PDF-Dokument - Durchblick

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Durchblick-Filme –
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Durchblick 6+ – Der rote Ballon – Albert Lamorisse – Frankreich 1956 – 33 Min.
2. Filmessay – Halbdokumentation – Filmfantasie – Kurzfilm­
klassiker
1,3 Millionen Zuschauer sahen 1956 den Film in Frankreich.
Ein Film für Kinder wird ein Publikumsrenner.
Filmakteure
Pascals Geschichte wird gradlinig und einfach strukturiert erzählt. Die Zuschauer sehen und
hören, was der kleine Junge an zwei Tagen erlebt. Pascal und der rote Luftballon sind beide
als Identifikationsfiguren zu bezeichnen. Der Junge empfindet den Ballon als Freund.
Offensichtlich hat er keine anderen. Der Ballon nimmt diese Rolle an und gebärdet sich ent­
sprechend. Er lässt sich auf Pascal und seine Forderungen ein, rebelliert aber ab und zu, um
seine Freiheit zu demonstrieren. Er lässt Pascal in keinem Moment im Stich. Das ist, was
von einem Freund erwartet wird.
Mit dem Ballon erfährt Pascal, was es heißt, einen Spielpartner zu haben, mit dem er ge­
meinsam Dinge entdeckt, sich zu wehren und einander beizustehen lernt. Der Zuschauer
fiebert mit dem Schicksal des Ballons genauso mit wie mit dem Jungen, wenn sie allein oder
beide in problematische Situationen geraten.
Der Luftballon wird als Bildmetapher genutzt und steht für das Ungewöhnliche, das im Leben
geschehen kann. Er wird in der Fantasie zum empfindsamen Wesen mit menschlichen
Charaktereigenschaften wie Neugierde spüren, trotzig reagieren, zuverlässig sein, Freund­
schaft empfinden, mutig und ängstlich sein. Der Ballon strebt danach, Grenzen zu über­
winden und sucht Partner, die mit ihm Alltagsabenteuer erleben wollen. Kinder verstehen
das. In der Fantasie fließen Realität und Traum poetisch zusammen. Ein Beispiel dafür ist
die zarte Begegnung des blauen und des roten Luftballons. Die beiden Ballons entwickeln ihr
Eigenleben, unabhängig von den beiden Kindern. Der Kontakt erinnert an zwei Hunde, die
sich treffen, beschnuppern und von ihren „Herrchen“ gemaßregelt werden. Die Ballons
bleiben verspielt und schwerelos.
Die im Film auftretenden Erwachsenen, die eine Beziehung zu Pascal haben wie z. B. die
Mutter, der Busschaffner oder der Schuldirektor, werden in ihren manifestierten Meinungen
und Verhaltensweisen vorgeführt. Engstirnig und eingeengt handeln sie gegenüber der Er­
lebniswelt des Kindes.
Kann von einem „Happy End“ der Geschichte gesprochen werden?
Tröstlich für den Zuschauer ist, dass Pascal nicht allein mit seinem Schmerz bleibt. Er hat
viele „Freunde“ gefunden, die ihn von dem gewalttätigen Ort wegschweben lassen. Dieser
märchenhafte Filmschluss versöhnt und gibt Hoffnung auf neue Abenteuer. Gleichzeitig er­
fahren die jungen Zuschauer, dass Verständnis für den anderen und Freundschaft in der
Realität ein harter Kampf sein kann und die Welt, in der sie leben, nicht nur friedliche
Momente bereithält.
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Bildebene
Fotografisch meisterhaft aufgenommen erzählen vor allem die Filmbilder die Geschichte.
Aus der Perspektive des Kindes werden halbnahe Aufnahmen, die das Geschehen dar­
stellen, von Großaufnahmen abgelöst, um in die Gesichter der Akteure schauen zu können.
Schnellere Kamerafahrten unterstützen brisante Momente auf dem Schulweg. Pascal hat
Angst, zu spät zu kommen, auch wenn er noch so schnell rennt.
Die sogenannte Mise-en-scène (In-Szene-Setzen), die Gesamtinszenierung einer Ein­
stellung zum Beispiel über den Handlungsort, die Schauspielführung, den Bildaufbau und die
Farbgestaltung prägt die Gestaltung des Films. Ein Beispiel von der Anfangssequenz: Die
Totale über das alte Paris ist umrahmt von alten Gebäuden oberhalb der Stadt. Der Blick der
Kamera fällt leicht von oben auf die Szenerie und ist durch die Straße begrenzt. Von links
schleicht eine Katze ins Bild: eine fast idyllische Morgenlandschaft.
Licht und Farben sind besonders sorgfältig gestaltet. Das Knallrot des Ballons stellt einen
starken Kontrast zum blaugrauen, schummrigen Licht, den alten zerschrammten Häusern
und den bräunlichen Rinnsalen am Rand der Straßen dar. Lange Schatten geben den engen
Gassen noch weniger Spielraum. Alles verstärkt das nostalgische Lokalkolorit, das von der
Kamera in den Totalen über der Stadt oder Halbtotalen auf den verkehrsreichen Straßen
ebenso eingefangen wird, wie die Aufnahmen mit der Standkamera an den weniger be­
schaulichen Plätzen des Viertels. Ein halbdokumentarischer Stil etabliert sich.
Filmmontage
Grundsätzlich werden den jüngeren Zuschauern längere Sequenzen dargeboten, damit die
Situation, in der sich die Protagonisten befinden, nach und nach erfasst werden kann.
Tonebene
Dialoge gibt es wenig, aber viel Alltagsatmosphäre. Vordergründige, effektvoll eingesetzte
Geräusche wie der ankommende Bus, die Trillerpfeife am Schultor, die Dampflok, Pferde­
hufgetrappel oder Kindergeschrei geben dem Geschehen neben den vielen Laiendarstellern
die Authentizität.
Was zu Pascal gesagt wird oder was er mit seinem Ballon bespricht, ist meistens über
Körpersprache, die Haltung, Gesten und Mimik ersichtlich. Eine Referenz an Mittel aus der
Stummfilmzeit. Selbst Slapstickelemente sind zu entdecken, wenn der Ballon den
Schuldirektor verfolgt, um zu erreichen, dass Pascal aus dem Arrestraum der Schule ent­
lassen wird.
Die Filmgeschichte ist so für jedes Kind auch ohne französische Sprachkenntnisse verständ­
lich.
Zur Funktion der Musik im Film
Die musikalische Begleitung ist untrennbar mit den Bildern verbunden. Eine Kennmelodie,
ein sehr eingängiges populäres Motiv, begleitet Pascal und ist bis zum Schlussbild präsent.
Zu Filmbeginn wird diese Melodie beschwingt, poetisch, etwas melancholisch von einem
Orchester gespielt. Später, wenn die Handlung dramatischer wird, wirkt auch die Musik be­
drohlicher. Der Zuhörer kann ahnen, was sich ereignen wird.
Fröhlich begleitet die eingängige Melodie das „Regenschirmhüpfen“ des Ballons, sie wird
rhythmischer, unterbrochen durch Pausen, und leichter, wenn Pascal und sein Ballon ver­
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stecken spielen. Sie variiert sehr zart durch ein Glockenspiel während der Begegnung mit
dem kleinen Mädchen und dem blauen Ballon. Ein eigenes musikalisches Motiv erhält die
Verfolgung des Direktors durch den Ballon: munter, pointiert, gewitzt.
Besonders dramatische Momente münden in Stille, zum Beispiel, wenn der Ballon von der
Jungenbande verfolgt wird. Beobachtet der Zuschauer Pascal, wie er durch die engen
Gassen versucht, mit seinem Ballon zu entkommen, setzt die musikalische Begleitung aus,
als ob der Atem angehalten wird. Nur seine trampelnden flinken Schritte sind zu hören.
In der zauberhaften Endsequenz des Films werden noch einmal alle Gefühle in Klänge ge­
fasst: geheimnisvoll, überschwänglich, sentimental, erleichtert – das große fantastische
Finale.
Der Musiker Maurice Le Roux wurde 1923 in Paris geboren und starb 1992 in Avignon. Er
studierte am Pariser Konservatorium Komposition und war auch als Dirigent tätig. 19
Original-Filmmusiken, eine Reihe von TV-Scores und Orchestrierungen sind von ihm
bekannt. Mit Lamorisse arbeitet er bereits beim Film „Der weiße Hengst“ („Crin Blanc“)
1952/1953 zusammen (siehe Kurzinformation).
Die realistische Filmkulisse
Das Arrondissement de Ménilmontant, ein Stadtteil von Paris, bietet die Filmkulisse. Das 20.
Arrondissement in Paris ist ein traditionelles Arbeiterviertel und gilt als Anziehungspunkt für
Einwanderer, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus Italien, Polen, Spanien,
Maghreb-Nordafrika hierher kamen, um sich ein neues Leben aufzubauen. An der bekannten
Kirche Notre-Dame-de-la-Croix und an der Rue de Ménilmontant wurde gedreht (siehe
Bildergalerie). Andere Drehorte des Films sind heute durch Neubebauungen nicht mehr
sichtbar, z.B. die Bäckerei, die Y-förmige Treppe hinter dem Café „Au Repos de la
Montagne“ oder die steilen Stufen an der Rue Vilin.
Filmthemen
Einsamkeit, Fantasie, die Suche nach Freundschaft
„Es war einmal ein kleiner Junge, der hieß Pascal. Er hatte weder Brüder noch Schwestern,
und er war sehr traurig, dass er immer allein zu Haus sein musste. Einmal hatte er eine
herrenlose Katze aufgelesen und später auch einen kleinen verlassenen Hund. Aber seine
Mama fand, dass die Tiere zu viel Schmutz machten. Und so blieb Pascal wieder allein auf
den blitzblank gebohnerten Fußböden in der Wohnung seiner Mama.“ (1)
So beschreibt der Autor zu Beginn der Geschichte die Lebenssituation seines Helden. Mit
diesem familiären Hintergrund tritt er in der ersten Szene auf, ohne dass jemals die
Wohnung gezeigt wird. Der Zuschauer kann es aber sehen und fühlen, wie einsam der
Junge ist: Er geht allein zu Schule, holt keinen von seiner Haustür ab. Er entdeckt Dinge, an
die andere Kinder mit ihren Freunden achtlos vorbei gehen würden: eine streunende Katze
oder einen Luftballon an einem Laternenpfahl.
Pascal ist ein stiller Junge, kein Draufgänger, eher ein Träumer. So gerät er in der Rolle des
Opfers für die muntere und aggressive Jungenclique. Erwachsene wie der Direktor
akzeptieren ihn ebenfalls nicht, halten ihn wahrscheinlich für schwächlich und nicht durch­
setzungsfähig. Der Schuldirektor steht für die mangelnde Akzeptanz von Kindern, mit ihren
Bedürfnissen in der Gesellschaft und für das Ausspielen unsinniger Machtrituale im Schul­
gefüge.
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Kinder, die einsam sind, verlieren den sozialen Kontakt. Pascal hilft die Fantasie, seine
Umwelt zu entdecken und sich in ihr zu behaupten. Er sehnt sich nach einer Freundin wie
auf dem Bild „Mädchen mit Reifen“, das er auf dem Trödelmarkt entdeckt. Als er etwas
später das Mädchen mit dem blauen Luftballon trifft, ist er noch zu sehr mit sich und dem
Vorführen seines Luftballons beschäftigt. Er kämpft um einen vorteilhaften Status und merkt
nicht, wie er ihn gerade wieder verliert. Vielleicht hätte er das erste Mal Liebe erfahren und
gespürt. Diese Gefühle und Verhaltensweisen sind zeitlos. Solche Jungen wie Pascal gibt es
mehr als Erwachsene ahnen. Sie isolieren sich oder verstecken sich vielleicht immer noch
hinter viel Fantasie.
Diese kleine Filmgeschichte macht dem Zuschauer bewusst, wie wichtig Akzeptanz und
Respekt für jeden Menschen sind. Sie zeigt, welche Kraft in der Fantasie steckt. Sie auszu­
leben, verlangt Neugierde, Mut, Kreativität und Zuversicht.
„Und während Pascal über seinen toten Luftballon weinte, geschah etwas Seltsames. Von
überall her flogen viele, viele Luftballons herbei und schlossen sich am Himmel zu langen
Reihen zusammen. Das war der Aufstand der Luftballons. Und alle Luftballons stiegen zu
Pascal nieder, tanzten um ihn herum, knüpften ihre Schnüre zusammen und entführten ihn in
den Himmel.“ (2) – Ein Plädoyer für die Fantasie.
(1) und (2): Originalzitate aus dem Buch von Albert Lamorisse „Der rote Ballon“, Eugen Diederichs Verlag 1957
(vergriffen)
„Der rote Ballon“ ist zum Filmklassiker geworden
„…in Technicolor gedreht, ist (er) zugleich eine Rückkehr zur Ästhetik des Stummfilms. Es
gibt keine Kommentare und der Dialog beschränkt sich auf drei Sätze.
Die Trickaufnahmen warfen schwierige Probleme auf, die der Regisseur mit überraschender
Leichtigkeit löste. (*) Die Kindergeschichte wird auf diese Weise im Dekor des Paris der
50iger Jahre mit seinen malerischen Straßen und seinen köstlich typisierten Bewohnern
glaubhaft.“ (Raymond Lefevre in 50 Kinderfilmklassiker, Hrsg. Christian Exner, Atlas Film+AV/BJF/KJF 1995)
(*) Wenn man genau hinschaut, sieht man die dünnen Fäden, die auf dem Ballon verklebt
sind, damit er für die Aufnahmen kontrolliert auf- und abschwebt.
Was zeichnet den Film aus?
•
außergewöhnliche Bilder, die einen nostalgischen Blick auf das alte Paris gewähren;
•
das Zeitlose und Universelle der Geschichte über eine besondere Freundschaft und
der Suche nach Anerkennung – ein wichtiges Thema für Kinder, fantasievoll und
konsequent aus ihrer Perspektive erzählt.
•
Weil alle Zuschauer von der ersten Szene an mit der Hauptfigur des Films mitfühlen,
wirkt der Filmklassiker auch heute noch aktuell. „Gerade Filmklassiker können das
Wissen um Zusammenhänge erweitern, neue Sicht- und Sehweisen ermöglichen.
(…) Auch im Ansatz bereits spannende Szenen können selbst jüngere Kinder ohne
nachhaltig ängstigende Wirkung aufnehmen und verarbeiten, vorausgesetzt, die
Spannung wird vollständig aufgelöst und die Identifikationsfiguren im Film zeigen
selbst keine allzu große Angst.“ (aus: 5.3. Beurteilungskriterien für einen „guten“ Kinderfilm
(Holger Twele), Expertise zur pädagogischen Altersempfehlung für Kinderfilme des KJF, Remscheid
2011);
•
die Lust auf unbekannte und ungewöhnliche Filmbilder wird geweckt, die lange in Er­
innerung bleiben;
•
der Kurz- und Autorenfilm als eigenständige ästhetische Kunstgattung ist zu ent­
decken;
4
•
besonders geeignet für jüngere Kinder zur Entwicklung von Filmkompetenz im
Grundschulbereich.
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