PDF-Dokument - Durchblick
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Durchblick-Filme – Das DVD-Label des BJF Bundesverband Jugend und Film e.V. Ostbahnhofstr. 15 60314 Frankfurt am Main Tel. 069-631 27 23 E-Mail: [email protected] www.BJF.info www.durchblick-filme.de Durchblick 6+ – Der rote Ballon – Albert Lamorisse – Frankreich 1956 – 33 Min. 2. Filmessay – Halbdokumentation – Filmfantasie – Kurzfilm klassiker 1,3 Millionen Zuschauer sahen 1956 den Film in Frankreich. Ein Film für Kinder wird ein Publikumsrenner. Filmakteure Pascals Geschichte wird gradlinig und einfach strukturiert erzählt. Die Zuschauer sehen und hören, was der kleine Junge an zwei Tagen erlebt. Pascal und der rote Luftballon sind beide als Identifikationsfiguren zu bezeichnen. Der Junge empfindet den Ballon als Freund. Offensichtlich hat er keine anderen. Der Ballon nimmt diese Rolle an und gebärdet sich ent sprechend. Er lässt sich auf Pascal und seine Forderungen ein, rebelliert aber ab und zu, um seine Freiheit zu demonstrieren. Er lässt Pascal in keinem Moment im Stich. Das ist, was von einem Freund erwartet wird. Mit dem Ballon erfährt Pascal, was es heißt, einen Spielpartner zu haben, mit dem er ge meinsam Dinge entdeckt, sich zu wehren und einander beizustehen lernt. Der Zuschauer fiebert mit dem Schicksal des Ballons genauso mit wie mit dem Jungen, wenn sie allein oder beide in problematische Situationen geraten. Der Luftballon wird als Bildmetapher genutzt und steht für das Ungewöhnliche, das im Leben geschehen kann. Er wird in der Fantasie zum empfindsamen Wesen mit menschlichen Charaktereigenschaften wie Neugierde spüren, trotzig reagieren, zuverlässig sein, Freund schaft empfinden, mutig und ängstlich sein. Der Ballon strebt danach, Grenzen zu über winden und sucht Partner, die mit ihm Alltagsabenteuer erleben wollen. Kinder verstehen das. In der Fantasie fließen Realität und Traum poetisch zusammen. Ein Beispiel dafür ist die zarte Begegnung des blauen und des roten Luftballons. Die beiden Ballons entwickeln ihr Eigenleben, unabhängig von den beiden Kindern. Der Kontakt erinnert an zwei Hunde, die sich treffen, beschnuppern und von ihren „Herrchen“ gemaßregelt werden. Die Ballons bleiben verspielt und schwerelos. Die im Film auftretenden Erwachsenen, die eine Beziehung zu Pascal haben wie z. B. die Mutter, der Busschaffner oder der Schuldirektor, werden in ihren manifestierten Meinungen und Verhaltensweisen vorgeführt. Engstirnig und eingeengt handeln sie gegenüber der Er lebniswelt des Kindes. Kann von einem „Happy End“ der Geschichte gesprochen werden? Tröstlich für den Zuschauer ist, dass Pascal nicht allein mit seinem Schmerz bleibt. Er hat viele „Freunde“ gefunden, die ihn von dem gewalttätigen Ort wegschweben lassen. Dieser märchenhafte Filmschluss versöhnt und gibt Hoffnung auf neue Abenteuer. Gleichzeitig er fahren die jungen Zuschauer, dass Verständnis für den anderen und Freundschaft in der Realität ein harter Kampf sein kann und die Welt, in der sie leben, nicht nur friedliche Momente bereithält. 1 Bildebene Fotografisch meisterhaft aufgenommen erzählen vor allem die Filmbilder die Geschichte. Aus der Perspektive des Kindes werden halbnahe Aufnahmen, die das Geschehen dar stellen, von Großaufnahmen abgelöst, um in die Gesichter der Akteure schauen zu können. Schnellere Kamerafahrten unterstützen brisante Momente auf dem Schulweg. Pascal hat Angst, zu spät zu kommen, auch wenn er noch so schnell rennt. Die sogenannte Mise-en-scène (In-Szene-Setzen), die Gesamtinszenierung einer Ein stellung zum Beispiel über den Handlungsort, die Schauspielführung, den Bildaufbau und die Farbgestaltung prägt die Gestaltung des Films. Ein Beispiel von der Anfangssequenz: Die Totale über das alte Paris ist umrahmt von alten Gebäuden oberhalb der Stadt. Der Blick der Kamera fällt leicht von oben auf die Szenerie und ist durch die Straße begrenzt. Von links schleicht eine Katze ins Bild: eine fast idyllische Morgenlandschaft. Licht und Farben sind besonders sorgfältig gestaltet. Das Knallrot des Ballons stellt einen starken Kontrast zum blaugrauen, schummrigen Licht, den alten zerschrammten Häusern und den bräunlichen Rinnsalen am Rand der Straßen dar. Lange Schatten geben den engen Gassen noch weniger Spielraum. Alles verstärkt das nostalgische Lokalkolorit, das von der Kamera in den Totalen über der Stadt oder Halbtotalen auf den verkehrsreichen Straßen ebenso eingefangen wird, wie die Aufnahmen mit der Standkamera an den weniger be schaulichen Plätzen des Viertels. Ein halbdokumentarischer Stil etabliert sich. Filmmontage Grundsätzlich werden den jüngeren Zuschauern längere Sequenzen dargeboten, damit die Situation, in der sich die Protagonisten befinden, nach und nach erfasst werden kann. Tonebene Dialoge gibt es wenig, aber viel Alltagsatmosphäre. Vordergründige, effektvoll eingesetzte Geräusche wie der ankommende Bus, die Trillerpfeife am Schultor, die Dampflok, Pferde hufgetrappel oder Kindergeschrei geben dem Geschehen neben den vielen Laiendarstellern die Authentizität. Was zu Pascal gesagt wird oder was er mit seinem Ballon bespricht, ist meistens über Körpersprache, die Haltung, Gesten und Mimik ersichtlich. Eine Referenz an Mittel aus der Stummfilmzeit. Selbst Slapstickelemente sind zu entdecken, wenn der Ballon den Schuldirektor verfolgt, um zu erreichen, dass Pascal aus dem Arrestraum der Schule ent lassen wird. Die Filmgeschichte ist so für jedes Kind auch ohne französische Sprachkenntnisse verständ lich. Zur Funktion der Musik im Film Die musikalische Begleitung ist untrennbar mit den Bildern verbunden. Eine Kennmelodie, ein sehr eingängiges populäres Motiv, begleitet Pascal und ist bis zum Schlussbild präsent. Zu Filmbeginn wird diese Melodie beschwingt, poetisch, etwas melancholisch von einem Orchester gespielt. Später, wenn die Handlung dramatischer wird, wirkt auch die Musik be drohlicher. Der Zuhörer kann ahnen, was sich ereignen wird. Fröhlich begleitet die eingängige Melodie das „Regenschirmhüpfen“ des Ballons, sie wird rhythmischer, unterbrochen durch Pausen, und leichter, wenn Pascal und sein Ballon ver 2 stecken spielen. Sie variiert sehr zart durch ein Glockenspiel während der Begegnung mit dem kleinen Mädchen und dem blauen Ballon. Ein eigenes musikalisches Motiv erhält die Verfolgung des Direktors durch den Ballon: munter, pointiert, gewitzt. Besonders dramatische Momente münden in Stille, zum Beispiel, wenn der Ballon von der Jungenbande verfolgt wird. Beobachtet der Zuschauer Pascal, wie er durch die engen Gassen versucht, mit seinem Ballon zu entkommen, setzt die musikalische Begleitung aus, als ob der Atem angehalten wird. Nur seine trampelnden flinken Schritte sind zu hören. In der zauberhaften Endsequenz des Films werden noch einmal alle Gefühle in Klänge ge fasst: geheimnisvoll, überschwänglich, sentimental, erleichtert – das große fantastische Finale. Der Musiker Maurice Le Roux wurde 1923 in Paris geboren und starb 1992 in Avignon. Er studierte am Pariser Konservatorium Komposition und war auch als Dirigent tätig. 19 Original-Filmmusiken, eine Reihe von TV-Scores und Orchestrierungen sind von ihm bekannt. Mit Lamorisse arbeitet er bereits beim Film „Der weiße Hengst“ („Crin Blanc“) 1952/1953 zusammen (siehe Kurzinformation). Die realistische Filmkulisse Das Arrondissement de Ménilmontant, ein Stadtteil von Paris, bietet die Filmkulisse. Das 20. Arrondissement in Paris ist ein traditionelles Arbeiterviertel und gilt als Anziehungspunkt für Einwanderer, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Italien, Polen, Spanien, Maghreb-Nordafrika hierher kamen, um sich ein neues Leben aufzubauen. An der bekannten Kirche Notre-Dame-de-la-Croix und an der Rue de Ménilmontant wurde gedreht (siehe Bildergalerie). Andere Drehorte des Films sind heute durch Neubebauungen nicht mehr sichtbar, z.B. die Bäckerei, die Y-förmige Treppe hinter dem Café „Au Repos de la Montagne“ oder die steilen Stufen an der Rue Vilin. Filmthemen Einsamkeit, Fantasie, die Suche nach Freundschaft „Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Pascal. Er hatte weder Brüder noch Schwestern, und er war sehr traurig, dass er immer allein zu Haus sein musste. Einmal hatte er eine herrenlose Katze aufgelesen und später auch einen kleinen verlassenen Hund. Aber seine Mama fand, dass die Tiere zu viel Schmutz machten. Und so blieb Pascal wieder allein auf den blitzblank gebohnerten Fußböden in der Wohnung seiner Mama.“ (1) So beschreibt der Autor zu Beginn der Geschichte die Lebenssituation seines Helden. Mit diesem familiären Hintergrund tritt er in der ersten Szene auf, ohne dass jemals die Wohnung gezeigt wird. Der Zuschauer kann es aber sehen und fühlen, wie einsam der Junge ist: Er geht allein zu Schule, holt keinen von seiner Haustür ab. Er entdeckt Dinge, an die andere Kinder mit ihren Freunden achtlos vorbei gehen würden: eine streunende Katze oder einen Luftballon an einem Laternenpfahl. Pascal ist ein stiller Junge, kein Draufgänger, eher ein Träumer. So gerät er in der Rolle des Opfers für die muntere und aggressive Jungenclique. Erwachsene wie der Direktor akzeptieren ihn ebenfalls nicht, halten ihn wahrscheinlich für schwächlich und nicht durch setzungsfähig. Der Schuldirektor steht für die mangelnde Akzeptanz von Kindern, mit ihren Bedürfnissen in der Gesellschaft und für das Ausspielen unsinniger Machtrituale im Schul gefüge. 3 Kinder, die einsam sind, verlieren den sozialen Kontakt. Pascal hilft die Fantasie, seine Umwelt zu entdecken und sich in ihr zu behaupten. Er sehnt sich nach einer Freundin wie auf dem Bild „Mädchen mit Reifen“, das er auf dem Trödelmarkt entdeckt. Als er etwas später das Mädchen mit dem blauen Luftballon trifft, ist er noch zu sehr mit sich und dem Vorführen seines Luftballons beschäftigt. Er kämpft um einen vorteilhaften Status und merkt nicht, wie er ihn gerade wieder verliert. Vielleicht hätte er das erste Mal Liebe erfahren und gespürt. Diese Gefühle und Verhaltensweisen sind zeitlos. Solche Jungen wie Pascal gibt es mehr als Erwachsene ahnen. Sie isolieren sich oder verstecken sich vielleicht immer noch hinter viel Fantasie. Diese kleine Filmgeschichte macht dem Zuschauer bewusst, wie wichtig Akzeptanz und Respekt für jeden Menschen sind. Sie zeigt, welche Kraft in der Fantasie steckt. Sie auszu leben, verlangt Neugierde, Mut, Kreativität und Zuversicht. „Und während Pascal über seinen toten Luftballon weinte, geschah etwas Seltsames. Von überall her flogen viele, viele Luftballons herbei und schlossen sich am Himmel zu langen Reihen zusammen. Das war der Aufstand der Luftballons. Und alle Luftballons stiegen zu Pascal nieder, tanzten um ihn herum, knüpften ihre Schnüre zusammen und entführten ihn in den Himmel.“ (2) – Ein Plädoyer für die Fantasie. (1) und (2): Originalzitate aus dem Buch von Albert Lamorisse „Der rote Ballon“, Eugen Diederichs Verlag 1957 (vergriffen) „Der rote Ballon“ ist zum Filmklassiker geworden „…in Technicolor gedreht, ist (er) zugleich eine Rückkehr zur Ästhetik des Stummfilms. Es gibt keine Kommentare und der Dialog beschränkt sich auf drei Sätze. Die Trickaufnahmen warfen schwierige Probleme auf, die der Regisseur mit überraschender Leichtigkeit löste. (*) Die Kindergeschichte wird auf diese Weise im Dekor des Paris der 50iger Jahre mit seinen malerischen Straßen und seinen köstlich typisierten Bewohnern glaubhaft.“ (Raymond Lefevre in 50 Kinderfilmklassiker, Hrsg. Christian Exner, Atlas Film+AV/BJF/KJF 1995) (*) Wenn man genau hinschaut, sieht man die dünnen Fäden, die auf dem Ballon verklebt sind, damit er für die Aufnahmen kontrolliert auf- und abschwebt. Was zeichnet den Film aus? • außergewöhnliche Bilder, die einen nostalgischen Blick auf das alte Paris gewähren; • das Zeitlose und Universelle der Geschichte über eine besondere Freundschaft und der Suche nach Anerkennung – ein wichtiges Thema für Kinder, fantasievoll und konsequent aus ihrer Perspektive erzählt. • Weil alle Zuschauer von der ersten Szene an mit der Hauptfigur des Films mitfühlen, wirkt der Filmklassiker auch heute noch aktuell. „Gerade Filmklassiker können das Wissen um Zusammenhänge erweitern, neue Sicht- und Sehweisen ermöglichen. (…) Auch im Ansatz bereits spannende Szenen können selbst jüngere Kinder ohne nachhaltig ängstigende Wirkung aufnehmen und verarbeiten, vorausgesetzt, die Spannung wird vollständig aufgelöst und die Identifikationsfiguren im Film zeigen selbst keine allzu große Angst.“ (aus: 5.3. Beurteilungskriterien für einen „guten“ Kinderfilm (Holger Twele), Expertise zur pädagogischen Altersempfehlung für Kinderfilme des KJF, Remscheid 2011); • die Lust auf unbekannte und ungewöhnliche Filmbilder wird geweckt, die lange in Er innerung bleiben; • der Kurz- und Autorenfilm als eigenständige ästhetische Kunstgattung ist zu ent decken; 4 • besonders geeignet für jüngere Kinder zur Entwicklung von Filmkompetenz im Grundschulbereich. 5