, als Oberbefehlshaber der Roten Armee identifiziert. Der Stecken kann als symbolische Repräsentation eines Kommandostabs gelesen werden, der sein militärisches Amt versinnbildlicht und seine Rolle als militärischer Führer durch ein traditionelles Symbol militärischer Befehlsgewalt repräsentiert. Gewehr und Stecken werden so zu Requisiten, die sowohl die Rolle als auch die militärische Hierarchie der literarischen Charaktere im Text reproduzieren.1149 Sie weisen Stalin einen militärischen Rang zu, den er tatsächlich nie bekleidet hat, in den er durch die Imagination der Erzählung jedoch indirekt gekleidet wird. Vgl. hierzu Blumental’ 1933, 164ff. sowie Boltin 1940, 282, Vorošilov 1930, 64f. und Vorošilov 1940, 36ff. Die meisten dieser Darstellungen beziehen sich auf einen Artikel Stalins, der am 14. März 1923 unter dem Titel „Zur Frage der Strategie und Taktik der russischen Kommunisten“ in der Правда erschienen ist. Dort heißt es im vierten Unterkapitel mit der Überschrift „Die Taktik“: „Die Taktik ist ein Teil der Strategie, ihr untergeordnet und in ihrem Dienst stehend. Die Taktik befaßt sich nicht mit dem Kriege als Ganzem, sondern mit seinen einzelnen Episoden, mit den Kämpfen, mit den Schlachten. [...] Die wichtigste Aufgabe der Taktik ist die Festlegung der Mittel und Wege, der Formen und Methoden des Kampfes, die der konkreten Situation im gegebenen Augenblick am besten entsprechen und den strategischen Erfolg am sichersten vorbereiten.“ (Stalin 1952c, Bd. 5, 146) 1148 Zur Funktion des Monologs vgl. Mukařovský 1967, 145ff. Zur direkten Rede der Figuren vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f., Bal 1985, 148f. und Hamburger 1987, 134ff. 1149 Zur Funktion der Requisiten vgl. Tomaševskij 1967, 153. 1147 Stalin an der Südfront: Textanalyse 238 Mit dieser Szene ist die Konfiguration der Figurenrolle Stalins vorerst abgeschlossen. Die nachfolgenden Erzählabschnitte dienen einzig dazu, diese Identität zu bestätigen und durch die in ihnen gezeigte Handlung zu verifizieren. 3.10.9 Stalin und Vorošilov in Gefahr Im nächsten Abschnitt wird die zu Beginn angelegte Handlung wieder aufgegriffen. Er zeigt, wie Stalin und Vorošilov, nachdem sie die verlassene Eisenbahnstation erreicht haben, in einen feindlichen Hinterhalt geraten. Mit dem Einsatz dieser Handlung wird die handlungsschwache Erzählsequenz der vorhergehenden Erzählabschnitte aufgegeben und durch ein handlungsstarkes Erzählen ersetzt. Dessen Konzentration auf die äußeren Ereignisse ermöglicht es, die Charaktere Stalins und Vorošilovs in den Handlungszusammenhang des Erzählten einzubinden und von Beginn an als handelnde Figuren darzustellen.1150 Der zu Beginn angelegten Konfigurationssituation kommt so die Aufgabe zu, einen Handlungszusammenhang herzustellen, der es erlaubt, das semantische Profil ihrer Figuren zu bestätigen und in einer äußeren Handlung zu begründen. Sie werden dabei mit einer Reihe von Charakterzügen ausgestattet, die die offizielle Darstellung ihrer Figuren rechtfertigt und durch die Überlagerung von Handlung und Figur im Text vergegenwärtigt.1151 Dem ersten Abschnitt der nachfolgenden Handlung kommen dabei gleich zwei Funktionen zu. Zum einen soll er die Figuren Stalins und Vorošilovs in dem Raum- und Zeitgefüge der nachfolgenden Ereignisse verorten und zum anderen nimmt er eine Charakterisierung ihrer Figuren vor, die ihr semantisches Profil um einen zusätzlichen Aspekt erweitert.1152 Die Szene ist für den weiteren Verlauf der Erzählung überflüssig und dient ausschließlich dazu, das semantische Profil ihrer Figuren auszubauen. Sie zeigt, wie Stalin und Vorošilov am Wasserturm der Bahnstation Halt machen und sich am Kran des Turms waschen. Diese Szene, die die Erzählung ein weiteres Mal zum Stillstand bringt, fingiert eine Handlung, die ganz unmittelbar zur Charakterisierung ihrer Figuren beiträgt.1153 Sie markiert eine weitere Digression im Erzählten, in der die Darstellungsfunktion die Handlungsfunktion dominiert und die Figurenbeschreibung vor den Fortgang der Handlung setzt. Sie dokumentiert die Einfachheit und Bescheidenheit Stalins und Vorošilovs und reproduziert damit ein semantisches Profil, das in der offiziellen Mythographie des Stalinkults vorgegeben ist:1154 «Они дошли до покинутой станции. Водонапорная башня, к счастью, уцелелa. Открыли кран, - с наслаж-дением вымылись до пояса и напились.» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Erst nachdem Stalin und Vorošilov mit diesen Charaktereigenschaften versehen worden Zum Zusammenhang von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 152f. sowie Červenka 1973, 122f. und Hamburger 1987, 134ff., die den Unterschied zwischen Figuren- und Erzählerrede darin sieht, daß die Figuren einmal als Subjekt und einmal als Objekt der Handlung dargestellt werden. 1151 Daß es sich dabei letztlich aber auch nur um einen Fiktionalisierungsprozeß handelt, zeigt Hamburger 1987, 102ff. 1152 Zu diesen beiden Funktionen der narrativen Figurengestaltung vgl. Tomaševskij 1967, 152f. sowie Červenka 1978, 122f. und Hamburger 1987, 134ff. 1153 Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die literarische Figurengestaltung vgl. Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff. 1154 In Jaroslavskijs 1939 erschienener Stalin-Biographie heißt es dazu: «К этому надо добавить величайшую простоту и скормность троварища Сталина во всем – в одежде, в образе жизни, в потребностях, в отношениях с людьми.» (Jaroslavskij 1941, 148) Vgl. hierzu auch Čeremin 1950, 4 sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 82. 1150 Stalin an der Südfront: Textanalyse 239 sind, setzt die Handlung der nachfolgenden Erzählsequenz ein. Sie beginnt damit, daß Vorošilov auf das Dach der Station klettert, um von dort aus die umliegende Gegend zu beobachten.1155 Damit wird eine Ausgangssituation geschaffen, die den Einsatz der nachfolgenden Ereignisse rechtfertigt im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet.1156 Unmittelbar, nachdem er auf das Dach geklettert ist, wird auf ihn geschossen: «Едва только Ворошилов, взобравшись, поднял руки с биноклем, - по железной крыше будто ударило горохом...» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Mit dieser Szene wird der zu Beginn angelegten Spannungsbogen weiter ausgebaut und auf die Handlungsgegenwart der Szene übertragen. Er wird erneut durch eine mehrdeutige Informationsvergabe gesteigert, deren Uneindeutigkeit erst im weiteren Verlauf der Erzählung aufgehoben wird.1157 Durch diese Verdichtung des Erzählten entsteht ein Konflikt, der ganz unmittelbar zur Figurencharakterisierung beiträgt. Er konfiguriert eine Handlungsfunktion, die die Figurenrollen Stalins und Vorošilovs rechtfertigt und in einer äußeren Handlung begründet. Die Handlungsfunktion, die Stalin zugewiesen wird, zeigt ihn als aktive Figur, deren funktionale Rolle dadurch bestätigt wird, daß sein Handeln zu einer sofortigen Veränderung der Situation beiträgt. Diese Handlungsfunktion wird in einer anschließenden Replik bestätigt. Stalin ist vor dem Bahnhofsgebäude stehen geblieben und ruft Vorošilov zu, er solle von dem Dach herunterspringen: «Вниз! Скорее! – крикнул Сталин.» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Dieser Replik kommen zwei Funktionen zu. Während sie die Figur Stalins einerseits als handelnde Figur zeigt, die aktiv in die Lösung des Konflikts eingreift, dokumentiert sie andererseits eine Reihe von Charaktereigenschaften, die Stalins mythische Identität konfigurieren: Da er die Situation – im Gegensatz zu Vorošilov – sofort durchschaut, wird seine Figur mit einem Wissensvorsprung ausgestattet, der die Figurensemantik der vorhergehenden Erzählabschnitte bestätigt und auf die Figurencharakteristik der hier analysierte Szene überträgt. Sein Verhalten trägt dazu bei, Eigenschaften wie Schnelligkeit, Entschlossenheit und Reaktionsvermögen im Text zu vergegenwärtigen und damit zugleich seine Identität als zentrale Figur der Erzählung zu rechtfertigen. Dazu wird die mehrdeutige Informationsvergabe des einleitenden Erzählabschnitts aufgelöst und in eine personal perspektivierte Informationsvergabe überführt.1158 Sie wird in die Figurenperspektive Stalins übertragen und als scheinbar authentisches Wissen präsentiert. Da diese Informationsvergabe in Form der direkten Rede in den Text der Erzählung eingetragen wird, kann das literarisch konstruierte Profil seiner Figur als vermeintlich authentisches dargestellt werden. Es wird in der Innenperspektive seiner Figur verankert und zu einer Handlungsmotivation ausgebaut, die seine offizielle Identität legitimiert.1159 Der zu Beginn angelegte Spannungsbogen dient so auch dazu, eine kontrastive Figurengestaltung zu legitimieren, die die Figuren Stalins und Vorošilovs zueinander ins Verhältnis setzt und die Figur Stalins zum dominierenden Charakter werden läßt. Da er über ein Wissen verfügt, das weder dem Leser noch der Figur Vorošilovs zugänglich ist, Tolstoj Chleb 1937, 148. Zur Ausgangssituation vgl. Tomaševskij 1967, 136. 1157 Vgl. hierzu Weber 1975, 96ff. sowie Genette 1994, 81ff. 1158 Vgl. hierzu Weber 1975, 65ff. 1159 Vgl. hierzu Mikojan 1940, 75, der in dem Artikel, der zu Stalins sechzigstem Geburtstag erscheint, schreibt: «Сталин осторожен и расчетлив, когда надо принимать решение. Сталин смел, мужественен и неумолим, когда вопрос решен и надо действовать.» 1155 1156 Stalin an der Südfront: Textanalyse 240 wird seine Figur zum dominierenden Charakter, der einmal mehr im Mittelpunkt der Ereignisse steht. Die Überlegenheit Stalins beruht damit auch in dieser Szene auf einer manipulativen Informationsvergabe, die seine literarische Repräsentation rechtfertigt und aus dem Wahrnehmungsgefüge der Erzählung in die Rezeptionsperspektive des Lesers überträgt. Durch das anfänglich inszenierte Informationsdefizit wird die gesamte Szene noch einmal mit Spannung aufgeladen. Sie dient auch in dieser Szene dazu, die Erwartungshaltung des Lesers zu steigern und die Bedeutung der dargestellten Ereignisse zu erhöhen. Durch diese Ereigniskonstruktion wird die Figur Stalins mit einer emotionalen Bedeutung aufgeladen, die sie endgültig zur zentralen Figur der Erzählung stilisiert.1160 Sie wird zum Helden, der allen Gefahren zum Trotz seinen Feinden widersteht. Diese Identitätsstiftung wird durch die im Text inszenierte Handlung beglaubigt, so daß das semantische Profil seiner Figur nicht nur in einer imaginären sondern in einer scheinbar realen Handlung begründet ist. Diese Darstellung wird im nachfolgenden Abschnitt fortgeführt. Er zeigt, wie weitere Kugeln in das Bahnhofsgebäude einschlagen und Vorošilov, um sich vor ihnen zu schützen, vom Dach der Station herunterspringt. Damit wird eine Handlung inszeniert, die die zuvor gezeigte Wahrnehmung Stalins bestätigt und durch das Verhalten Vorošilovs nachträglich legitimiert. Sie wird durch die Ereignisse der äußeren Handlung beglaubigt und durch die im Erzählertext nachgelieferten Informationen verifiziert.1161 Dadurch entsteht eine Übereinstimmung von figuraler und auktorialer Erzählperspektive, die die offizielle Darstellung seiner Figur bestätigt und im Handlungszusammenhang der Szene verankert.1162 Durch die im Erzählertext zusammengefaßte Handlung wird ein textinterner Bedeutungszusammenhang hergestellt, der die öffentliche Identität seiner Person rechtfertigt und ihre persönlichen Eigenschaften durch eine nachträglich fingierte Handlung zur Schau stellen kann. Nachdem die Figuren Stalins und Vorošilovs bereits durch ihr Handeln in eine hierarchische Ordnung überführt worden sind, wird die Hierarchie ihrer Charaktere in dem Dialog, der den Erzählabschnitt beendet, noch einmal exponiert.1163 Dieser zeigt, daß Vorošilov sich bei Stalin entschuldigt und damit ganz explizit dessen Überlegenheit anerkennt. Die Darstellung Stalins hat ihren Ursprung damit nicht allein in dem Verweisgefüge einer kontrastiven Figurencharakterisierung, sondern in einer wechselnden Perspektivierung, die seine Inszenierung in der Wahrnehmung Vorošilovs begründet. Dadurch, daß sie in der Figurenperspektive Vorošilovs verdoppelt wird, wird sie zur authentischen Beschreibung: «Донеслись выстрелы. Пули впивались в деревянную стену вокзала. Ворошилов соскочил с крыши. Все же он успел расглядеть, что стреляли в версте отсюда из-за кургана. Он сказал, когда отошли под прикрытие: - Извините, Иосиф Виссарионович, право... (У него было совсем расстроеное лицо. Сталин засмеялся: 'Бывает...'). Молно здесь обождать бронепоезд... Но боюсь, как бы казачки не вздумали на атаковать кавалереией... Лучше будет вернутся... – Идем...» (Tolstoj Chleb 1937, 148) Tomaševskij 1967, 153f. Zur Bedeutung der äußeren Handlung vgl. Genette 1994, 68ff. sowie Lämmert 1967, 91ff. 1162 Vgl. hierzu Genette 1994, 132ff. und 269ff. sowie Doležel 1972, 280ff., Červenka 1978, 129ff. und Hamburger 1987, 134ff. 1163 Zu dieser Funktion des Dialogs vgl. Mukařovský 1967, 115ff. 1160 1161 Stalin an der Südfront: Textanalyse 241 Diese Beschreibung inszeniert eine semantische Differenz, die ihre Charaktere endgültig aufeinander bezieht und die hierarchische Figurenkonstellation der Szene erklärt.1164 Durch die gegenseitige Bestätigung von Handlung und Figurenrede kann die im Text vorgenommene Figurenhierarchie gerechtfertigt und im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet werden.1165 Dadurch kann die Erzählung den Moment der ideologischen Konstruktion verdecken und die Relation der literarischen Charaktere in einem Handeln begründen, das durch die objektive Stimme des Erzählers als vermeintlich authentisches erscheint. Die letzten Sätze des Dialogs haben dann lediglich noch die Funktion, die zuvor angelegte Handlung zu beenden und den Übergang zur nachfolgenden Erzählsequenz zu motivieren. Nachdem die Handlung des folgenden Erzählabschnitts in dem vorhergehenden Dialog bereits antizipiert worden ist, zeigt dieser, wie Stalin und Vorošilov zu dem Panzerzug zurückkehren. Auf ihrem Weg entlang der Eisenbahngleise werden sie erneut von feindlichen Kosaken angegriffen. Dadurch entsteht eine Handlung, die ihre Figuren noch einmal in die Ereigniskonstruktion der vorhergehenden Erzählsequenzen einbezieht und den dort angelegten Konflikt aktualisiert. Auch diese Szene dient in erster Linie dazu, die Figuren Stalins und Vorošilovs im Moment der Gefahr zu porträtieren und sie durch ihr im Erzählertext beschriebenes Verhalten zu charakterisieren. Die im Text rekonstruierten Ereignisse stellen dabei einen Handlungszusammenhang her, der die persönlichen Eigenschaften ihrer Figuren in den Vordergrund stellt und über den Umweg einer äußeren Handlung vergegenwärtigt.1166 Sie werden aus dem Diskurssystem des offiziellen Stalinkults in die Handlungsgegenwart der Szene übertragen und dort als scheinbar authentische Verhaltensweisen vorgeführt. Die wichtigste Funktion der Szene besteht somit darin, die offizielle Darstellung Stalins zu rechtfertigen und im Ereigniszusammenhang des Erzählten zu begründen. Sie zeigt, daß Stalin seinen Weg trotz der drohenden Gefahr ruhig und überlegen fortsetzt, während Vorošilov auf die erneuten Angriffe besorgt reagiert. Damit trägt die Szene eine Gelassenheit in das semantische Profil Stalins ein, die einmal mehr die Überlegenheit seiner Figur demonstriert. Sie verweist auf Eigenschaften wie Mut, Entschlossenheit und Unnachgiebigkeit und dokumentiert damit ein Charakterbild, das die offizielle Beschreibung seiner Person wiederholt.1167 Diese Merkmale werden in das Arsenal seiner literarischen Merkmale eingetragen und können als vermeintlich authentische Eigenschaften vorgeführt werden. Die Legitimation seiner Figurenrolle findet damit auch in dieser Szene durch eine Überlagerung von Handlung und Figur statt, deren Auftrag darin besteht, die offizielle Darstellung Stalins zu rechtfertigen und in einem vermeintlich authentischen Handeln zu begründen. Sie wird zur Initiation, die seine Darstellung als militärischer Führer Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153 sowie Červenka 1978, 118ff. und Lotman 1973, 376. Zur hierarchischen Figurenkonstellation in den Romanen des Sozialistischen Realismus vgl. Günther 1984, 107f. 1166 Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die Figurenkonzeption vgl. Tomaševskij 1967, 154f. sowie Červenka 1978, 122f. und Veldhues 1997, 59ff. 1167 In dem 1940 erschienenen Text «Сталин и строительство Красной Армии» heißt es über die persönlichen Eigenschaften Stalins: «В годы гражданской войны могучая воля Сталина, твердая, как сталь, сталинская рука, исключительное хладнокровие и непоколебимость в любых условиях обстановки, требовательность к себе и окружающим, при исключительной заботе о людях, вдохновляли бойцов, командиров, комиссаров и политработников нашей армии на георизм, подвиги и отвагу, и она побеждала, росла, крепла и складывалась в несокрушимую силу, отстоявшую Советскую страну от всех ее врагов.» (Vorošilov 1940, 35) 1164 1165 Stalin an der Südfront: Textanalyse 242 rechtfertigt und durch die nachträglich inszenierte Handlung legitimiert. Diese Identitätsstiftung wird in unmittelbarer Abgrenzung zu der Charakterisierung Vorošilovs vorgenommen. Obwohl dessen Beschreibung eine autonome Handlung simuliert, wird das Verhalten seiner Figur durch den Darstellungsauftrag der Szene überlagert. Seine Sorge dient nicht dazu, seine eigene Figur zu charakterisieren - sie steht sogar im Gegensatz zu einigen zuvor versammelten Eigenschaften. Sein Verhalten dient stattdessen dazu, die Figurensemantik Stalins zu unterstützen. Die Überlegenheit Stalins wird damit einmal mehr durch eine Relation der literarischen Charaktere in Szene gesetzt, deren Verhalten die Dominanz seiner Figur unterstreicht.1168 Die narrative Vermittlung des Erzählten dient auch diesmal dazu, die so inszenierte Figurencharakteristik zu beglaubigen und durch die abstrakte Stimme des auktorialen Erzählers zu objektivieren: «Ворошилов снял с плеча карабин. И они, обогнув станцию, пошли держась в стороне от полотна. Пулями здесь достать их было трудно, все же не одна пуля просвистела над головой. Сталин шел все так же, спокойно, постукивая палочкой. Ворошилов с тревогой поглядывал то на него, то в сторону далекого кургана.» (Tolstoj Chleb 1937, 148f.) Die Erzählung wird damit zu einem Akt der Signifikation, der die offizielle Darstellung Stalins rechtfertigt und durch eine vermeintlich authentische Handlung legitimiert. Sie konfiguriert ein semantisches Profil, das die zuvor angelegte Figurenbeschreibung aufgreift und seine Identität als militärischer Führer in einem literarisch gestalteten Verhalten begründet.1169 Diese Darstellung wird auch im zweiten Teil der Szene fortgesetzt. Diese zeigt, wie Stalin und Vorošilov ihren Weg zum Panzerzug fortsetzen, ohne daß die Schüsse der feindlichen Angreifer sie treffen. Dadurch wird eine Überlegenheit ihrer Figuren inszeniert, die sie endgültig zu den Helden der Erzählung werden läßt. Ihr Verhalten repräsentiert ein semantisches Profil, das die Figurengestaltung realistischer Texte verläßt und sie in die Tradition epischer wie trivialer Helden einschreibt: «Они шли, не ускоряя шага. Через минуту снаряд поднял вихрь земли позади них. Выемка, где стоял невидимый отсюда бронепоезд, была еще далеко. Следующий снаряд разорвался впереди них.» (Tolstoj Chleb 1937, 149) Die Erzählsequenz wird durch eine Handlung beendet, die nicht im Kontext des Erzählten begründet ist, sondern auf die Eingangssituation des Kapitels zurückgreift. Sie zeigt, wie der Panzerzug Stalin und Vorošilov entgegen kommt und die mitfahrenden Soldaten die Stellung der feindlichen Armee angreifen. Durch diese Handlung kehren die Figuren Stalins und Vorošilovs in das semantische Feld ihrer Figuren zurück, das sie von bewegliche in unbewegliche Charaktere verwandelt. Die Differenz zwischen Schauplatz und Figur wird aufgehoben und sie werden erneut in ihr zuvor konfiguriertes Rollenprofil eingefügt:1170 «Наконец из выемки ответило тяжелое орудие бронепоезда, - рев его был такой грозный, что казачья пушечка за курганом еще раз тявкнула и замолкла. На гребень выемки выскакивали разведчики, - они Vgl. hierzu Lotman 1973, 376 und Červenka 1978, 118f. Zu dieser Funktion der historischen Erzählung vgl. Hamburger 1987, 57ff. sowie Aust 1994, 10ff. und Lützeler 1989, 12ff. 1170 Zu dieser Konfiguration der literarischen Handlung vgl. Lotman 1973, 361f. sowie Tomaševskij 1967, 135, die beide darauf hinweisen, daß mit dem Erreichen der Endsituation auch die Handlung zum Stillstand kommt. 1168 1169 Stalin an der Südfront: Textanalyse 243 бежали цепью в сторону кургана.» (Tolstoj Chleb 1937, 149) Gleichzeitig wird mit dieser Szene eine Handlung inszeniert, die die Darstellung Stalins nachträglich rechtfertigt. Der Zug repräsentiert eine Handlungsfunktion, die seine Rolle als Oberkommandierender an der Südfront beglaubigt und seine Rückkehr in die Rolle des übergeordneten Senders dokumentiert. Der Zug wird zur symbolischen Repräsentation seiner militärischen Führerschaft und greift stellvertretend für Stalin in den militärischen Konflikt ein. Der letzte Abschnitt dieser Erzählsequenz wendet sich dann erneut Stalin zu. Er bleibt neben dem Zug stehen und zündet sich eine Pfeife an. Diese Nahaufnahme zeigt noch einmal die Gelassenheit, mit der er auf die Ereignisse reagiert. Die Überlegenheit seiner Figur wird auch hier durch eine Geste repräsentiert, die das offizielle Stalinbild bestätigt und seine literarische Figur legitimiert. Das Anzünden der Pfeife wird auch in diesem Erzählabschnitt zur literarischen „Maske“, die das Abbildungsverhältnis der Erzählung reguliert und die symbolische Rekonstruktion Stalins legitimiert.1171 Durch die stereotype Wiederholung erweist sie sich jedoch als Bestandteil eines nachträglich kanonisierten Repräsentationssystems, dessen offiziell dekretierte Verhaltensweisen erst durch die Beschreibung im Erzählertext zum scheinbar authentischen Verhalten werden: «Сталин остановился и, прикрывая от ветра огонек спички, раскуривал трубку...» (Tolstoj Chleb 1937, 149) 3.10.10 Ein weiteres Telegramm Am Ende dieses Kapitels steht ein weiteres Telegramm, das Stalin nach Moskau schickt. Damit wird die Eingangssituation des Kapitels wieder aufgegriffen und Stalin ein weiteres Mal in seiner Rolle als militärischer Führer porträtiert.1172 Da der Wechsel der Szene weder im Erzählertext noch in der Figurenrede Stalins motiviert wird, entsteht ein Informationsdefizit, das erst durch die im Telegramm zusammengefaßten Informationen außer Kraft gesetzt wird. In diesem Telegramm erfährt man, daß Stalin von einer zweiwöchigen Inspektionsfahrt nach Caricyn zurückgekehrt ist und Lenin über die Ergebnisse seiner Reise berichtet. Mit diesem Telegramm wird die zuvor gezeigte Handlung zum Stillstand gebracht und durch einen nachträglichen Bericht begründet. Inhaltlich bezieht sich das Telegramm auf die bereits zu Beginn des Kapitels dargestellte Sprengung der Eisenbahnverbindungen. Stalin informiert Lenin darüber, daß der bisherige Oberbefehlshaber an der Südfront, Snesarev, die Instandsetzung der Eisenbahnlinie sabotiert.1173 Nachdem Stalin erste Schritte zu seiner Entmachtung unternommen hat, fordert er von Lenin dessen offizielle Absetzung. Damit wird eine Leerstelle inszeniert, die im weiteren Verlauf der Erzählung durch Stalin selbst gefüllt wird. Seine Darstellung als Oberkommandierender an der Südfront wird durch die zuvor gezeigten Ereignisse gerechtfertigt und durch den von ihm verfaßten Bericht als notwendige Konsequenz vorgeführt. Sein Telegramm dokumentiert ein Wissen, das diese Rollenkonfiguration begründet und die Absetzung Snesarevs nachträglich legitimiert. Durch dessen Beschreibung wird noch einmal eine kontrastierende Figurensemantik etabliert, die die Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 135 sowie Červenka 1978, 118f. und Bal 1985, 79ff. Zum Zusammenhang von Konfigurationssituation und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 134f. sowie Veldhues 1997, 64. 1173 Zum Rückblick vgl. Lämmert 1967, 128ff. sowie Genette 1994, 32ff. 1171 1172 Stalin an der Südfront: Textanalyse 244 Darstellung Stalins abschließend legitimiert. Sein Einsatz an der Südfront erscheint damit nicht als willkürliche Entscheidung, sondern als Notwendigkeit, die durch die faktischen Ereignisse bestätigt wird. Das Telegramm wird so zur Legitimation eines Handelns, das Stalin ganz unmittelbar in die Lösung des militärischen Konflikts integriert. Da die Ereignisse in der Figurenrede Stalins wiedergegeben werden, erscheint sein Handeln als vermeintlich authentisches, das einmal mehr die Handlungsfunktion seiner Figur demonstriert. Die direkte Rede dient auch hier dazu, die Figurenrolle Stalins zu bestätigen und als scheinbar reale zu inszenieren.1174 Sie setzt auch hier ein scheinbar authentisches ‚Ich’ in den Text der Erzählung ein, das literarische und historische Figur aufeinander bezieht und die Verschaltung von literarischer und historischer Handlung reguliert. So können die dargestellten Ereignisse in die Figurenperspektive Stalins eingeschrieben und zu einer Handlungsmotivation ausgebaut werden, die die rein fiktionale Begründung seines Handelns aufhebt. Dem Telegramm kommt so die Aufgabe zu, die Figurenrolle Stalins zu rechtfertigen und in einer nachträglich fingierten Ereignishaftigkeit zu begründen.1175 Erst dadurch, daß sie im weiteren Verlauf der Erzählung umgesetzt wird, kann sie als faktische Realität vorgeführt werden:1176 «С пути Сталин телеграфировал Владимиру Ильичу: 'Воемрук Снесарев по-моему очень умело саботировать дело очищения линии Котельниково – Тихорецкая. Ввиду этого я решил лично выехать на фронт и познакомиться с положением. Взял с собой... командующего Ворошилова, броневой поезд, технический отряд и поехал. [...] В результате двухнедельного пребывания на фронте убедился, что линию безусловно можно прочистить в короткий сорок, если за броневым поездом двинуть двенадцатитысячную армию, стоящую под Гашуном и связанную по рукам и ногам распоряжениями Снесарева. Ввиду этого я с Ворошиловым решили предпринять некоторые шаги вразрез с распоряжениями Снесарева. Наше решенише уже проводится в жизнь и дорога в скором времени будет очищена, ибо снаряды и патроны имеются, а войска хотят драться.» (Tolstoj Chleb 1937, 149) Am Ende dieses Telegramms steht eine Forderung, die die Darstellung Stalins ein weiteres Mal legitimiert. Sie zeigt ihn als militärischen Führer, der die Schwäche der eigenen Einheiten dadurch kompensiert, daß er weitere Panzerwagen aus Moskau anfordert. Mit dieser Forderung wird die im Verlauf dieses Kapitels vorgenommene Inszenierung als genialer Feldherr bestätigt und seine Darstellung als militärischer Taktiker beglaubigt. Sie erscheinen damit als vermeintlich authentische Eigenschaften, die in der direkten Rede seiner Figur bestätigt und in ihrer nachträglichen Perspektivierung begründet sind: «Вторая просьба – дайте нам срочно штук восемь броневых автомобилей. Они моглы бы возместить, компенсировать, повторяю – компенсировать численный недостаток и слабую организованность нашей пехоты.» (Tolstoj Chleb 1937, 149) 3.11 Die Verteidigung Caricyns 3.11.1 Schauplatz und Figur Das nächste Mal sieht man Stalin ganz am Ende, im achten und letzten Unterkapitel der Erzählung. Im Mittelpunkt dieses Erzählabschnitts steht die Verteidigung Caricyns, die zur Kulisse für die abschließende Darstellung Stalins wird. Das Kapitel setzt die Rollenkonfiguration der vorhergehenden Erzählabschnitte fort und zeigt seine Figur noch Lämmert 1967, 204ff. sowie Bal 1985, 148f. und Genette 1994, 123f. Vgl. hierzu Lämmert 1967, 209ff. sowie Hamburger 1987, 157ff. 1176 Vgl. hierzu noch einmal Austin 1994, 27ff. 1174 1175 Stalin an der Südfront: Textanalyse 245 einmal in ihrer Rolle als Oberkommandierender an der Südfront. Das Unterkapitel zerfällt in zwei Teile. Während der erste Teil Stalin zum letzten Mal als militärischen Führer zeigt, der die Verteidigung der Stadt organisiert, zeigt der zweite Teil des Kapitels ihn als militärischen Führer, der die Verteidigung Caricyns vom Schützengraben aus befehligt. Zum Schauplatz des ersten Erzählabschnitts wird dabei einmal mehr der Eisenbahnwaggon, der auch hier zur symbolischen Repräsentation seiner Figurenrolle wird. Er verweist noch einmal auf die militärische Führerschaft seiner Figur und trägt sie in den Handlungszusammenhang der Szene ein. Die Rolle Stalins wird somit auch im letzten Teil der Erzählung durch eine Beschreibung des Tat-Orts antizipiert, der die Rollenkonfiguration seiner Figur determiniert.1177 Die Beschreibung seines Waggons kann damit auch in diesem Kapitel als formale Exposition gelesen werden, die seine literarische Rolle konfiguriert und zusammen mit dem Schauplatz festlegt. In diesem Kapitel kommt der Beschreibung des Waggons aber noch eine andere Aufgabe zu. Sie trägt eine symbolische Bedeutung in den Text der Erzählung ein, die die bisherige Darstellung Stalins verdichtet und in einer poetischen Metapher überhöht. Dazu bedient sich Tolstoj einer Darstellungstechnik, die die objektive Beschreibung des abstrakten Erzählers aufgibt und stattdessen eine poetische Überformung des Schauplatzes vornimmt. Durch die Personifizierung des Zuges werden Eigenschaften in den Handlungszusammenhang der Erzählung eingetragen, die durch die gegenseitige Bespiegelung von Schauplatz und Figur auf die Darstellung Stalins übertragen und zu Eigenschaften seiner literarischen Figur umgeschrieben werden können.1178 Dazu wird der Zug in eine Metaphorik gekleidet, die ihn zum mythischen Zentrum der Handlung verklärt. Wenn er als „Herz“ erscheint, das den organisatorischen Willen Stalins verkörpert, der durch die Adern der Stadt fließt, wird damit eine literarische Rolle antizipiert, die die Handlungsfunktion der nachfolgenden Szenen vorgibt. In dieser Beschreibung wird die Referenzfunktion der literarischen Zeichen abgeschwächt und durch eine poetische Funktion ersetzt, die die offizielle Repräsentation seiner Person in den Text der Erzählung übertragen kann.1179 Durch die symbolische Ersetzung von Schauplatz und Figur wird er zum übergeordneten Sender, der die Verteidigung der Stadt nicht bloß organisiert, sondern inspiriert.1180 Am Anfang dieses Kapitels steht demnach eine Darstellung, die die offizielle Repräsentation seiner Person bestätigt und durch die Konfiguration eines mythischen Schauplatzes legitimiert. Die von Tolstoj vorgenommene Ersetzung von Schauplatz und Figur erweist sich als literarische Transaktion, die das offizielle Vgl. hierzu Lämmert 1967, 28 sowie Lotman 1973, 327ff. und Bal 1985, 95. Mit der Beschreibung zu Beginn dieses Kapitels wird der Verlauf der Handlung unterbrochen. Die Beschreibung gehört zu den zeitlosen Erzählweisen, denen Lämmert eine unmittelbar illusionierende Wirkung zuschreibt: Lämmert 1967, 88. 1179 Roman Jakobson beschreibt die poetische Funktion als Einstellung, bei der die Ausdrucksseite der Zeichen dominiert. Mit ihr wird das Prinzip der Entsprechung von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination verschoben. Die Bedeutung des Erzählten ergibt sich so nicht aus dem Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem, sondern aus der Einordnung der Zeichen in den semantischen Kontext der Erzählung: vgl. hierzu Jakobson 1981, Bd. 3, 25ff. sowie Mukařovský 1938, 44ff. 1180 Zur Rolle des übergeordneten Senders vgl. Propp 1998, 33ff. sowie Bal 1985, 26ff. und Greimas 1971, 118ff. Zu Stalin als übergeordnetem Sender vgl. auch Hellebust 1994, 112ff. In der 1950 erschienenen Monographie von A.S. Čeremin wird die so in Szene gesetzte Handlungsfunktion Stalins bestätigt: «По образному выражению автора повести, вагон Сталина был 'тем сердцем, которое гнало организованную волю по всем извилинам города' и по всему нарицынскому фронту. До сознания каждого коммуниста, рабочего, красноармейца были доведены чрезвычайная важность и ответственность их дела для обороны всей Советской республики.» (Čeremin 1950, 11f.) 1177 1178 Stalin an der Südfront: Textanalyse 246 Stalinbild in die Erzählung überträgt, ohne Stalin selbst zum Gegenstand dieser literarischen Stilisierung machen zu müssen. Das Bild, das durch die Beschreibung des Waggons entsteht, wird zum Symbolträger, der sie von Anfang an in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und noch vor dem Einsatz der Handlung in der Figurenkonstellation der Szene positioniert. Dadurch wird seine Figur mit einer emotionalen Bedeutung ausgestattet, die sie zum literarischen Helden werden läßt.1181 Sie wird im ganz wörtlichen Sinne in den Mittelpunkt der Ereignisse gestellt und zur zentralen Figur der Szene stilisiert.1182 Damit gibt die Erzählung einen Darstellungsauftrag preis, der nicht auf die mimetische Repräsentation einer tatsächlichen Vergangenheit ausgerichtet ist, sondern auf die Inszenierung eines Mythos, der durch die poetische Imagination im Text vergegenwärtigt werden kann. Dadurch soll der Rezeptionsvorgang gesteuert und die reine Faktizität des Erzählten zu einer simulierten Erlebniswirklichkeit ausgebaut werden: «Вагон Сталина на путях юго-восточного вокзала был тем сердцем, которое гнало организованную волю по всем извилинам города, с учреждениями, заводами и пристанями, по всему фронту, где фромировались полки, бригады и дивизии, и на митингах военные комиссары разьясняли задачи революции, по всему огромному округу, где агитаторы и продотряды минтингова по селам, станицам, и хуторам, мобилизуя беднейшее и среднее крестьянство и ломая кулацкое сопротивление.» (Tolstoj Chleb 1937, 152) 3.11.2 Legitimation einer Figurenrolle Nachdem die Figur Stalins so in den Handlungsverlauf der Erzählung einbezogen worden ist, wendet sich der nachfolgende Erzählabschnitt den Ereignissen an der Front zu. In einem zusammenfassenden Bericht wird der Leser darüber informiert, daß das Problem der Lebensmittelversorgung gelöst ist, die Lösung des militärischen Konflikts aber noch aussteht. Dieser wird in dem Bericht des Erzählers erneut aktualisiert und auf den Schauplatz Caricyn übertragen.1183 Doch bevor sich die Erzählung der endgültigen Lösung des militärischen Konflikts zuwendet, wird eine Handlungssequenz in den Verlauf der Erzählung eingeschoben, die seine poetische Überhöhung rechtfertigt und seine funktionale Rolle legitimiert. In diesem Erzählabschnitt sieht man, wie sich die Fabrikarbeiter von Caricyn - unbeeindruckt von der agitatorischen Gegenoffensive der konterrevolutionären Truppen - freiwillig zur Front melden.1184 Sie organisieren die Arbeit in den Waffenfabriken neu und setzen damit den organisatorischen Willen Stalins um. Durch den Enthusiasmus, mit dem sich die Soldaten zur Front melden, wird die zu Beginn angelegte Figurenrolle Stalins bestätigt und seine Darstellung als übergeordneter Sender legitimiert. Durch die eingeschobene Handlungssequenz wird die funktionale Rolle seiner Figur einer Realisation unterzogen, die ihre poetische Überhöhung beglaubigt und zur Rekonstruktion einer historischen Wirklichkeit verklärt.1185 Die eingeschobene Episode dient so dazu, die zu Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 153f., der den Helden als Figur beschreibt, die mit der größten emotionalen Färbung ausgestattet wird und die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich zieht. 1182 Damit bedient sich Tolstoj eines Darstellungsprinzips, das auch in der Ikonenmalerei existiert. In ihr wird die Bedeutung der zentralen Figur ebenfalls durch ihre zentrale Stellung im Raum identifiziert: Uspenskij 1971, 787 und 790. Tolstoj überträgt dieses Darstellungsprinzip auf die Konfigurationssituation der Szene und kann dadurch die Figurenrolle Stalins symbolisch überhöhen. 1183 Tolstoj Chleb 1937, 152. 1184 Tolstoj Chleb 1937, 152f. 1185 Zu diesem Verfahren, literarische Ereignisse zu realisieren, vgl. Bal 1985, 19 sowie Veldhues 1997, 66f. 1181 Stalin an der Südfront: Textanalyse 247 Beginn eingesetzte Handlungsfunktion Stalins zu bestätigen in einer exemplarischen Handlung zu belegen:1186 «Рабочие 'Грузолеса' постановили – итти на фронт всем. Рабочие французкого механического завода постановили – итти на фронт всем. Рабочие орудийного завода постановили – мобилизоваться на фронт всем и совместить это с прокатом днем и ночью – в три смены – стальной брони и срочной постройкой бронепоездов.» (Tolstoj Chleb 1937, 153) 3.11.3 Stalin reorganisiert den örtlichen Kriegsrat Nach dieser Legitimation seiner Figurenrolle wendet sich die Erzählung erneut den Ereignissen an der Front zu. Diesmal erfährt der Leser, daß es den Einheiten der Roten Armee unter der Führung Vorošilovs gelungen ist, die Truppen Mamontovs aus ihren Stellungen zu vertreiben und den Frontverlauf zu ihren Gunsten zu verschieben.1187 Doch bevor es zur endgültigen Lösung des militärischen Konflikts kommt, wird eine weitere Episode in den Handlungszusammenhang des Kapitels eingefügt. Diese zeigt, wie Stalin die Verteidigung der Stadt organisiert und den örtlichen Kriegsrat reorganisiert. Im Mittelpunkt steht seine Auseinandersetzung mit den militärischen Stäben, die er gegen den Willen des Obersten Kriegsrats unter der Führung Trockijs durch einen einheitlichen Kriegsrat ersetzt. Mit dieser Erzählsequenz wird ein Handeln Stalins dokumentiert, das seine zuvor angelegte Figurenrolle rechtfertigt und sein militärisches Handeln ein letztes Mal unter Beweis stellt. Da die Reorganisation des örtlichen Kriegsrats lediglich im Erzählerbericht zusammengefaßt wird, geht es in dieser Erzählsequenz nicht darum, die semantische Konfiguration Stalins zu erweitern, sondern darum, die zuvor angelegte Figurenrolle in einer konkreten Handlung zu beglaubigen. Die Entscheidung Stalins, die verschiedenen Stäbe durch einen einheitlichen Kriegsrat zu ersetzen, wird in seine Figurenperspektive verlegt. Dadurch erscheint sie als authentische Entscheidung, die einmal mehr seine militärische Qualifikation dokumentiert. Durch diesen Wechsel der Erzählperspektive wird die abstrakte Erzählfunktion des anonymen Erzählers aufgegeben und durch eine figurenbezogene Perspektivierung des Erzählten ersetzt.1188 Es kommt es zu einer Überlagerung von subjektiver und objektiver Erzählperspektive, die die dargestellte Handlung bestätigt und die im Text inszenierte Figurenperspektive Stalins objektiviert.1189 Durch die Begrenzung des Erzählhorizonts wird eine Verschränkung von auktorialer und figuraler Erzählperspektive vorgenommen, die objektive und subjektive Wahrnehmung aufeinander abbildet und die im Text beschriebene Wahrnehmung Stalins zur Widerspiegelung einer faktischen Wirklichkeit verklärt.1190 Durch diese Überlagerung kann die offizielle Interpretation der Zur Charakterisierung der literarischen Figur als Summe ihrer im Text gegebenen Übereinstimmungen beziehungsweise Differenzen zu dem Verhalten der anderen Charaktere vgl. Lotman 1973, 376. 1187 «За июль месяц группа Ворошилова, снабженная военными запасами, привезенными в эшелонах, расширила фронт, взяла Калач и на правом берегу – станицу Нижнечирскую, где были огромные запасы зерна.» (Tolstoj Chleb 1937, 153) 1188 Vgl. hierzu Doležel 1972, 382ff. sowie Genette 1994, 132ff. und 241ff. und Bal 1985, 104f. Mit dieser Überlagerung von externer und interner Fokalisierung nähert sich der Abschnitt der erlebten Rede an. Sie dient dazu, die Innenperspektive einer Figur zu spiegeln, ohne die Spannung der Erzählung aufzuheben und die Rede des Erzählers zu unterbrechen: Cohn 1978, 99ff. 1189 Zur Funktion der objektiven Erzählperspektive vgl. Doležel 1972, 386f. sowie Genette 1994, 132ff. und Lämmert 1967, 67ff. 1190 Käthe Hamburger weist darauf hin, daß der Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Erzählung vor allem darin begründet liegt, daß die fiktiven Gestalten einmal in ihrem inneren Erleben und einmal als „nach außen handelnde, im Strom der Begebenheiten stehende“ Figuren gezeigt werden: Hamburger 1987, 134f. 1186 Stalin an der Südfront: Textanalyse 248 sowjetischen Geschichtsschreibung in die Figurenperspektive Stalins eingetragen und dort als vermeintlich authentische Wahrnehmung ausgegeben werden. So wird durch das Spiel der Perspektivierungen eine Manipulation der Geschichte legitimiert, die durch die Autorität Stalins zur einzig möglichen Interpretation der historischen Ereignisse wird. Da die Entscheidung Stalins zugleich in ein konkretes Handeln überführt wird, dokumentiert die Erzählung eine Entschlossenheit, die einmal mehr die Darstellung seiner literarischen Figur beglaubigt. Sie wird dadurch untermauert, daß durch den von ihm eingesetzten Kriegsrat die vorherige Situation verändert und der zuvor inszenierte Mangel behoben wird. Dadurch wird eine Handlungsfunktion in Szene gesetzt, die seine Darstellung als übergeordneter Sender aufgibt und durch eine Darstellung als handelnde Figur ersetzt. Mit dieser Handlung wird eine Darstellung aufgegriffen, die in dem Text «Сталин и Красная Армия» vorgegeben ist.1191 Sie wird in den Handlungsverlauf der Szene übertragen und zum scheinbar authentischen Handeln Stalins ausgebaut. Die Erzählung dient so auch in diesem Teil der Erzählung dazu, die im offiziellen Stalinkult kanonisierte Darstellung zu bestätigen und in einer nachträglich fingierten Handlung zu begründen. Dadurch, daß Stalin als Subjekt und nicht als Objekt der Handlung erscheint, trägt dieses Kapitel zu einer Legitimation seiner Figurenrolle bei, die auch hier das im offiziellen historischen Diskurs angelegte Stalinbild durch eine literarisch gestaltete Rolle ersetzt. Damit wird zugleich die im vorhergehenden Erzählabschnitt inszenierte Figurensemantik bestätigt. Sie verweist noch einmal auf das militärische Wissen Stalins und wiederholt eine Figurencharakteristik, die seine Identität als militärischer Führer beglaubigt. Diese wird durch die Gründung des Kriegsrats offizialisiert und im Handlungszusammenhang der Szene verankert.1192 Die so entworfene Handlungsfunktion Stalins wird dadurch legitimiert, daß Lenin seiner Forderung nachkommt und Snesarev als Oberkommandierenden der Südfront absetzt. Die literarische Repräsentation Stalins wird so auch in dieser Szene durch eine Parallelisierung ihrer Figurenperspektiven unterstützt, die seine Darstellung als Oberkommandeur der Südfront rechtfertigt und durch die Autorität Lenins legitimiert: «Военрук Снесарев, наконец, был отозван в Москву, - по настоянию Ленина в Высшем военном совете, где Троцкий злобно защищал генерала. Это было крупной победой. Получив об этом известие, Сталин созвал у себя военное совещание. Нужно было сделать еще шаг в сторону организации армии: уничтожить четыре царицынских штаба и на место их поставить единый Военный совет. О таком решении Сталин телеграфировал в Москву, наметив пятерых членов Военного совета: себя, Москалева, Ворошилова, политического комиссара штаба и Титовского [...].» (Tolstoj Chleb 1937, 153f.) Gleichzeitig wird die Rezeptionsperspektive der Erzählung festgelegt. Durch den Satz, «Это было крупной победой» wird die objektive Erzählfunktion des abstrakten Erzählers aufgehoben und durch eine rhetorische Erzählperspektive ersetzt, die das Er- Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 47ff. sowie Boltin 1940, 279f. Stalin wird tatsächlich am 19. Juli 1918 zum Vorsitzenden des Kriegsrats des nordkaukasischen Militärbezirks ernannt. Dessen Gründung geht aber nicht auf die Initiative Stalins zurück, sondern auf eine Anordnung des Revolutionären Kriegsrats der Republik, dessen Vorsitzender Trockij war. Snesarev, den Stalin Mitte Juli wirklich verhaften ließ, wird freigelassen, nachdem eine Untersuchungskommission vor Ort dessen Festnahme überprüft hat. Die Untersuchungskommission wurde eingesetzt, weil Stalin ein Telegramm Trockijs, in dem dieser gegen die Verhaftung Snesarevs protestiert, ignoriert hat: Tucker 1973, 193f. 1191 1192 Stalin an der Südfront: Textanalyse 249 zählte nicht nur darstellt sondern perspektiviert. Dadurch wird eine Wahrnehmung der Erzählung in Szene gesetzt, die die Figurenperspektive Stalins bestätigt und zur Zentralperspektive der Erzählung ausbaut.1193 3.11.4 Stalin deckt den konterrevolutionären Verrat auf Nachdem Stalin den örtlichen Kriegsrat gegründet hat, wird im folgenden Abschnitt die Festnahme der konterrevolutiären Verschwörer gezeigt. Zu diesem Zweck greift die Erzählung einen Konflikt wieder auf, der die zu Beginn angelegte Auseinandersetzung zwischen Lenin, Stalin und Trockij aktualisiert und zu einem Konflikt ausbaut, der die funktionale Rolle Stalins legitimiert. Dieser wird durch die Abberufung Snesarevs in den Handlungszusammenhang der Szene eingetragen und zur Handlungsgegenwart Stalins ausgebaut. Der folgende Abschnitt zeigt, daß er sich über den Befehl Trockijs zur Zusammensetzung des örtlichen Kriegsrats hinwegsetzt und statt dessen die Verhaftung der konterrevolutionären Verräter anordnet:1194 «Высший военный совет уперся и после нескольких дней молчания ответила, что согласен на создание в Царицыне Военного совета, но считает, что он должен состоять только из трех членов: Сталина, Москалева и военного специалиста Ковалевского. Такое решение было предательством со стороны Троцкого. Тогда Сталин, не споря и не опровергая, сделал еще один организационный шаг: приказал начальнику Чрезвычайной комиссии арестовать и допросить Носовича, Ковалевского, Чебышева и весь их штаб.» (Tolstoj Chleb 1937, 154) In diesem Erzählabschnitt wird die Figur Stalins mit einer Konfliktrelevanz ausgestattet, die ganz unmittelbar zur Konfiguration seiner Figurenrolle beiträgt. Sie bedingt eine Handlungsfunktion, die seine Figur in den Mittelpunkt der Ereignisse stellt und endgültig zum zentralen Subjekt der Erzählung werden läßt.1195 Dadurch wird seine Identität als militärischer Führer bestätigt und durch ein konkretes Handeln verifiziert.1196 Die im Erzählertext beschriebenen Ereignisse dienen dazu, einen Handlungszusammenhang herzustellen, der die offizielle Repräsentation seiner Person beglaubigt und durch die Überlagerung von Handlung und Figur im Text vergegenwärtigt.1197 Durch seine Anordnung, die Mitglieder des örtlichen Kriegsrats verhaften zu lassen, greift Stalin handlungskonstitutiv in den militärischen Konflikt ein und wird damit einmal mehr als handelnde Figur portraitiert. Die zu Beginn angelegte Figurenrolle wird so durch eine Handlung dokumentiert, die die literarisch gestaltete Handlungsfunktion Stalins authentifiziert als scheinbar reales Handeln präsentiert. Gleichzeitig nimmt der Erzählabschnitt eine Charakterisierung seiner Figur vor, die seine Identität als Oberkommandeur der Südfront bestätigt. Sie zeigt einmal mehr die Zur objektiven und rhetorischen Erzählfunktion vgl. Doležel 1972, 386f. und Booth 1974, Bd.1, 187ff., der darauf hinweist, daß die rhetorische Erzählfunktion den Ermessensspielraum des Lesers einschränken und dessen Rezeptionsvorgang steuern soll. 1194 Auch diese Handlung ist in dem Text «Сталин и Красная Армия» von Kliment Vorošilov vorgegeben. Sie wird dort in Form eines Artikels in den Text eingefügt, der am 03. Februar 1919 in der weißgardistischen Zeitung Донская Волна erschienen ist. Dieser Artikel fungiert als historisches Dokument, das den Einsatz Stalins in Caricyn beglaubigt, indem er ihn aus der Sicht eines seiner Gegner beschreibt. Eigentlich dient der Rückgriff auf den Artikel jedoch dazu, eine dokumentarische Lücke zu füllen, die durch das Fehlen tatsächlicher historischer Quellen entstanden ist: Vorošilov 1930, 50. 1195 Zur Konfliktrelevanz als Merkmal der literarisch gestalteten Figurenrolle vgl. Veldhues 1997, 63f. sowie Bal 1985, 91ff. 1196 Zum Verhältnis von Handlungsfunktion und Figurenrolle vgl. Tomaševskij 1967, 156f. sowie Lotman 1973, 366f., Červenka 1978, 122f. und Bal 1985, 91ff. 1197 Zur gegenseitigen Bedingung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 154f. sowie Lotman 1973, 366f., Bal 1985, 32f. und Veldhues 1997, 63f. 1193 Stalin an der Südfront: Textanalyse 250 Entschlossenheit, mit der er gegen seine politischen Gegner vorgeht und die Verteidigung der Stadt organisiert. Sein Handeln steht im Gegensatz zu dem zögerlichen Verhalten des Obersten Kriegsrats, so daß die Figurencharakteristik Stalins auch hier durch die Inszenierung einer kontrastiven Figurensemantik legitimiert wird. Seine literarische Identität wird in Abgrenzung zu allen anderen Figuren konfiguriert und zu einer Überlegenheit Stalins ausgebaut, die seine Entscheidung nachträglich legitimiert. Seine Reaktion wird zum Ausdruck einer Figurenperspektive, die einmal mehr der Kompromißlosigkeit seines Handelns Ausdruck verleiht und damit die Identitätsstiftung der vorhergehenden Kapitel legitimiert. Die Überlegenheit seiner Figur beruht damit auch in dieser Szene auf einer literarisch gestalteten Figurenperspektive, die das semantische Profil der vorhergehenden Kapitel aufgreift und in einer eigenständigen Handlung begründet.1198 Durch die narrative Beschreibung Stalins kann sie das im Text vorgeführte Handeln als vermeintlich authentisches Handeln vorstellen, das seine offizielle Biographie verifiziert. Diese Charakterisierung wird dadurch verstärkt, daß die Perspektivierung des Erzählten von Beginn an auf die Figurenperspektive Stalins ausgerichtet wird. Dazu wird die objektive Beschreibung der äußeren Handlung auch hier durch eine rhetorische Erzählfunktion überlagert, die die dargestellten Ereignisse nicht nur zusammenfaßt, sondern interpretiert.1199 Durch den Hinweis, daß es sich bei dem Befehl Trockijs um einen verräterischen Befehl handelt, wird eine Rezeptionsperspektive etabliert, die das Erzählte noch vor der anschließenden Entscheidung Stalins an die Perspektive seiner Figur angleicht. Es kommt auch hier zu einer Überlagerung von auktorialer und figuraler Erzählperspektive, deren gegenseitige Ergänzung die Zentralperspektive der Erzählung festlegt und auf die Figurenperspektive Stalins überträgt.1200 Durch diese Entgrenzung von subjektiver und objektiver Wahrnehmung wird seine Figurenperspektive zur Rekonstruktion einer objektiven historischen Wahrheit, die durch die Überlagerung von Erzähler- und Figurenperspektive zu einzig möglichen Wahrheit verdichtet wird. Diese Identitätsstiftung Stalins wird durch die nachfolgende Handlung bestätigt. Nachdem die Erzählung die militärische Bedrohung noch einmal vergegenwärtigt hat,1201 wendet sie sich ein letztes Mal dem zuvor inszenierten Konflikt zu. Der nachfolgende Erzählabschnitt zeigt die Verhaftung der konterrevolutionären Verräter und inszeniert damit eine Handlung, die die zuvor beschriebene Rollenkonfiguration abschließend legitimiert.1202 Sie wird in einer eigenständigen Handlungssequenz beglaubigt und beruht so einmal mehr auf einem internen Verweissystem, das die Darstellung Stalins durch den gegenseitigen Verweis von Handlung und Figur realisiert. Sie dient in erster Linie dazu, die offizielle Darstellung seiner Figur zu rechtfertigen und in einer äußeren Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 47ff. sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 33 und Jaroslavskij 1941, 90. Zur gegenseitigen Bedingung von Handlung und Figur vgl. Tomaševskij 1967, 152ff. sowie Červenka 1978, 122f. und Lotman 1973, 358ff. 1199 Vgl. hierzu noch einmal Doležel 1972, 386f. und Booth 1974, Bd.1, 187ff. 1200 Zur eingeschränkten Sicht einer figurenbezogenen Erzählperspektive vgl. Bal 1985, 104 sowie Genette 1994, 134ff. und 242. 1201 Tolstoj Chleb 1937, 154. 1202 Tolstoj Chleb 1937, 154: «Ковалевский, Чебышев, Сухотин, Лохматов и Кремнев, - а несколькими часами позже – инженер Алексеева с обоими сыновьями – были арестованы, допрошены и после их признанний расстреляны.» 1198 Stalin an der Südfront: Textanalyse 251 Handlung zu begründen.1203 Durch die von Stalin angeordnete Verhaftung wird der zuvor angelegte Konflikt aus dem Handlungszusammenhang der Erzählung verdrängt. Damit ist der politische Konflikt gelöst und die Erzählung kann sich der endgültigen Verteidigung Caricyns zuwenden. Nachdem in einem letzten Abschnitt Vorošilov zum offiziellen Mitglied des Kriegsrats ernannt worden ist, sind alle Figuren in ihre literarischen Rollen eingesetzt und die Schlacht um Caricyn kann beginnen.1204 3.11.5 Stalin im Schützengraben Nachdem der erste Teil des Kapitels die Organisation der Stadt gezeigt hat, steht im zweiten Teil dieses Kapitels der Kampf um Caricyn im Mittelpunkt. Doch bevor die Erzählung sich diesem Höhepunkt nähert, wird ein weiterer narrativer Bericht eingefügt, der den militärischen Konflikt noch einmal aufgreift und durch die Konzentration der konterrevolutionären Kräfte vor Caricyn weiter verschärft. Durch einen Mangel an Waffen und Munition geraten die Einheiten der Roten Armee in die Defensive und müssen die zuvor eroberten Stellungen aufgeben.1205 Damit wird ein Handlungszusammenhang hergestellt, der den militärischen Konflikt mit Spannung auflädt und die Handlung zugleich an ihren endgültigen Schauplatz verlegt. Die nachfolgenden Ereignisse zeigen die Schlacht um Caricyn und markieren damit sowohl den End- als auch den Höhepunkt der Erzählung. Die Stadt steht im Mittelpunkt einer Auseinandersetzung, die nicht nur über den Sieg der revolutionären Einheiten an der Südfront, sondern über den Sieg der gesamten Revolution entscheidet. So geht dem Auftritt Stalins die Inszenierung eines Schauplatzes voraus, der seine Darstellung in der sowjetischen Geschichtsschreibung beglaubigt und durch den Entwurf eines narrativ vermittelten Handlungsortes antizipiert.1206 Die im Erzählertext vermittelte Lage dient dazu, einen Tat-Ort zu entwerfen, der die literarische Darstellung Stalins rechtfertigt und die mythische Topographie Caricyns in die nachträglich gefälschte Geschichtsschreibung des offiziellen Stalinkults einschreibt.1207 Durch die objektive Stimme des Erzählers wird die poetische Überhöhung dieser Auseinandersetzung verdeckt und durch eine faktische Rekonstruktion der Ereignisse ersetzt. Die Bedeutung Caricyns ist damit nicht mehr der Reflex eines nachträglich kanonisierten Stalinkults, sondern die Widerspiegelung einer Vergangenheit, die durch die historischen Ereignisse vorstrukturiert ist: «Мамонтов сосредоточивал галвные силы непосредственно против Царицына и наносил сквозный удар по магистрали, по которой месяц тому назад пробивались эшелоны Ворошилова.» (Tolstoj Chleb 1937, 14) Doch bevor die Erzählung die Verteidigung Caricyns schildert, wird die Handlung durch eine weitere Erzählsequenz verzögert. Sie bindet die Figur Stalins in eine Ereigniskonstruktion ein, die ihre Darstellung als Oberkommandeur an der Südfront bestätigt und durch eine weitere Aktion dokumentiert.1208 Die Legitimation seiner Figurenrolle Es handelt sich hierbei um eine Episode, die korrelativ mit dem Hauptstrang der Erzählung verbunden ist. Sie dient dazu, die zuvor gezeigte Handlung zu akzentuieren und als vermeintlich authentisches Handeln zu dokumentieren: vgl. hierzu Lämmert 1967, 52ff. 1204 Tolstoj Chleb 1937, 154. 1205 Tolstoj Chleb 1937, 154. 1206 Zur Bedeutung des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 227ff. sowie Bal 1985, 95 und Lämmert 1967, 28. 1207 Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 45ff. sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 33 und Kurze Lebensbeschreibung 1947, 73ff. 1208 Vgl. hierzu noch einmal Tomaševskij 1967, 152ff. sowie Červenka 1978, 122f. und Bal 1985, 91. 1203 Stalin an der Südfront: Textanalyse 252 beruht auch hier auf der Inszenierung eines Mangels, der die Handlungsfunktion seiner Figur rechtfertigt und durch ihre literarische Gestaltung legitimiert. Er bezieht sich auf die fehlende Munition, die erst durch das persönliche Eingreifen Stalins aus Moskau beschafft werden kann. Damit greift seine Figur ein weiteres Mal handlungskonstitutiv in den militärischen Konflikt ein wird mit einer Handlungsfunktion ausgestattet, die ihre zuvor angelegte Identität verifiziert.1209 Sie wird durch die Überlagerung von Handlung und Figur im Text vergegenwärtigt und durch die Stimme es abstrakten Erzählers objektiviert. So steht am Anfang dieser Erzählsequenz eine Handlung, die seine Identität als Oberkommandeur der Roten Armee rechtfertigt und durch eine konkrete Handlung legitimiert. 1210 Durch die eingeschobene Episode entsteht ein Fiktionsraum, der den Mythos von seinem Einsatz an der Südfront in einer eigenständigen Handlung begründet und seine Darstellung als militärischer Führer erneut legitimiert. Dabei lädt die kontinuierliche Steigerung des militärischen Konflikts die Erzählung mit einer Spannung auf, die die Bedeutung der nachfolgenden Ereignisse erhöht. Sie dient dazu, eine Konfliktrelevanz zu inszenieren, die die offizielle Darstellung Stalins bestätigt und durch eine Überlagerung von Handlung und Figur im Text repräsentiert: «К концу второй недели боев Кoммунистическая и Морозовско-донецкая дивизии начали выматываться,- резервов нахватало. Снаряды и патроны, привезенные эшелонами Ворошилова, подходили к концу. Высший военный совет в ответ на самые срочные требования прислать оружие и огневое снаряжение ответил, наконец, что оружие и огнеприпасы могут быть присланы из Москвы лишь при условии, если в заявках будут указаны точные цифры количества бойцов, которым нужно оружие, наличие военного имущества в Царицыне и суммы, в рублях, ранее произведенных расходов. Сталин послал в Москву Пархоменко, чтобы вырвать у Высшего военного совета оружие и огнеприпасы, немедленно привезти в Царицын.» (Tolstoj Chleb 1937, 154) Im Gegensatz zu den vorhergehenden Kapiteln wird der Einsatz Stalins an der Front in den nachfolgenden Erzählabschnitten lediglich im Erzählertext vermittelt. An die Stelle einer dialogisch gestalteten Figurencharakterisierung tritt ein narrativer Einsatzbericht, der weniger mit der Semantisierung seiner Figur als mit der Legitimation ihrer Figurenrolle beauftragt ist.1211 Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht damit keine literarische Nahaufnahme, die die offizielle Identität seiner Figur durch die Vergegenwärtigung einer im Text fingierten Figurenrede beglaubigt, sondern die Konfiguration einer Figurenrolle, die die fehlende Dokumentation seines Einsatzes durch eine literarisch gestaltete Rolle kompensiert.1212 Die Darstellung Stalins beruht in diesem Teil der Erzählung somit ausschließlich auf der Glaubwürdigkeit des Erzählers, dessen objektive Erzählperspektive die im Text dargestellten Ereignisse zur faktischen Realität verklärt.1213 Dem Kapitel kommt so die Aufgabe zu, ein Handeln Stalins zu imaginieren, das in der offiziellen Geschichtsschreibung nicht überliefert ist. Damit übernimmt auch der letzte Teil der Erzählung eine kompensatorische Funktion, die die Legende von Stalins EinZum Mangel als literarisch inszenierte Handlungsmotivation vgl. Lotman 1973, 358ff. sowie Stückrath 1990, 286ff. und Tomaševskij 1967, 135f. 1210 Zu dieser Funktion der epischen Erzählung vgl. Hamburger 1987, 57ff. 1211 Zu dieser Differenz vgl. Hamburger 1987, 134f. sowie Genette 1994, 117ff., der zwischen einer „Erzählung von Ereignissen“ und einer „Erzählung von Worten“ unterscheidet. 1212 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 135ff. 1213 Vgl. hierzu noch einmal Doležel 1972, 386f., sowie Booth 1974, Bd.1, 156ff. und 214ff. und Ricoeur 1991, Bd.3, 261ff., der den zuverlässigen Erzähler als fiktionales Gegenstück zum dokumentarischen Beweis in der Geschichtsschreibung definiert. 1209 Stalin an der Südfront: Textanalyse 253 satz in Caricyn rechtfertigt, indem sie sie im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet. Seine Darstellung beruht auch in diesem Teil der Erzählung allein auf den Verfahren der literarischen Figurengestaltung, die die fehlende Wirklichkeit durch eine literarische Fiktion ersetzen. Sie konfigurieren eine Figurenrolle, die die Handlungsfunktion Stalins beglaubigt und an die Stelle seines nicht überlieferten Einsatzes dessen literarische Fiktion setzen. Nur so kann seiner Figur eine Handlung zugewiesen werden, die im historischen Diskurs zwar behauptet, aber nicht beschrieben wird.1214 Durch die Beschreibung im Erzählertext erscheint die Figur Stalins nicht länger als literarischer Charakter, der in seiner vermeintlich authentischen Ich-Identität im Text vergegenwärtigt wird. In diesem Teil der Erzählung geht es vielmehr darum, die Figur Stalins mit einer Reihe von Handlungen auszustatten, die seinen Einsatz an der Front in einem konkreten Handeln begründen. Diese Identitätsstiftung wird allein durch die Beschreibung seiner äußeren Handlung im Text vergegenwärtigt und als vermeintlich authentisches Handeln vorgestellt.1215 Durch dieses Primat der Handlung wird zugleich die Differenz zwischen literarischem und historischem Diskurs verwischt. Dadurch, daß das Handeln Stalins ausschließlich im Erzählertext beschrieben wird, wird seine Darstellung an den auktorialen Aussagemodus der offiziellen Geschichtsschreibung angeglichen. Beide bedienen sich eines scheinbar abstrakten Erzählers, der die jeweilige Darstellung Stalins bestätigt und die Handlungsfunktion seiner Figur legitimiert.1216 Die Differenz zwischen historischem und literarischem Text besteht so vor allem darin, daß die literarische Erzählung eine Handlungsgegenwart inszenieren kann, deren gegenseitige Bedingung von Handlung und Figur die Darstellung Stalins rechtfertigt und zu einer handelnden Figur werden läßt.1217 Sie stellt ein Bezugssystem innerliterarischer Verweise zur Verfügung, das die Darstellung seiner Figur rechtfertigt und als vermeintlich reale präsentiert. Die literarische Erzählung dient so dazu, die Fiktion der offiziellen Geschichtsschreibung zu beglaubigen und durch die Referenzillusion realistisch motivierter Zeichen an die Stelle der tatsächlichen Vergangenheit zu setzen. Ihre Imagination kann Stalin an die Front versetzen und sein im historiographischen Diskurs verbürgtes Handeln als tatsächliches Handeln beschreiben. Mit der narrativen Darstellung seiner Figur geht aber auch eine Entliterarisierung des Erzählten einher. Die Darstellung Stalins wird nicht mehr durch eine künstlich erzeugte Spannung mit Bedeutung aufgeladen oder durch eine wechselnde Perspektivierung nachträglich legitimiert.1218 Keine Montage aus Schnitt und Gegenschnitt erhöht die emotionale Spannung des Erzählten, keine kontrastive Figurengestaltung legitimiert die Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 50 sowie Kurze Lebensbeschreibung 1945, 38 und Čarnyj 1939, 87. Vgl. hierzu Genette 1994, 243 sowie Hamburger 1987, 134ff., die die unterschiedlichen Darstellungsmodi dahingehend unterscheidet, daß die szenische Darstellung darauf ausgerichtet ist, das subjektive Erleben der Charaktere zu vergegenwärtigen, während in der epischen Beschreibung die Darstellung der äußeren Begebenheiten und Handlungen über die Inszenierung der Figur dominieren. 1216 Vgl. hierzu Barthes 1968, 175ff. sowie White 1990, 11ff. und Ricoeur 1991, Bd.3, 294ff. 1217 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 101ff., Schörken 1995, 13 sowie Cohn 1990, 785ff. und Genette 1990, 761ff. 1218 Tomaševskij weist darauf hin, daß es gerade die Spannung ist, die eine Erzählung aktuell erscheinen läßt. Sie lädt das Erzählte – ungeachtet seines jeweiligen Inhalts – mit einer Emotionalität auf, die die Aufmerksamkeit des Lesers fesselt und an die Sujetkonstruktion der Erzählung bindet: Tomaševskij 1967, 132f. 1214 1215 Stalin an der Südfront: Textanalyse 254 zuvor inszenierte Figurenrolle, kein retardierendes Moment verzögert seinen Auftritt und kein nachträglich inszenierter Informationsvorbehalt dokumentiert die Überlegenheit seines Wissens. Statt dessen wird sein Handeln in wenigen Sätzen zusammengefaßt, deren Nüchternheit in krassem Gegensatz zu den aufwendigen Inszenierungstechniken der vorhergehenden Erzählabschnitte steht. Damit bricht gerade in dieser letzten Szene, die zur Katharsis der gesamten Erzählung werden soll, die Gestaltung seiner literarischen Figur zusammen. Sie verzichtet auf die Möglichkeit, seine Identität als Oberkommandierender der Roten Armee über den Umweg einer nachträglich fingierten Ich-Identität im Text zu vergegenwärtigen und seinen Einsatz an der Front durch eine nachträglich inszenierte Figurenperspektive zu beglaubigen.1219 Sie beschränkt sich stattdessen auf die äußere Beschreibung seiner Handlung und zeigt seine Figur damit weniger als Subjekt denn als Objekt des Erzählten.1220 Mit dem Verzicht auf die szenische Gestaltung seiner literarischen Figur verzichtet die Erzählung also auch auf die Möglichkeit, seine nachträgliche Rekonstruktion beglaubigen zu können. Denn gerade die szenische Darstellung dient dazu, die Glaubwürdigkeit der literarischen Charaktere zu erhöhen und ihre diskursiv geschaffene Wirklichkeit zu verdecken.1221 Dieses Defizit wird auch von der offiziellen Literaturkritik kritisiert. Die meisten Rezensenten bemerken, daß Tolstoj einen zu stark dokumentarischen Stil verfolgt, der sich kaum von seinen historischen Vorlagen unterscheidet.1222 Sie machen diese Kritik an einem berichtenden Schreibstil fest, dem es nicht gelingt, die Figur Stalins in ihrer ganzen Komplexität zu zeigen: «Книга написана уверенной рукой большого художника. Но охватываемый автором материала так значителен и обилен, что для его художественного претворения нехватает пределов повести. Автор часто прибегает к фрагментарному, эскизному рисунку. Полноценный художественный образ подменяется часто портретом, а порой даже силуэтом.» (Gurštejn 1938, 162) Die Erzählung versetzt die Figur Stalins in der nachfolgenden Erzählsequenz aber trotzdem in den Schützengraben, um seine literarische Rolle zu beglaubigen Sie nimmt damit einen erneuten Wechsel des Schauplatzes vor, der die offizielle Darstellung seiner Figur bestätigt und durch die Wahl des Handlungsortes legitimiert.1223 Der Wechsel des Tat-Ortes geht dabei auch hier mit einer Verschiebung seiner Figurenrolle einher. Der nachfolgende Abschnitt zeigt Stalin nicht länger als genialen Strategen, der die Verteidigung der Stadt organisiert, sondern als militärischen Führer, der sie vom Schützengraben aus kommandiert. Damit inszeniert die Erzählung eine Handlung, die seine Identität im offiziellen Geschichtsdiskurs bestätigt und den Mythos von seinem Einsatz an der Front in einer eigenständigen Handlung begründet: «От грохота орудий в Царицыне дребезжали стекла. Все население торопливо копало на окраинах последную линию укреплений. Сталин был в окопах». (Tolstoj Chleb 1937, 154) Während die Figurenrede einerseits dazu dient, die Darstellung seiner Figur in einer vermeintlich authentischen Rede zu beglaubigen, inszeniert sie andererseits eine Anwesenheit inszenieren, die die Erzählung von dem Darstellungsmodus der Geschichtsschreibung unterscheidet: vgl. hierzu Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f. Bal 1985, 148f. und Leibfried 1972, 243. 1220 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 134f. 1221 Vgl. hierzu Genette 1994, 123f. sowie Lämmert 1967, 204ff. und Leibfried 1972, 243f. 1222 Alpatov 1955, 92, Usievič 1938, 117 und Čarnyj 1939, 86. 1223 Zu dieser Funktion des Schauplatzes vgl. Lotman 1973, 327ff. sowie Lämmert 1967, 28. 1219 Stalin an der Südfront: Textanalyse 255 Am Anfang dieses Erzählabschnitts steht eine Handlung, die noch einmal seine Identität als militärischer Führer vergegenwärtigt. Dazu greift die Erzählung erneut den Konflikt zwischen Stalin und dem Obersten Kriegsrat in Moskau auf und zeigt, wie Stalin einen offensichtlich verräterischen Befehl Trockijs erhält: «Туда [в окопах, U.J.] ему принесли телеграмму с требованием немедленно образовать Революционный совет Южного фронта на основании полного невмешательства комиссаров в оперативные дела, штаб поместить в Козлове.» (Tolstoj Chleb 1937, 154)1224 Durch diese Handlung wird eine Figurenrolle inszeniert, die seine Identität als Oberkommandierender an der Südfront rechtfertigt und durch die Überstellung des Befehls legitimiert. Diese Identitätsstiftung wird in einer weiteren Erzählsequenz dokumentiert, die zeigt, wie Stalin den Verrat Trockijs entlarvt. Dabei steht erneut die Entschlossenheit im Vordergrund, mit der er gegen seine politischen Feinde vorgeht. Diese Figurensemantik wird durch ein Telegramm in den literarischen Text eingetragen, das der neu eingesetzte Kriegsrat an Lenin schickt. Mit diesem Telegramm wird die narrative Berichterstattung des Kapitels aufgebrochen und durch eine direkte Rede ersetzt. Sie dient dazu, die indirekt vermittelte Figurenperspektive Stalins zu bestätigen und in der kollektiven Stimme des Kriegsrats zu begründen.1225 Damit wird zugleich der zentrale Blickpunkt der Erzählung etabliert. Er führt die Figurenperspektiven der literarischen Charaktere zusammen und richtet sie auf die Figurenperspektive Stalins aus:1226 «В тот же час в домишке на окраине города собрался Военный совет, и Ленину и в Центральный комитет была послана телеграмма: 'Известен ли Высшему военному совету вышеуказанный приказ Троцкого? Телеграфный приказ Троцкого угрожает развалом всему фронту и гибелью всему революционному делу на юге и не может быть выполнен Военным советом Южного фронта.'» (Tolstoj Chleb 1937, 154) Gleichzeitig setzt das Telegramm ihn offiziell in das Amt des Oberkommandierenden der Südfront ein und weist seiner Figur eine Handlungsfunktion zu, die ihn in diesem Amt bestätigt. Sie beruht auch hier auf einem Wissen, daß seine funktionale Rolle begründet und zeigt, daß er den Verrat Trockijs durchschaut und an dessen Stelle die Befehlsgewalt übernimmt. Die nachfolgenden Ereignisse dienen einzig dazu, die so angelegte Figurenrolle Stalins zu bestätigen. Sie zeigen, wie er vom Schützengraben aus die Verteidigung der Stadt übernimmt und imaginieren damit eine Handlung, deren nachträglich fingierte Wirklichkeit die fehlende Dokumentation der offiziellen Geschichtsschreibung ersetzt. Sie greifen das im vorhergehenden Kapitel entworfene Stalinbild noch einmal auf und übertragen es auf die hier entworfene Figurenrolle Stalins. Dadurch wird das semantische Profil seiner Figur nicht erweitert, sondern nur in einem neuen Kontext aktualisiert. Die Rekonstruktion seiner Figur beruht so auch in diesem Kapitel auf einem stereotypen Merkmalsatz, der von Szene zu Szene übertragen wird. Die nachfolgenden Szenen beziehen sich dabei vor allem auf seine Identität als militärischer Taktiker. Sie rekrutieren damit eine Figurenrolle, die im textinternen Zusammenhang mehrfach vorgeführt und bestätigt worden ist. Erst durch diese Wiederholung des semantischen Pro- Der Text ist mit einer Fußnote versehen, die darauf hinweist, daß sich Kozlov 400 Werst südlich von Caricyn befindet: Tolstoj Chleb 1937, 154. 1225 Zur Funktion der direkten Figurenrede vgl. Lämmert 1967, 204ff. sowie Genette 1994, 123f. und Bal 1985, 148f. 1226 Zur Konstruktion des Blickpunktes im literarischen Text vgl. Lotman 1973, 395ff. 1224 Stalin an der Südfront: Textanalyse 256 fils ist es möglich, eine Darstellung Stalins zu fingieren, die als scheinbar authentische dargestellt werden kann.1227 Der nächste Abschnitt dient dann dazu, Stalins Einsatz an der Front in einer konkreten Handlung zu beglaubigen. Sie zeigt, wie Stalin vom Schützengraben aus die Zuteilung von Munition regelt und den Einsatz von Reserveeinheiten und des Panzerzugs befehligt. Diese Handlung stattet ihn mit einer Befehlsgewalt aus, die die Konfiguration seiner Figurenrolle rechtfertigt und seine Darstellung als genialer Feldherr im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet.1228 Die im Text gezeigte Handlung bezieht sich auch hier auf das taktische und strategische Wissen, das seiner Figur in den vorhergehenden Kapiteln zugeschrieben worden ist. Die dort zusammengefaßten Vorgaben werden auf das Stalinbild in diesem Teil der Erzählung übertragen und zu einem konkreten Handeln ausgebaut. Daraus resultiert eine Figurengestaltung, die innere und äußere Figurenhandlung aufeinander bezieht und zu einer einheitlichen Figurensemantik zusammenschließt. Dadurch kann sein Handeln als vermeintlich authentisches vorgeführt werden, das nicht nur durch das theoretische Wissen seiner Figur bestätigt wird, sondern auch durch seinen Einsatz an der Front. Dadurch, daß die Erzählung innere und äußere Figurenhandlung aufeinander abbildet, kann sie das Defizit der fehlenden Überlieferung beheben und Stalins Identität als militärischer Führer nachträglich konfigurieren:«Сталин не выходил из окопов, руководя оттуда посылкой резервов, подвозом огнеприпасов, отправкой нового бронепоезда, вооруженного толькочто отлитыми тяжелыми пушками.» (Tolstoj Chleb 1937, 154f.)1229 Doch obwohl diese Szene die Eignung Stalins als Oberkommandeur der Roten Armee unter Beweis stellen soll, fehlen konkrete operative Anweisungen ebenso, wie ein von Stalin ausgearbeiteter Angriffsplan. Der Sieg der Roten Armee scheint eher durch die Anwesenheit seiner Person gewährleistet zu sein als durch konkrete Befehle, die er zur Verteidigung der Stadt erteilt. Tatsächlich offenbart sich in dieser Szene ein Problem, das ganz unmittelbar auf die Schwäche der Erzählung verweist. Da keine operativen Anweisungen Stalins existieren, wird der Einsatz Stalins aus den Versatzstücken des offiziell kanonisierten Stalinkults zusammengesetzt. Diese zeigen ihn zwar als militärischen Führer, der seine militärische Eignung durch seinen Einsatz im Schützengraben unter Beweis stellt, aber nicht als militärischen Führer, der die operative Kriegsführung übernimmt und damit der tatsächlichen Funktion eines militärischen Befehlshabers entspricht. Daraus resultiert eine Inkongruenz von Handlung und Figur, die seine Identität als militärischer Führer zwar rechtfertigen aber nicht überzeugend dokumentieren kann. Daher muß seine Führerschaft in einer Reihe von Handlungen begründet werden, die Lotman 1973, 377ff. beschreibt die literarische Figur als distinktiven Satz semantischer Merkmale, die auf der Metaebene der Erzählung ein einheitliches semantisches Profil konfigurieren, im Lauf der Erzählung jedoch in eine Reihe nicht identischer Zustände zerfallen. Durch diese Verteilung der semantischen Eigenschaften ist es möglich, eine einheitliche Figur zu entwerfen, ohne ihr paradigmatisches Bild von Beginn an offenbaren zu müssen. 1228 Zur Bedeutung der äußeren Handlung für die Konfiguration der Figurenrolle vgl. Lotman 1973, 366f. sowie Tomaševskij 1967, 152f., Červenka 1978, 122f. und Bal 1985, 91. 1229 Diese Darstellung bezieht sich auf einen 1923 von Stalin selbst verfaßten Artikel mit dem Titel „Zur Frage der Strategie und Taktik der russischen Kommunisten“. Die dort formulierte Definition von Taktik wird zur Handlungsvorlage des Erzählten ausgebaut und konfiguriert ein semantisches Profil, das über den Umweg der literarischen Handlung im Text vergegenwärtigt wird: Stalin 1952c, Bd. 5, 146ff. 1227 Stalin an der Südfront: Textanalyse 257 zwar mit dem Bild seiner offiziellen Identitätsstiftung übereinstimmen, seinen Einsatz in Caricyn aber nicht wirklich belegen. Sein Einsatz an der Front bleibt auf diese wenigen Handlungselemente beschränkt und fungiert damit eher als deus ex machina, denn als realistisch motivierte Darstellung eines tatsächlichen Befehlshabers. Damit vergegenwärtigt die Erzählung eine Handlungsfunktion, die lediglich noch im vollkommen imaginären Raum der Malerei bestätigt werden kann. Bilder wie „Die Verteidigung von Caricyn“ von R. Frenc, „I.V. Stalin und K.E. Vorošilov im Schützengraben bei Caricyn“ von M. Grekov oder die Palech-Miniatur „Die Verteidigung Caricyns“ greifen den Mythos von Stalins Einsatz an der Front auf und bauen ihn zu einer faktischen Repräsentation des Wirklichen um, die die literarische Repräsentation seiner Figur verdoppelt. Durch diese Konversion der Darstellungssysteme kann der Mythos von seinem Einsatz im Bürgerkrieg authentifiziert und die vollkommen imaginäre Rolle Stalins beglaubigt werden.1230 Der Einsatz Stalins im Schützengraben erweist sich damit als nachträglich konstruiertes Reales, das lediglich durch das Zusammenspiel der verschiedenen Medien und nicht über die Widerspiegelung einer außerliterarischen Wirklichkeit beglaubigt werden kann. Frenc, R. Die Verteidigung Caricyns Grekov. M., I.V. Stalin und K.E. Vorošilov im Schützengraben vor Caricyn Vgl. hierzu Vorošilov 1930, 44f. sowie Vorošilov 1940, 44ff., Jaroslavskij 1941, 91ff. oder Kurze Lebensbeschreibung 1945, 32ff. 1230 Stalin an der Südfront: Textanalyse 258 Palech-Miniatur „Die Verteidigung Caricyns“ 3.11.6 Stalin verkündet den Sieg In der letzten Szene dieser Erzählung erscheint Stalin erneut als übergeordneter Sender. Nachdem sein Einsatz an der Front in der vorhergehenden Erzählsequenz dargestellt worden ist, zeigt die nächste Episode ihn im Gespräch mit einem neuaufgestellten Regiment aus Caricyner Arbeitern. Diese marschieren durch seine Worte inspiriert und mangels Munition - ohne einen Schuß abzufeuern, auf die Schützengräben Mamontovs zu und können dessen Einheiten aus ihren Stellungen vertreiben: «Когда мамонтовцам уже казалось, что они еще одним последним усилием ворвутся в город, против них выступил сформированный на рабочих окраинах свежий Новоникольский полк. Сталин сказал им несколько слов, и они пошли без выстрела. [...] Новоникольцы дошли со окопов враге и бросились в штыки. Мамонтовская пехота, не ожидавшая удара свежих частей, дрогнула и побежала.» (Tolstoj Chleb 1937 155) Damit entwirft die Erzählung eine Handlung, welche die zuvor angelegte Figurenrolle Stalins ausbaut und ein letztes Mal legitimiert. Sie wird im Handlungszusammenhang des Erzählten begründet und durch die im Text beschriebenen Ereignisse verifiziert. Er greift nicht länger aktiv in den militärischen Konflikt ein, sondern trägt zu dessen Lösung bei, indem er die ausrückenden Soldaten instruiert.1231 Dadurch wird seine Figur mit einer Handlungsfunktion ausgestattet, die eine endgültige Hierarchie der literarischen Charaktere etabliert. Sie hebt seinen Status als handelnde Figur auf und zeigt ihn erneut als militärischen Führer, der den Einsatz der Soldaten nicht nur befehligt, sondern inspiriert. Da sie bereit sind, sich für den Sieg der Revolution zu opfern, bestätigt ihr Verhalten eine Figurenrolle, die ihn noch einmal als übergeordneten Sender zeigt und diese Rolle durch die literarische Darstellung legitimiert.1232 Da seine Rede auch in diesem Teil der Erzählung nicht wiedergegeben wird, dient die Szene weniger dazu, die ihm zugewiesene Figurenrolle in einer nachträglich konfigurierten Figurenrede zu begründen, als dazu sie im Ereigniszusammenhang des Erzählten Vgl. hierzu Tomaševskij 1967, 135 sowie Veldhues 1997, 66ff. und Lämmert 1967, 36f. In dem 1939 erschienenen Text «Сталин и строительство Красной Армии» von Kliment Vorošilov wird diese Rollenkonfiguration zur faktischen Realität erklärt: «Полная победа наших вооруженных сил в борьбе с любым врагом обеспечена, потому что с нами Сталин, потому что каждый боец, командир и политработник хорошо знают повседневную сталинскую заботу о его социалистической родине и о Красной Армии. [...] По его зову каждый готов без колебаний отдать все свои силы, еслу нужно, и свою жизнь во имя славы и могущества Родины, во имя коммунизма.» (Vorošilov 1940, 46) 1231 1232 Stalin an der Südfront: Textanalyse 259 zu begründen.1233 Sie wird dadurch als vermeintlich authentisches Handeln vorgestellt, dessen Glaubwürdigkeit durch die objektive Stimme des Erzählers erhöht wird.1234 Die Erzählung konfiguriert so ein semantisches Profil, das seine Darstellung als Befehlshaber der Roten Armee rechtfertigt und durch eine abschließende Szene dokumentiert.1235 Damit ist sowohl der Einsatz Stalins an der Front als auch die Konfiguration seiner Figurenrolle abgeschlossen. Die nachfolgenden Ereignisse haben lediglich noch den weiteren Verlauf der Schlacht zum Gegenstand. In dieser Beschreibung kommt Stalin nicht mehr vor. Nach weiteren Gefechten endet der Kampf mit dem Sieg der Roten Armee.1236 Durch die erneute Überlagerung von abstrakter und rhetorischer Erzählperspektive wird der Sieg der Roten Armee mit einer Bedeutung aufgeladen, die ihn an seine Darstellung im offiziellen Stalinkult angleicht. Dazu wird der narrative Bericht noch einmal poetisch überhöht. Diese Poetisierung läßt erkennen, daß die Erzählung das Dargestellte nicht nur zusammenfaßt, sondern hinsichtlich seiner Bedeutung für den übergeordneten Zusammenhang des offiziellen Stalinkults befragt.1237 Sie verwandelt den historischen Sieg in einen epischen und kann damit jene mythische Geschichtsschreibung widerspiegeln, die auch den Einsatz Stalins von einem historischen in einen epischen verwandelt: «Белые, как обоженные, отскочили от Царицына. Мамонтов послал резервы. На них с фланга бешено ударил Громославский полк. Белые начали откатываться за Кривую Музгу. Тогда на них напустилась морозовская кавалерия и сбросила в Дон все ядро еще утром, казалось, победоносно, к вечеру – разгромленной мамонтовоской армии.» (Tolstoj Chleb 1937, 155) Durch die totale Vernichtung der konterrevolutionären Verbände wird Stalin zum mythischen Helden, dessen Einsatz an der Front nicht nur den Sieg der örtlichen Verbände, sondern den Sieg der Revolution garantiert.1238 Damit wird die Schlacht um Caricyn zum historischen Gemälde, das – nach den Anforderungen des offiziellen Stalinkults inszeniert – diesen nachträglich legitimiert: «[...] Сталин решает жизненную проблему революции, проблемы обороны и хлеба. Речь шла о спасении революции, - революция была спасена.» (Gurštejn 1938, 259) Danach folgt nur noch das Telegramm, mit dem Stalin seinen Sieg nach Moskau meldet. Seine Funktion besteht in erster Linie darin, die dargestellten Ereignisse zusammenzufassen und den zuvor gezeigten Sieg in der Figurenperspektive Stalins zu verankern.1239 Dadurch erscheint er als siegreicher Feldherr, dessen zuvor gezeigter Einsatz durch die Siegesmeldung bestätigt wird. Sie wird in einer imaginären Handlung begründet, die einen weiteren Einsatz an der Front in Aussicht stellt und damit die zuvor konfigurierte Figurenrolle Stalins legitimiert:«'Наступление советских войск Царицынского района увенчалось успехом... Противник разбит наголову и отброшен за Дон. Полoжение Царицына прочное. Наступление продолжается. Vgl. hierzu Genette 1994, 117ff. sowie Hamburger 1987, 134ff., Doležel 1972, 386f. und Tomaševskij 1967, 142f. 1234 Zur Funktion des objektiven Erzählers vgl. Doležel 1972, 386f. sowie Genette 1994, 132ff. und Lämmert 1967, 67ff. 1235 Zu dieser Funktion der epischen (wie historischen) Erzählung vgl. Hamburger 1987, 57ff. sowie Gabriel 1975, 82ff. und Lämmert 1967, 69. 1236 Tolstoj Chleb 1937, 155. 1237 Zur rhetorischen Erzählfunktion vgl. Doležel 1972, 386f. und Booth 1974, Bd.1, 187ff. 1238 Jurij Okljanskij bezeichnet Хлеб als Erzählung, in der Stalin in der Rolle des Hl. Georg erscheint: Okljanskij 1994, 8. 1239 Lämmert 1967, 207ff. sowie Hamburger 1987, 157ff. und Mukařovský 1967, 115ff. 1233 Stalin an der Südfront: Textanalyse 260 Нарком Сталин.'» (Tolstoj Chleb 1937, 155) Folgt man den historischen Dokumenten, befindet sich Stalin zu diesem Zeitpunkt aber schon nicht mehr in Caricyn. Nachdem er sich Anfang Oktober 1918 vor dem Obersten Kriegsrat in Moskau verantworten muß, wird er Ende Oktober endgültig von der Südfront abberufen.1240 In einem Telegramm vom 23. Oktober 1918 schreibt Sverdlov an Trockij: „Stalin would very much like to work on the Southern Front; he expresses great apprehension that people whose knowledge of the Front is poor may commit errors, of which he cites numerous examples. Stalin hopes that in the course of his work he will manage to convince people of the correctness of his approach, and he is not putting up any ultimatum about the removal of Sytin and Mekhonoshin but agrees to work jointly with them on the Revolutionary Council of the Southern Front and also expresses his wish to be a member of the Higher Military Council of the Republic. In informing you, Lev Davydovych, of all these statements of Stalin, I ask you to think them over and let me have a reply, firstly, as to whether you agree to talk matters over personally with Stalin, for which purposes he is ready to visit you, and, secondly, whether you consider it possible under given, specific conditions to put aside former differences and arrange to work together as Stalin so much desires.” (z.n. McCauley 1993, 151) Stalin wird Ende Oktober 1918 in den Obersten Kriegsrat der Republik berufen, kehrt aber nicht mehr an die Südfront zurück. 1240 Vgl. hierzu Deutscher 1990, 271f. sowie Tucker 1973, 195 und McNeal 1988, 56f. 4 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 4.1 Entstehung und Vergleich Anläßlich des bevorstehenden 20. Jahrestages der Oktoberrevolution im November 1937 gibt das Politbüro unter Zustimmung Stalins sowie aller anderen Politbüromitglieder im Frühjahr 1936 eine Reihe von Theaterstücken und Filmszenarien in Auftrag, die Lenin und Stalin in jenes Revolutions- und Bürgerkriegsszenario zurückversetzen, das sowohl im historischen als auch im literarischen Diskurs zum mythischen Schauplatz ihrer revolutionären Führerschaft geworden ist: «Весной 1936 года правительством было принято решение о конкурсе на пьесу и киносценарии об Октябрьской революции. Конкурс был закрыты, то есть к нему привлекались только обазначённые в постановлении лица. Наряду с крупнейшими драматургами театра и кино участвовать в конкурсе пригласили и нескольких молодых людей из 'начинающих'. В их число попал я. Для представления пьес был дан один год, для сценария – полгода. Эта разница объянилась отнюдь не тем, что сценарией легче написать, чем пьесу, - все опреде-лялось конечной датой: выходом на экран и на сцену произведений к двадцатилетию Советской власти. До юбилейной даты оставалось полтора года. Сданная даже через год пьеса могла быть поставлена к Октябрью – шести месяцев для этого было достаточно. На постановку же кинокартины требовалось не меншье года.» (Kapler 1984, 486f.)1241 Die aus diesem Wettbewerb hervorgehenden Theaterstücke sollen die Rolle Lenins und Stalins während der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution zeigen und damit die führende Rolle der Partei erläutern. Im Mittelpunkt der Dramen soll, so der erste Entwurf zu der wenig später unter dem Titel «Об организации закрытого конкурса на пьесу и сценарий об Октябрьской революции и в связи с двадцатилетием Октябрьской революции» veröffentlichten Ausschreibung,1242 neben der organisierenden Rolle der Partei die Darstellung der Oktoberrevolution als Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit stehen: «По вопросу об организации закрытого конкурса пьесы и сценарий об Октябрьской революции в связи с двадцатилетием Октябрьской революции выдвинуть следующие соображения: 1. Задание: Показать роль Ленина [и Сталина] в подготовке и проведении Октябрьской революции, выявить организующую ролу партии. Центральным стержнем пьесы и сценарий должна быть пролетарская революция как переломный этап в истории человечества. В пьесе и сценарии может быть показан Ленин.» (z.n. Babičenko 1997, 209f., die kursiven Einschübe sowie die eckigen Klammern markieren die handschriftlichen Änderungen Stalins) Obwohl Stalin seinen Namen eigenhändig aus dem hier zitierten Entwurf Keržencevs streicht1243, betritt er in zwei der Dramen neben Lenin, Dzeržinskij und Budennyj als historische Figur die Bühne: dies sind Aleksej Tolstojs Drama Путь к победе1244 sowie das Vgl. hierzu auch die von P. Jurenev in der Reihe «Лучшие кинематографии» verfaßte Biographie Aleksej Kaplers, in der der Wettbewerb ebenfalls erwähnt wird: Jurenev 1940, 20. 1242 Der Entwurf wird am 19.02.1936 von P.M. Keržencev an Stalin und Molotov geschickt. 1243 Vgl. hierzu Babičenko 1997, 211, Anmerkung 1: «Выделенные курсивом слова вписаны Сталиным. Слова в квадратных скобках зачеркнуты Сталиным.» 1244 Путь к победе wird 1939 am Vachtangov-Theater in Moskau unter der Regie von B.E. Zachava, R.N. Simonov und K. Ja. Mironov uraufgeführt. Sowohl das Stück als auch die Aufführung sollen schwach gewesen sein: Bojadžiev 1960, 236ff. 1241 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 262 von Nikolaj Pogodin verfaßte Stück Человек с ружьем1245. Sie zeigen Stalin in Revolution und Bürgerkrieg und kommen damit der von Emeljan Jaroslavskij bereits auf dem 1. Schriftstellerkongreß von 1934 geforderten und in der ebenfalls auf dem Kongreß gehaltenen Rede von Vsevolod Višnevskij präzisierten Darstellung Stalins als Held der Revolution und des Bürgerkriegs nach.1246 Ob die Darstellung Stalins auf die von Keržencev in einem weiteren Brief an Stalin und Molotov erwähnte Anfrage verschiedener Dramaturgen und Szenaristen zurückgeht, neben Lenin auch andere Parteiführer in den von ihnen verfaßten Dramen und Szenarien darstellen zu dürfen, kann an dem bisher veröffentlichten Material nicht verifiziert werden.1247 Seine Anwesenheit in den Dramen legt jedoch die Vermutung nahe, daß sowohl Aleksej Tolstoj als auch Nikolaj Pogodin die nachträgliche Erlaubnis erhalten haben, nicht nur Lenin sondern auch Stalin in ihr Drama aufzunehmen und damit die von Keržencev ursprünglich nur um die Personen Dzeržinskijs und Sverdlovs erweiterte Liste auch um die Darstellung Stalins zu erweitern.1248 Wie weit diese Änderungen ebenfalls von Stalin und Molotov sanktioniert werden mußten oder inwieweit die Entscheidung zu solchen Änderungen nach der grundsätzlichen Zustimmung Stalins und Molotovs von der die Dramen betreuenden Kommission selbst getroffen werden konnten, muß hier leider unbeantwortet bleiben. Fest steht, daß Stalin in den Dramen Tolstojs und Pogodins zum ersten Mal den rein imaginären Raum der Literatur verläßt und den theatralisierten Raum der sowjetischen Bühne betritt. In ihm erscheint er nicht länger als rein narrativ vermittelte Mythenkonstruktion, sondern als vermeintlich reale Person, die den „begrenzten Wirklichkeitsraum“1249 des Theaters mit dem Publikum teilt. Ihre Stücke werden im Laufe der Jahre durch eine Reihe weiterer Dramen ergänzt, die Stalin ebenfalls als Revolutions- und Bürgerkriegshelden zeigen. Diese sind Nikolaj Pogodins Drama Кремлевские куранты1250, die unter dem Titel Ленин herausgegebene Dramenfassung des von Aleksej Kapler und Zlatogorov verfaßten Filmszenarios Ленин в 1918 году 1251, das mit dem Stalinpreis von 1950 ausgezeichnete Drama Незабываемый 1919-й год von Vsevolod Višnevskij1252 sowie Das Drama wird anläßlich des 20. Jahrestages der Revolution 1937 ebenfalls am Vachtangov-Theater in Moskau uraufgeführt. Die Regisseure sind V.V. Kuza, K. Ja. Mironov, A.I. Remizova. Das Bühnenbild ist von V.V. Dmitriev. 1938 wird das Stück in der Regie von M.V. Cezegov am Театр им. Ленинского комсомола noch einmal an einem Moskauer Theater aufgeführt. Gleichzeitig wird eine Inszenierung am Большой драматический театр in Leningrad vorbereitet. Vgl. hierzu Bojadžiev 1960, 222ff. und 341 sowie Zolotnickij 1960, 321f. Darüber hinaus wird das Stück mit M.M. Štrauch in der Hauptrolle verfilmt: Bojadžiev 1960, 273 sowie Hülbusch 2001, 86ff. 1246 Zu der Rede Emeljan Jaroslavskijs vgl. Jaroslavskij 1934, 238f. sowie Sinjavskij 1987, 113f. und Maximenkov 1992, 82f. 1247 Vgl. hierzu den von P.M. Keržencev an Stalin und Molotov gerichteten Brief vom 01.04.1936 in: Babičenko 1997, 214. 1248 Vgl. hierzu noch einmal den Brief Keržencevs in: Babičenko 1997, 214. 1249 Vgl. hierzu Hamburger 1987, 177f.: „Die dramatische Gestalt ist, wie bereits ausgesprochen, so gebaut, daß sie nicht nur, wie die epische, im Modus der Vorstellung existiert, sondern dazu bestimmt und angelegt ist, in den Modus der Wahrnehmung (der Bühne) hinüberzutreten, d.h. also dieselbe physikalisch definierte Wirklichkeit wie die des Zuschauers.“ 1250 Das Stück wird am 3. Mai 1940 am Большой драматический театр in Leningrad uraufgeführt: Zolotnickij 1960, 323. 1251 Die unter dem Titel Ленин dramatisierte Fassung von Kaplers und Zlatogorovs Szenario wurde 1939 anläßlich des 22. Jahrestags der Oktoberrevolution am Puškin-Theater in Leningrad uraufgeführt. Regie führten L.S. Viv’en und V.P. Kozic: Bojadžiev 1960, 196. 1252 Das Stück wird 1949 unter der Regie von K.A. Zubov und V.I. Cygankov am Малый театр in Leningrad aufgeführt. Die Rolle Stalins wird von dem Schauspieler B.F. Gorbatov gespielt. Lenin wurde erneut von M.M. Štrauch dargestellt: Levitina 1961, 166f. Es folgen Inszenierungen in Moskau und Leningrad: Obrazcova 1961, 306 und Zolotnickij 1961, 424. 1245 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 263 das von Michail Kozakov und Anatolij Mariengof 1951 veröffentlichte Stück Остров великих надежд, sowie Nikolaj Trenevs Drama На берегу Невы1253, in dem Stalin als backstage character in Erscheinung tritt. Nachdem die meisten der Stücke in den großen Theatern Moskaus oder Leningrads uraufgeführt worden sind1254, wurden sie noch bis in die vierziger Jahre hinein an den verschiedensten Bühnen der Sowjetunion gespielt1255 und für das Fronttheater im zweiten Weltkrieg zu einer Leninrevue zusammengefaßt. Da eine Analyse aller Stalin darstellenden Dramen den Rahmen dieser Arbeit übersteigen würde, sollen hier vor allem die Dramen berücksichtigt werden, die Stalin in seiner Rolle als Revolutions- und Bürgerkriegsheld zeigen. Sie sollen im folgenden sowohl in ihrer Eigenschaft als dramatische Texte analysiert als auch hinsichtlich des in ihnen vermittelten Stalinbildes und seiner offiziellen Rezeption hinterfragt werden. Unberücksichtigt bleiben bei dieser Analyse die Dramen, die ab Ende der dreißiger Jahre einzelne Ausschnitte aus der revolutionären Biographie Stalins dramatisieren, wie B. Viskarevs Drama Побег, Samed Vurguns Ханлар, A. Gulakjans Drama Великая дружба, S. Dadianis Stück Из искры sowie G. Nachucrišvilis Drama Юност вождя und A. Pervencevs Stück Южный узел. Da sie mit Ausnahme der Stücke Dadianis und Guljakans erst zwischen 1949 und 1952 entstanden sind, bedürfen sie nicht nur aufgrund ihrer thematischen sondern auch aufgrund ihres zeitlichen Entstehungszusammenhangs einer eigenständigen Аnalyse. Ob es sich bei den für den Wettbewerb zur Verfügung gestellten Ausschreibungsunterlagen um so detaillierte Anweisungen gehandelt hat, wie die anläßlich der Ausstellung „20 Jahre Rote Arbeiter- und Bauernarmee und die Flotte“ an die Künstler weitergegebene Liste, die mit über hundert Auswahlmöglichkeiten zu verschiedenen Themen so genaue ikonographische Anweisungen enthielt, wie „‘Ein bolschewistischer Arbeiter erklärt einem Soldaten der Armee des Zars, warum er beim Kampf gegen den Zar helfen sollte’“1256 oder ob es sich um einen Wettbewerb gehandelt hat, in dem den Autoren lediglich das Thema vorgegeben wurde, die Konstruktion der Fabel aber ebenso frei war, wie die letztendliche Ausgestaltung des Sujets1257 kann nur anhand weiterer Archivunterlagen geklärt werden. Über die bereits genannten Ausschreibungsbedingungen hinaus lassen die Dramen soviel erkennen, daß sich die Schriftsteller zur Realisation der ihnen gestellten Aufgabe auf zwei Themenkomplexe Nikolaj Trenevs Stück wird anläßlich des 20. Jahrestags der Oktoberrevolution 1937 am Малый театр in Moskau uraufgeführt. Regie führte K.P. Chochlov: Durylin/Rodina 1960, 141. Ebenfalls 1937 gibt es noch eine weitere Inszenierung am Puškin-Theater in Leningrad. Der Regisseur ist S.E. Radlov: Danilov 1960, 190. 1254 In der Литературная газета vom 20.11.1937 heißt es: «В дни великого праздника 20-летия Октябрьской социалистической революции в театрах столицы и других городов состялись премьеры юбилейных пьес.» (Pogodin 1937a, o.S.) 1255 So finden sich die Stücke 1940 anläßlich des 23. Jahrestags der Revolution auf den Spielplänen von über hundert Theatern. Allein das Stück Кремлевские куранты wird an mehr als fünfzig Bühnen gespielt: Levin 1960, 430f. 1256 Vgl. hierzu Bown 1991, 113. 1257 Vgl. auch hierzu noch einmal Bown, der einen Brief des Landschaftsmalers Arkadij Rylov zitiert, in dem dieser über sein 1937 fertiggestelltes Bild Lenin in Rasliv schreibt: „Er spaziert am Flußufer auf und ab, während er auf Neuigkeiten aus der Stadt wartet. Bei Sonnenuntergang soll ein Mittelsmann aus dem Untergrund zu ihm kommen. Lenins Plan für den Kampf mit der Übergangsregierung ist bereits ausgereift und bis ins Detail durchdacht. Wladimir Iljitsch wird den Genossen die notwendigen Anweisungen geben. Das Thema Lenin in Rasliw wurde vom Leningrader Rat geordert; die Komposition und den Augenblick selbst habe ich festgelegt. Kommunisten mögen es.“ (z.n. Bown 1991, 115) 1253 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 264 beziehen konnten: die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917 bis 1919 und die Darstellung Lenins und Stalins im Bürgerkrieg. Sie besetzen damit zwei jener „grundlegenden Magistralen der Geschichte“1258, die spätestens seit dem Mitte der dreißiger Jahre einsetzenden Kanonisierungsprozeß der sowjetischen Geschichtsschreibung zu den grundlegenden Mythenkomplexen des Lenin- und Stalinkults gehören. Wie bereits in dem Kapitel über A. Tolstojs Roman Хлеб gezeigt, werden sie auf dem 1. Schriftstellerkongreß als zentrales Thema des literarischen Stalinkults eingesetzt.1259 Zeitgleich wird die Darstellung Stalins als Führer in Revolution und Bürgerkrieg auch in der Malerei zu einem der grundlegenden Themen. Bilder wie M. Averins „I.V. Stalin, K.E. Vorošilov und V.M. Molotov inmitten von Panzerfahrern“, A. Samochvalovs „Die Genossen Lenin und Stalin in den Tagen des Oktober im Smol’nyj“, I. Toidzes „Der Genosse Stalin am Riongės“ oder I.I. Brodskijs „Stalinportrait“ von 1929 schaffen eine Ikonographie, die die nachträglich fingierte Biographie Stalins mit vermeintlich authentischen Bildern ausstattet. Wie weit damit ikonographische Muster für die Gestaltung der einzelnen Szenen vorgeben werden, soll anhand der einzelnen Analysen geklärt werden. Obwohl Keržencev in seinem Brief vorschlägt, daß die zu dem Wettbewerb eingeladenen Schriftsteller regelmäßig dem Komitee zur Betreuung der Dramen über den Fortgang ihrer Arbeit berichten sollten, um Thema, Sujet und handelnde Personen der von den Autoren erarbeiteten Dramenentwürfe bestätigen zu lassen, scheinen die Autoren in der letztendlichen Ausgestaltung ihrer Dramen frei gewesen zu sein. So müssen sich die Schriftsteller zwar die von ihnen erstellten Entwürfe von dem zuständigen Komitee genehmigen lassen.1260 Die letztendliche Ausgestaltung der Dramen findet dann jedoch ohne weitere Kontrolle durch die Mitglieder des Komitees statt: «Я указал кроме того, что работающие над пьесой или сценарием регулярно сообщали о ходе своей работы Комитету с тем, что мы утвердили тему, сюжет и действующих лиц до того, как начнется фактическая работа над пьесой или сценарием.» (z.n. Babičenko 1997, 214) Ein Vergleich der Dramen zeigt, daß sie sowohl hinsichtlich der Fabel als auch hinsichtlich ihres Sujets so stark voneinander abweichen, daß von einer einheitlichen Bearbeitung keine Rede sein kann.1261 Während Nikolaj Pogodins Drama Человек с ружьем die Geschichte von dem einfachen Soldaten Ivan Šadrin erzählt, der aus den Schützengräben des ersten Weltkriegs nach Petrograd kommt, dort mit Lenin zusammentrifft, sich im weiteren Verlauf des Stückes dann zu einem verantwortungsvollen Revolutionär entwickelt der, von Stalin in den Kampf geschickt, als Kommandeur der Roten Armee in Petrograd gegen die Truppen Kerenskijs kämpft, nimmt Aleksej Tolstojs Drama Путь к победе seinen Anfang in einer Fabrik außerhalb von Petrograd, deren Arbeiter schon bald in die Ereignisse des Bürgerkriegs verwickelt werden. Nachdem sie Gefangene befreit und Kosaken verhört haben, finden sie sich nach einer Szene, die Stalin in Brodjanskij 1938, 5. Vgl. hierzu Maximenkov 1992, 85ff. 1260 Das Komitee setzt sich aus Keržencev, Steckij, Ščerbakov, Stanislavskij, Demirovič-Dančenko, Al’tman sowie aus Parteifunktionären und Theaterleuten zusammen. 1261 Sinjavskij 1966, 130 weist ebenfalls darauf hin, daß die Werke des Sozialistischen Realismus stilistisch und inhaltlich stark voneinander abweichen und lediglich in ihrer teleologischen Sinnstiftung übereinstimmen. 1258 1259 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 265 seinem Hauptquartier an der Front zeigt, in der alles entscheidenden Schlacht bei Kastorna wieder. Das Drama endet, wo es begonnen hat: in der Fabrik bei Petrograd. Eine dritte Sujetkonstruktion verfolgt Konstantin Trenevs Drama На берегу Невы. Sein Drama zeigt das revolutionäre Rußland wenige Tage vor der endgültigen Machtergreifung durch die Bolschewiki. Im Mittelpunkt der Handlung steht der Arbeiter Buranov, der, zu einer Zeit, in der Lenin noch im Untergrund ist und auch die Правда nur heimlich erscheinen kann, sich dadurch auszeichnet, daß er die Ideen Lenins verbreitet und in der Fabrik, in der er arbeitet, ein bolschewistisches Arbeiterkollektiv organisiert. Nach mehreren dramatischen Verwicklungen führt das Drama zu einer Kongreßversammlung im großen Saal des Smol’nyj, während der die revolutionären und konterrevolutionären Kräfte aufeinandertreffen. Während die Menschewiki und Sozialrevolutionäre versuchen, Lenin zur Aufgabe seiner revolutionären Pläne zu zwingen, bereitet Lenin zusammen mit den Kommandierenden der Roten Armee die Verteidigung Petrograds gegen die Truppen Kerenskijs vor. Das Drama endet damit, daß Lenin, nachdem die Vertreter der Menschewiki und Sozialrevolutionäre verhaftet sind, den Saal im Smol’nyj betritt und eine Rede hält. Auch der Vergleich der Szenen, in denen Lenin und Stalin in den verschiedenen Dramen die Bühne betreten, zeigt, daß sie sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrer Frequenz so stark differieren, daß sie trotz der geforderten Rücksprache mit den Komiteemitgliedern keine einheitliche Gestaltung erkennen lassen. Während Stalin in Konstantin Trenevs Drama На берегу Невы lediglich über ein Telefongespräch in das dramatische Geschehen eingebunden ist, erscheint er in Nikolaj Pogodins Drama Человек с ружьем ebenso wie in seinem zwei Jahre später fertiggestellten Stück Кремлевские куранты in jeweils einer Szene, wohingegen er in Aleksej Tolstojs Drama Путь к победе gleich in mehreren Szenen zu sehen ist. Ähnlich uneinheitlich gestalten sich die Auftritte Lenins, die die Stalins in ihrer Häufigkeit deutlich übertreffen. Während er in Konstantin Trenevs Drama На берегу Невы erst ganz am Ende die Bühne betritt, erscheint er in Nikolaj Pogodins Человек с ружьем bereits in der Mitte des Dramas und in Aleksej Tolstojs Stück Путь к победе ist er dann ebenso wie in Nikolaj Pogodins späterem Stück Кремлевские куранты von Beginn an in die Handlung eingebunden. Die Eigenständigkeit der einzelnen Dramen zeigt sich darüber hinaus aber auch daran, daß die Autoren eine vollkommen unterschiedliche Gestaltung der dramatischen Dialoge verfolgen. Während Nikolaj Pogodin in einem Gespräch mit Redaktionsmitgliedern der Литературная газета vom 20.11.1937 darauf hinweist, daß es ihm gerade darum gehe, die Dialoge Lenins und Stalins jenseits ihrer offiziellen Reden und Artikel zu formulieren,1262 übernimmt Aleksej Tolstoj ganze Teile seiner Dialoge aus den zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen sakralisierten Schriften Lenins und Stalins, ein Verfahren, dessen sich zwei Jahre später auch Nikolaj Pogodin bei der Fertigstellung seines zweiten Dramas Кремлевские куранты bedient.1263 Im Original heißt es: «В пьесе Ленина не говорит цитатами из его произведений, язык вождя создан творчески. 'Професионально' цитая статья и речи Ленина, стараясь за буквами ленинских слов уловить живой драматический образ, впитывая отдельные характерные выражения, совечия, воскличании Владимира Ильича, автор старался воспроизвести яркую, своеобразную манеру речи Ленина. Поэтому язык Ленина и получился живым.» (Pogodin 1937, o.S.) 1263 Vgl. hierzu Tolstoj 1949a, 692 sowie die von Ju. Kalašnikov verfaßte Kritik an einer Inszenierung von Nikolaj Pogodins Drama am Volkov-Theater in Jaroslavl’, in der es heißt: «Во втором – образ 1262 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 266 Die Dramen entwickeln so ein jeweils eigenes Sujet, das nur insofern mit dem der anderen Dramen übereinstimmt, als daß es im übergeordneten Mythensystem der sowjetischen Geschichtsschreibung verankert ist. Die in ihnen auszumachenden Übereinstimmungen dürften damit weniger in einer einheitlichen Vorgabe an die Autoren begründet sein als in einem allgemein gültigen (Text)Kanon, auf den sich die Dramen ebenso wie der Roman Tolstojs beziehen. Für die Darstellung Lenins sind dies neben den immer wieder erwähnten Texten Stalins „Über Lenin“ und „Über die Grundlagen des Leninismus“ vor allem die in immer neuen Ausgaben herausgegebenen Erinnerungen Maksim Gor’kijs, Nadežda Krupskajas sowie verschiedene andere Erinnerungs- und Augenzeugenberichte.1264 Indem sie sowohl von den Autoren als auch von den Rezensenten zum Vorbild für die Darstellung Lenins erhoben werden, kommt ihnen eine mythopoetische Funktion zu, die die Darstellung seiner Person vor jeder dramatischen Gestaltung auf ein bestimmtes Rollenprofil festlegt. Vergleicht man die für den Leninkult konstitutiven Texte mit dem in den Rezensionen betonten Rollenbild, so zeigt sich, daß sie weitgehend deckungsgleich sind: Texte Stalins Rezensionen außergewöhnlicher Mensch (Stalin 1952a, Bd.6, 47) самый выдающийся человек (Al’tman 1939, 44), самый человеческий человек, огромная жизнедеятельность (Gurvič 1937, o.S.) Schöpfer der Partei (Stalin 1952a, Bd.6, 48), ein Führer höheren Typs (Stalin 1952a, Bd.6, 48) великий вождь (Dikovskij 1937, o.S.), вождь трудового человечества (Al’tman 1939, 44), величия (Gurvič 1937, o.S.) Genius der Revolution (Stalin 1952a, Bd.6, 55) гений (Gurvič 1937, o.S.), гений революции (Iezuitov 1938, 12), порявление народного гения, творческой мощи народов (Brodjanskij 1938, 5), гениальная ленинская личность (Al’tman 1939, 43) Theoretiker der Revolution (Stalin 1952, Bd.6, 84ff) организатор революции (Dikovskij 1937, o.S.) Prinzipienfestigkeit, Geduld und Beharrlichkeit (Stalin 1952a, Bd.6, 53) непреклонная воля (Gurvič 1937, o.S., Altman 1939, 43), бесстрашие (Iezuitov 1938, 10), ясные, четкие решения (Al’tman 1939, 44), сосредоточность (Al’tman 1939, 44), чуткость политического вождя (Gurvič 1937, o.S.), быстрая и ясная ориентировка (Al’tman 1939, 44) bescheiden (Stalin 1952a, Bd.6, 47), Einfachheit und Klarheit (Stalin 1952a, Bd.6, 49) душевная простата (Gurvič 1937, o.S.) furchtlos und kühn (Stalin 1952a, Bd.6, 48) честность, безпощадность (Iezuitov 1938, 10) Glaube an die schöpferischen Kräfte der Massen (Stalin 1952a, Bd.6, 55) любви к трудовому народу (Iezuitov 1938, 10), борца за интересы трудового народа к врагам лишается человеческой конкретности, становится официальным, живая речь вождя начинает напоминать цитаты из его статей. И естественно, что эта двойственность не могла не повлиять на исполнение актера.» (Kalašnikov 1941, 24) 1264 Auf die Texte Stalins bezieht sich neben den Rezensionen von Iezuitov (Iezuitov 1938, 10) und Brodjanskij (Brodjanskij 1938, 6) Nikolaj Pogodin, der in seinem Gespräch mit Redaktionsmitgliedern der Литературная газета mehrfach auf die Texte Stalins verweist: Pogodin 1937, o.S. Auf die Texte von Maksim Gor’kij und Nadežda Krupskaja verweisen die Rezensionen von Kalašnikov (Kalašnikov 1941, 26) und Iezuitov (Iezuitov 1938, 12). Auf Augenzeugenberichte als Grundlage ihrer Darstellung Lenins verweisen Nikolaj Pogodin (Pogodin 1937, o.S.) und Aleksej Kapler (Kapler 1984, 487). Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 267 (Iezuitov 1938, 12) revolutionäres Bewußtsein (Stalin 1952b, Bd.6, 82), Konkretisierung und Weiterentwicklung des revolutionären Marxismus (Stalin 1952b, Bd.6, 78 und 80) человек большой политической мысли и большой политической страсти (Brodjanskij 1938, 6) ungewöhnliche Überzeugungskraft (Stalin 1952a, Bd.6, 49) глубокий и сложный интеллект (Al’tman 1939, 43), мудрость (Iezutiov 1938, 10) Ist die Darstellung Lenins so in erster Linie in nachträglich kanonisierten Erinnerungstexten begründet, die als vermeintlich authentische Darstellung Lenins die Rollengestaltung der Dramen beeinflußt, bezieht sich die Rollenkonfiguration Stalins auf die im aktuellen Stalinkult angelegte Hagiographie.1265 Wenn die Darstellung seiner Person in den Dramen als ruhig, konzentriert, entschlossen, von unbestechlicher Logik und zielstrebig beschrieben wird,1266 klingen darin nicht nur Eigenschaften nach, die ihm in den unendlichen Grußbotschaften und Huldigungsschreiben immer wieder aufs neue attestiert werden, sondern auch jene mythischen Eigenschaften, die die Dramenautoren ihm in Artikeln wie «Сталин на трибуне»1267 oder «Товарищ Сталин»1268 selbst zuschreiben. Die stereotyp anmutende Darstellung Lenins und Stalins scheint somit auch bei der Gestaltung ihrer dramatischen Figuren eher in einer Vor-Schrift im ganz eigentlichen Sinne des Wortes begründet zu liegen als in einer den einzelnen Schriftstellern vorgegebenen Rollenkonstruktion. 4.2 Dokumentarische Fiktion Folgt man den Angaben der einzelnen Autoren, haben sie sich über die Absprachen mit dem Komitee hinaus mit umfangreichem dokumentarischem Material versorgt, das es ihnen ermöglichte, die ihnen zugewiesene Aufgabe in der vorgegebenen Zeit zu erledigen. Sowohl Nikolaj Pogodin als auch Aleksej Kapler und Aleksej Tolstoj berichten über ausführliche Recherchen, auf die sich die Darstellung ihrer Dramen stützt.1269 Während Nikolaj Pogodin sich dabei nur ganz allgemein auf „Material“ bezieht, das er zur Fertigstellung seines Dramas herangezogen hat, verweist Aleksej Tolstoj noch einmal auf das von ihm bereits für seinen Roman Хлеб verwendete Material, das ihm die Redaktion der История гражданской войны zur Verfügung gestellt hat.1270 Aleksej Kapler hat nach eigenen Angaben dagegen selbst in verschiedenen Archiven recherchiert, Zeitungen, Zeitschriften und Augenzeugenberichte gelesen sowie die historischen Orte besucht, an denen Lenin nach seiner Ankunft in Petrograd aufgehalten hat.1271 Obwohl es sich bei all den Unterlagen um Archivmaterial handeln soll, das es den Schriftstellern ermöglicht, sowohl die Revolution als auch die Person Lenins historisch korrekt darzustellen, legen die Dramen selbst einen anderen Schluß nahe. Das Bild, das sie von Lenin und Stalin als den Führern der Revolution zeichnen, ist weniger historisch als vielmehr Vgl. hierzu auch McNeal 1988, 229. Brodjanskij 1938, 7. 1267 Tolstoj 1936e, 149ff. 1268 Pogodin 1937b, o.S. 1269 Vgl. hierzu Pogodin 1937, o.S. sowie Kapler 1984, 487f., Tolstoj 1937b, 524 sowie Tolstoj 1938b, 544. 1270 Tolstoj 1937b, 524 sowie Tolstoj 1938b, 544. Zur Diskussion, die anläßlich fehlender Dokumentarmaterialien über die Rolle Stalins im Bürgerkrieg zwischen Gor’kij und dem weiteren Redaktionsmitglied Korabel’nikov stattgefunden hat, vgl. noch einmal Maximenkov 1992, 96, Fußnote 98. 1271 Kapler 1984, 487. 1265 1266 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 268 die dramatische Gestaltung der im offiziellen Lenin- und Stalinkult vorgegebenen Mythographie. Sie zeigen weder, daß der von Lenin in seinem Exil in Finnland erarbeitete Plan für einen bewaffneten Aufstand von den meisten Mitgliedern des Zentralkomitees der RKP(b) abgelehnt wurde (Kamenev schlug aus Angst, er könnte die Partei kompromittieren sogar vor, diesen zu verbrennen), noch daß seinem Vorschlag zu einem bewaffneten Aufstand wochenlange Auseinandersetzungen um das konkrete Vorgehen und den genauen Zeitpunkt eines bewaffneten Aufstandes folgten. In ihrer vollkommen klischierten Darstellung zeigen die Dramen ebenfalls nicht, daß Lenin nach seiner Rückkehr nach Petrograd gleich drei verschiedene Pläne für einen bewaffneten Aufstand vorlegte, der mal in Moskau, mal in Petrograd und mal in Helsinki beginnen sollte. Sie zeigen aber auch nicht, daß es eigentlich Trockij gewesen ist, der als Vorsitzender der Sowjets und Vorsitzender des Militärischen Revolutionskomitees sowohl den militärischen als auch den organisatorischen Oberbefehl über die revolutionären Ereignisse im Oktober 1917 hatte und den Umsturz maßgeblich organisiert hat.1272 Sie wissen erst recht nichts davon, daß Stalin selbst den Antrag stellte, daß nicht nur Lenin sondern auch Trockij als Redner für den II. Allrussischen Sowjetkongreß nominiert werden sollte und es letztendlich Trockij war, dem sich die in Petrograd stationierten Regimenter in einer Konferenz vom 21. Oktober 1917 als Vorsitzendem des Militärischen Revolutionskomitees freiwillig unterstellten.1273 Stalin selbst spielte, wie seine späteren Biographen übereinstimmend feststellen, in den revolutionären Ereignissen des Jahres 1917 so gut wie keine Rolle: „Stalin’s refusal to get involved with the technical preparations for an uprising was one of the critical factors by which he cut himself off from the seizure of power. [...] [H]e evidently wanted to avoid committing himself too deeply to a risky project whose outcome was unknown.“ (Slusser 1987, 226) Ganz im Gegensatz zu der Darstellung in den Dramen befand sich Stalin, so Deutscher, „in den Tagen des Aufstandes nicht unter den ersten Akteuren des Dramas.“1274 Obwohl Stalin am 16. Oktober zusammen mit vier weiteren Mitgliedern des Zentralkomitees in den Militärischen Verteidigungsrat gewählt wurde, war sein Beitrag zu den Vorbereitungen des Oktoberaufstandes verschwindend gering: „Wenn man dem Vorsitzenden dieses Komitees, Trotzki, glauben darf, dann war der Beitrag, den Stalin zu der Arbeit dieses Organs der Revolution zu leisten wußte, gleich Null. Man kann die Glaubwürdigkeit dieser Behauptung Trotzkis anzweifeln, weil er Stalin gegenüber mehr als voreingenommen war. Aber dann müßte es möglich sein, in dem Stoß von Dokumenten über den Aufstand wenigstens einige wenige zu finden, die eine direkte Verbindung Stalins mit den Vorgängen, die sich jetzt abspielten, beweisen könnten. Nichts dergleichen ist bisher bekannt.“ (Deutscher 1990, 224)1275 Auch wenn die Dramen Stalin ebenfalls nicht in den Mittelpunkt der revolutionären Ereignisse stellen, lassen sie keinen Zweifel daran, daß ihm diese Rolle eigentlich zukommt. Wenn Konstantin Trenev ihn in einem Telefongespräch mit Lenin sagen läßt, Vgl. hierzu Malaparte 1988, 25ff. sowie Slusser 1987, 220ff. Zu den historischen Ereignissen im Oktober 1917 sowie der Rolle Lenins und Stalins vgl. Deutscher 1990, 198-230 sowie Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 58-69, Slusser 1987, 219ff. und McNeal 1988, 37ff. 1274 Deutscher 1990, 224. McNeal 1988, 40 bewertet die Abwesenheit Stalins während des Aufstandes im Oktober weniger kritisch. Für ihn stellt die Ernennung Stalins zum Mitglied der ersten sowjetischen Regierung die eigentliche Entscheidung für seine spätere Machtposition dar.. 1275 Zu dem gleichen Ergebnis kommt auch Dmitrij Volkogonov: „Stalin war in den Ereignissen dieser Jahre einfach untergegangen. [...] Kein Archivdokument aus jenen historischen Tagen und Nächten, mit denen ich mich vertrautmachen konnte, erwähnt seinen Namen.“ (Wolkogonow 1990, Bd.1/1, 63) Und auch McNeal 1988, 40 kommt zu dem Schluß: „Stalin did not play a glorious role in this action [...].“ 1272 1273 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 269 daß es unbedingt notwendig sei, mit aller Härte gegen das verräterische und konterrevolutionäre Ultimatum der Menschewiki vorzugehen, mit denen sie Lenin zur Aufgabe seines Amtes zwingen wollen, und diese nicht, wie Lenin vorschlägt, aus dem Rat der Sowjets zu vertreiben, sondern zu verhaften1276, kommt seiner Figur eine Bedeutung zu, die zwar im mythopoetischen Kontext des Stalinkultes begründet ist, aber nicht in den tatsächlich nachweisbaren Dokumenten. Auch die Szene, in der Stalin in Nikolaj Pogodins Drama Человек с ружьем die Bühne betritt, läßt keinen Zweifel daran, daß seine Darstellung keine reale sondern eine fingierte ist. Wenn er in dieser Szene die von Ivan Šadrin angeführten Rotarmisten vor ihrem Kampfeinsatz als offizieller Befehlshaber verabschiedet,1277 erscheint er in einer Rolle, die bis 1925 eigentlich Trockij inne hatte. Genauso wenig bezieht sich Aleksej Tolstojs Drama Путь к победе auf die historisch überlieferte Identität Stalins. Würde sein Drama tatsächlich auf dokumentarisches Material zurückgehen, müßte es ebenfalls eigentlich Trockij in der Rolle des obersten Befehlshabers zeigen. Denn anders als von Aleksej Tolstoj in seinem Drama fingiert, war es, folgt man Isaac Deutscher, nicht Stalin sondern Trockij, der die entscheidende Offensive gegen die Truppen Denikins bei Orel befehligte und damit den Sieg der Roten Armee ermöglichte. Entgegen den Vorschlägen des Generalstabs, der von Lenin und Stalin unterstützt wurde, hatte er befürwortet, daß der Feldzug nicht, wie vom Generalstab vorgeschlagen, in dem von feindlichen Kosaken besiedelten Dongebiet stattfinden sollte, sondern im Bergbaugebiet des Doneck-Beckens.1278 Stalin selbst war zu dieser Zeit in keine unmittelbare militärische Operation verwickelt, sondern befand sich meistens auf Inspektionsreisen, die er zusammen mit anderen Regierungsmitgliedern im Auftrag des Zentralkomitees und des Militärischen Führungsstabs an die unterschiedlichen Frontabschnitte unternahm. Er sollte dort die Ursachen für militärische Niederlagen und zivile Verwaltungsprobleme klären und wenn möglich beheben. Können die Dokumente so eigentlich gar nichts über eine militärische Aufgabe Stalins im Herbst 1919 sagen, zeigt das Drama Tolstojs einmal mehr, daß das in ihm entworfene Bild Lenins und Stalins weniger im tatsächlichen historischen Gedächtnis begründet ist, als in den offiziellen historischen wie hagiographischen Texten: „Zur Organisation des Vernichtungsfeldzugs gegen Denikin entsandte das Zentralkomitee die Genossen Stalin, Woroschilow, Ordschonikidse und Budjonny an die Südfront. Trotzki wurde von der Leitung der Operation der Roten Armee im Süden entfernt. Vor dem Eintreffen des Genossen Stalin hatte das Kommando der Südfront gemeinsam mit Trotzki einen Plan ausgearbeitet, wonach der Hauptstoß gegen Denikin von Zarizyn auf Noworossijsk, durch die Donsteppen, geführt werden sollte, wo die Rote Armee völlig wegloses Gelände zu passieren und Gebiete mit kosakischer Bevölkerung zu durchqueren gehabt hätte, von der ein bedeutender Teil damals unter dem Einfluß der Weißgardisten stand. Genosse Stalin unterzog diesen Plan einer scharfen Kritik und schlug dem Zentralkomitee seinen eigenen Plan zur Vernichtung Denikins vor: den Hauptstoß in Richtung Trenev На берегу Невы 1937, 335f. Pogodin Человек с ружьем 1937, 228f. Vgl. hierzu auch die Zusammenfassung dieses Dramas in der 1950 von Čeremin verfaßten Monographie mit dem Titel Образ И.В. Сталина в советской художественной литературе: «Из художественной произведений, рисующих роль товарища Сталина во время Октябрьской революции, следует отметить пьесу Н. Погодина 'Человек с ружьем' (1937). В ней чрезвычайно рельефвно показана великое содружество Ленина и Сталина, обрисована их совместная работа по организации отпора наступлению отрядов Керенского.» (Čeremin 1950, 8f.) 1278 Vgl. hierzu Deutscher 1990, 279f. McNeal 1988, 59f. geht davon aus, daß die militärische Strategie der Roten Armee bereits vor Stalins Ankunft feststand und es so gut wie unmöglich sei, die tatsächliche Rolle Stalins zu rekonstruieren. 1276 1277 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 270 Charkow – Donezbecken – Rostow zu führen.“ (Kurzer Lehrgang o.J., 322) Diese Übereinstimmungen legen die Vermutung nahe, daß sich die Dramen entgegen den Aussagen der Autoren weniger auf tatsächliches historisches Quellenmaterial beziehen, als auf die in Absprache mit dem Komitee vorgenommene mythische Überhöhung Lenins und Stalins. Ihr Verweis auf vermeintlich dokumentarisches Material dient so lediglich der Authentifizierung eines Mythos, der selbst bereits nur noch die mythische Verdoppelung Lenins und Stalins dokumentiert. Als mögliche Vorlage für die in den Dramen entworfene Wirklichkeitsfiktion können dabei so verschiedene Materialien gedient haben, wie die von Aleksej Tolstoj erwähnten Materialien aus der Redaktion der Истрория гражданской войны, die im Marx-EngelsLenin-Institut zusammengestellt und zu der ein Jahr später erschienenen История РКП(б). Краткий курс zusammengefaßt wurden, die 1937 in einer überarbeiteten Neuauflage herausgegebene Monographie Сталин и Красная Армия (M. 1937) von Konstantin Vorošilov, der ebenfalls 1936 herausgegebene Sammelband Ленин и Сталин в помощь пропагандисту: сборник произведении к изучению истории ВКП(б) (M. 1936) oder die ebenfalls bereits 1936 von Lavrentij Berija verfaßte Geschichte der bolschewistischen Organisationen im Kaukasus К вопросу об истории большевистских организаий в Закавказье (M. 1936). Zu nennen sind außerdem Texte wie die 1939 zum ersten Mal herausgegebene Biographie Stalins Kurze Lebensbeschreibung (Kurze Lebensbeschreibung 1945) und Emeljan Jaroslavskijs Arbeit mit dem Titel О товарище Сталине (Jaroslavskij 1941). Sie alle schaffen eine rein imaginäre Wirklichkeit, deren diskursive Elemente sowohl die Handlung als auch die in den Dramen angelegten Charaktere prägen. Damit sind die Dramenautoren ebenfalls weniger auf ein ihnen vorgängiges Szenario verpflichtet, als auf eine ihnen vorgängige Wirklichkeitskonzeption, die die in den Dramen inszenierte Vergangenheit ebenso bestimmt, wie die Darstellung Lenins und Stalins.1279 4.3 Zur Funktion des Autors Entgegen der immer wieder vertretenen These, daß der Autor in der stalinistischen Kultur der dreißiger Jahre nichts schafft, sondern lediglich bereits vorformuliertes illustriert1280, treten auch die Dramenautoren in der offiziellen Wahrnehmung der Rezensionen nicht hinter der Aktualisierung einer im kollektiven Gedächtnis angelegten Wirklichkeit zurück. Keine der Kritiken erscheint, ohne den Namen des Autors zu nennen und das von ihm verfaßte Drama hinsichtlich seiner Komposition, seiner Figurengestaltung oder seiner Sujetkonstruktion zu bewerten.1281 Wenn es in der Rezension zu Nikolaj Pogodins Stück Человек с ружьем heißt, daß er die Massenszenen „mit großer künstlerischer Stärke und Ausdruckskraft“ gestalte1282 und Aleksej Tolstoj die Zu dieser Funktion der Stalinliteratur vgl. auch Dobrenko 1993, 87ff. und Maximenkov 1992, 27. Beide Autoren weisen den Texten des literarischen Stalinkults eine rein illustrative Funktion zu. Im folgenden soll gezeigt werden, daß die Dramen aber ebenso wie der Roman Aleksej Tolstojs direkt an der Mythenproduktion des offiziellen Stalinkults teilnehmen. 1280 Vgl. hierzu Papernyj 1985, 196f. sowie Clark 1985, 159f., Groys 1988, 79 und Dobrenko 1993, 33ff. 1281 Vgl. hierzu Kalašnikov 1941, 24, Pogodin 1937, o.S., Dikovskij 1937, o.S. und Gurvič 1937, o.S. 1282 Gurvič 1937, o.S. und dort weiter: «Так называемая 'серая толпа' у Погодина всегда очень красочна. В 'Человек с ружьем' особено хорошим все солдатские сцены, которые наряду со сценами, в которых участвует Ленин, являются самыми содержательными, самыми значительными в спектакле. [...] У Погодина хватило тонкость и такта для того, чтобы показать простоту вождя не в его частной жизни и не в бытовом приравнении к рядовых людей, а в той 1279 Stalin im Drama: Szenen einer revolutionären Biographie 271 gegenseitige Sorge Lenins und Stalins in seinem Drama Путь к победе mit großer lyrischer Wärme beschreibe1283, werden sie mit einem Recht auf künstlerische Kreativität ausgestattet, das sie zur zentralen schöpferischen Instanz ihrer Texte erhebt. Dabei sind es vor allem Formulierungen wie «путь, по которому ведет своего героя Погодин, разнообразен и содержателен»1284, «все это предано художником с большим вкусом и настро-ением»1285, «с одинаковым вниманием и тщательностью передает Тренев высказы-вания промышленника»1286, «любовно и бережно выполненный автором, этот образ чрезвычайно удался ему»1287 oder «с большим трудом далась автору сцена»1288, die die Autoren mit einer individuellen Autorschaft ausstatten, die dem Mythos vom Verschwinden des Autors entgegensteht. Sie zeigen sie im Besitz einer künstlerischen Eigenständigkeit, die ihnen bereits im Gründungsstatut des 1. Schriftstellerkongresses 1934 zugestanden wird. Kommt es so zumindest in der inszenierten Öffentlichkeit der sowjetischen Literaturkritik nicht zu dem Verlust einer individuellen Autorschaft, werden die Autoren stattdessen zur zentralen künstlerischen Instanz, die das im histo-rischen Diskurs angelegte Wissen in die literarischen Texte überträgt und damit nicht nur die von ihnen verfaßten Texte sondern auch die in ihnen dargestellte Wirklichkeit zu verantworten hat.1289 Im Kontext der Widerspiegelungstheorie werden sie zur Schnitt-stelle von Text und Wirklichkeit, die die außerliterarische Wirklichkeit nicht nur wider-spiegelt sondern künstlerisch gestaltet: «Первая наша обязанность – знать нашу опошную небывало богатую советскую жизнь и правдиво изображать. Что значит правдиво изображать? Что прежде всего не плестисть вдогонку жизни, а итти вперед нее, не иллюстрировать ее, говорить о ней не только ту правду, которая уже доказана и всем видна, а ту, которую обязан видеть прежде всех искрывать глубже всех художник, которая состоит в смелой постановке и правильном решении больших, часто больных вопросов жизни.» (Trenev 1938, 578) Verlieren die Autoren so zwar insofern ihre demiurgische Qualität, als daß die von ihnen gezeigten