Das Epische Theater von Bertolt Brecht

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Das Epische Theater von Bertolt Brecht
Das Epische Theater von Bertolt Brecht
Bertolt Brecht (1898-1956) war einer der bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk umfasst Gedichte, Theaterstücke und Romane, die verschiedenen literarischen Strömungen zugeordnet werden können. Ein Kennzeichen (fast) aller seiner Werke ist das Bemühen, die Welt
und ihren ewigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung für den Leser bzw. Zuschauer durchschaubar und verständlich zu machen. Das war auch die Intention seines Epischen Theaters, das
er zeitlebens weiterentwickelte. In Brechts Theater sollen die Darsteller nicht Figuren spielen, sondern
das Verhalten der Figuren vorführen und ein Geschehen erzählen*, über das der Zuschauer nachdenken soll. Brechts Episches Theater beeinflusste ebenso wie das seines Schülers Heiner Müller (19291995) die Dramatik weltweit.
Zusammenfassung der Tragödie „Mutter Courage und ihre Kinder“
Brechts Antikriegsstück „Mutter Courage und ihre Kinder“ (1938/39) spielt in der Zeit des 30jährigen Krieges
(1618-1648). Die Hauptfigur Courage ist Marketenderin, d.h. sie verkauft Lebensmittel und Gebrauchsartikel an
die Soldaten. Dabei zieht sie viele Jahre lang hinter den Armeen her bzw. mit ihnen mit. Den Namen Courage
(französisch für „Mut“) erhielt sie, nachdem sie unter Lebensgefahr im Kanonenfeuer 50 Brote in das belagerte
Riga* gefahren hat.
Brecht schildert die Lebens- und Denkweise der Soldaten und das Leid der Zivilbevölkerung schonungslos. Ihm geht es aber vor allem darum, die Persönlichkeit Courages und ihre Veränderung sichtbar zu
machen. Courage erzählt anfangs, dass ihre drei Kinder auf den Heerstraßen Europas gezeugt wurden, sie
sind auch ein Produkt des Krieges. Die allein stehende
Mutter will sie unbeschadet durch die Kriegszeit bringen, doch das gelingt ihr nicht. Mit dem Messer versucht sie, ihre Kinder vor Soldatenwerbern zu schützen, die neue Soldaten in den Krieg zwingen wollen,
aber Eilif, ihr Sohn, folgt ihnen freiwillig.
Courages jüngster Sohn, Schweizerkas, wird beim
Militär Zahlmeister und verwaltet die Regimentskasse.
Als feindliche Soldaten das Lager überfallen, rät Courage ihrem Sohn, die Regimentskasse wegzuwerfen,
um sich selbst zu retten. Aber Schweizerkas beweist
seine Tapferkeit, indem er das Geld versteckt. Er wird
vom Feind gefangen genommen und verrät auch unter der Folter nicht, wo das Geld ist. Courage will den
Sohn freikaufen, verhandelt aber so lange über den
Preis, dass Schweizerkas vor dem Abschluss der
Preisverhandlungen erschossen wird.
Aufführungsszene aus dem Berliner Ensemble, 1960
Im Laufe der Jahre durchfährt Courage zusammen mit der Armee Polen, Bayern und Italien, wobei ihre Persönlichkeit immer roher und gröber wird. Als man sie in der Nähe des völlig zerstörten Magdeburg um Verbandsmaterial für verwundete Bauern bittet, kann man sie nur mit Gewalt zur Herausgabe zwingen. Mitleid hat sie mit
den Kriegsopfern nicht, ihr geht es um das Geld. Sie ist eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden und befürchtet, der Krieg könnte bald enden; das würde ihre Geschäfte ruinieren.
Beim Einkauf von Waren wird Courages Tochter Kattrin überfallen und misshandelt. Mutig wie ihre Mutter, hat
sie sich die Waren nicht wegnehmen lassen, sondern sich gewehrt. Kattrins Traum, nach dem Krieg zu heiraten
und eine Familie zu gründen, ist dadurch aber zerstört, denn ihr Gesicht ist für immer entstellt. Kein Mann würde eine verunstaltete Frau heiraten, denken die Frauen. Courage gerät noch mehrmals in Angst, der Krieg
könnte enden. Als sie den Frieden verflucht, wird sie als „Hyäne des Schlachtfeldes“ beschimpft. Ihre Tochter
* Epik – erzählende Kunst, im Unterschied zu Dramatik und Lyrik
* Riga – heute Hauptstadt Lettlands
dagegen beweist Mut und Mitgefühl, als die Stadt Halle* von der kaiserlichen Armee überfallen werden soll. Sie
steigt auf ein Dach und schlägt so lange die Trommel, bis sie von Soldaten erschossen wird. Es ist ihr aber gelungen, die Stadtbewohner vor den Soldaten zu warnen. Als Courage ihre Tochter am nächsten Morgen findet,
glaubt sie, dass diese schläft, und kann nur mit Mühe die Wahrheit begreifen. Geschäftsfrau, die sie ist, zieht
sie mit der Armee weiter und gibt den Bauern Geld für Kattrins Begräbnis.
Das Stück endet mit einem Irrtum Courages. Zwei ihrer Kinder sind tot, und sie glaubt, dass ihr erster Sohn Eilif
noch am Leben ist. Der aber wurde schon längst hingerichtet, weil er geraubt und gemordet hat, wie es für
einen Soldaten im 30jährigen Krieg gut und richtig war. Unglücklicherweise tat er dies jedoch in einer kurzen
Periode des Friedens. Eilif, im Krieg als Held ausgezeichnet, weil er bewaffneten Bauern ihr Vieh stahl, wurde
nun mit dem Tode bestaft, weil er nicht wusste, dass Raub und Mord im Krieg eine Heldentat, im Frieden aber
ein Verbrechen sind.
Was ist episches Theater?
Brecht war davon überzeugt, dass das Theaterpublikum „ohne Grund nicht
denkt“. Um die Zuschauer zum Nachdenken zu bewegen, will Brecht sie provozieren, indem er ihnen unverständliche Verhaltensweisen zeigt: Warum
lernt eine Mutter nichts daraus, dass sie im Krieg ihre drei Kinder verliert, und
fürchtet sich sogar vor dem Frieden? Der Zuschauer kann Courages Verhalten
nicht sofort verstehen, es fordert seinen Widerspruch heraus und regt ihn an,
über die Fehler im Verhalten dieser Figur nachzudenken. So fragt er sich auch
nach den Ursachen: Warum handelt eine Mutter so?
Aus dem Ziel, zum Nachdenken anzuregen, ergeben sich die wesentlichen
Stilmittel des Epischen Theaters:
Bertolt Brecht
●
Die Zuschauer sollen sich mit den Figuren nicht identifizieren*, sondern distanziert über sie nachdenken.
Deswegen spricht bzw. singt die Darstellerin ihren Text aus einer inneren Distanz heraus, sie teilt ihn
sozusagen nur mit. Oft wird nicht zu den Zuschauern gesprochen, sondern zur Seite.
●
Brecht lässt zu Beginn jeder Szene einen Titel auf den Vorhang projizieren, der den Inhalt des folgenden
Abschnitts kurz beschreibt. So empfindet der Zuschauer keine Spannung und sieht das Geschehen auf
der Bühne aus kritischer Distanz.
●
Bühne und Zuschauerraum werden von allem befreit, was eine bestimmte Atmosphäre schaffen könnte.
Der Zuschauer soll nur darüber nachdenken, ob das Geschehen auf der Bühne sinnvoll ist. Das
Publikum muss völlige Freiheit haben, sich mit dem Text auseinanderzusetzen.
●
Die Handlung wird immer wieder durch Lieder unterbrochen. Dabei singt nicht die Figur der Courage, sondern die Darstellerin der Courage. Sie interpretiert die Handlung so, wie es die Courage selbst niemals tun
würde. Die Zuschauer werden aus der Identifikation mit der Hauptfigur herausgerissen und
denken über deren Verhalten nach.
Diese und andere Stilmittel (Masken, Verwendung von Spruchbändern anstelle von gesprochenem Text) werden
als Verfremdungstechniken bezeichnet. Sie zeigen Gewohntes oder (scheinbar) Bekanntes aus einer neuen Perspektive, die den Zuschauer überrascht und provoziert. Wenn er die „Mutter Courage“ sieht, dann soll
er zu der Erkenntnis kommen, dass die großen Geschäfte in den Kriegen nicht von den kleinen Leuten gemacht
werden und dass für den Kampf gegen den Krieg kein Opfer zu groß ist, weil der Krieg alles, was gut ist, zerstört.
* Halle – Stadt in Sachsen-Anhalt
* sich identifizieren – sich einfühlen, einverstanden sein