Bühnen des grotesken Körpers - kultura. Russland

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Bühnen des grotesken Körpers - kultura. Russland
AUGUST
BÜHNEN
DES GROTESKEN
2/2007
KÖRPERS
Gastredakteurin: Dagmar Burkhart (Hamburg)
e d it or ial
Körper – Zeichen – Text im heutigen Russland
2
a n alyse
Körper und Zeichen in der russischen Literatur der Gegenwart.
Vladimir Sorokin. Vladimir Makanin. Viktor Pelewin.
Dagmar Burkhart
3
büche rsch au
Die Virtualisierung der Körper-Welt bei Viktor Pelewin
Karlheinz Kasper (Leipzig)
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le se prob e
Vladimir Sorokin: Der Tag des Opritschniks (2 Textausschnitte)
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we rk st at t
Komjagas Klöten. Der Tag des Opritschniks
aus der Nahsicht des Übersetzers
Andreas Tretner (Berlin)
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a n alyse
Körper als soziale Metapher in der aktuellen russländischen Kunst
Natalija Slydnewa (Moskau)
kultura. Russland-Kulturanalysen
Herausgeber: Prof. Wolfgang Eichwede, Direktor der Forschungsstelle Osteuropa
an der Universität Bremen.
Redaktion: Hartmute Trepper M.A., Dr. Isabelle de Keghel (bis Juni 2006), GastredakteurInnen
Technische Redaktion: Matthias Neumann
Die Meinungen, die in den Russland-Kulturanalysen geäußert werden, geben ausschließlich
die Auffassung der AutorInnen wieder.
Abdruck und sonstige publizistische Nutzung sind nach Rücksprache mit der Redaktion gestattet.
Wir danken für die Förderung durch die Gerda-Henkel-Stiftung.
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Forschungsstelle Osteuropa
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K Ö R P E R – Z E I C H E N – TE X T
e d it or ial
I M H EU TIGEN
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RUSSL A N D
Bei der Schaffung eines Modells der Welt hat der
Totalitarismus jeder Couleur thematisiert. Dabei
Mensch stets seinen Körper zum Maßstab ge-
verwendet er eine durch die offizielle Literatur
nommen. Während die empirische Welt aus einer
des Sozialistischen Realismus unabgenutzte obs-
unendlichen Vielzahl von Gegenständen besteht
zön-körperliche Lexik, um etwa oktroyierte Dis-
und insofern ein heterogenes Weltmodell liefert,
kurspraktiken zu entlarven. Eine weitere Spielart
ist die künstlerische Welt und ihre Modellierung
des Körperdiskurses in der heutigen russischen
homogen. Sämtliche im künstlerischen Welt-
Literatur stellt die Destruktion des Somatischen
modell dargestellten Realien sind den Prinzipien
dar: In Texten, welche die dominierende Rolle
des Künstlers unterworfen: dem Prinzip der Se-
digitaler Medien analysieren, wird die Kehrseite
lektion und dem Prinzip der Sinnkonstitution in
des Körperlichen thematisiert: Entkörperlichung
einem wertenden Modell der Welt.
durch Virtualisierung, Simulationen und Meta-
Dies gilt auch für den Körperdiskurs in der rus-
morphosen in Schein-Welten (Viktor Pelewin).
sischen Gegenwartskunst und -literatur. Somatik
In der russischen Kunstszene der letzten zehn Jah-
gewinnt hier Zeichencharakter; soma (griechisch
re fungiert der Körper als soziale Metapher. Ra-
„Körper“) wird zu sema („Zeichen“). Nach Jahr-
dikale Künstler der Postperestrojka-Ära wie der
zehnten der Abstinenz vom „niederen“ Somati-
Aktionist Brener, die Projekt-Gruppe AES, der
schen in der die Wirklichkeit beschönigenden
Fotograf Boris Michailow und andere haben die
Kunst und Literatur des Sozialistischen Realis-
Körper-Motivik ideologisiert. Wie in der Avant-
mus entwickelt sich der Körper in der Postmoder-
garde erscheint der Körper als verdichteter Raum
ne zum favorisierten Zeichenträger und „Text“.
der Sinnkonstitution: Auf ihm wird geschrieben,
In der russischen Gegenwartsliteratur dominiert
durch ihn wird geschrieben. Der Körper ist Spra-
den Körperdiskurs ein grotesk-physiologisches
che, soma und sema werden gleichgesetzt. Dabei
künstlerisches Weltmodell. Soma und Sema be-
deklarieren die radikalen Künstler im Russland
dingen einander in Texten dergestalt, dass sie den
der Gegenwart das Ende aller Utopien – v. a. der
Körper mit all seinen Konnotationen von Eros,
Utopie einer sozialen Harmonie und der Utopie
Pathos und Thanatos als authentische Bezugs-
von Fortschritt oder Reformen.
größe herausstellen (Ljudmila Petruschewskaja
Die aktuelle neoavantgardistische Kunstszene ist
u. a.). Andere Autoren beteiligen sich am Körper-
einerseits nicht zu verstehen ohne ihren Bezug
diskurs in einer Weise, die nicht nur einer Poe-
zum ausgeprägten Körpercode der Avantgarde;
tik des Grotesk-Hässlichen, sondern auch einer
andererseits muss zu ihrem Verständnis auch die
Gedächtnisästhetik verpflichtet ist. Ihnen dienen
Erfahrung des sowjetischen Undergrounds be-
beispielsweise Hautzeichen (Narben, Tätowie-
rücksichtigt werden – der nichtoffiziellen Kunst
rungen) und intertextuelle Spuren (das Kauka-
der Breschnjew-Ära mit ihren sozialen und politi-
sus-Thema als ewig „offene Wunde“) zur Ge-
schen Konnotationen. So war der russische Kon-
staltung eines philosophisch-ethischen, aber auch
zeptualismus (Ilja Kabakow, Viktor Piwowarow,
politischen Horizonts (Vladimir Makanin u. a.).
Andrej Monastyrski, Dmitri Prigow*) nur einem
Am extremsten ist Vladimir Sorokins Prosa und
kleinen Kreis von „Eingeweihten“ zugänglich.
Dramatik von Körperkodierung durchdrungen.
Mit diesem Hermetismus verfolgte er das Ziel,
Diese allegorisch zu lesende, verbale Somatik ba-
die Isolierung der Kunst der 1970er Jahre von der
siert auf einer postmodernen Ästhetik der Hässlichkeit, mit deren Hilfe er Erscheinungen des
* siehe Kasten auf S. 20.
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offiziellen Ideologie offenzulegen. Im Gegensatz
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Rußland repräsentiert oder gar befördert.
dazu öffnete sich die Kunst der folgenden zwei
Jahrzehnte der Exzentrik des Karnevalesken und
ÜBER DIE GASTREDAKTEURIN:
brachte durch den exponierten, den ekstatischen
Dagmar Burkhart ist emeritierte Slawistik-Pro-
Körper quasi metonymisch die kreative Auf-
fessorin. Neben kulturanthropologischen Fra-
bruchphase der Perestrojka zum Ausdruck.
gestellungen gilt ihr wissenschaftliches Interesse
Bleibt die interessante Frage, inwieweit der Kör-
Themen wie Intertextualität, Text-Bild-Bezie-
perdiskurs in der Kunst und Literatur der Postpere-
hungen, Literatur als Gedächtnis, Ästhetik des
strojka-Ära mit seinen unterschiedlichen Formen
Grotesken u. a. in den slawischen Literaturen der
die Suche nach einer neuen Identität im heutigen
Moderne und Postmoderne.
K Ö R P E R U N D Z E I C H E N I N D E R R U S S I S C H E N L I T E R AT U R D E R G E G E N WA R T .
VL A D I M I R S O R O K I N . VL A D I M I R M A K A N I N . VI K T O R P E L E W I N .
Dagmar Burkhart
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Soma und Sema, Körper und Zeichen, bedingen einander in den Texten von russischsprachigen Autorinnen in der Weise, dass sie den Simulakren der Postmoderne den Körper als Realität gegenüberstellen. Dagegen basiert Vladimir Sorokins von Somatik durchdrungene Prosa und Dramatik auf einer
postmodernen Poetik des Grotesk-Hässlichen, mit deren Hilfe er die Gewalt von oktroyierten Diskurspraktiken aufzeigt. Viktor Pelewin thematisiert in Romanen und Erzählungen, in denen er sich mit
digitalen Medien befasst, die Entkörperlichung durch Virtualisierung. Vladimir Makanin indes dienen
Hautzeichen und intertextuelle Spuren zur Gestaltung seines philosophischen Horizonts.
DIE AUTHENTIZITÄT DES KÖRPERS
gestylte Körper der „neuen Russen“ zum Mord
Die russische Gegenwartsliteratur spiegelt einen
ein, z.B. in Aleksandra Marininas Krimi Die heu-
Körperdiskurs wider, der die grotesk oder absurd
lenden Hunde der Einsamkeit (russ. 2004), oder
wahrgenommene Welt als ein Konglomerat aus
dient, wie in Oksana Robskis Babuschkas Töch-
Zeichen- und Sprachwelten reflektiert.
ter von 2006, als Bühne für die Zurschaustellung
Schriftstellerinnen wie Nina und Jekaterina
von Jugendlichkeit und Reichtum: „Katjas sich
Sadur (Die Wunde ungeliebt, 1998) richten ihr
jugendlich gebende sechzigjährige Mutter emp-
Augenmerk auf die Somatik als eine authenti-
fing uns in Jeans, mit riesigen Buchstaben aus
sche Instanz. Gleichzeitig stellt Ljudmila Petru-
Swarovski-Kristallen auf dem Hintern: RICH“.
schewskaja weibliche Körperlichkeit in einen
konnotationsreichen Kontext von Erotik und
EINVERLEIBUNG ALS M ETAPHER
sozialen Zwängen, wenn sie in Erzählungen wie
Wenn in der Chruschtschow-Ära ein Autor wie
Jugend oder Schwache Knochen (1999/2002) mit
Wassili Aksjonow mit seinem Kurzroman Apfel-
der semantischen Opposition alte Haut als Reali-
sinen aus Marokko noch Furore machen konnte,
tät vs. junge Haut als Täuschung operiert. Dem-
wo die Orangen als Zeichen für ein neues Lebens-
gegenüber lädt in der durch wörtliche Sprachver-
gefühl in der „Tauwetter“-Periode standen, so
wendung charakterisierten Trivialliteratur der
zeigt sich die russische Gegenwartsliteratur vor-
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wiegend illusionslos bzw. destruiert den durch
als bei anderen russischsprachigen AutorInnen ist,
das Dogma des Sozialistischen Realismus ver-
folgt in seiner Verwendung des Ausscheidungs-
ordneten Optimismus. Und auch hier fungiert das
und Hintern-Motivs einer Ästhetik, die ständig
Thema Essen als signifikantes Ausdrucksinstru-
an den Tabu-Grenzen experimentiert. Indem er
ment. Petruschewskaja, Jewgenij Popow, Dmitrij
durch deren Überschreitung (transgression im
Prigow, Vladimir Sorokin und andere vertreten
Sinne von Georges Bataille) in Bereiche des Kör-
eine Literatur, in der es nach Wegfall der Zensur
perlich-Gewalttätigen und der Koprophagie (d.h.
möglich ist, die Verhältnisse in Russland einer
Kot-Essen) vordringt, zeigt Sorokin den Totalita-
tabulosen Analyse zu unterziehen.
rismus tradierter Text- und Denkschablonen auf
Wer jedoch dieser Literatur, in der unter anderem
und stellt überbrachte ästhetische Diskursmuster
pervertiertes Essen für soziale Kälte, gestörte
in Frage: Seine Texte beginnen meist imitatorisch
Kommunikation und totalitäre Indoktrination
im Stil konventioneller Schreibmodelle, um an
steht, nur die Fixierung auf das schockierende
einem bestimmten Punkt umzukippen in eine
Detail unterstellt, verkennt ihre Intention. Ab-
von obszönem bzw. ekelerregendem Vokabular
stoßendes wie z.B. exzessiver Alkohol-Konsum
bestimmte, dabei emotionslose, Sprache. Sorokin
anstelle von Essen bei Wenedikt Jerofejew, kaltes
dekonstruiert traditionelle ästhetische Diskurse
Tüten-Essen bei Petruschewskaja, Hundefleisch-
dadurch, dass er unterschiedliche Lesarten von
Schaschlik bei Popow, psychedelischer Drogen-
Textschablonen vorführt und widersprüchliche
rausch bei Viktor Pelewin oder Menschenfleisch-
Lektüren eines Textes zusammenbringt, die sich
und Fäkalien-Essen bei Sorokin integriert sich
gegenseitig zerstören.
einer Poetik der Hässlichkeit und allegorischen
So läuft die Erzählung Der erste Subbotnik (1992),
Lesart der Wirklichkeit. „Tabuzonen ziehen mich
in der eine Brigade beim Laubharken beschrieben
an“, sagte Sorokin, Autor des Romans Der him-
wird, zunächst nach der Schablone von Texten
melblaue Speck (2000), in einem Interview. Und
des Sozialistischen Realismus ab: die Erinnerung
„es gefällt mir, da einzudringen. Dort ist leben-
an einen enthusiastischen Subbotnik1 zu Anfang
diges Fleisch, das man essen kann, indem man
des Krieges, Lob des Jungarbeiters Mischka, der
dieses Tabu zerstört“ (Die ZEIT Nr. 46/2000).
seinen ersten proletarischen Subbotnik absolviert,
und Anerkennung der Leistung des Kollektivs.
D ER HOCH
ERHOBENE
H INTERN
Sorokin, bei dem der Körperdiskurs ausgeprägter
VLADIMIR SOROKIN
IN DEUTSCHER
1 Formal freiwilliger, unbezahlter Arbeitseinsatz (von russ.
subbota = Samstag)
SPRACHE (AUSWAHL)
Bro (Put’ Bro). Roman, übers. von Andreas Tretner, Berlin Verlag 2006
Ljod. Das Eis. Roman, übers. von Andreas Tretner, Berlin Verlag 2003, BTV 2005
Der himmelblaue Speck. Übers. von Dorothea Trottenberg, Köln: DuMont 2000, DTV 2003
Roman. Roman, übers. v. Thomas Wiedling, Zürich: Haffmans 2000
Norma. Roman, übers. v. Dorothea Trottenberg, Köln: DuMont 1999
Die Herzen der vier. Roman, übers. v. Thomas Wiedling, Zürich: Haffmans 1993
Ein Monat in Dachau. Erzählung, übers. v. Peter Urban, Zürich: Haffmans 1992
Der Obelisk. Erzählungen, übers. v. Gabriele Leupold, Zürich: Haffmans 1992
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Nach diesem im Sinne des Sozrealismus ge-
tut, indem er das heroisch-pathetische Symbol
stalteten Teil erfolgt ein dekonstruktivistischer
des „ewigen Feuers“ skatologisch persifliert:
Stilbruch, indem der bisher als Ritual zelebrierte
An einem heiteren Sommertag, wenn das Volk
Subbotnik plötzlich in ein Wettfurzen übergeht.
herbeiströmt zu den Klängen des sonnigen Mo-
In Sergej Andrejewitsch (1992) wird die Sphäre
zart, wird eine seidene Decke herabgleiten, einen
der sowjetischen Schule und des pathetisch ver-
goldenen Mann enthüllend, mit einem in der
klärten idealen Lehrers als Vermittler der richtigen
Sonne glänzenden, leicht herausgestreckten Hin-
Denkweise – etwa in den Werken von Vladimir
tern, aus dessen Mittelpunkt eine von einem wür-
Tendrjakow – dekonstruiert in der Schilderung
digen Vertreter der Öffentlichkeit angezündete
einer koprophagischen Szene, wo der Lieblings-
feierliche Gasflamme emporschlägt: DEM EWIG
schüler bei einem Waldausflug die Exkremente
BRENNENDEN FURZ wird in dem Sockel einge-
(d.h. die Ideologie) des Lehrers verschlingt. In
meißelt sein. So. Und das wird das wichtigste
der Erzählung Auf der Durchreise (1992) erfolgt
Monument werden. Und des Volkes Pfad zu ihm
die Dekonstruktion der sowjetischen Produkti-
wird niemals zuwachsen. (Übersetzung: Gabriele
onsromane, wenn der durchreisende Gebietsleiter
Leupold)
eine zum 50-jährigen Bestehen der Fabrik erstell-
Auch in Sorokins Text Der Tag des Opritschniks2
te Jubiläumsbroschüre dadurch „absegnet“, dass
(russ. 2006, dt. 2008), in dem ein russländischer
er sich darauf entleert.
Überwachungsstaat und sein sadomasochisti-
Weitere Vorgängertexte, die Sorokin parodiert
schen Ritualen anhängender Elitezirkel themati-
und dekonstruiert, indem er ihre Lexik durch
siert werden, spielt der Körperdiskurs eine domi-
eine skatologische (d.h. Ausdrücke aus dem Anal-
nante Rolle: Überwachung, körperliche Strafen3
bereich benutzende) ersetzt, sind die von fun-
und Obszönität sind in dieser Vision eines tota-
damentalistischen Dorfprosa-Autoren (Wassili
litären Staates Ausdruck der politischen Macht,
Below, Valentin Rasputin) und von Kriegsprosa-
zu deren Charakterisierung der somatische Ver-
Autoren wie Wassili Bykow und anderen.
gleich aus Ossip Mandelstams Gedicht Ariost
Die Erzählung Obelisk (1990) vereinigt nicht nur
(1933) herangezogen wird: „Die Macht ist wider-
diese Anspielungen in sich, sondern persifliert
lich wie Hände von Barbieren“ („wlast’ otwra-
auch das Puschkinsche Denkmals-Thema. So
titel’na kak ruki bradobreja“).
spielt Sorokin intertextuell einerseits mit dem
Sorokin bedient sich in seinen Texten der skatologi-
falschen Kult von Heroen in der sowjetischen Li-
schen und obszönen Stilebene mit ihrer tabuisierten
teratur: In Obelisk erfährt der angebliche Held an
Lexik, weil allein diese Diskursebene nicht von der
dem phallisch aufragenden Kriegerdenkmal eine
offiziellen sowjetischen Schreibweise besetzt war.
groteske Totenehrung durch Frau und Tochter.
Daraus erklärt sich auch sein somatisches Verhältnis
Er wird jedoch in Erfüllung seines „Vermächt-
zum Text und seiner Auffassung vom Schreiben,
nisses“ – eine parodistische Anspielung auf das
von Stalin beschworene „Vermächtnis Lenins“ –
durch litaneiartige Wortkaskaden einer obszönen
„Beichte“ als koprophiler Phallokrat entlarvt.
Andererseits führt Sorokin das Motiv des gedächtnisstiftenden Monuments ad absurdum, wie
er dies auch in seiner Erzählung Denkmal (1992)
2 Mitglied der Opritschnina, der Leibgarde Iwans IV., die
außerhalb von Recht und Gesetz agierte.
3 Michel Foucault zeigt in seinem Band Überwachen und
Strafen (1977), wie in Europa die Strafsysteme allmählich
vom öffentlichen Vollzug von Körperstrafen („Fest der
Martern“) zur Bestrafung durch Einkerkerung oder Arbeitslager übergingen. Erstere wurden in Frankreich 1831,
in England 1834, in Deutschland 1848, in Russland 1863
offiziell abgeschafft.
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das in seinen Augen ein Sich-öffentlich-Entleeren
rakterisierung eine Rolle spielen. Bei Mandels-
darstellt.
tam ist das Wortfeld ospa (Pockennarbe) in den
Code eines politischen Subtextes eingeschrieben,
NARBEN – H AUTZEICHEN UND KÖRPERSPUREN
der in erster Linie auf Stalin bzw. die Stalin-Zeit
Nach Auffassung des russischen Kulturtheoreti-
anspielt; Stalin war pockennarbig und wurde im
kers Michail Bachtin4 ereignen sich die „Akte des
Volk rjaboj tschort, „blatternnarbiger Teufel“,
Körperdramas“ wie Essen, Trinken, Verdauung
genannt.
und
Ausschei-
Auch in der rus-
dung,
Beischlaf,
sischen
Geburt,
Krank-
Gegen-
wa r tsliterat u r
heit, Tod und Ver-
fungieren
Nar-
wesung
ben
viel-
an
der
auf
Grenze zwischen
deutige
Körper und Welt.
z.B. in Vladimir
Und hier – auf der
Makanins kom-
Körperoberfläche
plexem
oder
als
Underground
dieses
oder Ein Held
Haut
„Bühne“
Weise,
Roman
Dramas – ist auch
unserer
das Phänomen der
(1999).
Narbe
Protagonist und
angesie-
delt.
Zeit
Dessen
Ich-Erzähler Pe-
Narben
erschei-
trowitsch ist ein
nen als Zeichen
im „Untergrund“
auf der Haut, die
der Breschnjew-
zur Entzifferung
Zeit
und
zur
Schriftsteller, der
Kommunikation
sich als privat be-
einladen. In der
zahlter Wächter
russischen Litera-
eines Moskauer
damit
tur sind es Texte
von
Alexander
Puschkin, Nikolai
Text: „Sie zertrampeln“. „20. Jahrhundert“. „Sklave“.
„KPdSU“. Aus: „Tätowierungen von Lagerhäftlingen“, gesammelt von D. S. Baldajew, Sankt Petersburg 2001, unnummerierte Seite vor dem Titelblatt. © S.G. Wassiljew
Gogol und Fjo-
lebender
Appar tementHauses
durch-
schlägt. Er wird
durch das scar-
dor Dostojewski, z.B. Aufzeichnungen aus dem
face eines der Ermittlungsbeamten, die den (von
Untergrund, in denen vor allem Pockennarben
Petrowitsch begangenen, aber bislang unaufge-
im Bedeutungsaufbau und in der Figurencha-
deckten) Mord an einem Kaukasier bearbeiten,
an Dostojewskis genialen Untersuchungsrichter
4 M. Bachtin (1895–1975) hat unter der stalinistischen Repression vom grotesken Körper, von riesigen Nasen, aufgerissenen Mündern und erigierten Gliedern in Volksliteratur
und Karneval gehandelt: eine oppositionelle Lachkultur
gegen die autoritäre Herrschaft.
Porfiri Petrowitsch in Verbrechen und Strafe mit
seiner „ungesunden, dunkelgelben“ Gesichtsfarbe erinnert. Der „Ermittler mit der Pockenvisa-
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ge“ bei Makanin entpuppt sich zwar als krimi-
realisiert sich nicht nur in einem besonderen Ga-
nalistisch unfähig, aber erpresserisch: „Blattern
noven-Argot, sondern auch durch Tätowierungen
im Gesicht hat man nicht umsonst“, lautet der im
von Häftlingen, deren bunte Narbeninschriften
Sinne der Volkstradition die ospa negativ bewer-
(ironisch „Frack mit Orden“) Zeichenkomplexe
tende Kommentar des Pförtners Akulow.
in Form provokanter Bild-Schrift-Mischungen
In zahlreichen literarischen Texten des 19. Jahr-
darstellen. In Sorokins Der Tag des Opritschniks
hunderts fungierten Brandstempel und Auspeit-
wecken die Tattoos des Türwächters vor der Ban-
schungsnarben als somatischer Ausdruck von
ja, wo die körperlichen Exzesse der Opritschniks
erfahrener Gewalt. In Dostojewskis Aufzeichnun-
stattfinden, genau diese Konnotationen an Kri-
gen aus einem Totenhaus und Anton Tschechows
minalität, Haft und Gewalt: ein allegorischer
Die Insel Sachalin, deren Titel bereits als Mega-
Verweis auf den totalitären Staat im Ganzen.
metaphern für das repressive zaristische Regime
dienen, sind Höllenbilder (die brennende Insel;
DIE EWIGE WUNDE K AUKAUSUS
die Gluthitze der Banja) als Inbegriff körper-
Das Narben-Motiv kann von Bedeutung für die
licher Leiden konstitutiv. Narben-Motive charak-
Handlungs- und Konfliktstruktur, aber auch für
terisieren die infernalischen Räume und ihre Ge-
den politischen, philosophischen und ethischen
fangenen nach den Regeln eines Soma-Codes. So
Horizont eines Textes sein. In dem Kapitel „Die
beschreibt Dostojewskis autobiographischer Er-
kaukasische Spur“ von Makanins Roman Under-
zähler Brandmarkungsnarben, die durch glühen-
ground oder Ein Held unserer Zeit (2003), wo
de Buchstabenstempel und Wundfärbung mittels
gleichzeitig eine autozitathafte Fährte zu seiner
Indigo oder Tusche Häftlingen als Zeichen der
Erzählung Der kaukasische Gefangene (1995, dt.
lebenslänglichen Entrechtung „eingeschrieben“
2005) gelegt wird, sind Narben bedeutsame Spu-
wurden – bei Dieben (russ. vor) beispielsweise
ren. So erinnern den Protagonisten Petrowitsch
der kyrillische Buchstabe „B“ (für v) auf die Stirn
die durch Rasierklingenschnitte von Freiern ver-
und die Buchstaben „O“ bzw. „P“ (für r) jeweils
ursachten Narben auf der Brust einer jungen Pros-
auf die Wangen.
tituierten an jenen provokanten Kaukasier, den er
Hier schließt sich ein bis in die Gegenwart ak-
in einem Quasi-Duell erstochen hat. Die Narben
tueller Körper-Code der Antiwelt des GULag mit
stoßen ihn ab; sie wecken bei ihm den „Ruf des
seiner hierarchischen Gliederung und seinem ei-
Gewissens“ (im Sinne von Martin Heidegger) in
genen „Ehrkodex“ an. Die Sprache des GULag
dem Moment, als er sich gerade suggeriert hatte,
VLADIMIR M AKANIN
IN DEUTSCHER
ÜBERSETZUNG (AUSWAHL)
Underground oder Ein Held unserer Zeit. Roman, übers. v. Annelore Nitschke, mit einem Nachwort
von Dagmar Burkhart, München: Luchterhand 2003; btb 2005
Der kaukasische Gefangene. Drei Erzählungen, übers. v. Annelore Nitschke, München: Luchterhand
2005
Der Weg: Roman aus dem 22. Jahrhundert, übers. v. Karen Görnitz, Kiel: Neuer Malik-Vlg. 1993
Zwei Einsamkeiten. Roman, übers. v. Inge Kolinko, Kiel: Neuer Malik Vlg. 1995
Der Nachzügler. Roman, übers. v. Inge Kolinko, Kiel: Neuer Malik-Vlg. 1992
Das Schlupfloch. Roman, übers. v. Karin Görnitz, Kiel: Neuer Malik-Vlg. 1991
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er habe als „Duell-Typ“ à la Puschkin nichts zu
die Figuren in ihrer virtuellen Umgebung einge-
bereuen und der Mord auf jener Bank vor dem
sperrt sind, um so mehr verdächtigen sie sich
Wohnheim belaste ihn nicht.
gegenseitig der Vorspiegelung falscher Tatsachen
Die „kaukasische Spur“ markiert auf der inter-
oder sogar ihrer körperlichen Nicht-Existenz. Die
textuellen Ebene gleichzeitig eine literarische
Dramatik dieses – unter anderem an Jean Paul
Traditionslinie, auf der sich das Kaukasus-The-
Sartre orientierten – Kammerspiels besteht in ei-
ma als das russische Erlebnis des Fremden im
ner existentiellen Verunsicherung angesichts der
Eigenen mit je unterschiedlicher Akzentsetzung
sich zunehmend virtualisierenden Lebenswelten:
gestaltet: der Kaukasus als ewige, nicht vernarbte
Keiner kann sich sicher sein, ob sein Gegenüber
Wunde Russlands, ein Kulturentwurf, in dem der
existiert, oder ob es sich um eine körperlose „In-
im Sinne neuerer Orientalismus-Konzepte weib-
ternet-Marionette“, einen nur auf dem Bildschirm
lich imaginierte Körper des Kaukasus immer
präsenten Graphem-Körper, handelt.
wieder unterworfen und durchdrungen werden
Die Handlung des Textes löst sich letztendlich so
muss.
auf, dass alle Figuren Produkte eines einzigen alkoholisierten Chatters sind, die gegenüber dem sie
ENTKÖRPERLICHUNG
DURCH
VIRTUALISIERUNG
beherbergenden „Wirt“, einer Parodie des Autors,
In dem Chatroom-Text Der Schreckenshelm
eine parasitäre Funktion einnehmen und dessen
(2005) wird Entkörperlichung dadurch erreicht,
Bewusstsein gegen seinen Willen okkupieren.
dass Viktor Pelewin, der Autor von computerge-
Wie Pelewin schon in seinem Heiligen Buch der
nerierten, textuellen Welten (Der Prinz von Min-
Werwölfe (2006) Körper in Metamorphosen und
Plan, 2000; Generation P, 2000; Akiko, 2004),
Simulationen darstellte, so tut er dies auch 2006
über die Gestaltung von virtuellen Wunschkör-
in dem Erzähltext Empire ,V‘ über die Lehrzeit
pern (Atavaren) der Second-Life-Welt hinaus-
eines jungen Vampirs: virtuelle Kehrseite des
geht und Chatter als reine Sprachkörper auf dem
Körperdiskurses in der russischen Gegenwarts-
Bildschirm darstellt: Acht „Personen“ mit pro-
literatur – oder seine Ironisierung?
grammatischen Nicknames bzw. Userpics treffen
unfreiwillig in einem Chat aufeinander. Sie alle
finden sich gefangen in identisch ausgestatteten
LESETIPPS:
Räumen. Als einzige „Fenster“ nach draußen
•
Christine Engel, Reflexion von Zeichen-, Denk-
fungieren Monitor und Computertastatur. Aller-
und Sprachwelten, in: Klaus Städtke (Hg.), Russi-
dings werden die Einträge im Chat von unsicht-
sche Literaturgeschichte, Stuttgart-Weimar 2002,
baren Moderatoren zensiert. Der Versuch, mittels
S. 391–406.
Chatgespräch der absurden Situation Sinn zu
•
Dagmar Burkhart (Hg.), Poetik der Metadiskur-
verleihen sowie einen Fluchtweg zu finden, führt
sivität. Zum postmodernen Prosa-, Film- und
die Chatter auf die Spur des Mythos vom Mi-
Dramenwerk Sorokins, München 1999.
notaurus, doch ihre Hoffnung auf Theseus, den
•
Barbara Lehmann, Nichts leichter als ein Held zu
Retter, wird enttäuscht.
sein. Vladimir Sorokin und Alina Wituchnowska-
Die Irritation angesichts des ungesicherten phä-
ja im Gespräch, DIE ZEIT Nr. 46, 9.11.2000,
nomenologischen Status des Gegenübers prägt
S. 67: http://images.zeit.de/text/2000/46/Nichts
die gesamte Kommunikationssituation. Je länger
_leichter_als_ein_Held_zu_sein
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Karlheinz Kasper (Leipzig)
büche rsch au
Pelewin lotet den Bewusstseinsstand aus, in dem
Im Heiligen Buch der Werwölfe (2004) begegnen
sich der „Sowjetmensch“ nach der Vertreibung
sich die Werfüchsin A Huli und der Werwolf
aus dem Paradies befindet. Für dieses Thema bie-
Alexander. Erzählfigur ist A Huli, eine Prostitu-
tet sich das Genre des Bildungsromans an. Der
ierte, die vor mehr als 2000 Jahren in China die
Held befragt seine Lehrer über Gott und die Welt
Kunst der „supraphysischen Transformation“ er-
und bekommt vom Leben die einschlägigen Lek-
lernte. Sie hat das Aussehen einer „Lolita“, muss
tionen. Drei hier vorgestellte Romane Pelewins
lediglich alle fünfzig Jahre durch ein frisches
folgen diesem Muster, wobei die Körperlichkeit
„Seelensimulakrum“ ihr Inneres mit dem Äu-
der Figuren zunehmend einer stärkeren Virtuali-
ßeren in Übereinstimmung bringen. Freimütig
sierung unterliegt.
beschreibt sie ihren geschlechtslosen Körper,
den ledernen „Schwanzfänger“ als Vagina-Imi-
Generation ‚P‘ (1999, dt. 2000) zeigt die Muta-
tation, die buschige „Antenne“, die beim Freier
tion der russischen „Pepsi-Cola“-Generation der
erotische Phantasien weckt, und ihre Lust beim
1970er Jahre zur postsowjetischen „Pisdez“-
„Stehlen fremder Lebenskraft“. Das in A Hulis
Generation. Die Sowjetmentalität wird in west-
Kopf wie in einer riesigen Datenbank gespei-
liches Konsumentenverhalten umgewandelt, die
cherte Menschheitswissen ist ein Simulakrum
Propaganda von Reklame abgelöst. Babilen Ta-
aus „Wörtern, die man von Google defi nieren
tarski macht Karriere als Werbetexter. Der Geist
lassen kann“.
Che Guevaras verrät ihm, wie der Einzelne zum
Das schlaue Füchslein durchschaut den post-
ORANUS (von lat. ōs, ōris=Mund, anus=After)
sowjetischen Kapitalismus mit dem „Ehrenko-
wird, der weder Augen, Nase, Ohren noch Ver-
dex der Kriminellen“, der Elite von „Schwanz-
stand braucht, Geld oral aufnimmt und anal
lutschern“ (russ. „chuj sosaeti“ für engl. „high
ausscheidet und die Banalität der Transaktion
society“) und „upper rat“ (engl. für russ. „ap-
durch Wow!-Impulse verdrängt. Das Fernsehen
parat“). Alexander, der Geheimdienstgeneral,
präsentiert Jelzin, Tschernomyrdin und Dumaab-
der seine Unbildung der „Antigehirnwäsche“
geordnete als virtualisierte 3-D-Modelle (selbst
auf der FSB-Akademie verdankt, wird A Hulis
der simulierte Jelzin muss wegen der Einschalt-
Geliebter. Beim ersten Liebesakt fällt er aus sei-
quote besoffen sein). Ein Skelett oder eine Kopie
nem „zarengleichen“ Körper, verwandelt sich in
aus dem Wachsfigurenkabinett genügt, um die
ein Monster aus Mensch und Wolf.
Politiker zu klonen.
Die nächste Begegnung inszeniert die Füchsin als
Um seine Quasi-Göttlichkeit in dieser Quasi-
eine „postmodernistische Ironisierung“, indem
Welt zu sichern, muss Babilen sein eigenes 3-D-
sie die Lust imitiert. Als sie Alexander zum ers-
Double werden. Als „Ersatz-Mann“ heiratet der
ten Mal „nach Menschenart“ auf den Mund küsst,
frischgebackene „creator“ die Göttin Ischtar, de-
verwandelt er sich in den hässlichen schwarzen
ren leibloser Kopf die Idee des allmächtigen Gel-
Hund Pisdez mit dem bekrallten fünften Bein,
des verkörpert. Dabei hört er von dem hinkenden
Symbol der Gewalt und imperialen Macht. Ale-
Hund Pisdez mit einer fünften Pfote an der Stelle,
xander wähnt, nun sei er ein „Überwertier“, und
wo andere ihr „Dings“ haben, und begreift, dass
will sich nicht eher in einen Menschen zurück-
er als „Polittechnologe“ ein modernes virtuelles
verwandeln, „bis alle inneren und äußeren Feinde
Surrogat des gefährlichen Tieres ist.
des Vaterlands ausgemerzt sind“.
9
AUGUST
büche rsch au
2/2007
Empire ‚V‘ (russ. 2006) mit dem Untertitel Erzäh-
lieber konsumieren sie „bablos“, ein Konzentrat
lung vom wahren Übermenschen parodiert den
der menschlichen Gier nach Geld. Ihre „anonyme
Sowjetklassiker „Der wahre Mensch“ von Boris
Diktatur“ stützt sich auf „Glamour“ (Sinnestäu-
Polewoi und Alexander Prochanows Politthriller
schung, Blendwerk, Werbegag, Schönfärberei)
„Die Symphonie des ‚Fünften Imperiums‘“ (russ.
und „Diskurs“ (Geheimcode einer Kaste, „Vogel-
2000). Zugleich personifiziert sich im „V“ Viktor,
sprache“): „Glamour ist der Diskurs des Körpers,
wie sich im „P“ des ersten Romans Pelewin per-
Diskurs der Glamour des Geistes.“ Beide dienen
sonifiziert hat. Roma, der Protagonist, wächst
zahllosen Metamorphosen von Geschlecht, Kör-
in einer Hochburg der Moskauer Nomenklatura
per, Beruf und Sozialstatus, beide garantieren
wie in einer „Zauberwelt“ auf. Der Einstieg
Macht über andere.
in die neue Gesellschaft gelingt ihm nicht, mit
Ramas Fragen nach Gott, der Seele und dem Sinn
neunzehn fühlt er sich als „Loser“. Er folgt der
des Lebens kann auch die Vampirgöttin Ischtar,
Einladung, Mitglied einer „Elite“ zu werden, und
eine große Fledermaus, die nur aus Kopf und
erbt als Rama II. die unsterbliche „Zunge“ (russ.
Bein besteht, eine verblichene Schönheit mit den
„jazyk“=„Zunge“ und „Sprache“) der Vampire,
„Spuren kosmetischer Prozeduren und Verjün-
die ihm die Funktion des kulturellen Gedächt-
gungsspritzen“ im Gesicht, nicht beantworten.
nisses überträgt.
Hera, deren körperliche Liebe Rama vergeblich
Lehrer wie Baldur, Jehova, Loki und Osiris ver-
sucht, löst nach einer Rumpfamputation Ischtar
mitteln ihm das Weltbild der Vampire. Danach
ab, nimmt Rama in ihren Freundeskreis auf und
steht der Mensch auf der untersten Stufe der
überträgt ihm die Herrschaft über „Glamour“
Evolution. Er lebt in einer Welt der Illusionen, ist
und „Diskurs“.
„Soldat des Empire V“, sieht im Geld das einzige
Ziel und wird von den Vampiren „gemolken“.
ÜBER DEN AUTOR:
Bindeglied zwischen Mensch und Vampir sind
Karlheinz Kasper war bis 1998 Professor für
die Chaldäer. Ihre Kultur ist der „entwickelte
ostslawische Literaturwissenschaft und Kultur-
Postmodernismus“, der auf der Massenkultur
geschichte an der Universität Leipzig. Seinen
basiert.
Forschungsschwerpunkt bildet die neuere russi-
Die Vampire sind keine Blutsauger mehr. Sie
sche Literatur. Er schreibt in „Osteuropa“ über
„degustieren“ wenige Tropfen der „roten Flüssig-
die Literaturentwicklung in Russland und die
keit“, um das Leben anderer „einzulesen“, noch
deutschen Übersetzungen russischer Literatur.
VIKTOR P ELEWIN
IN DEUTSCHER
ÜBERSETZUNG
(alle hier aufgeführten Titel in der Übersetzung von Andreas Tretner)
Das heilige Buch der Werwölfe. Roman, München: Luchterhand 2006
Der Schreckenshelm. Rollenerzählung, Berlin Verlag 2005
Die Dialektik der Übergangsperiode von Nirgendwoher nach Nirgendwohin. Roman, München:
Luchterhand 2004
Generation P. Roman, Berlin: Volk&Welt 2000
Buddhas kleiner Finger. Roman, Berlin: Volk&Welt 1999
Das Leben der Insekten. Roman, Leipzig: Reclam 1997
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AUGUST
büche rsch au
LESETIPPS:
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Dagmar Burkhart/ Henrike Schmidt: Pelewins
Sabine Hänsgen: Kommerzialisierung der Li-
dekonstruktivistische Relektüre des Minotau-
teratur / Literarisierung des Kommerzes. In:
rus-Mythos: im Labyrinth der Chathölle, in:
Forschungsstelle Osteuropa (Hg.): Kommerz,
Komparatistik, 2007 (i.Dr.).
Kunst, Unterhaltung. Die neue Popularkultur
in Zentral- und Osteuropa, Bremen: Edition
Temmen 2002, 109–124.
VL A D I M I R S O R O K I N : D E R TA G D E S O P R I T S C H N I K S
(2 T E X TAU S S C H N I T T E )
le se prob e
Mein Faustkeil weckt mich:
Erst ein Peitschenhieb, dann ein Schrei.
Noch ein Hieb. Ein Stöhnen.
Nach dem dritten Hieb ein Röcheln.
Den Klingelton hat Pojarok in der Geheimen Kanzlei mitgeschnitten, wie sie einen Wojewoden aus
Fernost folterten. Musik, die einen Toten aufweckt.
(…)
Süß ist es, deinen Samen im Schoß von deines Feindes Weib zu hinterlassen. Des Feindes deines Vaterlands.
Süßer noch, als ihm den Kopf abzusäbeln.
Die zarten Witwenzehen kommen mir aus dem Mund gerutscht.
Bunte Regenbogen schillern vor meinen Augen.
Ich mache Platz für Posocha. Sein Gemächt mit der aufgenähten Flussperle ähnelt dem Streitkolben des
Recken Ilja Muromez.
Boaah … Gut geheizt haben sie bei Iwan Iwanowitsch. Ich trete vor die Tür des Hauses, setze mich auf
die Bank. Die Kinder sind schon weggeschafft. Von dem verprügelten und zerschlitzten Stallburschen
sind nur ein paar Blutspritzer im Schnee geblieben. Die Strelitzen drängen sich neugierig um das Tor
mit dem Gehenkten. Ich hole eine Packung Rodina hervor und rauche. Zwar stehe ich mit diesem vermaledeiten Laster auf Kriegsfuß, rauche höchstens noch sieben Zigaretten am Tag, aber es ganz sein
zu lassen schaffe ich nicht. Ich wollte es mir von Vater Paissi wegbeten lassen, er hieß mich einen Bußkanon aufsagen – geholfen hat es nichts … Ein eisiger Windhauch trägt den Rauch davon. Immer noch
strahlt die Sonne, gleißt mit dem Schnee um die Wette. Ich mag den Winter. Der Frost reinigt den Kopf,
lässt das Blut pulsieren. Zur Winterszeit kommt man in Russland mit Staatsangelegenheiten schneller
zu Potte.
Posocha tritt aus der Haustür: der Mund mit den wulstigen Lippen offenstehend, beinahe sabbernd, die
Augen verhangen; der Mann hat Mühe, sein überreiztes puterrotes Gemächt in den Hosenstall zurückzustopfen. Steht da, Beine breit, und betut sich. Dabei rutscht ihm ein Buch unter der Jacke hervor. Ich
greife danach, schlage es auf: Heimliche Märchen. Ich lese den Anfang:
Es begab sich zu der Zeit, als es im Heiligen Russland noch keine Messer gab und die Männer
das Fleisch mit ihren Schwänzen in Stücke hieben …
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le se prob e
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Die Schwarte ist vollkommen zerlesen und so schmierig, dass man das Fett von den Seiten tropfen zu
sehen meint.
„Was liest du Schweinigel denn da?“ frage ich und klatsche ihm das Buch gegen die Stirn. „Wenn der
Alte das sieht, bist du die längste Zeit Opritschnik gewesen!“
„Sieh’s mir nach, Komjaga, der Teufel hat mich geritten“, brummt Posocha gleichmütig.
„Du gehst auf des Messers Schneide, Dummkopf, weißt du das? Das ist staatsfeindlicher Unflat. Solcher
Bücher wegen hat die Kanzlei für Wort und Schrift ihre Säuberung abgekriegt. Hast du es etwa von da
mitgehen lassen?“
„Zu der Zeit bin ich noch gar nicht Opritschnik gewesen. Ich hab’s im Haus von dem Wojewoden neulich
stibitzt. Der Satan hat mir einen Rippenstoß gegeben.“
„Bedenke, wir sind eine Schutzstaffel. Wir haben kühl im Kopf und rein im Herzen zu sein.“
Aus dem Russischen von Andreas Tretner (unlektorierte Fassung) – Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Kiepenheuer & Witsch. Das Buch Der Tag des Opritschniks von Vladimir Sorokin
erscheint im Januar 2008.
D E R TA G
DES
K O M J AG A S K L Ö T E N
O P R I T S C H N I K S AU S D E R N A H S I C H T
DES
ÜBE R SETZ E R S
Andreas Tretner (Berlin)
we rk st at t
Wie soll man sich einen Opritschnik vorstellen,
2027, und der geistige Fluchtpunkt zur Existenz
der deutsch spricht? Vielleicht so:
ihrer historischen Ahnen dürfte im Jahr 2006
Darnach zogk der grosfürschte mit seiner Apris-
liegen. Der Roman ist eine aufs Heute zielende
na und vorbrante alle erpgüter im lande … Die
Anti-Utopie: Rußlands politische Zukunft, ins
kirchendörfer wurden vorbrant sambt den kir-
16. Jahrhundert regrediert. Seine Figuren sind
chen und alles, was darinnen war … Die weiber
Wiedergänger, die im Bestreben, Wissen und Er-
und megde wurden nacket ausgezogen und muß-
fahrung von Jahrhunderten wieder loszuwerden,
ten also auf dem felde hühner fangen. Die Apris-
Mauern aus Stein und aus Sprache um sich er-
nischen machten im lande grossen jammer …
richten.
Der da spricht, ist ein Opritschnik: Heinrich von
Dem politischen Isolationismus entspricht ein
Staden, westfälischer Söldner, einer von mindes-
verordneter Sprach-Artefakt. Noch das Komischs-
tens vier Deutschen in der berüchtigten Leibgarde
te daran sind Purismen wie westewoi pusyr (Ver-
Iwans IV. Seine Aufzeichnungen sind eine vor-
lautbarungsblase) für die hypermoderne Televisi-
zügliche historische Quelle: rhetorisch eine Grat-
onstechnik (aber unser Fernseher steht dem, von
wanderung zwischen Distanz und Identifikation,
der Seite besehen, kaum nach!); auch das mobilo
bestrebt, die eigenen Eskapaden zu rechtfertigen
als Mobiltelefon einer trüben Zukunft klingt (fürs
und zugleich Kaiser Rudolf II. gegen Rußland zu
russische, leider nicht fürs deutsche Ohr) dezent
mobilisieren.
archaisch – beinahe wie rubilo, weshalb der
Übersetzer den alten Faustkeil-Ulk aus den An-
Vladimir Sorokins Opritschniki aber leben anno
fängen der Handytechnik wiederaufzuwärmen
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we rk st at t
aus: „Tätowierungen von Lagerhäftlingen“, gesammelt von D. S. Baldajew, Sankt Petersburg 2001, unnummerierte Seite vor dem Titelblatt. © S.G. Wassiljew
beschloss.
monstriert Panzerung, selbstverordnete Fühllo-
Doch wird selbst in dieser schönen neuen Welt
sigkeit. Der Kult des eignen Körpers, erst recht
nicht alles (und nicht von allen) so heiß gegessen,
der Missbrauch desselben in Alkohol- und Dro-
wie es gekocht wird. Ein Jacuzzi, wenn es unser
genexzessen stehen hierzu nicht im Widerspruch.
Held – Büttel der Macht und als solcher selbst ein
Der massiven körperlichen Enthemmung ent-
Mächtiger – nach getaner Arbeit besteigt, ist und
spricht die sprachliche Restriktion. Humor geht
bleibt ein Jacuzzi. Und auch der Rest ist oft genug
dem Erzähler ab, nur nicht rasselnder Hohn ge-
nur Fassade.
genüber den Opfern. Selbstironie, auch Zynismus
Auf semantischer Ebene wird der postulierte Iso-
sind kaum gebrauchte Register. Zwischendurch
lationismus ohnehin durch ein raffiniertes Ge-
wird routinemäßig moralisiert und gefrömmelt,
flecht intertextueller Bezüge „unterlaufen“. Von
mit regulierten Ausbrüchen von Pathos, Hurra-
den Techniken postmoderner Dekonstruktion aus
patriotismus in verknöcherter Form, einem pe-
Sorokins früheren Werken ist aber – zumindest
netranten Hang zum Volkstümeln. (Hierbei ist
an der Textoberfläche – wenig übriggeblieben.
oft schon ein nachgestelltes Adjektiv das schlich-
Das Buch hat in Opritschnik Komjaga einen
te Patentmittel – im Deutschen kaum bis gar nicht
homogenen, charakterlich ausgeformten, psycho-
zu machen.) Tonangebend aber sind mehr oder
logisch grundierten Erzähler, ein Täter-Ich, an
weniger gezügelte Aggression und Selbstkastei-
dem sich Zerstörung und Selbstzerstörung in
ung, aufgepumpt mit Blut und Glut. Ein sprach-
ihren somatischen wie semantischen Verläufen
licher Sadomasochismus in institutionalisierter
genauso gut studieren lassen.
Form.
Das Referat der eigenen Gewalttaten im beherrschten, soldatisch-patriarchalen Tonfall de-
Die russische Hochkultur habe trotz der vielen
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we rk st at t
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Gewaltexzesse in ihrer Geschichte keine Sprache
lichen Geschlechtsteile (Gemächt und Klöten),
für die Freude an der Gewalt gefunden, schrieb
letztere im Dual, einer ausgestorbenen gramma-
Kerstin Holm in ihrer aufsehenerregenden „Vo-
tischen Form. Da muß der Euphemismus chor
raus-Rezension“ in der FAZ. Die Einschränkung
für ch… (Schwan für Schw…) schon als gewagt
ist allerdings wesentlich: Komplexe subkulturelle
gelten.
Sprachsysteme wie fenja und blat, der Argot des
Nur manchmal – im Rausch wie im Kater – wird
GULag (durchsetzt von mat1, der freilich noch
Sorokins Komjaga auch von metaphysischen
älter ist) sind pure Ableitung und Weitergabe er-
Geistesblitzen heimgesucht. Dann entdeckt er
fahrener Gewalt, Zeichen der Verrohung, Selbst-
zum Beispiel, wie die Macht am Körper ihre
schutz auch. Davon – und von der eigenen krimi-
Grenzen erfährt: Dass sein Diener morgens üb-
nellen Vergangenheit, so darf/soll man annehmen
ler rieche als abends, sei „die Wahrheit seines
– trägt die Sprache der Staatsdiener bei Sorokin
Leibes. Ihr entkommt man nicht. Da helfen auch
untilgbare Spuren, auch wenn ihnen das Fluchen
keine Hiebe.“
untersagt und eine komische Bußformel (bes poputal – der Teufel hat mich geritten) auferlegt ist.
In Rußland 2027 sind Mutterfluch und Zote
wieder tabuisiert. Obszönität als vorgeblich
ÜBER DEN AUTOR:
Überwundenes, zurückgedrängt auf nostalgi-
Andreas Tretner ist literarischer Übersetzer
sche Feindsender hinter der Mauer. Verhohlen
mit den Sprachen Russisch, Bulgarisch und
rezipierter „Schweinkram“. Der Widerspruch
Tschechisch, ferner freier Lektor, Herausgeber,
zwischen manifester sexueller Gewalt und ihrer
Kritiker und Journalist. Er hat neben V. Sorokin
verdrucksten bis verschmockten Verbalisierung
A. Asolski, M. Kononov, B. Akunin und weitere
könnte größer kaum sein. Anstelle der berühmten
spät- und postsowjetische Autoren übersetzt so-
Drei-bis-Fünfbuchstabenwörter stehen rustikale
wie fast alle Titel von V. Pelewin.
Archaismen wie z.B. ud und mude für die männ1 Was ist mat? … Viktor Pelewin: „Ein schillernder Sektor
im Wortschatz der russischen Sprache. Streng tabu und in
aller Munde. Bestehend aus wenigen, hochgradig emotionalen Bezeichnungen menschlicher Geschlechtsorgane
nebst Ableitungen.“
LESETIPP:
Kerstin Holm: Iwans Rückkehr. In: FAZ Nr. 236 /
11.10.2006, Seite 35 (leider kostenpflichtig)
VORSCHAU:
Die nächste Ausgabe von kultura (3/2007) erscheint Ende Oktober und beschäftigt sich mit der Bedeutung des Sports im heutigen Russland.
GastredakteurInnen sind Sandra Budy und Manfred Zeller vom DFG-Projekt „Gesellschafts- und
Kulturgeschichte des Sportes und der Körperkultur in der Sowjetunion“ an der HSU Hamburg.
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K Ö R PE R
A LS SOZ I A LE
M E TA P H E R
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K U N S T1
Natalija Slydnewa
a n alyse
Die darstellende Kunst ist ihrem Wesen nach somatisch: Sie schafft materielle Objekte, die sie sensorisch belebt. So „schreiben“ auch russländische Künstler der Gegenwart in unterschiedlicher Weise mit
dem Körper: A. Brener, B. Michailow, A. Martynowa, die Gruppen AES und Mitki u. a. lassen in ihrer
Kunst den Körper sprechen oder sprechen über den Körper. Die sozialen Metaphern in ihrem KörperCode zielen darauf ab, die postsowjetische Wirklichkeit zu analysieren und eine kritische Interpretation
zu ermöglichen.
Die soziale Metaphorik der aktuellen Kunst Russ-
Provokationen der neuen Avantgarde wurde aus
lands ist durchdrungen von Negativismus. Dieser
menschlichen Körpern (den Teilnehmern an der
tritt durch einen Körper-Code zutage, und zwar
Aktion) auf dem Roten Platz in Moskau das obs-
in einer großen Vielfalt von düsteren Symbole:
zöne russische Dreibuchstabenwort ausgelegt
vom zerlegten, verstümmelten und vergewaltig-
(Autor: Anatoli Osmolowski). Nicht weniger
ten Körper bis hin zum Überschreiten der Gren-
skandalös waren die physischen Gewaltakte von
ze menschlicher Körperlichkeit im extremen
Awdei Ter-Oganjan an Ikonen. Seine blasphe-
Schmerz, dieser Spur des leidenden Körpers. An
mischen Aktionen tragen unübersehbare Züge
die Stelle des abstrakten Begriffs des Kollektiv-
sozialen Protestes: In einer seiner interaktiven
körpers – des sowjetischen Volkes – ist der kör-
Aktionen stellte er den „physischen Körper“ von
perlich konkrete „Oligarch“, sprich Milliardär,
Bettlern und Obdachlosen aus, indem er diese
getreten. Die postsowjetische Welt stellt sich als
direkt von der Straße in die Ausstellung schlepp-
Welt einsamer orientierungsloser Körper dar.
te; im Ausstellungsraum wurden sie so ungewollt
zum „natürlichen“ ästhetischen Objekt.
KÖRPER
IN
A KTION
Manchmal verwischt sich die Grenze zwischen
Die neueste russische Kunst entwickelt ihre
körperlichem Schmerz, der Wunde als sozialer
Körpermetaphern vor allem in der Aktion. Die
Protestmetapher und physischer Gewalt als sol-
1990er Jahre erlebten einen überbordenden Ak-
cher. Im Rahmen eines Projektes entleerte sich
tionismus mit einer Vorliebe für das Absurde.
Alexander Brener, einer der bekanntesten Ak-
Darin trat das Erbe der Avantgarde und der ge-
tionskünstler, in einem ausländischen Museum
samten russischen Kultur des 20. Jahrhunderts
vor einem Bild von Van Gogh. In den 1990er
ebenso in Erscheinung wie das, was die Kunst
Jahren waren seine Aktionen auch politisch ge-
der gerade erst vergangenen Jahrzehnte gekenn-
färbt. Unter anderem demolierte er Stände von
zeichnet hatte. Die Aktionen der aktuellen Kunst
Straßenhändlern, forderte auf der Moskauer
sind voller Brutalität. Die Avantgarde war auf
„Schädelstätte“ [auf dem Roten Platz] Präsident
den Skandal aus. Und so bedienten sich ihre Ak-
Jelzin mit Boxhandschuhen zum Zweikampf und
tionen einer Poetik des Skandals, in der sich die
randalierte in einer Kirche, wobei er die Sünden
Kränkung des Künstlers durch die Gesellschaft
des russischen Volkes auf sich nahm. In der Regel
ausdrückte. Dabei wurde - und wird heute - mit
endeten die Aktionen damit, dass der Künstler
dem Körper geschrieben: In einer der brutalsten
von Ordnungshütern festgenommen wurde.
1 Das Material für diesen Artikel wurde der Autorin freundlicherweise von der Galerie Gelman, Moskau (http://www.
guelman.ru), zur Verfügung gestellt.
KÖRPER
IM
DIENST
DER
A NTI-UTOPIE
An die Stelle der zusammengebrochenen Utopien
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a n alyse
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trat die anthropologische Dystopie, die absolute
gebären, wurde ein lebendes Schwein geschlach-
unkontrollierbare Realität mit ihren Manipula-
tet, hielten Soldaten Bilder in ihren Händen (1992,
tionsmechanismen der Psychotechnik und des
„Kunst aus erster Hand“). Am bekanntesten wur-
Gen-Engineering. Hiergegen protestiert der Ak-
de die Aktion Die Familie der Zukunft, bei der
tionskünstler Oleg Kulik. In den 1990er Jahren
Kulik völlig nackt mehrere Tage auf allen Vieren
entwickelte er seine von ihm so genannte Rich-
in einem Käfig verbrachte und einen Hund imi-
tung der Zoophrenie (wörtl.: Tier-Irresein) und
tierte.
demonstrierte eine polemische Absage an Kultur.
Dem Kritiker Wjatscheslaw Kurizyn zufolge
Bei seinen Aktionen fuhren Bilder auf Rollen am
„besteht die Grundidee in Kuliks Schaffen darin,
Publikum vorbei, trampelten die Zuschauer auf
dass man das Tier im Menschen studieren und
Leinwänden herum, sahen sie eine lebendige Frau
pflegen soll; dass das Anthropomorphe etwas Zufälliges und Vorübergehendes ist; dass die Beziehungen zwischen den Arten
sehr tief gehen können;
und dass der Mensch nicht
der Mittelpunkt der Natur
ist. Mit dieser Ausrichtung
treibt er die Thesen politischer Korrektheit auf die
Spitze und sprengt sie von
innen heraus. Denn diese
Art Korrektheit ist eine
Ausgeburt der Kultur der
Menschen, Tiere hätten sie
nicht erdenken können.“
D ER KÖRPER
ALS
R AUM
UND
KOMMUNIKATIONSMITTEL
Als Installationsraum figuriert der Körper in den
Arbeiten der Gruppe AES
(Tatjana
Arsamasowa,
Lew Jewsowitsch, Jewgeni
Swjatski). Gemeinsam mit
Alexander Brener schufen
die Künstler 1995 das Projekt Körper-Raum. Ihren
Aleksandr Brener: Installation „Hierher, Chimären!“,
Projekt Körper-Raum 1995. © Natalija Slydnewa
eigenen Bereich innerhalb
der Installation gestalteten
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sie als Expositionsfeld, angefüllt mit anatomischen
‚Körper der Außenwelt’ von uns fordern; müssen
Fotos und Schemata in unterschiedlichen Perspek-
mit ihrer Hilfe uns mal den einen, mal den ande-
tiven sowie Objekten zum Thema medizinisch
ren Raum sozialen Lebens aneignen oder ihn ‚an-
formulierter Körperlichkeit wie „Wärmebrücke“,
probieren’. Alle Körper, die wir notwendigerweise
„Naht“ oder “menschliche Körperöffnungen“.
und nicht zufällig annehmen, werden ‚nicht mei-
Diese fragmentierten, vom Ich-Körper entfrem-
ne’ Körper sein. Notwendig sind die installierten
deten Objekt-Körper bildeten eine Art Demons-
Körper; das ganze Spektrum sozialer Beziehun-
trationsfeld für das Sprechen über Körper in den
gen, Formen, Institutionen und Positionen bildet
Konventionen institutionalisierter Rationalität,
einen monströsen Mechanismus der Installierung
hier der Medizin.
unserer Körper in der Sphäre von Arbeit, Strafe,
Der von Brener geschaffene Projektteil stellte da-
Erziehung usw. Wir sind alle installierte Körper.“
gegen den Körper nicht als Objekt wissenschaftli-
Also können nur demonstrierbare Objekte Körper
cher Forschung, sondern in seiner vitalen Ganzheit
repräsentieren, doch sind dies Körper auf einem
vor. In der Installation Hierher, Chimären! spricht
Monitor; zu wahrer Kommunikation vorzudrin-
der nackte Künstler durch seinen Körper und mit
gen, ist ihnen unmöglich.
ihm unauflöslich identisch, indem er verschiedensKÖRPERSPUR
te Posen und Grimassen realisiert. Im Unterschied
FOTOGRAFIE
zum analytischen Zergliedern der Gruppe AES
Das beschriebene Projekt benutzte teilweise die
interessieren ihn die im Körper verborgenen Mög-
Fotografie als dokumentierte Spur von Körper-
lichkeiten der Kommunikation im Vorrationalen.
lichkeit. Das zuletzt genannte Thema bearbeiten
Der sprechende Körper Breners bestätigt seine
in zugespitzter sozialkritischer Manier die Foto-
Worte selbst durch Schmerz, Blut und Verletzung;
grafien von Boris Michailow, einem der hervor-
der Körper ist für Brener das Zeichen wahrer Exis-
ragendsten post-sowjetischen Künstler. Seine Se-
tenz. Im Gegensatz hierzu dient der Körper der
rie Krankengeschichte dokumentiert das gesell-
Gruppe AES zur Dekonstruktion der Rationalität.
schaftlich Marginale, den so genannten Bodensatz:
Ihr Hauptziel liegt darin, Methoden der Beschrei-
Penner und Bettler posierten in herausfordernder
bung des Körpers auszustellen, die Verschieden-
Frivolität vor der Kamera. Den Zuschauer blickt
heit seiner Oberfläche aufzuzeigen und auf diesem
eine moderne Welt à la Dostojewski an: Die von
Weg zum Universellen vorzudringen. Körper wird
Krankheiten versehrten Körper in schmutzigen
nicht erlitten, sondern vorgeführt.
Lumpen gehören dem außerhalb der Gesellschaft
ALS
befindlichen Auswurf an, der, von ihr ausgestoKÖRPER-WELTEN
ßen, den Blick umso durchdringender auf diese
Indem die Installation ideologisierte Weltmodelle
Gesellschaft lenkt. Die Sprache der Aufrichtig-
als erledigt darstellt, beschreibt sie, nach den Wor-
keit, die Vertrauensbeziehung der fotografierten
ten ihres Kommentators, des Philosophen Waleri
Objekte zum Autor formen eine neue Variante
Podoroga, die ganze Welt: „Wir versinken in einer
des brutalen „Positivs“. Diese Position erweist
Umwelt, in der es nur so wimmelt von nicht von
sich heute als radikaler als die Negationen des ge-
uns geschaffenen Körpern, von Schachteln, Fut-
samten XX. Jahrhunderts: Es ist die Ästhetik der
teralen, Schemata und Rahmen, die wie Körper
Nähe und der Anteilnahme, des Mitfühlens, des
funktionieren. Und wir müssen unseren Leib in
Entlarvens und des Schamgefühls, die hier den
der Welt so vorsichtig bewegen, wie es alle diese
Tabubruch vollzieht.
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a n alyse
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D ER KARNEVALESKE KÖRPER
Thema Wodkatrinken in Russland tritt Körper
Die Künstler, die heute mit traditionellen Kom-
als spontanes Verhalten, als Geste, vor allem als
munikationsmedien – Malerei und Grafik – arbei-
Handgeschriebenes in Erscheinung. Reflexionen
ten und die Mentalität ihrer Landsleute in der Spra-
über den Zustand des Betrunkenseins nehmen im
che des Körpers analysieren wollen, wenden sich
Projekt der „Mitki“ die Form eines aus dem Sozi-
dem Erbe der Avantgarde zu. Das Projekt Wodka
um entfernten, traditionellen Minus-Körpers an,
der Petersburger Gruppe „Mitki“ entfaltet das
frei von den Zwängen gesellschaftlicher Normen.
Motiv des „karnevalisierten“ infantilen Körpers.
In diesem Körper sind Übermut, Revolte und das
Mit den Mitteln des Primitiven, einer „niederen“
Bewusstsein von der eigenen Machtlosigkeit ge-
Darstellungsart werden vielfältige Körpererfah-
genüber dem Imperativ der sozialen Realität un-
rungen als Metaphern der nationalen Selbstiden-
auflöslich miteinander verbunden.
tifikation vorgestellt. In den Comic-Bildern zum
Mit dem Thema Körperlichkeit des Handgeschriebenen arbeitet Damir Muratow
aus Omsk. Seine skulpturalen Kompositionen und seine
Bilder enthalten Fragmente
handschriftlicher Texte, die
insbesondere das Gesicht
bedecken. Seine Arbeiten
vereinen das postmoderne
Prinzip der „Gesichthaftigkeit“ (russ. lizevost) als eines
besonderen Feldes konventioneller Bedeutungen mit
dem des Körpers als Text.
Der orgiastische Körper im
Projekt der „Mitki“ ist sowohl ästhetischer simplifizierter Protest gegen die
gesellschaftliche Kontrolle
des Individuums als auch
ironisches Spiel mit dem
„bodenständigen“ Charakter (russ. potschwennost)
dieses Protestes.
KÖRPER-C ODIERUNG
SEX , GENDER
UND
DURCH
TOD
Vielfältiger ist die MetaAES: Fragment „Kontrollabdrücke“, Projekt Körper-Raum 1995.
© Natalija Slydnewa
pher der Herrschaft im sexuellen Code. Die im Wes-
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ten populäre Gender-Ausrichtung in der Kunst
2003) von Gor Tschachal verschwindet indes der
hat im letzten Jahrzehnt in Russland glühende
ironische Subtext vollends und präsentiert die
AnhängerInnen gefunden. Eine Reihe von Künst-
Videoversion eines abstrakten Expressionismus
lerinnen präsentieren den Frauenkörper mit einer
mit sexuellen Bezugspunkten.
explizit weiblichen Sexualität; allein diese offene
Das negativ markierte Feld des Körpermotivs in
Darstellung verletzt ein Tabu und provoziert da-
der heutigen Kunst weitet sich bis hin zur Pro-
mit das repressive Bewusstsein. Das betrifft die
blematik der Grenzen menschlicher Existenz im
Arbeiten Melone (Fotografie, 1997) von Tatjana
Allgemeinen und eines barocken Memento mori
Liberman, Geburt (Skulptur, Holz, 2000) von
im Besonderen aus. In der Serie Danse macabre
Natalja Turnowa und Malerei in Perlon (Ob-
(Mischtechnik Malerei/Fotomontage) bearbeitet
jekt, Material Strumpfhosen, 1997) von Aljona
Andrei Sawadow narrativ Szenen von Begräbnis-
Martynowa. Die Installation Bleib ein bisschen
sen so genannter Neuer Russen (Frühling. Sommer,
(2002) schöpft Sexualität als Zeichen für Macht
1997; Deep insider, 1997). Die barocke Rhetorik
aus, um die abgenutzte Metapher „Erstickung“
tritt hier als beschreibende Metapher auf.
für Liebe bzw. Macht in der natürlichen Sprache
zu demonstrieren: Wenn der Besucher oder die
KÖRPER-SCHRIFT
Besucherin den wie Frauenlippen geformten
In seiner Nobelpreisrede (1987) sprach Jossif
Plastikpavillon betritt, füllen sich die aufblas-
Brodskij unter anderem davon, dass der Mensch,
baren Wände mit Luft und bedrängen ihn oder
der Gedichtzeilen zu Papier bringt, einem Körper
sie mit einer herrischen erotischen Umarmung.
gleichkommt, der im Raum ausgesetzt wurde.
Andere Künstler und Künstlerinnen nehmen
Indem er diesen Raum überwindet, trifft der
bewusst den weiblichen Körper und das Motiv
Körper eine ästhetische Entscheidung, die der
des Erotischen aus dem Feld ideologischer und
ethischen Wahl vorausgeht. Beim bildnerischen
politischer Konnotationen heraus. Die bekannte
Schaffen geschieht unserer Auffassung nach Ver-
Moskauer Malerin Ajdan Salachowa montiert ihre
gleichbares: Der mit dem Körper „schreibende“
Selbstportrait-Versionen in Zitate des klassischen
Künstler – ganz gleich, ob es um das Sprechen
Stils. Damit wird die eigene Körperlichkeit auf die
des Körpers oder über den Körper geht – er-
Ebene der Abstraktion gehoben. Der Phantomcha-
weitert den Raum der Körper, den Raum ihrer
rakter des eigenen Körpers kennzeichnet Schön-
negativen Erfahrung im Kontext der jeweiligen
heit als unpolitisch; das Soziale ist hier implizit in
Kultur, hier der Kultur Russlands. Und schon mit
der Figur des Verschweigens enthalten.
der Wahl seiner sprachlichen Mittel trifft er eine
Alle traditionellen Rollen sind dem weiblichen
ethische Entscheidung. Die sozialen Metaphern
Körper durch das Sozium „von oben“ vorgeschrie-
im Köper-Code zielen also erstens darauf ab,
ben; in ironischer Negation dessen, was zu sehen
den Bereich der kritisch zu analysierenden Wirk-
ist, werden sie zitiert. Betont unpolitisch gibt sich
lichkeit (ihrer unverhüllten Nachtseite) sowie
die Arbeit Eine schöne Frau (Öl, Leinwand, 2001)
die eigene Position dazu zu umreißen. Zweitens
von Maria Pogorshelskaja; sie zeigt eine in Motiv
markieren sie die Brücke/Grenze zwischen dem
und Stilistik neutrale weibliche Figur am Strand.
ästhetisch ausgerichteten Individuum und der
Doch diese Neutralität wird ironisch durch die
Ethik des Soziums.
Trivialität des Titels und der Darstellung verfremdet. In der Videoinstallation Liebe (1997-
Aus dem Russischen von Hartmute Trepper
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ÜBER DIE AUTORIN:
LESETIPPS:
Natalija Slydnewa ist Kunstwissenschaftlerin am
•
Institut für Weltkultur der Moskauer Lomonossow-Staatuniversität und leitet die Kulturabtei-
2/2007
Boris Michajlov, hg. von Brigitte Kölle, Stuttgart: Oktagon 1995
•
Renate Lachmann: Der Bachtinsche Grotes-
lung des Instituts für Slawische Studien an der
kebegriff und die postsowjetische Literatur
Russländischen Akademie der Wissenschaften.
(das Beispiel Vladimir Sorokin). In „kultuR-
Ihr Interesse gilt der Semiotik sowie der Wech-
Revolution“ nr. 48/2004, 44–51
selwirkung zwischen den Medien, sie forscht zur
•
Alexander Brener: The End of Optics. Mos-
Kunst und Literatur des 20. Jhdts. in Russland
cow Art Magazin: http://xz.gif.ru/numbers/
und den Balkanländern. Der vorliegende Text ist
moscow-art-magazine/end-of-optics/
die Kurzfassung des Artikels „Telo kak social’naja metafora“ in dem von Slydnewa herausgegebenen Sammelband „Telesnyj kod v slavjanskich
kul’turach“, Moskva 2005, 247–255.
ZUR ERINNERUNG
AN
D MITRI A LEXANDROWITSCH P RIGOW (1942–2007)
(aus: Marat Gelman, LJ-Eintrag 16. Juli 2007 12:35 pm, http://galerist.livejournal.com/):
Zu Beginn der Achtziger, als die meisten derjenigen, die heute an hohen kirchlichen Feiertagen mit
Kerzen in die Kameras blicken, keine Bibel anrührten (während alle übrigen eine [Bibel] nicht einmal auftreiben konnten), beschloss Prigow, dass „es die Aufgabe des Künstlers sei, das Verborgene
– also Gottes Wort – in die Massen zu tragen“, und unternahm folgende Aktion:
Auf Papierstreifen, wie man sie an die Laternenpfähle klebt, druckte er die Gebote und weitere Zitate
aus dem Alten Testament. Anstelle einer Telefonnummer gab er die Kapitel an, aus denen die Zitate
stammten, und hängte die Blätter an Bushaltestellen zwischen die Suchanzeigen nach verlorenen
Hunden und zu vermietenden Zimmern.
Ziemlich bald nahmen ihn die Bullen fest und übergaben ihn dem KGB. Auf die Frage, was er arbeite
und zu welcher Sekte er gehöre, antwortete Prigow: Ich bin Künstler. Ich mache eine Aktion.
Die Überprüfung ergab – er ist wirklich Künstler.
Als sie ihn gehen ließen, sagten sie: Wir lassen Sie frei, Sie müssen uns aber erklären – wie sollen
wir in Zukunft Künstler von Verrückten oder Sektenanhängern unterscheiden?
Das ist wirklich passiert. [Hervorhebungen im Original]
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