Sehnsucht nach Freiheit und Sicherheit

Transcription

Sehnsucht nach Freiheit und Sicherheit
Sehnsucht nach Freiheit und Sicherheit Bischof Gebhard Fürst besucht Projekte zur Bekämpfung von Fluchtursachen in Jordanien Reisedokumentation 2. bis 4. September 2015 Dr. Thomas Broch Vorwort MENSCHEN AUF DER FLUCHT – EINE BESONDERE HER‐
gesamten Diözese einen starken Impuls ge‐
AUSFORDERUNG FÜR EINE DIÖZESE UNTER DEM PAT‐
setzt und in vielfacher Weise Kirchengemein‐
RONAT DES HL. MARTIN VON TOURS den und Dekanate, Verbände, Ordensgemein‐
schaften und einzelne Christinnen und Chris‐
Die Diözese Rottenburg‐Stuttgart hat ange‐
ten zu eigenen Initiativen ermutigt, um der sichts der weltweiten Flucht‐ und Vertrei‐
Not der Flüchtlinge entgegen zu wirken. Aber bungskatastrophe – rund 60 Millionen Men‐
auch das Elend von Menschen, die weltweit schen sind derzeit davon betroffen – die Sorge vor Kriegen und Bürgerkriegen, vor Verfolgung für Flüchtlinge zu einem ihrer pastoralen und und Terror und aus schierer Überlebensnot diakonischen Schwerpunkte erklärt. Bischof fliehen, hat immer neue und katastrophale Gebhard Fürst hatte dazu im Oktober 2013 bei Dimensionen angenommen. einem internationalen Martinuskongress im Tagungshaus Weingarten der diözesanen Aka‐
HILFE FÜR FLÜCHTLINGE IN DER DIÖZESE UND WELT‐
demie das Auftaktsignal gegeben, indem er WEIT ankündigte, in der ehemaligen Benedikti‐
Diözesanrat und Diözesanleitung haben daher nerabtei auf dem Weingartener Martinsberg von vorneherein das doppelte Ziel verfolgt, Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Die ersten sowohl für die Flüchtlinge im Diözesangebiet Medienberichte über Schiffshavarien mit hun‐
selbst für eine Aufnahmekultur zu sorgen, die derten ertrunkenen Flüchtlingen standen da‐
das Wort Gastfreundschaft verdient, als auch mals allen wie ein Fanal vor Augen. Eine Diö‐
in den Kriegs‐ und Krisengebieten des Vorde‐
zese unter dem Patronat des Bischofs Martins ren und Mittleren Orients, Afrikas, Asiens, von Tours – so Bischof Fürst – müsse es als Lateinamerikas und nicht zuletzt Ost‐ und besondere Selbstverpflichtung betrachten, die Südosteuropas dazu beizutragen, dass Flucht‐
christliche Ethik des Teilens unter den Anfor‐
ursachen gemildert und die Menschen dort derungen heutiger weltweiter Not neu zu ermutigt werden, auf eine Zukunft in ihrer konkretisieren. Und ein ehemaliges Martins‐
Heimat zu vertrauen. Jeweils knapp sechs kloster sei hierfür ein Ort von besonderer Zei‐
Millionen wurden dafür in den Doppelhaus‐
chenhaftigkeit. halten von 2014 bis 2017 zur Verfügung ge‐
Seither hat sich vieles weiter entwickelt. Die stellt – zusätzlich zu den regulären Haushalts‐
Entscheidung hinsichtlich des Weingartener mitteln für die karitativen und die weltkirchli‐
Martinsbergs hat nicht nur in der Welfenstadt chen Aufgaben der Diözese. Weitere Mittel selbst, sondern weit darüber hinaus in der sind vorgesehen. 3 Nun dient alles, wodurch die Diözese Rotten‐
(CJ) bei der Versorgung von Flüchtlingen, die burg‐Stuttgart gemeinsam mit ihren Partnern außerhalb der offiziellen Camps des UNHCR in der Weltkirche zur Verbesserung der Le‐
unter schwierigsten Bedingungen leben müs‐
bensbedingungen beiträgt, direkt oder mittel‐
sen. Sie versorgt sie mit Kleidung und Le‐
bar dazu bei, dass Menschen wieder Vertrau‐
bensmitteln, sie entlastet Frauen und Familien en fassen, ihre Zukunft in der eigenen Heimat in Mutter‐Kind‐Programmen, sie sorgt dafür, gestalten zu können, anstatt dieser aus Not dass Flüchtlingskinder die Schule besuchen und Verzweiflung den Rücken zu kehren. In können und dass kranke und traumatisierte der aktuellen Krise setzt die Hauptabteilung Menschen medizinisch und therapeutisch Weltkirche ihren Anteil an den Mitteln für die betreut werden. Die Christen, die im Sommer Flüchtlingshilfe gezielt für Projekte in beson‐
2014 vor dem Terror des IS aus Mossul und ders betroffenen Regionen ein. Ein wichtiger den christlichen Dörfern der Ninive‐Ebene im Partner ist dabei Caritas international, das Nordirak geflohen und nach langer Odyssee in Hilfswerk der deutschen Caritas mit Sitz in Jordanien Zuflucht gefunden haben, leiden Freiburg i. Br. Aber auch in eigenen Projekten besonders unter der materiellen Not, zu der mit langjährigen und bewährten Partnern in die Verzweiflung über ihre ausweglos erschei‐
aller Welt will die Diözese dazu beitragen, dass nende Situation kommt. Ohne die CJ könnten Menschen doch lieber in ihrer Heimat bleiben sie überhaupt nicht auf Hilfe hoffen. als fliehen zu müssen.1 DIE REISEGRUPPE REISEZIEL: AUSGEWÄHLTE PROJEKTE IN JORDANIEN Die Kooperation in der weltweiten Flücht‐
Am 2. September 2015 machte sich eine klei‐
lingshilfe spiegelt sich in der Zusammenset‐
ne Reisegruppe auf den Weg, um in Jordanien zung der Reisegruppe wider: Bischof Dr. Geb‐
ausgewählte Projekte für besonders notlei‐
hard Fürst, von dem die Einladung zu der Rei‐
dende Flüchtlingsfamilien aus Syrien und dem se ausging, wurde begleitet vom Präsidenten Irak zu besuchen. Die Diözese Rottenburg‐
des Deutschen Caritasverbandes, Prälat Pro‐
Stuttgart unterstützt hier in Zusammenarbeit fessor Dr. Peter Neher, vom Leiter der diöze‐
mit Caritas international die Caritas Jordanien sanen Hauptabteilung Weltkirche, Domkapitu‐
lar Msgr. Dr. Heinz Detlef Stäps, vom Bischöfli‐
1
Zu einer ausführlichen Darstellung der Projekte der Hauptabteilung Weltkirche zur Bekämpfung von Fluchtursachen s. Der Geteilte Mantel. Das Magazin zur Weltkirchlichen Arbeit der Diözese Rottenburg‐Stuttgart, Ausgabe 2015, S. 52‐62, zu beziehen über [email protected] oder als Download: http://www.drs.de/fileadmin/ drs/ documents/profil/drs_global/2015_der_geteilte_ mantel.pdf chen Pressesprecher Uwe Renz sowie vom Bischöflichen Beauftragten für Flüchtlingsfra‐
gen der Diözese Rottenburg‐Stuttgart, Dr. Thomas Broch. 4 5 Mittwoch, 2. September 2015
Flüchtlingsdramen in diesen Tagen. Dann die DIE ANREISE Küste im Nordosten Griechenlands, das Mar‐
Pünktlich zum Boarding für den Flug RJ 126 marameer, schattenhaft die Insel Rhodos und der Royal Jordanian Air nach Amman treffen dann die Weite der Ägäis; nur manchmal die Mitglieder der Reisegruppe aus Rotten‐
kommen weit unten kleine Privatflugzeuge in burg, Filderstadt und Freiburg beim Gate D 15 den Blick, kaum sichtbar zwischen den unge‐
des Terminals 2 des Frankfurter Flughafens ein zählten Schäfchenwolken. Alles Namen, die – die umständliche Ortsbeschreibung steht eigentlich für eine Urlaubsidylle stehen … Ein sinnbildlich für den langen Weg, der per Shutt‐
le‐Bus und zu Fuß durch das riesige Fraport beklemmendes Gefühl, als der Flieger nach Areal bis hierher zurückgelegt werden muss. Südosten einschwenkt, in Richtung der Küste Erstes Händeschütteln, Austausch aktueller Syriens, des Libanons: Aleppo, Homs, die Orte Informationen und Eindrücke, letzte Telefona‐
der Zerstörung und des Schreckens, sind nicht te ins Büro, letzte Überraschung, als der Cari‐
weit entfernt. Dann – aufgrund der einstündi‐
tas‐Präsident noch einmal den langen Weg gen Zeitverschiebung ist die zunehmende zum Check‐in‐Schalter der Fluggesellschaft Dämmerung rasch in Dunkelheit übergegan‐
zurücklegen muss, weil die Dame am Ein‐
gen – überfliegen wir das nächtlich erleuchte‐
stiegs‐Counter sein elektronisches Flugticket te Amman und landen pünktlich um 19.40 Uhr nicht akzeptieren will … Ortszeit auf dem Queen Alia International Air Port, 40 km von der Hauptstadt entfernt. Dann, pünktlich um 14.20 Uhr, hebt die A 319 Richtung Amman ab. Nach längerem Flug über wolkenverhangenem Himmel tauchen weit unten die Gebirgsmassive der Balkanhalbinsel auf. Städtenamen wie Budapest, Belgrad, Sofia passieren langsam das Display des Bordmoni‐
tors – die Balkanroute, Stichwort für unzählige 6 leider untergingen, welche der Zu‐ und Ab‐
DER EMPFANG fahrtsverkehr auf dem Parkplatz mit sich Auf die unvermeidlichen bürokratischen For‐
brachte. malitäten sind wir vorbereitet. Zuerst müssen exakt 61 Euro pro Person in 40 Jordanische Auf der Fahrt Richtung Amman bekommen wir Dinar umwechseln; so viel kostet das Visum, eher zufällige erste Informationen über die das wir am gegenüber liegenden Schalter er‐
aktuelle Situation in dem kleinen haschemiti‐
halten. schen Königreich, das zum größten Teil aus Wüste besteht und dessen Bevölkerung sowie Vor dem Flughafengebäude werden wir be‐
dessen größere Städte und Wirtschaftsstan‐
reits erwartet: Mrs. Beliza Espinoza ist da, die dorte sich auf den schmalen, östlich des Jor‐
derzeit in Jordanien tätige Fachkraft des Deut‐
dans gelegenen Streifen Land konzentrieren. schen Caritasverbandes, eine Peruanerin, die Seine fruchtbarsten Regionen verlor das Land, für die deutsche Caritas auch schon in Indien, als die damals zu Jordanien gehörige West‐
in Pakistan, in Bangladesh und in afrikanischen Bank von Israel besetzt wurde – ein empfindli‐
Ländern tätig war; ebenso Omar Abawi, der cher Verlust, den König Hussein II. 1994 durch Programmmanager der Caritas Jordanien (im einen Vertrag bestätigte, der seinem Land im Folgenden: CJ), der vor allem die Hilfen für die Gegenzug Vergünstigungen wie vor allem die christlichen Flüchtlinge aus dem Irak koordi‐
Unterstützung durch Israel in der Wasserver‐
niert, und andere freundliche Mitarbeiter der sorgung brachte. CJ, deren Namen in der zeitlichen Bedrängnis 7 Waren schon 1949 im Gefolge des Kriegs im zwischen zehn und 20 US‐Dollar pro Person Umfeld der Staatsgründung Israels und in den und Monat. Das liegt weit unterhalb der offi‐
Kriegen der 1960er Jahre zehntausende Paläs‐
ziell definierten absoluten Armutsgrenze – tinenser hierher geflohen, von denen viele bis und ist dennoch mehr, als viele der jordani‐
zum heutigen Tag unter ärmlichsten Verhält‐
schen Armutsbevölkerung zugehörige Men‐
nissen in Flüchtlingslagern leben, so stellt die schen ihrerseits zur Verfügung haben. Und aktuelle Krise in Syrien und dem Irak das Land selbst diese geringen Geldmittel werden durch erneut vor immense Herausforderungen. die grassierende Inflation unaufhörlich ent‐
wertet. Nur rund ein Fünftel der finanziellen Mit seinen offiziell rund 6,7 Millionen Einwoh‐
Belastungen Jordaniens wird von der interna‐
nern und bei einer ohne sehr angespannten tionalen Gemeinschaft getragen. Die Span‐
wirtschaftlichen Situation hat es seit dem nungen, die dadurch vorprogrammiert sind, Ausbruch der Bürgerkriege in Syrien und dem sind evident. Irak rund 1,5 Millionen Flüchtlinge aus den beiden nördlichen Nachbarländern aufge‐
Über dem Austausch in den Fahrzeugen haben nommen. Viele von diesen sind nicht regis‐
wir uns nach und nach der Hauptstadt Amman triert und leben außerhalb der offiziellen genähert, erkennbar durch die immer dichter Camps des UNHCR. Diese Menschen sind ab‐
werdende Neubaubesiedlung links und rechts solut verarmt und mittelos; die Geldmittel – der Einfallstraße. Zwischen 1.200 und 1.500 sofern sie überhaupt über solche verfügten, US‐Dollar kostet hier der Quadratmeter, so den christlichen Flüchtlingen aus dem Irak erfahren wir später. Wer sich das überhaupt wurde durch die Terrorbanden des IS gar alles leisten kann? Die einheimische Bevölkerung geraubt – haben sie aufgebraucht, selbst den sicher nicht. Aber diejenigen, die in den nahen persönlichen Schmuck, den sie noch trugen, Golfstaaten arbeiten, können das sehr wohl. Halskettchen, Ringe – alles haben sie inzwi‐
Das Bristol‐Hotel im noblen 5. Circle der schen veräußert, um sich irgendwie durchzu‐
Hauptstadt ist das Ziel unserer abendlichen schlagen. Die syrischen Flüchtlinge, sofern sie Fahrt. Hier verabreden wir uns mit unserem registriert sind, erhalten je nach Bedürftigkeit freundlichen Caritas‐Empfangsteam, dass wir am nächsten Morgen um 8 Uhr zum Caritas‐
büro im nahe gelegenen 4. Circle abgeholt werden. Kurze Regeneration auf den Zim‐
mern. Treffen zum Abendessen im Restaurant „Andalusia“, wo uns statt der arabischen Kü‐
che als mediterran bezeichnetes Fastfood erwartet … 8 Donnerstag, 3. September 2015 NOT A JOB, BUT A MISSION “It’s not a job, it’s a mission”, so beschreibt der Generaldirektor der CJ, Wael Suleiman, das Selbstverständnis, das die Mitarbeiterin‐
nen und Mitarbeiter der jordanischen Caritas motiviert und leitet. Er empfängt uns im Cari‐
tasbüro im 4. Circle der Hauptstadt, das wir gegen 8.15 Uhr nach kurzer Fahrt vom Hotel seit 1968 ist sie – Mitglied im weltweiten aus erreichen. Omar Abawi und Beliza Espino‐
Netzwerk der Caritas Internationalis – bei der za sind wieder dabei, ebenso Laith Bsharat, jordanischen Regierung als Hilfsorganisation der Koordinator der Nothilfeprojekte, Riva registriert. Für die jordanische Königsfamilie Nasrawine, die Verantwortliche für Monito‐
sei die Caritas inzwischen die Nr. 1 unter den ring und Evaluierung, und Dana Shahin, die Hilfsorganisationen im Land, betont Wael Su‐
Leiter der Öffentlichkeitsarbeit. leiman. In sieben der zwölf syrischen Provin‐
zen arbeitet sie seither mit großem Erfolg für 1967 wurde die CJ gegründet, so erfahren wir; die most vulnerable persons im Land, die Menschen mit dem größten Bedarf an Hilfe und Unterstützung. Dazu zählen sowohl die Flüchtlinge aus den Nachbarländern als auch die Armutsbevölkerung unter den Einheimi‐
schen, die einen großen Anteil ausmacht. Ihre umfangreichen Aktivitäten stellt die Caritas Jordanien auf ihrer Homepage unter www.caritasjordan.org.jo vor. Die durch die Bürgerkriege in Syrien und dem Irak ausgelöste Zuwanderung von Flüchtlingen ist aktuell die größte Herausforderung. Rund 465.000 Flüchtlinge hat die CJ allein seit An‐
fang 2014 bis Juni 2015 registriert, um sie mit dem Nötigsten versorgen zu können und sie in ihre Hilfsprogramme aufzunehmen. Neun Zehntel von ihnen sind Muslime. „Die Christen 9 lieben uns mehr als alle anderen Organisatio‐
Camps der UN‐Flüchtlingshilfe untergekom‐
nen“, sagen sie. Waren vor der Krise – diesen men sind, sondern irgendwo in Garagen, not‐
Terminus hören wir immer wieder, ein Wort, dürftigen Verschlägen, Zelten, Kellerlöchern, das das Unsägliche mehr verschleiert als be‐
Einfachstwohnungen leben. Fast die Hälfte der nennt – etwa 100 Mitarbeitende hauptamtlich Flüchtlinge betrifft dies. Urban refugees bei der Caritas beschäftigt, so sind es inzwi‐
nennt man sie, das Wort klingt verharmlo‐
schen fast 400, dazu kommen etwa 2.000 send. Seit vier Jahren also unterstützt CJ be‐
Freiwillige. Es sind Christen von allen hier ver‐
dürftige Syrer mit Lebensmitteln, Hygienearti‐
tretenen Kirchen und Konfessionen, aber auch keln, Haushaltsgegenständen, Mietbeihilfen Muslime. Die fest angestellten Mitarbeiter und Bargeldleistungen. Viele der gestrandeten werden aus den Freiwilligen rekrutiert, die Menschen sind krank und bekommen ärztliche schön längere Zeit dabei sind und Erfahrung Behandlung, viele sind teilweise hoch trauma‐
haben. So kann man für den Bedarf, den die tisiert und können psychotherapeutische und einzelnen Projekte mit sich bringen, gezielt psychosoziale Hilfen in Anspruch nehmen. Es das Fachpersonal aussuchen und aufbauen. gibt vieles, dessen die Menschen bedürfen. Aber was sie am meisten nötig hätten, wäre Seit 2011 erfasst die CJ systematisch Flüchtlin‐
ein stabiler Friede. Dieser ist jedoch nirgends ge aus Syrien. Sie kümmert sich dabei vor al‐
in Sicht. lem die Menschen, die nicht in den offiziellen 10 Seit August 2014 sind etwa 500.000 Vertrie‐
Insgesamt gibt es seit rund 400 Jahren, seit bene aus dem Irak dazu gekommen, erst etwa der Etablierung des Osmanischen Reichs, zehn Prozent von ihnen sind bislang regis‐
Christenverfolgungen in der Region. Diese triert. Es sind fast ausschließlich Christen, die betrafen die unterschiedlichen Kirchen und im Juni 2014 vor dem Terror des IS zunächst Denominationen allerdings in unterschiedli‐
aus der nordirakischen Großstadt Mossul in cher Intensität. Während bestimmte christli‐
die christlichen Dörfer und Städte der Ninive‐
che Gruppierungen wegen ihrer größeren Ebene geflohen sind, dann Anfang August – Staatsnähe oft eher unterstützt wurden, hat‐
nach dem unerwarteten Rückzug der kurdi‐
ten andere unter Feindseligkeiten zu leiden. schen Peschmerga‐Truppen – in die kurdi‐
Dies gilt bis zum heutigen Tag, und dies be‐
schen Provinzen Erbil und Dohuk und von dort gründet – vielleicht mehr als die unterschiedli‐
schließlich hierher nach Jordanien. Jeden Tag chen theologisch‐dogmatischen Traditionen – verlässt ein Flugzeug mit an die 1.000 Flücht‐
auch die bis heute teilweise massiv spürbaren lingen an Bord die Kurdenhauptstadt Erbil im gegenseitigen Animositäten. Nordirak Richtung Amman – das konnte man Jordanien ist ein kleines Land mit geringen schon im Herbst 2014 in Erbil hören, hier wird Ressourcen. Zu den größten Problemen zählt es von unseren Gastgebern bestätigt. Die CJ ist der Wassermangel. Die Grenze zu Syrien ist die einzige Institution, die sich der vertriebe‐
offiziell offen, de facto aber wird sie immer nen Christen aus dem Irak annimmt und die‐
wieder geschlossen – sicher wegen der Bedro‐
sen hilft. Wir werden dies später am Tag noch hung durch den IS, aber wohl auch, weil das selbst erleben. Land die wirtschaftlichen Probleme der Zu‐
Nicht zum ersten Mal sind Jordanien und die wanderung aus den Nachbarländern kaum CJ mit der Not von Flüchtlingen konfrontiert. bewältigen kann. Das widerspricht dem tradi‐
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und tionellen Selbstverständnis Jordaniens: Es hat dem Unabhängigkeitskrieg Israels 1949 nimmt sich immer als ein offenes, gastfreundliches, es in großer Zahl Flüchtlinge aus der Levanthe, plurales Land verstanden. Die gewaltsamen den östlichen Anrainerregionen des Mittel‐
Auseinandersetzungen in den Nachbarländern meers, auf. In der 1960‐er Jahren kamen die versprengten Opfer des Sechstage‐ und des Yom Kippur‐Kriegs, immer wieder gab es im Irak Ausschreitungen gegen Christen und Ver‐
treibungswellen – schon unter Saddam Hussein und dann, nach dessen Sturz und dem Abzug der amerikanischen Truppen, in größe‐
rem Umfang wieder 2003. 11 AUF DEM WEG NACH MADABA Aus Amman hinaus führt der Weg nach Ma‐
daba, einer alten und kulturgeschichtlich be‐
deutsamen Stadt, in der die Caritas Jordanien ein Flüchtlingszentrum und mehrere Camps und Hilfsprojekte für Flüchtlinge unterhält. Lange führt die Ausfallstraße nach Süden noch setzen dieser Offenheit Grenzen, sie stellen durch weitläufige Neubaugebiete mit zahllo‐
eine große Belastung für das Königreich dar. sen mehrstöckigen Rohbauten, die aus dem Und es ist ja nicht das erste Mal – immer wie‐
staubigen, felsigen Boden emporwachsen. der in den vergangenen Jahrzehnten musste Dann wird die Besiedlung dünner, immer häu‐
Jordanien die Konflikte der Nachbarstaaten figer tauchen Zelte und Pferche der halbno‐
auffangen: das Elend der Palästinenser, die madischen Hirten mit ihrem Vieh auf, aber Bürgerkriege im Libanon, die Kriege Israels, auch inoffizielle Lagerstätten von Flüchtlingen, jetzt die Krisen in Syrien und dem Irak … die sich außerhalb der offiziellen Flüchtlingsla‐
ger der Vereinten Nationen niedergelassen Den revolutionären Entwicklungen, die sich haben. Viele finden auch nicht den Weg dort‐
unter dem Namen „arabischer Frühling“ voll‐
hin, viele sind ohne Dokumente. Viele halten ziehen, stehen unsere Gastgeber von der Cari‐
es in den riesigen Camps aber auch nicht aus. tas kritisch gegenüber: Immer stehe am Be‐
Die Regierung duldet dies, so erläutert Beliza ginn das Ringen um mehr Demokratie, dann Espinoza. Allerdings leben die Menschen dann würden die Verfassungen geändert, und das auch außerhalb der Versorgungsstrukturen, Ergebnis sei ein Mehr an Nationalismus und sie sind nicht registriert und haben daher auch eine zunehmende Islamisierung. keinen Zugang zu Lebensmitteln, zur Kritisch fällt aber auch der Blick auf die ein‐
heimischen Christen in Jordanien aus. Drei Prozent der Gesamtbevölkerung machen sie lediglich aus, erläutern unsere Gastgeber. Diese aber verfügen über 45 Prozent der Wirt‐
schaftskraft. Spenden erwarte man von ihnen vergebens. „Es gibt keine Kultur der Unter‐
stützung.“ 12 Gesundheitsversorgung, zur Schule für ihre drängen sich hunderte Menschen – Männer Kinder. Und sie können leicht abgeschoben und Frauen, Kinder und Alte. Sie warten da‐
werden. Das sei „very tricky“, meint Beliza rauf, an einem der vier oder fünf Schreibtische Espinoza. von den Caritas‐Mitarbeitern registriert zu werden; danach gefragt zu werden, was sie für Vor allem diesen Menschen gilt die Sorge der sich und ihre Familien an Lebensmitteln und Caritas, wie wir kurz darauf selbst in Augen‐
an Kleidern benötigen. Ob sie ein Dach über schein nehmen können. Zusammen mit ande‐
dem Kopf haben. Ob sie krank sind und von ren NGOs organisiert CJ vor allem Schulprojek‐
den Ärzten im Haus behandelt werden müs‐
te für die Kinder in den informal camps. Das sen. Ein älterer Mann kommt auf uns zu und sei sehr wichtig, auch wenn diese Schulbildung redet arabisch auf uns ein – mit ernstem Ge‐
nicht offiziell anerkannt sei. sicht, heftig gestikulierend, ein wenig frus‐
triert, dass wir ihn nicht verstehen. Er wolle uns willkommen heißen und uns dafür dan‐
ken, dass wir die Menschen hier besuchen, erklärt ein Mann neben ihm in Englisch. Wür‐
de in all der Not – das erleben wir bei diesen Begegnungen immer wieder. Hier bekommen die Menschen, über die wir bereits einiges erfahren haben, ein Gesicht, die urban refugees, die außerhalb der offiziel‐
len Camps irgendwie untergekommen sind und ihr Leben fristen, völlig mittellos, ohne Rückkehrperspektive, ohne Unterstützung. Von den rund 1,5 Millionen syrischen Flücht‐
lingen waren viele zuhause ermögend, inzwi‐
schen sind alle finanziellen Ressourchen auf‐
gebraucht. Die meisten von diesen Menschen sind zu‐
tiefst verunsichert und gestresst, viele sind traumatisiert. Ihr Hauptproblem, berichtet IM CARITAS‐FLÜCHTLINGSZENTRUM IN MADABA Direktor Wael Suleiman, ist nicht einmal so In dem kleinen Hof und im Eingangsbereich im sehr die wirtschaftliche Not – dies auch. Aber Erdgeschoss des Caritas‐Zentrums in Madaba noch mehr leiden sie an psychischen Proble‐
13 men und an Traumata. Die Caritas bietet Der bevorstehende Winter lässt befürchten, ihnen indivuduelle Therapien an. Und für viele dass viele der urban refugees – eigentlich sind geht es einfach darum, bei der Bewältigung sie fast obdachlos – den Weg nach Europa ihrer allgemeinen Lebensprobleme unterstützt suchen. „Sie gehen dorthin, wohin auch im‐
zu werden. mer, wo sie hoffen, für sich und ihre Kinder Überlebenschancen zu haben“, sagt Wael Suleiman. Wenn sie in Jordanien Unterstüt‐
Hilfen für die urban refugees: aufsuchende zung für die lebensnotwendigen Bedarfe fän‐
Sozialarbeit den, würden sie auch hier bleiben, ist er über‐
Für diese Menschen in ihren extrem belasten‐
zeugt. Schwierig sei es aber immer wieder den Lebenssituationen haben die Mitarbei‐
auch, die erforderliche soziale Balance zwi‐
tenden der Caritas neue Konzepte entwickelt, schen der Unterstützung der Flüchtlinge ei‐
um ihnen ihrem Bedarf entsprechend helfen nerseits und der einheimischen Armutsbevöl‐
zu können. Dazu gehört auch, dass sie sie in kerung andererseits zu finden. ihren Behausungen aufsucht und ihre Lebens‐
bedingungen dort kennen lernt. Diese „aufsu‐
Mutter‐Kind‐Programme chende“ soziale Arbeit erreicht auch Men‐
schen, die von sich aus den Weg ins Caritas‐
Im Caritas‐Zentrum in Madaba halten sich Zentrum nicht schaffen würden – wegen man‐
Familien aus dem zerstörten syrischen Homs gelnder Information, aus Scheu, aus trauma‐
für ein Gespräch bereit. Die Frauen nehmen bedingter Resignation und Lethargie. Die Cari‐
an den Mutter‐Kind‐Programmen teil, die für tas hat dafür Arbeitsgruppen gebildet und die CJ zu den zentralen Aufgaben gehört und kooperiert mit anderen NGOs. Damit die Le‐
die von der Diözese Rottenburg‐Stuttgart ge‐
bensmittel für die Flüchtlinge erschwinglicher meinsam mit Caritas internationel mit nam‐
sind, verteilt sie Gutscheine; als einzige Hilfs‐
haften Mitteln unterstützt werden. Zuhause organisation hat sie dafür Rahmenverträge mit sei alles zerstört, sagt eine von ihnen. Kontakt Großhändlern geschlossen. dorthin gebe es nicht, umso mehr große Sor‐
14 gen, wie es den Familienangehörigen gehe, die immer noch dort sind. Ein Leben in der Heimat sei nicht mehr möglich gewesen bei der tagtäglichen Bedrohung durch Bomben und Granaten. Der Hauptbeweggrund für die Flucht nach Jordanien sei allerdings die Hoff‐
nung, dass die Kinder hier zu Schule gehen können. Schulbildung sei das Wichtigste. Schulbildung für Kinder – das ist auch für die Caritas die größte Herausforderung. Rund 200.000 Flüchtlingskinder können nicht zur Schule gehen. Es fehlt an Plätzen und an Geld. Wo es möglich ist, übernimmt die Caritas die Schulgebühr oder sorgt – das werden wir in den Camps für die irakischen Flüchtlinge er‐
fahren – dafür, dass sie in benachbarten kirch‐
lichen Schulen aufgenommen werden. Auch Kinder sei das keine Umgebung gewesen – die die Schulbildung der Flüchtlingskinder gehört vielen Menschen, der Lärm, die hygienischen zu den Schwerpunktprojekten, bei denen die Zustände, immer seien sie krank gewesen. Diözese im Rahmen ihrer Initiativen zur Be‐
Deshalb habe sie das Camp verlassen und lebe kämpfung von Fluchtursachen die Caritas kon‐
jetzt außerhalb. tinuierlich unterstützt. Jetzt nimmt sie am Mütter‐Training der Caritas Eine der Frauen aus Homs erzählt, sie sei seit teil. Die Kinder hat sie für diese Zeit im Kin‐
zwei Jahren in Jordanien und habe mit ihrer dergarten der Caritas angemeldet. In den Love Familie zunächst in einem offiziellen Flücht‐
Lessons können die Kinder spielen und bas‐
lingslager des UNHCR gelebt. Aber für ihre teln, lernen Lieder und Gedichte. Das selbst‐
vergessene Spielen tut ihren kleinen Seelen gut. Und auch für die Mütter bedeutet es seelische Entlastung. Für einige Stunden werden sie vom alltäglichen Stress befreit. Und die Arbeit in den Gesprächsgruppen, mit Schicksalsge‐
nossinen zusammen zu sein, das erleichtert. „Wir tragen so viel Leid in uns, Stress, schreck‐
15 liche Erlebnisse“, sagt die Frau. Da bedeute es Die Begegnung mit dem Greis gehört zu den eine große Hilfe, sich in einem geschützten erschütternden Erlebnissen der Reise – und Raum mit anderen darüber auszutauschen. steht als Beispiel für die große Not der christli‐
chen Flüchtlinge aus dem Irak. Eines der Lebensmut finden die Frauen hier wieder. Sie Camps, das die CJ für sie unterhält, besuchen lernen neu, mit ihren Kindern umzugehen, mit in der Gemeinde Melikte in Madaba. Es be‐
sich selbst, mit ihren Ehemännern. „Seit ich im herbergt kanpp 100 Menschen. Dicht bei ei‐
Mutter‐Kind‐Training bin, gehe ich auch wie‐
nander stehen die Wohncontainer, jeder 18 der anders mit meinem Mann um“, sagt die m2 groß – Platz für eine Familie mit durch‐
junge Frau. schnittlich fünf oder sechs Personen. Eine Chance zur Rückkehr? Inschallah. Die Ehemänner nehmen an dem Gespräch teil. Einer von ihnen, seit dreieinhalb Jahren in Jordanien, sagt, er sei so dankbar, dass seine Kinder hier zur Schule gehen können. Der an‐
dere berichtet, die Caritas habe ihm eine Ope‐
ration bezahlt, für die er selbst kein Geld ge‐
habt hätte. Er möchte die Hilfe, die er erfah‐
Die Not der christlichen Flüchtlinge ren hat, so gerne weitergeben … Wie gestaltet sich für sie das tägliche Leben? Manchmal Die hier untergekommen sind, haben noch bekommen sie Arbeit, manchmal nicht. Und Glück in allem Unglück. Sie gehören zu der wenn, dann zu minimalen Löhnen. Es ist ille‐
knappen halben Millionen irakischer Christen gal. Aber dieses Risiko nehmen sie auf sich. – die meisten sind Chaldäer –, die im Sommer vor den Mörderbanden des IS geflohen sind, Ob sie mit ihrer Familie wieder nach Hause zunächst aus der Großstadt Mossul in die als zurückkehren wolle, fragen wir eine der jun‐
sicher geltenden christlichen Dörfer der Nini‐
gen Frauen aus Homs. „We wait“, sagt sie nur. ve‐Ebene, dann, nach dem vorläufigen Abzug Ob sie denn eine Chance sehe? „Inschallah.“ der kurdischen Peschmerga‐Truppen, von dort in die Regionen Erbil und Dohuk in der teilau‐
tonomen irakischen Provinz Kurdistan. Und FLÜCHTLINGS‐CAMP DER GEMEINDE MELKITE von dort sind sie weiter gezogen nach Jorda‐
„Helfen Sie uns! Unsere Heimat ist zerstört. nien – in der Hoffnung auf eine bessere Zu‐
Dort wartet nur der Tod auf uns.“ Der alte kunft. Jeden Tag, erfahren wir, hebt in der Mann weint und fleht mit gefalteten Händen. Kurdenhauptstadt Erbil ein Flugzeug mit etwa 16 1.000 Menschen Richtung Amman ab. Erst konnten mit Hilfe der italienischen Bischofs‐
etwa 50.000 von ihnen hat die Caritas zum konferenz etwa 700 Kinder in 25 christlichen Zeitpunkt unseres Besuchs registriert. Sie ist Schulen untergebracht werden. Das hilft den die einzige Organisation, die sich um die Familien, die Situation hier besser zu ertragen, Flüchtlinge aus dem Irak kümmert. Vom jor‐
sagt man uns. danischen Staat erfahren sie keine Unterstüt‐
Die Menschen schaffen sich auch hier eine Art zung – weil die meisten von ihnen Christen Privatheit und Geborgenheit. Das zeigen die sind? Die Frage bleibt unbeantwortet stehen. vorgartenähnlichen Umfriedungen, die sie vor Die Caritas hat hier mit Hilfe eines Kooperati‐
ihren Containern angelegt haben. Sie vermit‐
onsprojekts der Diözese Rottenburg‐Stuttgart teln aber auch den Eindruck des dauerhaften mit Caritas international ein umfangreiches Bleiben‐Müssens. Eine Rückkehr‐Option? Wir Lager mit Lebensmitteln, Hygieneartikeln und erleben die Hoffnung bzw. das Verlangen nach anderen Waren des täglichen Bedarfs einge‐
Rückkehr als sehr unterschiedlich. In dieser richtet, um die Bewohner des Camps zu ver‐
Frage vertreten die Bischöfe der verschiede‐
sorgen. Nach Möglichkeit werden auch Jobs nen orientalischen Kirchen auch durchaus vermittelt. Und vor allem: die Kinder – alle konträre Positionen. Die Christen in diesem Kinder – sollen die Möglichkeit haben, eine Camp jedenfalls haben alle Hoffnung aufgege‐
Schule zu bekommen. Allein hier in Madaba ben. Wir können nicht zurück. „Dort, wo wir 17 der, bei uns irgendetwas zu erreichen, was ihnen Hoffnung macht. Sie sind enttäuscht, und das richtet sich auch gegen uns, das spü‐
ren wir deutlich. Unser Verständnis ändert ihre Lage nicht. Dieses Gefühl der Hilflosigkeit nehmen wir mit. In dem Camp ist auch P. Wissam S. Mansour zu uns gestoßen. Seit 2012 leitet er als Abt den Lateinischen Konvent von Madaba. Zu‐
gleich ist er Seelsorger in zwei Kirchengemein‐
den, darunter der Church oft he Holy Spirit in dem Stadtteil Hanina, den wir anschließend besuchen werden. Verantwortlich ist er auch für eine Grundschule und eine weiterführende Schule. P. Wissam, der neben seiner arabi‐
schen Muttersprache auch englisch, franzö‐
herkommen, wartet nur der Tod auf uns“, sagt sisch und italienisch spricht, engagiert sich der alte Mann. Die Frauen und Männer, die sehr intensiv für die irakischen Flüchtlinge. mit ihren Kindern der Wand entlang sitzen und der Szene beiwohnen, bekräftigen dies durch ihre Gesten. Viele weinen ebenfalls. Sie sind hier in Sicherheit, und sie sind mit dem Nötigsten versorgt, gewiss. Aber ihre größte Sehnsucht lässt sich nicht stillen: ein normales Leben, sicher und frei, ein Leben unter menschenwürdigen Bedingungen. Auf eine Rückkehr dorthin, wo es das alles einmal gab, hofft hier niemand mehr. Ihre Hoffnung richtet sich auf Europa, auf Deutschland, wo wir herkommen, um sie zu besuchen. Und wir werden auch wieder dahin zurückkehren, während sie dort bleiben müssen. Sie können nicht verstehen, dass dieser Weg für sie ver‐
schlossen ist. Bis zum Ausgang des Camps begleiten sie uns und versuchen immer wie‐
18 19 ZEUGEN EINER REICHEN CHRISTLICHEN GESCHICHTE ren Orient, in der auch das Christentum von KULTUR: DIE ST.‐GEORGS‐KIRCHE UND IHRE seinen frühesten Anfängen an unauslöschlich UND verwurzelt ist – ein Faktum, dass das Schicksal MOSAIKEN der von Vernichtung bedrohten Kirchen dieses Gemeinsam mit ihm besuchen wir auch eines Landstrichs als besonders tragisch erscheinen der vielen Dokumente einer uralten und lässt. reichhaltigen Geschichte und Kultur dieser Region. Die Stadt Madaba selbst ist ein sol‐
Die St.‐Georgs‐Kirche, die wir als einziges Kul‐
ches Dokument. Ihre Geschichte reicht weit in turdokument besuchen können, stammt in die Zeit der Landnahme der Iraeliten im 2. ihrer heutigen Form vom Ende des 19. Jahr‐
Jahrtausend vor Christus zurück. Erstmals er‐
hunderts und wurde über den Grundmauern wähnt wird sie im Alten Testament (Num eines byzantinischen Vorgängerbaus errichtet. 21,30) als moabitische Stadt, die später unter Aber ihr Inneres birgt einen Schatz: ein Land‐
israelitische Herrschaft fiel (Jos 13,16). Allein kartenmosaik aus der Madabaschule, das wie die wechselvolle, von vielen Eroberungen und auch andere Mosaiken in den heute bekann‐
Wirren und Blütezeiten geprägte Geschichte ten 15 einstigen byzantinischen Kirchen der dieser Stadt über alttestamentliche, römisch‐
Stadt von der Blütezeit und dem Reichtum der byzantinische, islamische Zeitläufte hinweg zu städtischen Christengemeinde zwischen dem beschreiben wäre wohl pars pro toto ein hoch 5. Und 7. Jahrhundert n. Chr. zeugt. interessantes Buch zur Geschichte des Vorde‐
Das Mosaikenkunstwerk ist heute durch Brän‐
de, Erdbestattungen und Baumaßnahmen beschädigt und lückenhaft; doch ist es ein Kleinod von außerordentlicher Faszinations‐
kraft. Über seine Bedeutung sind sich die For‐
scher uneins: Stellt es eine Verortung der Heilsgeschichte in der Geographie dar – also eine Art „Bibelatlas“ – oder aber, so eine an‐
dere Deutung, soll es den Nebo‐Pilgern Orien‐
tierung geben und zeigen, wie Mose das Ver‐
heißene Land vom Berg Nebo aus gesehen hat? In ihrer Mitte jedenfalls steht die Heilige Stadt Jerusalen. Und das Schiff im oberen Feld des Mosaiks verbindet dieses uralte Symbol der Kirche mit der eschatologischen Vision des Neuen Jerusalem. 20 Das heutige Hauptfragment des Mosaikbodens zeigt die Landschaft zwischen dem Nil‐Delta (Sü‐
den) und dem palästinensischen Sichem (Norden). Von Westen nach Osten gliedert die Palästina‐
Karte sich in fünf schematisierte Zonen von nahezu gleicher Breite: auf das Mittelmeer folgt die Küstenebene, dann der mittelpalästinensische Gebirgszug, der Jordan‐Graben mit dem Toten Meer und schließlich die Berg‐ und Plateaulandschaft des Ostjordanlandes, in dem Kerak (= Charak‐
moba) besonders hervorgehoben ist. Als Mittelpunkt dieser palästinensisch‐jordanischen Welt erweist sich die Stadt Jerusalem – nach altchristlicher Auffassung ist sie ja der heilsgeschichtliche „Erdennabel“. Seit langem schon weiß man, daß ein spätantikes Ortslexikon, das Onomastikon des Bischof EUSE‐
BIUS aus Cäsarea, dem Mosaik von Madaba als Grundlage diente, doch sind in den topographi‐
schen Ansichten auch spätere Bauleistungen des Heiligen Landes berücksichtigt, namentlich die sogenannte Nea von Jerusalem, die erst 542 entstand. Damit ist für die Mosaikkarte ein Datum post quem gegeben: Sie wird in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts ausgeführt worden sein, allerdings entspricht die geographische Infrastruktur im wesentlichen der eusebianischen Vorgabe des frühen 4. Jh. Von einer dienstfertigen Umsetzung des Onomastikon kann man indessen schon deshalb nicht sprechen, weil die Kartographie durchweg mit heiteren Tier‐ und Pflanzendarstellungen aufgelo‐
ckert ist. Übrigens umfasst dieser anekdotische Realismus ursprünglich auch Menschendarstellun‐
gen (Schiffsbesatzungen). Aus: Frank Reiner Scheck, Jordanien. Völker und Kulturen zwischen Jordan und Rotem Meer, Ostfildern (DuMont Reise‐
verlag), 6., aktualis. Aufl. 2011, S. 257 (vgl. 251‐261) 21 das CJ für die Flüchtlinge bereit hält. Auch hier die beengte Situation, in der die Menschen leben. Auch hier die verzweifelte Frage: Wann können wir nach Europa ausreisen? So zum Beispiel der etwa 40‐jährige Arzt, der hier mit seiner Frau und seinen vier Kindern lebt. In Mossul hat er in einer Klinik gearbeitet. Hier leidet er darunter, dass er keine Möglichkeit hat, in seinem Beruf zu arbeiten, und untätig herumsitzen muss. Aber wenigstens können seine vier Kinder, drei Jungen und ein Mädchen, zur Schule gehen. Das ist den Eltern wichtig, dass die Kinder, nachdem sie durch die Flucht bereits ein Jahr verloren haben, jetzt nicht noch länger die Schule versäumen müssen, sondern möglichst rasch den KONTROVERSE BEGEGNUNGEN IM FLÜCHTLINGSCAMP Anschluss wieder finden. Auch er sieht keine DER GEMEINDE HANINA Zum Mittagessen sind wir in das Caritas‐Camp für irakische Flüchtlinge eingeladen. Hier ist P. Wissam Gemeindepfarrer, und so besuchen wir zuerst auch seine Pfarrkirche zum Heiligen Geist und beten gemeinsam. Das Lager ist mit seinen 43 Containern und Platz für weit über 100 Menschen das größte, Möglichkeit, nach Hause zurück zu kehren, nach alldem, was die Schergen des IS und auch die muslimischen Nachbarn den Christen dort angetan haben. „Die Muslime akzeptieren uns nicht. Niemand beschützt uns“, sagt er bitter. Ein junger Priester, P. Manhal J. Habash, der lange in Italien gelebt und jetzt P. Wissam in der Seelsorge in Madaba unterstützt, ereifert 22 sich besonders in seinen Anklagen gegenüber 72‐jährige Würdenträger lebt im Exil. „Ich bin den Muslimen und in seinem völligen der Bischof der Muslime“, so stellt er sich vor. Unverständnis, warum uns, den Gästen aus Was das bedeute? „In meiner Diözese gibt es Deutschland und allen voran dem Bischöf aus keine Christen mehr“, sagt er. Beim der gemeinsamen süddeutschen Diözese Rottenburg‐
Mittagessen, das die Stuttgart, der christlich‐islamische Dialog so gastfreundlichen viel bedeutet. Bewohner des Camps für uns zubereitet Bewohnerinnen und haben, bricht es nach einer Weile voller Bitterkeit aus dem tief verwundeten Mann Bischof der Muslime heraus – Caritas‐Direktor Wael Suleiman, der Während wir noch im Camp herumgeführt für uns übersetzt, möchte es gar nicht werden, mit den Bewohnern sprechen und wiedergeben, tut es aber dann auf Dängen uns auch darüber freuen, zu welch vitaler von Bischof Fürst doch: „Wir wollen Euer Geld Lebensfreude auch in einer solch bedrängten nicht, wir wollen eure Kleider und Eure Situation Kinder in der Lage sind, stößt Nahrungsmittel nicht. Wir wollen Eure Hilfe Erzbischof Yohanna Petros Mouche zu uns, nicht. Was wir wollen, ist, dass Ihr diesen das Oberhaupt der Syrisch‐Katholischen Menschen helft, ein menschenwürdiges Leben Erzdiözese Mossul, Kirkuk und Kurdistan. Der zu führen. Soll das hier ein menschenwürdiges 23 Leben sein? Helft uns, indem Ihr bei Euch in zu machen, wischt dieser das mit einer ver‐
Deutschland für Resettlement‐Programme für ächtlichen Handbewegung weg. die christlichen Flüchtlinge sorgt.“ Er frage sich, meint später Domkapitular Heinz Die Menschen aus dem Camp, die mit am Detlef Stäps, was es für einen Sinn mache, in Tisch sitzen oder im Stehen die Diskussion Hilfen zu investieren, die die Empfängern gar mitverfolgen, hören gespannt zu, Zustimmung nicht wollen. Aber gibt es eine Alternative? in ihren Gesichtern und Gesten. Für die Argu‐
mentation des Bischofs, des Caritas‐
Präsidenten, des Rottenburger Weltkirchenre‐
„Helft mir, meine verlorene Zukunft wieder‐
ferenten, sie seien keine Politiker und hätten zufinden.“ bei allem Verständnis für dieses Anliegen kei‐
Die Begegnung bekommt noch einmal eine ne Möglichkeit, es in Taten umzusetzen, ha‐
neue Dramatik, als – ermuntert von P. Manhal ben sie kein Ohr. Als Bischof Gebhard seinem J. Habash – ein junger Mann ums Wort bittet. syrisch‐katholischen Mitbruder Yohanna Pet‐
Auf Englisch trägt er eine kurze Rede vor. Weil ros entgegenhält, der chaldäische Erzbischof er so aufgeregt ist, hat er sie aufgeschrieben. von Erbil, Bashar Warda, bitte dringend da‐
Zuerst bedankt er sich höflich bei dem deut‐
rum, ihn darin zu unterstützen, den Menschen schen Bischof und seinen Begleitern, dass sie wieder Mut zu einer Zukunft im eigenen Land sich ein Bild machen wollen von der Situation, in der die Flüchtlinge hier leben. Die Frauen und Männer aus dem Camp kommen noch näher und hören angespannt zu. Wie sie schauen und reagieren, zeigt, dass der junge Mann auch von ihnen spricht, wenn er seine eigene Lage schildert. „Letztes Jahr“, sagt er, „war ich noch Student an der Hochschule für Pharmazie in Mossul. Jetzt bin ich staatenlos. Haben Sie den Unter‐
schied wahrgenommen? Ich habe ganz einfach meine Zukunft verloren. Ich bin jetzt im 22. Lebensjahr, ich habe weder eine Studienmög‐
lichkeit noch Arbeit. Keine Aussicht und keine Zukunft. Können Sie fühlen, wie ich mich jetzt fühle? Wissen Sie, in welcher psychologischen Verfassung ich jetzt lebe?“ 24 Bisher hat er zurückhaltend und leise gespro‐
wird, alleine gelassen? Warum ist das christli‐
chen. Aber jetzt bricht es aus ihm heraus: „Ich che Europa, warum ist Deutschland, warum will keine ermutigende Antwort. Erzählen Sie sind die Kirchen hier nicht in der Lage, ein paar mir nicht, was Sie für große Leute sind, weil sie Tausend versprengte Christen aus ihrer aus‐
solche belastenden Situationen aushalten sichtlosen Situation in den Flüchtlingslagern müssen. Ich habe keine Lust, solche Worte zu herauszuholen, wo es doch allein in Deutsch‐
hören. Was ich wirklich will, ist, dass Sie mir land in kürzester Zeit möglich ist, Hunderttau‐
helfen, wieder nach meiner verlorenen Zu‐
sende muslimische Flüchtlinge aufzunehmen? kunft zu suchen. Ehrlich – ich möchte weit „Seien Sie nicht so schwach, verharmlosen Sie weg von den arabischen Ländern arbeiten und unsere Probleme nicht, sondern lösen Sie sie“, meine Zukunft wieder aufbauen. Wir haben in sagt der junge Mann. Die Leute, die zuhören, den arabischen Ländern gelitten unter Mord spenden Beifall, viele weinen. Als er uns sein und Entführung, unter Rassismus und unter Manuskript mitgibt, fragt er: „Lassen Sie auch dem Mangel an jeglicher Achtung. Wir können wieder von sich hören?“ nicht mehr. In allererster Linie möchten wir auswandern. Und zwar so bald wie möglich. Dass wir gerade jetzt dieses Camp verlassen Wir haben keine Kraft mehr.“ müssen, verstärkt noch den bedrückenden Beigeschmack dieses Besuchs. Das Letzte, was Bitter ist das, was wir hier hören. Und das ich, der Autor dieser Zeilen, aus dem Auto‐
begegnet uns immer wieder im Gespräch mit fenster heraus wahrnehme, ist das traurige den vertriebenen Christen: Warum werden Gesicht des Arztes aus Mossul. Ich winke ihm sie, deren Existenz im Nahen Osten nach einer noch zu, er winkt verhalten zurück. zweitausendjährigen Geschichte vernichtet 25 sein dürfte. Hauptsächlich Leute, die in den Golfstaaten arbeiten, können sich das leisten, so erfahren wir. Die Amman School ist eines von zahlreichen Kooperationsprojekten, die von der Diözese Rottenburg‐Stuttgart und Caritas international gemeinsam gefördert werden – ein Projekt mit dem Ziel, Fluchtursachen entgegen zu wirken. Aber nur in diesem Projekt wird diese Kooperation gleich im Eingangsbereich sin‐
nenfällig vor Augen geführt. Wie Mütter und ihre Kinder das vielgliedrige Mutter‐Kind‐Projekt der CJ erleben, haben wir bereits im Caritas‐Zentrum in Madaba erfah‐
ren. Hier sind wir sozusagen „vor Ort“, aller‐
dings sind zu dieser Zeit die Frauen nicht mehr hier, wohl aber zahlreiche Kinder. Rund 240 Frauen, so erläutert uns die Leiterin der Amman School, werden im Rahmen dieses Projekts in sechs Regionen des Landes bera‐
ten. Es handelt sich durchweg um most vul‐
nerable persons, Mütter mit Kleinkindern, die ENTWICKLUNGSMÖGLICHKEITEN FÜR MÜTTER UND selbst fast noch Kinder sind, auch Flüchtlings‐
KINDER: DIE AMMAN SCHOOL frauen und andere Immigrantinnen. Dass die Kinder zu bestimmten Zeiten des Tages ver‐
Zurück nach Amman – zunächst durch die sorgt sind, entlastet die Mütter; nicht all der wüstenähnliche Landschaft, die doch immer Druck der Stress, dem sie ausgesetzt sind, noch Nahrung für das Vieh bereit hält, vorbei fokussiert sich auf die Kinder. an Dörfern mit Minaretten, die die weißen Gebäude überragen, dann durch den immer Den Frauen steht die Caritas mit ihrer Bera‐
dichter werdenden Spätnachmittagsverkehr, tung zur Verfügung. In fünf Regionen nehmen vorbei an endlos sich ausdehnenden Neubau‐
etwa 150 Frauen an Trainingskursen für die gebieten, deren Kauf oder Mietpreis für die Haushaltsführung teil und lernen, mit den einheimische Bevölkerung kaum erschwinglich Herausforderungen der alltäglichen Lebens‐
24 wisse Zeit zu vergessen. Und offensichtlich stärken die Kurse auch ihr Selbstbewusstsein. Anfänglich, so hören, durften sie nur in Beglei‐
tung ihrer Eltern oder ihrer Ehemänner kom‐
men; jetzt kommen sie alleine und ohne fami‐
liäre Aufsicht. Das ist ein wichtiger Schritt zu mehr Selbstbestimmung. Es zeigt aber auch, dass die Arbeit der Caritas in den Familien Vertrauen findet. Während die Mütter lernen oder sich daheim bereits wieder um ihren Haushalt kümmern müssen, haben die Kinder noch Gelegenheit, spielend zu lernen oder lernend zu spielen – beides. Und es tut ihnen gut, wie wir un‐
schwer feststellen können, als wir die beiden Kindergruppen im Haus besuchen. Unter der Anleitung einer durchaus entschieden auftre‐
bewältigung und der Versorgung ihrer Kinder tenden Dame präsentieren sie uns stolz, was besser zurecht zu kommen. Auch handwerkli‐
sie basteln, oder bleiben einfach selbstverges‐
che Fähigkeiten und Fertigkeiten in Handar‐
beit können sie erwerben, um für sich und ihre Familien ein eigenes Einkommen zu er‐
wirtschaften. Bei alledem geht es vor allem für die Flüchtlings‐ und Einwandererfrauen auch darum, die belastende Lücke zwischen dem früheren Leben und einer neuen Zukunft zu füllen und kreativ zu verändern. Mehrfache Entlastung für die jungen Frauen Und auch hier erfahren wir: Entlastend für die Frauen ist es nicht nur, zu lernen und prakti‐
sche Fertigkeiten zu erwerben, sondern vor allem auch, im gemeinsamen Tun die Lasten des täglichen Lebens wenigstens für eine ge‐
25 sen in ihr Spiel vertieft. Hier werden sie auf Diese Mutter‐Kind‐Angebote gehören zu ihren den späteren Schulbesuch in kirchlichen oder liebsten Projekten, sagt Beliza Espinoza, als öffentlichen Schulen vorbereitet. wir wieder hinausgehen. Man könne regel‐
recht beobachten, wie sich die jungen Frauen An den Lernmaterialien, die wir mitnehmen in ihrem Verhalten verändern. Und auch die dürfen, lässt sich deutlich sehen, dass dies mit Kinder seien ganz anders als am Anfang. hoher didaktischer Kompetenz geschieht. 26 GESPRÄCH MIT EINEM PHILANTHROPEN: PRINZ ist der Bruder des 1999 verstorbenen Königs HASSAN IBN TALA Hussein und war bis dahin Kronprinz, d. h. regulärer Thronfolger. Warum er die Herr‐
Wael Suleiman hat etwas geschafft, was bei schaft nach dem Tod seines Bruders nicht Politikern in Deutschland nahezu unmöglich angenommen hat, sondern der Thron auf des‐
wäre: Am späten Vormittag kann er erreichen, sen Sohn Abdullah II, seinen Neffen, überging, dass uns am späten Nachmittag Prinz Hassan darüber gibt es unterschiedliche politische ibn Talal empfängt, und zwar in den Räumen Einschätzungen. des von ihm gegründeten Royal Institute for Inter‐Faith Studies. Er selbst allerdings ist dar‐
Fest steht aber, dass er die Freiheit von der über nicht so sehr verwundert, ist der Prinz Regierungsverantwortung nutzt für eine Rolle doch ein Bewunderer und Förderer der jorda‐
im internationalen politischen und ethischen nischen Caritas, der sich auch nicht zu schade Diskurs, die einer bewundernswerten geisti‐
ist, persönlich die Flüchtlinge in den Camps gen Freiheit entspringt. Der Oxford‐Absolvent, aufzusuchen und sich ein Bild von ihrem Erge‐
der am dortigen Christ Church College Orient‐
hen zu machen. wissenschaften studierte, gilt als Unterstützer eines toleranten Islam und begleitet angese‐
Das 68‐jährige Mitglied des jordanischen Kö‐
hene internationale Ämter. So war er von nigs, verheiratet mit einer indischen Prinzessin 1999 bis 2006 Präsident der Weltkonferenz und Vater von drei Töchtern und einem Sohn, 29 der Religionen für den Frieden und von 2000 Zu den 20 Ehrendoktoraten von Universitäten bis 2006 Präsident des Club of Rome. Er ist aus aller Welt gehört auch eine Ehrenpromo‐
Gründer verschiedener arabischer Organisati‐
tion der Katholisch‐Theologischen Fakultät der onen und u. a. Gründer und Vorsitzender des Universität Tübingen, verliehen am 14. Mai Kuratoriums der Königlichen Gesellschaft der 2001 durch den damaligen Dekan Professor Wissenschaften in Jordanien. Er ist auf einen Dr. Ottmar Fuchs. Dialog der Religionen bedacht und rief die Die gemeinsame Erinnerung an diese Ehrung Trilaterale Kommission für das islamisch‐
schuf denn auch sofort die Brücke für einen christlich‐jüdische Gespräch ins Leben. Er en‐
herzlichen Ton in der Begegnung zwischen gagiert sich außerdem im interreligiösen Bera‐
Rottenburg‐Stuttgarts Bischof Gebhard Fürst terausschuss der UNESCO und ist Ehrenmit‐
und seinen Begleitern, der damals an dem glied ihrer Weltkommission für Kultur und Festakt teilgenommen hatte, und dem Prin‐
Entwicklung. Für den vom Stifter des Right zen, der dies in guter Erinnerung hatte. Livelihood Award Jakob von Uexküll gegründe‐
ten World Future Council fungiert Prinz Hassan Verantwortung der Sozialen Medien als Ratsmitglied. Prinz Hassan hob in seinen Gesprächsbeiträ‐
Prinz Hassan ist Träger zahlreicher Auszeich‐
gen mehrfach die nach seiner Ansicht zentrale nungen. So erhielt etwa das Große Goldene Rolle der Sozialen Medien im Ringen um den Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich. Das liberale Rabbinerse‐
minar Abraham‐Geiger‐Kolleg verlieh Prinz Hassan 2008 in Berlin den Abraham Geiger Preis. Im selben Jahr wurde er mit dem Augs‐
burger Friedenspreis und dem Niwano‐
Friedenspreis ausgezeichnet. Die Laudatio hielt Hans Küng. 2010 erhielt er den Markgräfin‐
Wilhelmine‐Preis der Stadt Bayreuth für seinen Einsatz für den Dialog zwischen den Religionen und die Förderung des Verständnisses und der Eintracht zwischen islamischer und nicht‐
islamischer Welt. 2014 wurde ihm der Tole‐
ranzring der Europäischen Akademie der Wis‐
senschaften und Künste verliehen. 30 stehenden Menschenrechte haben. Aus die‐
sem Grund warb er dafür, dass die europäi‐
schen Staaten die Flüchtlinge nach Maßgabe ihrer jeweiligen Kapazitäten aufnehmen und ihnen vor allem legale Arbeitsmöglichkeiten in ihren Berufen eröffnen. Hinsichtlich konkreter Hilfemöglichkeiten in der Region blieb Prinz Hassan eher im Allge‐
Frieden angesichts der ungeheuren Gewalt meinen: Europa müsse Arbeitsgruppen von und der aktuellen Kriege hervor. Die heutigen Fachleuten in die Region entsenden, die ein Kommunikationsmittel böten ein unverzicht‐
ganzheitliches Konzept zur Konsolidierung der bares Instrumentarium zur Vermittlung von Lebensverhältnisse erarbeiten. Dieses müsse Prinzipien der good governance. Anstatt Or‐
vielen Fragestellungen nachgehen: von einer ganisationsinstrumente der Gewalt zu sein, nachhaltigen Energiebewirtschaftung über müssten sie zu Organisationsinstrumenten des Ernährungsprogramme bis hin zu Bildungsini‐
Friedens werden. „How to promote peace“ – tiativen besonders für Frauen. dies müsse zur zentralen Frage bei der ethi‐
schen Reflexion zur Rolle der modernen Größte Bedeutung maß die Königliche Hoheit Kommunikationsmittel werden. dem interreligiösen Dialog. Ganz auf der Linie seiner Freundes Hans Küng, nannte er die Von Bischof Fürst auf die Frage angesprochen, Beziehungen zwischen den Religionen als ei‐
wie denn konkret den Flüchtlingen in Jordani‐
nen Schlüssel zum Weltfrieden. Von mehr als en und den Krisenregionen des Nahen und nur symbolischer Bedeutung für einen solchen Mittleren Ostens geholfen werden könne, Frieden stiftenden interreligiösen Dialog sei antwortete der Prinz: „Ich trage eine große das „Management oft he Holy Space of Jerusa‐
Traurigkeit in meinem Herzen.“ Niemand sei in lem“, betonte Prinz Hassan. der Region politisch auf die riesige Zahl von 22 Millionen Flüchtlingen vorbereitet gewesen. Im Übrigen bat er seine Gäste, nicht nur Part‐
Aber auf jeden Fall müsse das Kriterium aller ner in materieller Hinsicht, sondern vor allem politischen Bemühungen die Würde der Partner im Austausch von zukunftsorientier‐
menschlichen Person sein. Notwendig sei ein ten Ideen zu sein. Er machte deutlich, dass für Blick auf die Flüchtlinge, der diese trotz aller ihn das Dokument Nostra Aetate des Zweiten immensen Zahlen als individuelle menschliche Vatikanischen Konzils ein Meilenstein auf dem Personen wahrnehme, die einen Anspruch auf Weg zum interreligiösen Dialog ist; auf Papst die Wahrung der ihnen als Individuen zu‐
Franziskus setzt er größte Hoffnungen. 31 Nach dem Austausch von Gastgeschenken – sowie einem offiziellen Gruppenbild verab‐
Prinz Hassan schenkte dem Bischof aus der schiedete sich der Prinz. schwäbischen Diözese eigene Publikationen Ein Zentrum des Interreligiösen Dialogs sowie einen Bildband über die Kulturgüter Jordaniens, Bischof Fürst übergab ihm die Es blieb noch für ein Gespräch mit der Direk‐
silberne Gedenkmedaille mit den beiden Bi‐
torin des von Seiner Königlichen Hoheit ge‐
schofskirchen in Rottenburg und Stuttgart auf gründeten Royal Institute for Inter‐Faith Stu‐
der einen und einer Abbildung des Rottenbur‐
dies, Dr. Majea Omar, einer Frau mit einer ger Martinus‐Skulptur auf der anderen Seite – bemerkenswerten Liste geisteswissenschaftli‐
32 cher akademischer Qualifikationen. Sie ist Stationen begegnet sind oder die im Hinter‐
verantwortlich für die Durchführung von Kon‐
grund zum Gelingen unserer Reise beigetra‐
ferenzen und Kursen zur christlichen und isla‐
gen haben.. mischen Theologie – sowohl in Amman selbst Zu den Gästen des Abends gehörten auch Frau und in der Region als auch auf internationaler Caroline Heun, in der Deutschen Botschaft in Ebene. Ist interreligiöser Dialog nur auf der Amman für Wirtschaft und Entwicklung zu‐
Ebene verantwortlicher Repräsentanten der ständig, ebenso Erzbischof Maroun Elias Religionen möglich oder gibt es ihn – entgegen Nimeh Lahham, Weihbischof im Lateinischen allen gegenseitigen Vorurteilen zwischen Patriarchat von Jerusalem und Patriarchalvikar Christen und Muslimen – auch an der Basis für Jordanien. Was die prominenten Gäste, die der jeweiligen Gemeinschaften? neben und gegenüber Bischof Gebhard Fürst Ist der theologische Austausch über die Got‐
und Caritaspräsident Peter Neher Platz ge‐
tesbilder der Weg, um zu einander zu finden, nommen haben, mit diesen in dem durchaus oder aber muss die Annäherung darin liegen, als angeregt wahrzunehmenden Gespräch für die Fragen alltäglicher religiöser Praxis ausgetauscht haben, entzieht sich aufgrund offener zu wird, Verständnis zu entwickeln des beträchtlichen Geräuschpegels im Restau‐
und Gemeinsamkeiten zu entdecken? Hängt rant der Kenntnis des Chronisten. aber zum Beispiel die Stellung zur Gewalt nicht doch mit dem Gottesbild zusammen? Oder aber – Gegenfrage – ist die Ächtung der Gewalt eine gemeinsame menschlich‐ethische Grundüberzeugung der Religionen? BEGEGNUNG UND AUSKLANG Der Abend war der Begegnung und dem Ge‐
spräch gewidmet. Unsere Gastgeber begleite‐
ten uns auf die überglaste Dachterrasse des Restaurants Deir El Quamar in der City von Amman. An der langen Tafel versammelten sich die leitenden Mitarbeiterinnen und Mit‐
arbeiter der jordanischen Caritas und ebenso Personen, denen wir an den unterschiedlichen 33 Freitag, 4. September 2015 DIE RÜCKKEHR Um 7.30 Uhr holen uns unsere jordanischen Pünktlich um 10.20 Uhr hebt die Maschine des Freunde von der CJ im Hotel ab. Ein letztes Flugs RJ 125 ab. Das Jordantal taucht unter Mal geht die Fahrt auf der bereits bekannten uns auf, das Tote Meer, die Hochhaus‐Skyline Ausfallstraße nach Süden, vorbei an der Ab‐
von Tel Aviv – dann passiert das Flugzeug die zweigung nach Madaba, in Richtung Queen iraelische Mittelmeerküste, fliegt südlich an Alia International Airport. Fremdartig mutet Kreta vorbei, dessen Gebirge schemenhaft in uns nach den Erlebnissen des gestrigen Tages diesiger Ferne wahrzunehmen sind. Dann geht der Konsumtempel im Inneren des Flughafens die Route zunächst unmittelbar nach Norden, an, wo wir noch eine Weile warten müssen, dann nach Westen – im Display tauchen Städ‐
bis unser Flug aufgerufen wird. tenamen wie Bukarest und Budapest unter uns auf, Nürnberg kündigt sich an. Pünktlich kurz nach 14 Uhr landen wir wohlbehalten in Frankfurt. Die Wege trennen sich. 34 „Wir wollen Freiheit und Sicherheit“
07.09.2015
Flüchtlinge in Jordanien bestürmen Bischof Fürst
Einen intensiven Tag lang hat Bischof Gebhard Fürst kirchliche Flüchtlingsprojekte in Jordanien besucht. In der Hauptstadt Amman und im nahen Madaba unterstützt die Diözese Rottenburg-Stuttgart mit bisher 285.000 Euro zwei von der jordanischen Caritas betriebene Projekte,
eines für Mütter und Kinder, das andere für kleine und größere Schulkinder.
Der Bischof spürte Dankbarkeit, aber auch Verzweiflung. „Helfen Sie uns, wir brauchen Freiheit und
Sicherheit“, bestürmten ihn aus ihrer Heimat nach Jordanien geflohene syrische und irakische Christen. Der Bischof sicherte weiter Hilfe zu. Sie solle aber auch dazu beitragen, dass die Menschen in
ihrer Heimat bleiben können. 570.000 Euro flossen bisher aus dem Flüchtlingshilfefonds der Diözese
in Projekte in Syrien und im Libanon.
Mit gefalteten Händen steht der alte Mann vor dem Bischof. „Helfen Sie uns, unsere Heimat ist zerstört, dort wartet nur der Tod auf uns“, fleht der irakische Christ im Caritas-Containerdorf in Madaba
Bischof Fürst an. Er küsst weinend dessen Brustkreuz. Ein irakischer Arzt bestätigt den alten Mann.
Extremistische Muslime würden Christen mit dem Tod bedrohen, sie zerstörten Häuser und Kirchen.
Die syrisch-katholischen Christen aus der Gegend um Mossul sind geflohen, auch ihr Bischof Yohanna Petros Mouche. Er ist seinen Gläubigen gefolgt. Sarkastisch stellt er sich vor: „Ich bin der Bischof
der Muslime.“ Seine Diözese ist christenfrei.
Eine Rückkehr können sich die Flüchtlinge nicht vorstellen. Caritas Jordanien (CJ) versorgt sie mit
„shelters“, Schutzcontainern also, mit Lebensmitteln, Medizin und psychologischer Begleitung. Vor
allem Frauen und Kinder hat CJ im Blick. „Die Frauen haben Schreckliches erlebt, sie sind seelisch
und körperlich am Boden“, sagt eine CJ-Mitarbeiterin. 400 ihrer fest angestellten Kolleginnen und
Kollegen sowie 2.000 Ehrenamtliche kümmern sich um die Flüchtlinge. 465.000, davon 90 Prozent
Muslime, waren es im vergangenen Jahr laut CJ-Statistik. 50 Millionen Euro konnte das katholische
Hilfswerk dafür einsetzen.
Ohne kirchliche und staatliche Hilfe vor allem aus Deutschland und den USA wäre das unmöglich. CJ
ist das größte Hilfswerk in Jordanien überhaupt, obwohl Christen in dem muslimisch geprägten Land
maximal drei Prozent der Bevölkerung ausmachen. „Für König Abdullah sind wir die Nummer 1“,
sagt CJ-Generaldirektor Wael Suleiman stolz. Hilfe und Solidarität aus dem Ausland seien existenziell
wichtig, betont Suleiman und kritisiert seine Glaubensgeschwister. Die Christen in Jordanien verfügten zwar über mehr als ein Drittel der Wirtschaftskraft des Landes, aber ihrer Kirche oder karitativen
Projekten würden sie über den Pflichtanteil hinaus so gut wie nichts abgeben.
35 Bei der Caritas bekommen Frauen wieder Lebensmut, in Trainings üben sie neu den Umgang
mit ihren Kindern, ihren Männern und mit sich selbst. „Seit ich im Mutter-Kind-Training bin,
gehe ich auch wieder anders mit meinem Mann um“, sagt in Madaba eine junge Frau aus dem
zerstörten Homs in Syrien. Die Kinder dürfen während der von der württembergischen Diözese unterstützten „Love-Lessons“ spielen und basteln, lernen Lieder und Gedichte. Das
Team des Caritas-Sozialzentrums hat alle Hände voll zu tun. Im Wartezimmer warten Flüchtlinge auf ihrer Registrierung, sie erhalten danach Ausweise, ein Arzt untersucht sie, psychologische Begleitung soll den Stress mildern.
Jeder fünfte Einwohner im Haschemiten-Königreich ist inzwischen ein Flüchtling aus Syrien
oder dem Irak. Nur jeder und jede siebte lebt in einem Camp, die Mehrheit schlägt sich als
„urban refugees“ unter oft miserablen hygienischen Bedingungen in Garagen und heruntergekommenen Hütten in den Randgebieten Ammans oder in Dörfern nahe der Hauptstadt durch.
Caritas Jordanien unterhält dort Sozialzentren und Containerdörfer, so gut es geht. Wer ein
„shelter“ im Containerdorf bekommt, hat Glück.
„Am wichtigsten ist uns, dass unsere Kinder Bildung erhalten“, sagt eine junge Mutter, ebenfalls aus Homs. Nach CJ-Angaben können zurzeit 200.000 Flüchtlingskinder in Jordanien
nicht zur Schule. Es fehlt an Plätzen und an Geld. Die Caritas, deren Motto lautet „It’s not a
job, it’s a mission“, übernimmt, so es geht, die Schulgebühr. Das Einkommen der Väter, die
hier und da für Dumpinglöhne schwarz arbeiten, reicht hinten und vorne nicht.
Ob die Familien wieder nach Hause wollen? Zur Zeit sei daran nicht zu denken, sagen die
jungen Mütter. „Aber vielleicht eines Tages, so Gott will, inschallah…“ Bis dahin kümmert
sich die weltweit kirchlich vernetzte Caritas um sie, auch unterstützt vom Königshaus. Wie
sagt der jordanische Caritaschef: „Diese Menschen haben alles verloren, sie brauchen also
alles.“
Uwe Renz
36 Familien an Lebensmitteln und an Kleidern SWR 2 – „WORT ZUM TAG“ benötigen. Ob sie ein Dach über dem Kopf 21. SEPTEMBER 2015 haben. Ob sie krank sind und von den Ärzten THOMAS BROCH im Haus behandelt werden müssen. Auch Therapie bietet die Caritas den teilweise schwer traumatisierten Menschen an. Und in den Trainingskursen ihres Mutter‐Kind‐
„Not Only a Job, but a Mission“ Programms können nicht nur die Frauen für ein paar Stunden am Tag die Sorgen und den „It’s not only a job, it’s a mission.” „Es ist nicht Stress ums tägliche Überleben vergessen; einfach ein Job, was wir hier machen, es ist auch den Kindern tut das selbstvergessene eine Sendung, eine Mission.“ Das sagt Wael Spielen und das Lernen in ihren kleinen Seelen Suleiman, der Direktor der Caritas in Jordani‐
gut. en. Gemeinsam mit dem Rottenburger Bischof Die Caritas Jordanien sorgt mit fast 400 Ange‐
Gebhard Fürst und einer kleinen Reisegruppe stellten und etwa 2000 Ehrenamtlichen vor habe ich vor kurzem das kleine Königreich allem für die Vertriebenen, die außerhalb der besucht. Mit seinen sechseinhalb Millionen offiziellen Flüchtlingslager irgendwo leben – in Einwohnern hat es derzeit etwa 1,5 Millionen notdürftigen Verschlägen, in Garagen, in Zel‐
Flüchtlinge aus den Nachbarländern Syrien ten. Sie erhalten sonst keinerlei Unterstüt‐
und Irak aufgenommen. Sie sind vor den zung. Allein im vergangenen Jahr hat die Cari‐
Bomben des syrischen Diktators Assad geflo‐
tas etwa eine halbe Million dieser entwurzel‐
hen und vor dem Terror des so genannten ten Menschen registriert und versorgt. Die Islamischen Staats. Sie haben Angehörige und allermeisten von ihnen sind Muslime. Die Freunde verloren, ihre Heimat, alles, was sie Christen lieben uns mehr als alle anderen, besessen haben. Viele haben auch alle Hoff‐
sagen sie. nung verloren. Not a job, but a mission. Nicht irgendein Job, In dem kleinen Hof und den Räumen des Cari‐
sondern eine Sendung, eine Mission. Was taszentrums in Madaba nahe der jordanischen bedeutet es, wenn Christen ihre Mission ernst Hauptstadt Amman drängen sich hunderte nehmen? Wir haben es in Jordanien ein‐
Menschen – Männer und Frauen, Kinder und drucksvoll erlebt: Menschen in großer Not Alte. Sie warten darauf, an einem der vier erfahren, dass sie vorbehaltlos geliebt wer‐
oder fünf Schreibtische von den Caritas‐
den, dass ihnen geholfen wird – ungeachtet Mitarbeitern registriert zu werden; danach ihrer Herkunft, ihrer Kultur, ihrer Religion. gefragt zu werden, was sie für sich und ihre Einfach deshalb, weil sie Menschen sind. 37 tainer lebt und untätig herumsitzen muss. Zu SWR 2 – „WORT ZUM TAG“ arbeiten ist den Flüchtlingen verboten, man‐
22. SEPTEMBER 2015 che verdingen sich zu Dumpinglöhnen für ei‐
THOMAS BROCH nen illegalen Job. Was sie verdienen, reicht hinten und vorne nicht. Der Arzt ist froh, dass Sehnsucht nach Freiheit und Si‐
seine Kinder wenigstens die Schule besuchen cherheit können. Nicht alle haben dieses Glück. In Jor‐
danien gibt es für 200.000 Flüchtlingskinder „Helfen Sie uns! Unsere Heimat ist zerstört. keinen Schulplatz. Dort wartet nur der Tod auf uns.“ Der alte Mann weint und fleht mit gefalteten Händen. Die Caritas Jordanien ist die einzige Institution, Es ist eine der erschütternden Begegnungen die den christlichen Flüchtlingen aus dem Irak während der Reise nach Jordanien, auf der ich hilft – unterstützt von ihren Partnern in kürzlich den Rottenburger Bischof Gebhard Deutschland und den USA. Sie versorgt sie mit Fürst begleitet habe. Wir haben den Greis in Kleidern und Verpflegung und einem Dach einem Containerdorf der jordanischen Caritas über dem Kopf. Ihre Ärzte behandeln die in Madaba getroffen. Das liegt nahe der Kranken. Den zum Teil schwer traumatisierten Hauptstadt Amman. Dort leben Christen aus Menschen werden Therapien angeboten. „Sie Mossul im Nordirak. Im Sommer 2014 sind sie haben alles verloren, also brauchen sie auch dort vor dem Terror des IS geflohen, zunächst alles“, sagt Caritasdirektor Wael Suleiman. in die christlichen Dörfer in der Ninive‐Ebene, Aber ihre größte Sehnsucht lässt sich nicht von dort in die Kurdenhauptstadt Erbil und stillen: ein normales Leben, sicher und frei, dann schließlich hierher nach Jordanien. ein Leben unter menschenwürdigen Bedin‐
Rund eine halbe Million Flüchtlinge aus dem gungen. Auf eine Rückkehr dorthin, wo es das Irak leben derzeit in Jordanien, gerade einmal alles einmal gab, hofft hier niemand mehr. 50.000 von ihnen sind registriert. Nur wenn Ihre Hoffnung richtet sich auf Europa, auf sie das sind, kann man sie mit dem Nötigsten Deutschland, wo wir herkommen, um sie zu versorgen. Aber erst durch die Begegnung von besuchen. Und wir werden auch wieder dahin Mensch zu Mensch bekommen diese Zahlen zurückkehren, während sie dort bleiben müs‐
ein Gesicht, werden sie uns als persönliche sen. Sie können nicht verstehen, dass dieser Schicksale einzelner Menschen bewusst. Da ist Weg für sie verschlossen ist. Sie sind ent‐
der junge Mann, der noch vor einem Jahr täuscht, und das richtet sich auch gegen uns, Pharmazie studiert hat und jetzt staatenlos das spüren wir deutlich. Unser Verständnis und ohne Zukunft ist. Da ist der Arzt, der mit ändert ihre Lage nicht. Dieses Gefühl der seiner Frau und seinen vier Kindern im Con‐
Hilflosigkeit nehmen wir mit. 38 Bisher hat er zurückhaltend und leise gespro‐
SWR 2 – „WORT ZUM TAG“ chen. Aber jetzt bricht es aus ihm heraus: „Ich 23. SEPTEMBER 2015 will keine ermutigende Antwort. Erzählen Sie THOMAS BROCH mir nicht, was Sie für große Leute sind, weil sie solche belastenden Situationen aushalten müssen. Ich habe keine Lust, solche Worte zu hören. Was ich wirklich will, ist, dass Sie mir Die Enttäuschung der christlichen helfen, wieder nach meiner verlorenen Zu‐
Flüchtlinge kunft zu suchen. Ehrlich – ich möchte weit Ein Containerdorf der Caritas in Jordanien. weg von den arabischen Ländern arbeiten und Christliche Flüchtlinge aus dem Irak leben hier. meine Zukunft wieder aufbauen. Wir haben in Ein junger Mann trägt in gewähltem Englisch den arabischen Ländern gelitten unter Mord eine kurze Rede vor. Weil er so aufgeregt ist, und Entführung, unter Rassismus und unter hat er sie aufgeschrieben. Zuerst bedankt er dem Mangel an jeglicher Achtung. Wir können sich höflich bei dem deutschen Bischof und nicht mehr. In allererster Linie möchten wir seinen Begleitern, dass sie sich ein Bild ma‐
auswandern. Und zwar so bald wie möglich. chen wollen von der Situation, in der die Wir haben keine Kraft mehr.“ Flüchtlinge hier leben. Viele Frauen und Män‐
Bitter ist das, was wir hier hören. Und das ner aus dem Camp kommen näher und hören begegnet uns immer wieder im Gespräch mit angespannt zu. Wie sie schauen und reagie‐
den vertriebenen Christen: Warum werden ren, zeigt, dass der junge Mann auch von sie, deren Existenz im Nahen Osten nach einer ihnen spricht, wenn er seine eigene Lage zweitausendjährigen Geschichte vernichtet schildert. wird, alleine gelassen? Warum ist das christli‐
„Letztes Jahr“, sagt er, „war ich noch Student che Europa, warum ist Deutschland, warum an der Hochschule für Pharmazie in Mossul. sind die Kirchen hier nicht in der Lage, ein paar Jetzt bin ich staatenlos. Haben Sie den Unter‐
Tausend versprengte Christen aus ihrer aus‐
schied wahrgenommen? Ich habe ganz einfach sichtlosen Situation in den Flüchtlingslagern meine Zukunft verloren. Ich bin jetzt im 22. herauszuholen, wo es doch allein in Deutsch‐
Lebensjahr, ich habe weder eine Studienmög‐
land in kürzester Zeit möglich ist, Hunderttau‐
lichkeit noch Arbeit. Keine Aussicht und keine sende Flüchtlinge aufzunehmen? Zukunft. Können Sie fühlen, was ich jetzt füh‐
„Seien Sie nicht so schwach, verharmlosen Sie le? Wissen Sie, in welcher psychologischen unsere Probleme nicht, sondern lösen Sie sie“, Verfassung ich jetzt lebe?“ sagt der junge Mann. Die Leute, die zuhören, spenden Beifall, viele weinen. 39 Mich beunruhigen aber auch Fragen, die SWR 2 – „WORT ZUM TAG“ christliche Flüchtlinge aus dem Irak oder aus 24. SEPTEMBER 2015 Syrien stellen. Warum ist euch Christen hier THOMAS BROCH die Begegnung mit den Muslimen so wichtig?, fragen sie. Und vor allem: Warum helft ihr als Kirchen muslimischen Flüchtlingen und tut nicht alles Menschenmögliche für die Christen, Es gibt keine Alternative zum Dialog die irgendwo in den Flüchtlingscamps in Jor‐
Hat der Dialog zwischen Christen und Musli‐
danien oder dem Libanon ausharren müssen – men noch eine Chance? Diese Frage stellt sich ohne irgendeine Zukunftsperspektive? Warum mir derzeit sehr bedrängend. Um es vorweg zu können sie nicht zu uns nach Deutschland sagen: Ich trete entschieden für den Dialog kommen? zwischen den Religionen ein, also auch zwi‐
Das sagen mir Menschen, die ich gut kenne schen Christen und Muslimen. Es gibt keinen und sehr schätze. Ich kann sie sogar verste‐
anderen Weg zum Frieden. Wir müssen uns hen, wenn ich höre, was sie alles erlitten ha‐
bemühen, uns über die Grenzen der Religio‐
ben. Wie sollen diese Menschen das Leid ver‐
nen und Kulturen hinweg zu verstehen und gessen, das ihnen andere Menschen mit dem wertzuschätzen. Namen Allahs auf den Lippen angetan haben? Ich weiß, wie umstritten diese Überzeugung Und doch – ich wiederhole es und sage es derzeit ist. Vor allem das Gespräch zwischen auch meinen Freunden: Wenn es einen Weg dem Christentum und dem Islam ist in eine zu mehr Frieden gibt, dann ist er nicht ohne schwere Krise geraten. Das sehe ich mit gro‐
das geduldige Gespräch über die Werte der ßer Sorge. Fanatiker und Terroristen fügen Menschlichkeit möglich, die uns über die Reli‐
anderen, auch Christen, unsägliches Leid zu – gionen hinweg verbinden. Es sind gemeinsame im Namen dessen, was sie für den Islam hal‐
Werte, die wir nicht von Fanatikern vernichten ten. In Staaten, die sich als Hüter des Islam lassen dürfen, die ihre Barbarei mit der Religi‐
ausgeben, werden Menschenrechte mit Füßen on rechtfertigen. Der Weg des Dialogs ist wie‐
getreten. Und das alles spielt sich tagtäglich der weiter und mühsamer geworden, als er vor unseren Augen ab. Viele hier bei uns ste‐
schon einmal war. Sicher. Aber wir müssen ihn hen dem Islam und den Muslimen immer gehen – gerade jetzt. Und ich hoffe, dass wir schon ablehnend gegenüber. Sie sehen sich irgendwann auch Menschen auf diesem Weg jetzt bestätigt. Das bekommen auch muslimi‐
mitnehmen können, die jetzt noch am Rande sche Flüchtlinge zu spüren, die sich selbst vor stehen und den Kopf schütteln. dem Terror retten müssen. 40 Pressemitteilung
BISCHÖFLICHES ORDINARIAT
Bischöfliche Pressestelle
Unser Zeichen: map
Ihr Gesprächspartner:
Manuela Pfann, stellv. Pressesprecherin
Telefon:
E-Mail:
+49 (0) 711 97 91-27 03
[email protected]
[email protected]
Stuttgart, 6. September 2015
Noch stärker Fluchtursachen bekämpfen
Bischof nach Jordanienbesuch: Mittel für Entwicklungshilfe deutlich
erhöhen
Rottenburg/Amman. 6. September 2015. Nach einem Kurzbesuch kirchlicher
Flüchtlings-Projekte in Jordanien hat Bischof Gebhard Fürst dazu aufgerufen, noch
stärker die Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Bundesrepublik Deutschland solle ihren
Etat für Entwicklungshilfe verzehnfachen, forderte der Bischof am Sonntag zum Ende
seiner Reise. Er wies darauf hin, dass die Diözese Rottenburg-Stuttgart allein im
vergangenen Jahr 24 Millionen Euro für kirchliche Eine-Welt-Projekte in Übersee für
Pastoral, Sozial- und Bildungsprojekte zur Verfügung gestellt habe.
In Jordanien besuchte Bischof Fürst ein von seiner Diözese mit insgesamt 185.000
Euro gefördertes und von der Caritas betriebenes Mutter-Kind-Projekt sowie ein
Schulprojekt. Zudem flossen aus dem Flüchtlingshilfefonds der Diözese bisher
570.000 Euro in Projekte für syrische und irakische Flüchtlinge in Syrien und im
Libanon. Der Bischof rief die Staaten in Europa zu Geschlossenheit in der
Flüchtlingspolitik auf und forderte auch von den islamischen Ländern, ihren
Glaubensgeschwistern zu helfen. Der Staat Jordanien, in dem derzeit jeder fünfte
Einwohner syrischer Flüchtling ist, tue dies in vorbildlicher Weise.
In Jordanien baten die Flüchtlinge in den Caritas-Containerdörfern den Bischof aus
www.drs.de
Verantwortlich: Uwe Renz, Pressesprecher/Leiter der Pressestelle
Anschrift: Postfach 9, 72101 Rottenburg am Neckar - Dienstgebäude: Bischof-von-Keppler-Str. 7, 72108 Rottenburg am Neckar
-2Württemberg eindringlich, ihnen zu einem Leben in Freiheit und Sicherheit zu
verhelfen. Bischof Fürst sprach Caritas Jordanien (CJ) seine Anerkennung aus. Sie
leiste enorme wertvolle Arbeit für die Flüchtlinge. CJ betreute nach eigenen Angaben
im vergangenen Jahr 465.000 Flüchtlinge, davon 90 Prozent Muslime. Drei von vier
ihrer Klienten sind nach Angaben ihres Generaldirektors Wael Suleiman Flüchtlinge
vor allem aus Syrien und Irak. 50 Millionen Euro setzte die jordanische Caritas 2014
ein. Möglich machen dies Suleiman zufolge kirchliche und staatliche Zuwendungen
vor allem aus Deutschland und den USA. „Für die jordanische Königsfamilie ist die
Caritas mit 400 fest angestellten Kräften und 2.000 ehrenamtlichen die Nummer 1
unter den Hilfsorganisationen im Land“, sagte der CJ-Generaldirektor. Das Motto von
Caritas Jordanien lautet: "It's not a job, it's a mission".
Die württembergische Diözese legt neben der Flüchtlingsarbeit in ihrem eigenen
Gebiet besonderen Wert auf die Bekämpfung von Fluchtursachen. Dabei arbeitet sie
eng zusammen mit dem katholischen Hilfswerk Caritas International, betreibt aber
auch eigene Projekte unter anderem in Burundi, Indien und im Senegal. Für beide
Felder der Flüchtlingshilfe stehen derzeit jeweils rund sechs Millionen Euro zusätzlich
zu regulären Haushaltsmitteln und Spenden zur Verfügung.
In einem Gespräch mit Prinz Hassan, Onkel des amtierenden Königs Abdullah II. und
Ehrendoktor der katholisch-theologischen Fakultät Tübingen, waren sich Bischof und
Prinz einig, dass die weltweiten Anstrengungen zur Bekämpfung von Fluchtursachen
gesteigert werden müssten. Flüchtlinge sollten dem Prinzen zufolge nicht in Lager
abgeschoben, sondern als Menschen mit uneingeschränkter Würde behandelt
werden. Hassan sprach sich für einen verstärkten Einsatz der sozialen Medien aus,
um der globalen Fluchtbewegung mit globalen Mitteln Herr zu werden. Globale
Finanzinstitute wie die Weltbank kritisierte er dagegen. Sie investierten nicht in
Menschen, sondern betrieben "politische Ökonomie".
Verantwortlich: Uwe Renz, Pressesprecher/Leiter der Pressestelle
Anschrift: Postfach 9, 72101 Rottenburg am Neckar - Dienstgebäude: Bischof-von-Keppler-Str. 7, 72108 Rottenburg am Neckar
Sie können mit Ihrer Spende Gutes bewirken: Stiftung Weltkirche in der Diözese Rottenburg‐Stuttgart LIGA‐Bank BIC: GENODEF1M05 IBAN: DE90 7509 0300 0006 4982 80
Herausgegeben von der Diözese Rottenburg‐Stuttgart – Hauptabteilung Weltkirche (X) Text der Dokumentation: Dr. Thomas Broch Fotos: Thomas Broch/Uwe Renz (S. 18/1; U4) Druck: Bischöfliches Ordinariat der Diözese Rottenburg‐Stuttgart – Zentrale Verwaltung/Hausdruckerei Oktober 2015

Documents pareils