Bronsteins Kinder

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Bronsteins Kinder
Königs Erläuterungen und Materialien
Band 434
Erläuterungen zu
Jurek Becker
Bronsteins Kinder
von Rüdiger Bernhardt
Über den Autor dieser Erläuterung:
Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und
neueste deutsche sowie skandinavische Literatur an Universitäten des In- und Auslandes. Er veröffentlichte u. a. Monografien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg
und Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Peter Hilles, Hermann
Conradis und anderer sowie zahlreiche Schulbücher heraus.
Seit 1994 ist er Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung
Kloster auf Hiddensee.
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noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden.
Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für
Unterrichtszwecke!
2. Auflage 2009
ISBN 978-3-8044-1820-2
© 2005 by C. Bange Verlag, 96142 Hollfeld
Alle Rechte vorbehalten!
Titelabbildung: Jurek Becker
Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk
2
Inhalt
Vorwort ...............................................................
5
Jurek Becker: Leben und Werk .........................
Biografie ................................................................
Zeitgeschichtlicher Hintergrund .............................
Angaben und Erläuterungen
zu wesentlichen Werken ........................................
7
7
13
2.
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
2.6
2.7
Textanalyse und -interpretation ........................
Entstehung und Quellen ........................................
Inhaltsangabe ........................................................
Aufbau ..................................................................
Personenkonstellation und Charakteristiken ..........
Sachliche und sprachliche Erläuterungen ...............
Stil und Sprache .....................................................
Interpretationsansätze ...........................................
24
24
30
44
57
63
74
77
3.
Themen und Aufgaben .......................................
85
4.
Rezeptionsgeschichte ..........................................
89
5.
Materialien ..........................................................
92
Literatur ..............................................................
95
1.
1.1
1.2
1.3
18
(Zitiert wird nach: Jurek Becker: Bronsteins Kinder. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp Taschenbuch Verlag, suhrkamp taschenbuch 1517, 1988)
3
4
Vorwort
Vorwort
Der Roman Jakob der Lügner hatte Jurek Becker 1969 über
Nacht berühmt gemacht. Die auf ähnliche Erfolge wartenden
Leser enttäuschte Becker nicht. Nach dem Roman Irreführung
der Behörden (1973) kehrte er 1976 mit dem Roman Der Boxer
zu dem früheren Gegenstand zurück: der Judenverfolgung und
Judenvernichtung im Dritten Reich. Mit dem Roman
Bronsteins Kinder (1986) entstand eine Art Trilogie, obwohl
Becker nach jedem Werk geglaubt hatte, das Thema sei für
ihn erschöpft gewesen: Jurek Becker hatte den Holocaust
ebenso überlebt wie der berühmte Regisseur Jerzy Kawalerowicz, der Beckers Roman Bronsteins Kinder 1990/91 verfilmte.
Bronsteins Kinder behandelte das Thema in neuer Qualität.
Die Trilogie ist eine fiktive Schilderung von Beckers Kindheit und Jugendzeit. Er konnte nichts über seine Kindheit in
Ghetto und KZs sagen, obwohl er manches im Unterbewussten vorhanden wähnte. In seinen Romanen holte Becker es als
Fiktion in das Bewusstsein zurück. Die Trilogie Jakob der Lügner, Der Boxer und Bronsteins Kinder war für Becker aber nicht
nur die Suche nach der verlorenen eigenen Kindheit, sondern
es ging ihm um die Gegenwart und darum, „das Risiko einer
Wiederholung möglichst gering zu halten“:
„Sinn solcher Literatur sollte oder kann höchstens in einer Zunahme, in einer minimalen Zunahme von Sensibilität, von Empfindsamkeit bestehen ... es gibt bis heute – für meine Begriffe –
nicht nur ästhetische Gesichtspunkte, sich mit faschistischer
Vergangenheit, mit Nazivergangenheit auseinander zu setzen,
sondern auch politische Gesichtspunkte.“1 (Vgl. S. 92 der vorliegenden Erläuterung)
1
Graf, Karin, S. 60
Vorwort
5
Vorwort
Bronstein und seine Freunde wollen Gerechtigkeit, die zur
Rache wird. Dabei handeln sie selbst unmenschlich, weil sie
sich von der aktuellen herrschenden Gesetzlichkeit kein Recht
erwarten. Ähnlich hatte im Roman Der Boxer (1976) der überlebende Jude Aron (Arno) Blank argumentiert: Sein Sohn Mark
sollte, um sich vor antisemitischen Angriffen zu schützen, lernen, „sich selbst gegen Angriffe zur Wehr zu setzen, das war
es, nur ein wirksamer Selbstschutz machte ihn von fremder
Hilfe unabhängig“2. Aus dem Verhalten Arno Bronsteins und
seiner Freunde sind ihre mörderischen Erlebnisse in den KZs
ahnbar, die sie zur Selbsthilfe treiben. Aber sie sprechen nicht
darüber. Da Verbrechen wie die von Arno Bronstein und seinen Freunden erlebten der heutigen Generation nur noch in
allgemeinen Umrissen bekannt sind, müssen sie zur Lektüre
und Analyse des Romans vermittelt und mitgedacht werden.
Becker hatte dabei seinem Roman auch die Aufgabe übertragen, die „Besonderheit der Bundesrepublik Deutschland“ zu
beheben, „dass nie eine entschlossene und kraftvolle Abrechnung mit dem Faschismus stattgefunden hat“3.
Die spannende, unwahrscheinlich klingende Geschichte in
Bronsteins Kinder ist nur mit Kenntnissen über die von Becker
problematisierte jüdische Identität, die Fremd- oder Selbstbestimmung als Jude und die Geschichte der Judenverfolgung
und -vernichtung in Deutschland zu verstehen. Dazu will der
vorliegende Kommentar, neben Hinweisen zur Gestaltung des
Textes, auf die jüdische Traditionen Einfluss hatten, eine Einführung bieten.
2
3
6
Jurek Becker: Der Boxer. Rostock: Hinstorff Verlag, 1976, S. 222
„Das Vorstellbare gefällt mir immer besser als das Bekannte.“ Gespräch mit Marianne Birnbaum (1988). In: Heidelberger-Leonard, S. 99
Vorwort
1.1 Biografie
1.
Jurek Becker: Leben und Werk
1.1 Biografie
Jahr
Ort
Ereignis
1937
Ĺódź (Polen)
1939
Ĺódź
1941
Auschwitz
Das Geburtsdatum 30. 9. ist willkürlich gewählt. Beim Geburtsjahr macht ihn der Vater im
Ghetto um ein bis zwei Jahre älter, dadurch erhöht sich seine
Überlebenschance: Er wird vor
Deportation besser geschützt.
Der Vater, Prokurist in der
Textilfabrik
eines
Onkels,
stammt aus einer wohlhabenden
jüdischen Familie. Jurek Becker
heißt zuerst Georg Becker.4
Mit den Eltern, nach 1941 nur
mit der Mutter im Ghetto Ĺódź
(Litzmannstadt). Später berichtet Becker, dass er keine Erinnerung an seine Kindheit hat, „so
als wäre es nie gewesen.“ (Der
Spiegel 1997, Nr. 13, S. 211)
Vater im KZ, von der Roten Armee 1945 befreit.
4
Alter
2
„Wenn ich auf mein bisheriges zurückblicke, dann muss ich leider sagen.“: Jurek Becker 1937–
1997. Dokumente zu Leben und Werk aus dem Jurek-Becker-Archiv, zusammengestellt und
hrsg. von Karin Kiwus; Berlin: Akademie der Künste, 2002; s. a. Heidelberger-Leonard, S. 32,
Abb. 2
1. Jurek Becker: Leben und Werk
7
1.1 Biografie
Jahr
Ort
1942
1945
Berlin (Ost)
1946
Berlin (Ost)
1952
Berlin (Ost)
1955
Berlin (Ost)
1955–57
1957
5
6
8
Berlin (Ost)
Ereignis
Alter
5
KZ Ravensbrück und Sachsenhausen. „So hat man es mir erzählt, so steht es in meinen Papieren, so war folglich meine
Kindheit.“5 Die Mutter verhungert an seiner Seite im Lager. Er
spricht polnisch, nach 1945 ist
er „einige Zeit buchstäblich
sprachlos“6.
8
Trifft durch Suchorganisationen
auf den Vater; er und Jurek
sind, neben einer Tante, der
vermutlich die Flucht nach
Amerika gelang, die Überlebenden der großen Familie. Sie gehen nach Ostberlin.
9
Erstmaliger Schulbesuch. Er
lernt nun erst Deutsch.
Eintritt in die FDJ (Freie Deut- 15
sche Jugend)
18
Abitur. Mitglied der SED
Freiwilliger Dienst in der NVA 20
(Nationale Volksarmee)
Sieben Semester Studium der Phi- 18–20
losophie bis 1960, Abbruch aus
politischen Gründen und nach einem Parteiverfahren. Gelegenheits- und Kabarettgedichte.
Jurek Becker: Die unsichtbare Stadt. In: Unser einziger Weg ist Arbeit. Das Getto in Lódz 1940–
1944, hrsg. vom Jüdischen Museum Frankfurt a. M., Wien: Löcker, 1990, S. 10; auch in
Heidelberger-Leonard, S. 25 ff.
Jurek Becker: Antrittsrede. In: Heidelberger-Leonard, S. 13
1. Jurek Becker: Leben und Werk
1.1 Biografie
Alter
Jahr
Ort
Ereignis
1958
Berlin (Ost)
Beginn der Freundschaft mit 21
Manfred Krug: „Das ist mein
kleiner Bruder, Jurek, der
wohnt jetzt bei mir.“7
Freier Schriftsteller
23
Kabarett-Texte für die „Distel“, 23–28
Drehbücher für sieben Fernsehspiele und Drehbücher für die
DEFA, darunter 1965 Jakob der
Lügner (abgelehnt)
Ehe mit Erika Hüttig, Söhne Nikolaus (1961) und Leonard (1964)
Zerrüttung seiner „Loyalitäts- 31
basis“ mit der DDR beim Einmarsch der Warschauer-PaktStaaten in die CSSR
Drehbuchautor der DEFA. Der 32
Roman Jakob der Lügner wird
ein sensationeller Erfolg und
macht Becker weltberühmt.
Heinrich-Mann-Preis für Jakob 34
der Lügner
Charles-Veillon-Preis8 für Jakob
der Lügner
Tod des Vaters. Becker: „Er 35
wollte nicht (über die Kindheit
1960 ff. Berlin (Ost)
1960–65 Berlin (Ost)
1961 ff.
1968
1969
1971
Berlin (Ost)
Schweiz
1972
7
8
Kahlau, S. 19
Der Preis des Unternehmensgründers und Kunstmäzens Charles Veillon, den u. a. Manes Sperber und Peter Bichsel erhielten, ist ein europäischer Essaypreis und wird für Werke vergeben,
die fruchtbare Kritik an zeitgenössischen Entwicklungen sowie Ideologien üben und Problemdiskussionen auslösen, die jüdisch-christlicher Herkunft sind.
1. Jurek Becker: Leben und Werk
9

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