die schildbürger von springfield

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die schildbürger von springfield
DIE SCHILDBÜRGER
VON SPRINGFIELD
DIE SIMPSONS, EINE AMERIKANISCHE POLITIKSERIE
ΞΞ Jöran Klatt
Eigentlich will sie nur weg. Ihr größter Traum ist es, eines der großen Colleges zu besuchen. Dort zu studieren, Gleichgesinnte kennenzulernen und
endlich die Freunde zu finden, die sie bislang nicht hat. Sie, die achtjährige
Lisa, lebt in der Kleinstadt Springfield, irgendwo im amerikanischen Überall und Nirgendwo. Springfield ist der Schauplatz der Serie, die sich um Lisa
und ihre Familie dreht: die Simpsons. Eine unverortbare Comic-Stadt wie Carl
Barks Entenhausen, mal nahe an den Bergen gelegen, mal direkt am Meer,
dabei angrenzend an die vier Staaten Ohio, Nevada, Maine und Kentucky.
Doch genau aus dieser Unverortbarkeit entspringt auch eine Omnipräsenz: Springfield ist ein wenig das Überall der USA , eine Art Querschnitt
des Amerikanischen, ein Diorama aus stereotypen Menschen und Lebensräumen, mit denen man das Land verbindet. Immer wieder begegnen wir
in dieser Stadt amerikanischen Alltagsmythen, den sogenannten americana.
Dieser Begriff meint »alles, was ›typisch amerikanisch‹ ist«1: Fastfoodketten,
Baseballfelder, Malls, vorörtliche Wohnhaussiedlungen für die Mittelschicht,
Footballstadien, ein Atomkraftwerk usw.
Doch die Zeichnung des Amerikanischen in der äußerst erfolgreichen
Serie, die 1987 von Matt Groening erdacht und seit 1989 bis heute gesendet
wird, außerdem zu den erfolgreichsten Satire- und Comic-Marken der Welt
gehört, scheint kein besonders gutes Licht auf das Land der unbegrenzten
Möglichkeiten zu werfen. Springfield ist der denkbar ungeeignetste Ort zum
Aufwachsen für die hochbegabte Philanthropin Lisa. So empfindet sie dies
zumindest. In der 22. Folge der 10. Staffel, »They saved Lisa’s Brain«, beklagt
sie in einem offenen Brief den Zustand ihrer Heimat und wendet sich direkt
an die Bewohner ihrer Stadt: »We are a town of low-brows, no-brows and ignorami. We have eight malls, but no symphony. 32 bars, but no alternative
theatre. 16 stores that begin with ›Le Sex‹.« Und in der Tat lernt man die Bewohner von Springfield in der Serie zumeist als Hedonisten, dazu überwiegend als sehr einfach gestrickte Schildbürger kennen. Der Anspruch an das
Gebildete ist in den Simpsons (symbolisiert durch Lisa) fremd im eigenen
Land. In der Begegnung mit dem Profanen, der Alltagsdummheit erzeugt die
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INDES, 2014-4, S. 110–119, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X
1 Jörg C. Kachel, Topographia
Americana. There’s no Place like
Home!, in: Michael Gruteser
(Hg.), Subversion zur Prime-Time.
Die Simpsons und die Mythen
der Gesellschaft, Marburg
2002, S. 167–183, hier S. 169.
Serie eine Selbstreflexivität aus der ihre intelligentesten und humorvollsten
Momente hervorgehen. Dabei wird der ewige Kampf zwischen Hoch- und
Popkultur, wobei es vielleicht das englische high vs. low culture besser trifft,
den die Serie in der Realität durch ihre schichten- und altersübergreifende
Akzeptanz inzwischen für sich überwunden hat, in ihr selbst immer wieder
thematisiert.2 Popkultur wie die Simpsons ist eben nicht automatisch low cul­
ture. Die Simpsons durchzieht ein permament dialektisches Moment: Nicht
immer, sind die Vertreter der Hochkultur, wie Lisa, Philantropen, zuweilen
sind sie gar von mordlüsternen Rachephantasien gegenüber der Kulturindustrie getrieben und wünschen sich, wie der vom Schauspieler zum (Möchtegern-)Gewaltverbrecher mutierte »Sideshow Bob« gewaltsam »to elevate culture in Springfield.«3 Der talentierte Schauspieler Bob versucht in der Serie
immer wieder die Hauptfigur Bart zu ermorden, einerseits aus persönlichen
Motiven – immerhin überführte Bart ihn bei der Intrige gegen den eigentlichen Star der Sendung, dessen Sidekick Bob einst war – andererseits im
Sinne eines Stellvertreterkrieges zwischen eben high und low culture – steht
Bart doch stellvertretend für eine ganze Generation die sich aus Sicht Bobs
gegen seine Vorstellungen von guter Kunst gewendet habe.
Und auch wenn die Vertreter der Aufklärung und des Verstandes noble
Ziele verfolgen, spätestens in der Sphäre der Politik angekommen setzten die
Macher der Simpsons ihnen natürliche Grenzen: Infolge des offenen Briefes
entdeckt Lisa, dass sie mit ihrer Sehnsucht nach Gleichgesinnten, Intellektuellen, politisch Interessierten, gebildeten und feinsinnigen Menschen wohl
doch nicht ganz alleine ist, und wird von der örtlichen Gruppe des Hochbegabten-Vereines Mensa aufgenommen. Bald darauf flüchtet, durch einen vermeintlich aufgedeckten Skandal, der Bürgermeister aus der Stadt und Lisa
und ihre neuen Weggefährten erfahren durch einen Blick in den Stadtbrief,
dass im Falle seines Ausscheidens ein Rat gebildeter Bürger die Stadt übernehmen soll. So versuchen sie sich an der Konstruktion eines durch Philosophenherrscher erschaffenen Utopia … und scheitern erwartungsgemäß.
Sie scheitern nicht nur an der Unbildung der Untertanen, sondern vor allem
auch an den Widersprüchen untereinander.
2 David Arnold, ›Use a Pen,
Sideshow Bob‹. The Simpsons
and the Threat of High Culture,
in: John Alberti (Hg.), Leaving
Springfield. The Simpsons and
the possibility of oppositional
culture, Detroit 2004, S. 1–28.
3 Ebd., S. 2.
Springfield ist ein Anti-Idyll und ein Anti-Utopia. Der Modus der Simpsons
ist die Überspitzung realer Zustände: Satire. In »They saved Lisa’s Brain« endet der Versuch Lisas und ihrer Kumpanen, ihre Kleinstadt zu verbessern, in
einer Schlägerei unter den Bewohnern, woraufhin der prominente Gaststar
Stephen Hawking bemerkt, es gäbe »verschiedene Vorstellungen einer perfekten Welt«.Und die Springfielder entscheiden sich fausterprobt gegen die
Herrschaft der Intellektuellen. Und um – für die Serie typisch – der Absurdität
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noch eine weitere Ebene hinzuzufügen wirkt es wie die Gegenrevolution
Robbespierres wenn die Figur Lenny Leonard seinen Hieb gegen einen Mitbürger kommentiert mit »Das ist mir zu clever! Du bist einer von denen!«
Am Ende kehrt die Folge naturgemäß zum Ausgangspunkt der Serie zurück.
Lisa muss sich also weiter mit den Bewohnern ihrer Stadt arrangieren. Als
Intellektuelle und Fortschrittsgläubige ist man in Springfield eben Außenseiterin. Daher wird sie Springfield später auch verlassen. Ihre Heimat wird das
gleiche Schicksal ereilen wie einst Laleburg, die historische Vorgängerin des
fiktionalen Schilda, deren Bürger sich bewusst ihres Intellektes, für den sie
zuvor bekannt gewesen waren, entledigten. So wollten sie verhindern, dass
ihre Klügsten und begabtesten Köpfe abgeworben werden und abwandern.
Genau dies wurde ihnen allerdings zum Verhängnis und die Dummheit ein
fester Bestandteil ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit.4
DIE SCHILDBÜRGER UND DIE POLITIK
Insbesondere das Politische scheint in Springfield im Argen zu liegen. Der Bürgermeister der Stadt ist der Demokrat Joseph O’Malley Fitzpatrick O’Donnel
Quimby. Quimby ist, obwohl kein wirklich schlechter Mensch, alles andere
als der Idealpolitiker. Er ist korrupt und inkompetent, verheiratet und nichtsdestotrotz ein Womanizer. Insbesondere sein schwieriges Verhältnis zu Frauen
(um die es ihm häufiger als um Politik zu gehen scheint) sowie sein irischer
Name und sein Aussehen markieren ihn als eine Hommage an John F. Kennedy.
Auch andere Demokraten kommen in den Simpsons kaum besser weg. Bill
Clinton bezeichnet sich in der Serie selbst als »ein ziemlich dämlicher Präsident« und versucht auf niveaulose Art, die Familienmutter der Simpsons,
Marge, zu verführen. Jimmy Carter wird in der Serie als schwächlich dargestellt, von den Bewohnern Springfields als »schlimmstes Ungeheuer, das
unser Land je gesehen hat«, beschimpft.
Sind die Simpsons also eine Serie, die auf Seiten der Republikaner steht?
Immerhin spricht hierfür auch die Tatsache, dass die Serie von dem republikanernahen Sender Fox ausgestrahlt wird. Doch die Darstellung der Republikaner ist nicht weniger kritisch: Ihre Allianz zu den Medien, vor allem zu
dem Haussender der Serie, wird als unheilig dargestellt, die Republikaner
als Meister des Täuschens und Diffamierens, der Halb- und gar Unwahrheiten. So wird während eines Wahlkampfes zum Gouverneursamt innerhalb
des Simpsons-Universums auf dem Sender Fox eine Debatte zwischen den
Kandidaten stets mit rechtspopulistischen Botschaften in einem Newsticker
unterfüttert, wie »90 % aller Demokraten sind schwul« oder »Laut Bibel: Jesus
war für die Senkung der Kapitalertragssteuer«. Neben dem Großkapitalisten
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Politikserien — Analyse
4 Vgl. Markus Metz u. Georg
Seeßlen, Blöd-Maschinen. Die
Fabrikation der Stupidität, Frankfurt a. M. 2010, insbesondere
S. 121–163.
und Atomkraftwerksbesitzer Charles Montgomery Burns besteht die republikanische Partei Springfield aus Mitgliedern wie dem stereotypen reichen
Texaner, der in mehreren Folgen seine Verachtung für die Natur und seine
Schießwütigkeit unter Beweis stellt, einem an den rechtskonservativen Rush
Limbaugh angelehnten Radiomoderator namens Birch Barlow, dem sexsüchtigen Kinderentertainer Krusty der Clown sowie Graf Dracula.
Es scheint, als hätten die Macher der Serie, ein Autorenkollektiv um den
Erfinder Groening, der inzwischen weitgehend aus dem Produktionsprozess
ausgestiegen ist, kein gutes Bild von der amerikanischen Politik.
Nichtsdestotrotz, die Simpsons sind eine »dezidiert politische Serie.«5 Viele
Folgen drehen sich direkt um die Sphäre des Politischen, thematisieren Wahlkämpfe, Verschwörungen, Schicksale von PolitikerInnen, den Versuch einzelner, etwas zu ändern, und nicht selten das Scheitern daran. Bei der Darstellung beider großer Parteien ist die Serie dabei durchaus fair. »The politics
is sometimes party politics, but we never know whether the series is for and
against either the Republicans or the Democrats. Because of its critical nature,
5 N. Devrim Tuncel u. Andreas
Rauscher, Die Mythen des
Springfield-Alltags. Simpsons als
Politsatire, in: Michael Gruteser
(Hg.), S. 154–166, hier S. 155.
it is certainly challenging the conservatism of the Republicans, but equally
challenging of liberalism of the Democrats.«6
Ein nicht minder großer Teil thematisiert gesellschaftspolitische Fragestellungen, Diskurse um Rassismus, Migration, Homophobie, Religion, Sekten,
Armut, Gesundheit usw. »Through the skillful use of satire, The Simpsons de-
6 Paul Armstrong, Democracy,
citizenship and apathy: what can
lifelong learning do, S. 4, online
einsehbar unter: http://www.
adulterc.org/proceedings/2005/
proceedings/armstrong.pdf
[eingesehen am 05. 11. 2014].
7 J. Michael Blitzer, Political
Culture and Public Opinion. The
American Dream on Springfield’s Evergreen Terrace, in:
Joseph J. Foy (Hg.), Homer
Simpson goes to Washington.
American politics through
popular culture, Lexington, Ky
2008, S. 41–60, hier S. 42.
8 Diedrich Diederichsen,
Die Simpsons der Gesellschaft, in: Michael Gruteser
(Hg.), S. 18–24, hier S. 18.
9 10 Ebd.
Ebd., S. 23.
monstrates insights into the underlying political culture and public opinion of
the United States’ governing system (and more broadly, society at large).«7 Ob
die Serie Parteipolitisches, Gouvernementales oder Gesellschaftliches behandelt, stets nimmt sie dabei einen Modus des Dazwischen ein, der kritischen
Fairness. Offensichtlich hegen die Autoren dabei zwar eher Sympathien für
liberales Gedankengut, nichtsdestotrotz werden übersteigerte Erwartungen
an Fortschritt und Aufklärung stets durch Ironie ins Lächerliche gezogen.
Die Serie, die Diedrich Diederichsen als »das kompletteste postmoderne
Kunstwerk«8 beschreibt, ist dementsprechend auch eine »postmoderne Aufklärung«. Sie führe auf »kein Ziel, kein Original, keinen Grundtatbestand,
keine Basis und auf keine letzte Instanz zu.«9
Symbolisiert wird dies von den Hauptcharakteren Homer, Lisa, Marge
und Bart, die im Zentrum des Geschehens stehen. »Von ihrer Geschichte
her sind die Eltern Simpson 68er, Homers Mutter stand bekanntlich dem
Weather Underground nahe. Und nur der freundliche Frömmler Flanders
ist doch recht weit von dem Stamm seiner Beatnik-Eltern gefallen.«10 Diese
68er-Tradition wird von Homer und Marge durch den Gegensatz zwischen
Triebbefriedigung und Genuss auf der einen und Ethik und Sittsamkeit auf
Jöran Klatt — Die Schildbürger von Springfield
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der anderen Seite verkörpert. Als personifizierte Extrempole tendieren die
beiden »entsprechend zum infantilen Hedonismus (bei Homer) und zum Moralismus (bei Marge) […] Die Kinder Bart und Lisa entwickeln das nur weiter
und unterscheiden sich von ihren Eltern nur darin, dass sie in den entsprechenden Disziplinen besser und zeitgemäßer sind.«11
EVERYTHING GOES
Obwohl die Serie also immer wieder, Folge für Folge, zu einem gewissen Status quo zurückkehrt und gravierende Veränderungen in der sozialen Topographie (etwa der Tod eines Bewohners oder die Scheidung einer Ehe) nur in
sehr seltenen Fällen über eine Folge hinaus aufrechterhalten werden, ist sie
keineswegs zeitlos. Die Themen sind angebunden an die Realität außerhalb
der Diegese – sei es die Frage nach der Gleichstellung der Homo-Ehe, die Restriktion des Schusswaffenverkaufs oder eben eine parteipolitische Wahl. Die
Realität dringt in Springfield ein und aus Springfield blickt eine Familie auf
die Realität – und wir, das Publikum, wiederum beobachten sie dabei; »[…]
to watch and laugh at such humor, we are not only watching The Simpsons:
we are watching with The Simpsons […].«12 Die Simpsons konsumieren sowohl
das kulturelle Angebot des Fernsehens und Kinos, aber auch gesellschaftspolitische Themen, die um sie herum geschehen, und spiegeln alles zurück.
Genauso wie die Themen im Kontext der Realität stehen, ist die Serie auch
eng verbunden mit der Generation (nach 25 Jahren Laufzeit: den Generationen) ihrer Zuschauer. Dies fiel auch den Kulturwissenschaftlern Maxwell
Fink und Deborah Foot auf, die die Serie entschieden in der akademischen
Lehre einsetzten und dies vor allem mit dem generationellen Zusammenhang
zwischen der Serie und deren Zuschauern begründeten: »Because many of
the Gen Xers and Gen Yers that we know share a postmodern tendency to
eschew social labels and preconceived notions about people, this critical use
of stereotypes on The Simpsons makes it a useful example of critical media
literacy at work within the media mainstream that both the show itself and
the theoretical framework attempt to critique.«13 Diederichsen bemerkt hierzu:
»Die Simpsons liefern auch eine neue Vorlage für den langsam nervenden
Cultural-Studies-Streit. Nicht weil man mit diesen die Uni aufpeppen könnte,
sind sie an derselben überfällig, sondern weil alle Menschen unausgesetzt
Cultural Studies betreiben, gehören sie dabei beobachtet, wenn es sowas wie
Humanwissenschaften weiter geben soll.«14 Oder anders ausgedrückt: »Was
die Simpsons für die (unpopuläre) Wissenschaft interessant macht, ist, dass
sie als Objekt der Kritik selbst kritisch sind, also selbst (populäre) Wissenschaft betreiben.«15
114
Politikserien — Analyse
11 Ebd.
12 Jonathan Gray, Watching
with the Simpsons. Television,
parody, and ­intertextuality,
New York 2006, S. 2.
13 Maxwell A. Fink u. Deborah
C. Foote, Using The Simpsons
to Teach Humanities with
Gen X and Gen Y Students,
in: New Directions for Adult
and Continuing Education,
H. 2007, S. 45–54, hier S. 49.
14 Diederichsen, S. 20.
15 Michael Gruteser u. a.,
Die gelben Seiten von Springfield: Eine Einführung, in:
­Michael Gruteser (Hg.), S. 7–17,
hier S. 12.
Familienvater Homer ist dabei das Gegenstück zu der aufgeklärten, linksliberalen Lisa. In der 5. Episode der 9. Staffel, »The Cartridge Family«, unterstützt er die US-amerikanische Waffenlobby, die ihn jedoch wiederum verstößt, da ihnen sein Umgang mit Waffen nicht vernünftig genug erscheint. In
anderen Folgen engagiert er sich für seinen Chef, den Republikaner Montgomery Burns, und gerät mit dem ehemaligen Präsidenten George Bush in einen
Konflikt, weil – Zitat Marge – Homer und dieser »sich so ähnlich« seien. Dabei
ist Homer eigentlich nicht wirklich an politischen Geschehnissen interessiert,
sondern verbringt seine Freizeit lieber mit Müßiggang, Fernsehen und Alkohol. Doch immer wieder wird seine heile Welt, selbst eine americana, gestört.
Homer symbolisiert dabei das Klischee des amerikanischen Mittelklassebürgers, der das Politische in sich meist dann entdeckt, wenn er sich durch die da
oben in Washington gegängelt fühlt. Dabei ist Homer jedoch kein wirklicher
Rechter. Im Liberalismus seiner Erfinder zeigt sich auch der amerikanische
Glaube an die Passiven, Unbeteiligten, die in einer europäischen Partizipationsdemokratie gering geschätzt werden, aber ein Teil des amerikanischen
Freiheitsgedankens sind. Homer ist immer dann am glücklichsten (und auch
am sympathischsten) wenn er sich nicht engagiert. Wie Ralf Dahrendorf, so
empfindet auch er – allerdings ohne darüber nachzudenken – das Ideal einer
»total aktivierten Öffentlichkeit« als unangenehm und lehnt es ab.16 Homers
zeitweilige Unterstützung für die amerikanische Rechte ist stets gekoppelt an
seinen Hedonismus (den die Simpsons-Autoren eher als eine republikanische
Eigenschaft ansehen) und sein kurzweiliges eindimensionales Denken. »Eine
scheinbar unpolitische Haltung wie die Homer Simpsons verdeckt dabei nicht
die gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen sie sich manifestiert. Im
Gegenteil: Homer dekonstruiert durch seinen penetranten Hang zur Überaffirmation die wesentlichen Grundlagen einer reaktionären Weltanschauung.«17 Homer gerät oft in Konflikt mit seiner Tochter Lisa, deren Weltbild
rationalistisch und fortschrittlich ist, bspw. in der Frage nach Lisas neuentdecktem Vegetarismus (wovon sie zu Beginn noch ihre Mitmenschen offensiv
zu überzeugen versucht). Dabei zeigt sich bei Lisa derselbe Hang zur Überaf16 Ralf Dahrendorf, Liberale
Demokratie, in: Peter Massing
(Hg.), Demokratietheorien. Von
der Antike bis zur Gegenwart; Texte und Interpretationen, Schwalbach/Ts 2002,
S. 223–227, hier S. 225.
17 Tuncel u. Rauscher, S. 158.
18 Ebd., S. 159.
firmation wie bei ihrem Vater – nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. »Die
engagierte aufklärerische Haltung Lisas stößt ebenso immer wieder an ihre
Grenzen wie der Crash-Test-Dummy-Hedonismus Homers. […] Das Ende der
großen Erzählungen bedeutet für die Simpsons nicht automatisch ›anything
goes‹. Die von Groening und dem Autorenkollektiv praktizierte Ideologie­
kritik verlagert sich auf eine reflexiv gebrochene Ebene.«18
Meistens endet eine Simpsons-Folge, deren Kern ein normativer bis ideologischer Konflikt ist, nicht in der Auflösung desselben in eine entschiedene
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Richtung, sondern eher in der Versöhnung der beteiligten Protagonisten.
Lisas Auseinandersetzung mit dem tiefgläubigen Nachbarn Ned Flanders,
dem es zeitweilig gelingt, die Evolutionslehre in der Grundschule Springfield durch den Kreationismus zu ersetzten, endet zwar mit einem Sieg Lisas
vor Gericht (die Serie positioniert sich in diesem Konflikt deutlich gegen die
Anti-Säkularen), doch entscheidender ist vielmehr der abschließende Dialog
zwischen Flanders und der Simpsons-Tochter. Lisa könnte ihren Erfolg nicht
feiern, ohne ihrem Kontrahenten tiefen Respekt für seinen Glauben zuzusichern. Flanders lässt sich daraufhin sogar zu der Aussage verleiten, er wünsche, die Evolution würde mehr Menschen wie Lisa hervorbringen. Harmonie zwischen Opponenten. Ähnlich endet der Konflikt mit ihrem eigenen
Vater im Hinblick auf den Vegetarismus-Streit. Lisa lässt sich von dem indischen Supermarktverkäufer Apu Nahasapeemapetilon sowie dessen Freunden Paul und Linda McCartney von einer toleranteren Sicht der Dinge überzeugen. Apus religiös motivierte Ernährungsüberzeugung, der Veganismus,
bringt Lisa unerwartet zu der Einsicht, auch irgendwie einer Masse, einem
Mainstream anzugehören, und damit um die – gewohnte – Perspektive, der
vermeintlich unterdrückten Minderheit anzugehören (eine Rolle, die ihr, wie
wir oft erfahren, auch ein wenig gefällt). Lisas neuentdeckter Vegetarismus,
der Glaube Ned Flanders sowie zahlreiche andere individuelle Vorlieben der
Charaktere sind Elemente, die ein häufig widerkehrendes Motiv in der Serie
ergeben: Individuelle Weltanschauungen berühren den Kern des öffentlichen
gemeinsamen Lebens und beide Ebenen geraten miteinander in Konflikt. So
sind es in den beiden beschriebenen Folgen einzelne Akteure, die versuchen,
anderen verpflichtende Vorgaben zu machen, die sich aus dem eigenen, als
richtig oder besser empfundenen Weltbild ergeben (Flanders biblisches Weltbild, Lisas moralisch begründeter Vegetarismus).
Was die Simpsons als Serie auszeichnet ist dabei, trotz einer immer wiederkehrenden Sympathie für bestimmte Positionen (bspw. der Präferenz
für die Evolutionslehre an Stelle des Kreationismus), die grundsätzliche Erkenntnis, dass es in einer pluralistischen, sozial heterogenen Gesellschaft
der Empathie auf beiden Seiten bedarf. Die Serie steht insofern für eine sehr
amerikanische Idee von Demokratie, in welcher der »[…] battle over individualism versus the collective is often seen as the center of political battles in
American politics, and can certainly been seen within the lives of the family
on Springfields Evergreen Terrace.«19 Mal steht Lisa, als tugendhafter Charakter, auf der Seite des Individualismus, mal auf der Seite des Kollektivs.
Hierdurch brechen die Charaktere immer wieder die Eindeutigkeit der Botschaften und dem Zuschauer bleibt es nicht erspart, auch die Gegenseite zu
116
Politikserien — Analyse
19 Blitzer, S. 54.
betrachten und sich selbst zu positionieren. Ein Simpsons-Happy-End ist in
moralischer Hinsicht oft auch ein offenes Ende.
Die Versöhnung zwischen Homer und Lisa und die tiefe Zuneigung beider zueinander, trotz der immensen Unterschiede, deuten allerdings auf den
verbliebenen utopischen Gehalt der Serie hin: den amerikanischen Alltagsmythos der Familie. Es sind familiäre und freundschaftliche Bindungen, die
den Ausgangspunkt für Versöhnung bilden.
Doch ist nicht ebendies, die Besinnung auf die amerikanische Familie,
die permanente Forderung der amerikanischen Rechten? Den Simpsons gelingt es, sich einer Position in dieser Frage zu entziehen. Das Familienbild in
den Simpsons funktioniert nämlich nicht im Sinne des Konservatismus. Ein
inzwischen viel zitierter Streit mit dem Ex-Präsidenten George Bush veranschaulicht dies.
Dieser forderte 1992 in einer Rede in Washington: »We are going to keep
on trying to strengthen the American family, to make American families a lot
more like the Waltons and a lot less like the Simpsons.« Die Waltons waren
eine US-Fernsehserie, die bis 1981 lief. Im Zentrum dieser Serie stand die
namensgebende Baptistenfamilie, die als Idealtypus einer amerikanischen
Bilderbuchfamilie angesehen werden kann. Eine Antwort der Simpsons auf
diese Kritik folgte prompt. In einer Szene, die der 1. Folge der 3.Staffel hinzugefügt wurde, sitzt die Familie – wie so oft – vor dem Fernseher und sieht
sich Bushs Rede an. Bart Simpson empört sich über dessen Worte mit der
Antwort: »Hey, we’re just like the Waltons. We’re praying for an end to the
Depression, too.« Bereits zwei Jahre zuvor war es zu einem Schlagabtausch
zwischen beiden Familien gekommen. Auf die Kritik Barbara Bushs, die Simp­
sons seien »the dumbest thing [she] had ever seen«, schrieben ihr die Autoren
der Serie im Namen der Familienmutter Marge einen Brief, in welchem diese
ihr schilderte, wie sehr sie versuche, ihre Kinder dazu zu erziehen »always to
give somebody the benefit of the doubt and not talk badly about them, even
if they’re rich.«20 Die damalige First Lady entschuldigte sich daraufhin in
einem Antwortbrief umgehend bei Marge Simpson.
Doch es blieb nicht dabei. In der 13. Episode der 7. Staffel, »Two Bad
Neighbors«, tritt George Bush, nebst Frau Barbara, höchstpersönlich auf.
Das ehemalige Präsidentenpaar zieht in das leer stehende Nachbarhaus der
Familie Simpson ein und zwischen Homer und George entwickelt sich eine
20 Nachzulesen unter
http://www.lettersofnote.
com/2011/09/with-great-­
respect-marge-simpson.html
[eingesehen am 05. 11. 2014].
Art Hahnenkampf. Mit Nachbar Flanders und dessen zwanghaft glücklicher
Idealfamilie, die den Waltons wohl am ehesten entspricht, versteht sich Bush
äußerst gut. (Dass, wie wir in der Serie oftmals erfahren, das Familienglück
der Flanders nach außen mit dem hohen Preis innerer Unzufriedenheit aller
Jöran Klatt — Die Schildbürger von Springfield
117
Familienmitglieder erkauft wird, spielt dabei keine Rolle.) Doch mit den
Simp­sons, insbesondere Homer und Bart, wird er nicht warm. Dabei möchten die Bushs, die sich für das Leben in Springfield entschieden haben, weil
sie eine Stadt mit möglichst geringer Wahlbeteiligung für ihr Altersglück als
vielversprechend empfanden, im Grunde das, was Homer hat: ein ziemlich
selbstbezogenes, im Idealfall möglichst apolitisches Dasein.
Doch der Kontakt mit den Simpsons verwehrt ihnen dieses amerikanische Vorstadtleben. Insbesondere der Umgang mit dem ältesten Spross der
Simpson-Familie, Bart, selbst alles andere als interessiert, ist für Bush eine
Herausforderung: Der ungeduldige, ich-bezogene Junge zeigt George Bush,
was ein Generationenkonflikt bedeutet, unterbricht ihn permanent und nennt
ihn beim Vornamen, während er sich von ihm dessen Fotoalbum (einer der
letzten Versuche, das idyllisches Zusammensein zu forcieren) zeigen lässt.
Bart: Who’s that, George?
George: That’s me with Charlton Heston. He was –
Bart: Who’s that, George?
George: Er – see, you wouldn’t know him. That’s Bob Mosbacher. He was
secretary of –
Bart: That’s a dumb name. Who’s that, George?
George: Maybe he thinks »Bart« is a dumb –
Bart: How many times were you president, George?
George: Just once.
Bart: Did your Secret Service goons ever whack anyone, George?
George: You know, in my day, little boys didn’t call their elders by their first
name.
Bart: Yeah? Well, welcome to the 20th century, George.
George: I’ll kick you right out of the 20th century, you little –
Bart interessiert sich nicht für die großen Namen und das Leben von George.
Für ihn ist er nur ein alter Mann, der noch nicht im zwanzigsten Jahrhundert
angekommen zu sein scheint. Das Familienbild Bushs, in dessen patriarchalem Zentrum er selber steht, wird dekonstruiert durch eine amerikanische
Familie. Diese Familie funktioniert – aber nicht so, wie manche sie gerne hätten. Die Simpsons blicken aus der Perspektive der amerikanischen Vorstadt
auf die Medienlandschaft, Gesellschaft und Politik. Ihre Sympathien gelten
einem Glauben an das Gute, doch werden sie nur vorsichtig und unter Vorbehalt verliehen. So konnte die Serie eine große Zuschauerzahl erreichen.
Die Simpsons haben dazu beigetragen, dass Popkultur heute kulturkritische
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Politikserien — Analyse
Kultur sein kann. Ihre Selbstreflexivität ist eine Empfehlung, das eigene
Weltbild nicht zu verabsolutieren. Dabei verfallen die Simpsons jedoch nicht
dem harmonistischen Ideal, jeder Konflikt müsse in einem goldenen Mittelweg enden, sondern sie hegen weiter Sympathien für Idealisten. Gerade im
humoristisch dargestellten Scheitern der Extremwege fordern sie den homo
politicus zum Weitermachen auf.
George und Barbara Bush hat Bart auf diese Weise im 21. Jahrhundert
willkommen geheißen.
Und nun haben wir das 21. Jahrhundert und seit 25 Jahren die Simpsons.
Jöran Klatt, geb. 1986 in Wolfenbüttel, arbeitet am
Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zu seinen Schwerpunkten gehören Kulturtheorie, Semiotik und Wissensgeschichte.
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