Kritik von RTL Ritalin So gefährlich ist das ADHS

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Kritik von RTL Ritalin So gefährlich ist das ADHS
„RTL: So gefährlich ist das Fernseh-Experiment“
Schonungslose Gedankenarmut von punkt 12 bis Mittag
Eine launige Randnotiz zur Sendung „Ritalin: So gefährlich ist das ADHS-Medikament“
(RTL-Beitrag der Reihe punkt12 vom 10.02.2014)
Wäre das medizinische Thema nicht zu ernst, seine hemmungslose Vermarktung für die Medien nicht
zu attraktiv, die Reichweite des Fernsehens ungeachtet des Internets nicht noch immer zu groß –
man könnte sich zurücklehnen und amüsieren, welch dilettantischen Unfug RTL unter dem
reißerischen Titel „Ritalin: So gefährlich ist das ADHS-Medikament“ in der Reihe „punkt 12 Reporter“
am 10.02.2014 ausstrahlte. Da nimmt die Journalistin Alexandra Wahl nach eigenem Bekunden zwei
Tabletten Methylphenidat (welches Präparat genau, ist nicht auszumachen, da mal Ritalin, mal
Concerta, mal Medikinet eingeblendet werden), filmt sich à la „Blair Witch Project“ auf der
Sendertoilette, schneidet ihr pseudodokumentarisches Gefasel mit Aufnahmen eines Kardiologen,
eines 13-jährigen Jungen mit ADHS, dessen Mutter sowie raufenden Kindern einer Schulklasse
zusammen (letztere, wie man hört, werden ohne ihr Wissen und ihre Zustimmung gezeigt) und RTL
strahlt die elfminütige Filmcollage als Armutszeugnis des investigativen Journalismus für das
sendereigene Bildungsprekariat aus. Schließlich gibt es kein Niveau, das die „punkt 12 Reporter“
nicht unterschreiten könnten, wie die knallharte Reportage zwei Tage später belegt: „TeenagerTeufelsaustreiberinnen: Drei US-Girls jagen Dämonen“. Da können selbst die öffentlich-rechtlichen
Mitarbeiter von „brutal21“ und „zoom Henker“ nicht mithalten.
Auf Exorzismus-Kurs ist RTL inzwischen offenbar auch bei ADHS und Ritalin gegangen. „Ich raube dem
Kind einen Teil seiner Kindheit, einen Teil seiner Kreativität“, spricht der Kardiologe Dr. Jörg Wiewer
die albernen Hüther-Sätze aus dem Off, bebildert mit Aufnahmen des 13-jährigen Robin beim
Kartenspielen: „Die Persönlichkeit kann sich nicht so entwickeln, wie sie sich sonst entwickeln würde.
Ich nehme manche Aspekte weg, die störend sind für die Allgemeinheit, aber letztendlich greife ich
stark in die Psyche des Kindes ein. Ich reduziere sein gesamtes Entwicklungspotenzial auf einen ganz
kleinen Bereich, um ihn der Gesellschaft anzupassen.“ Wüsste man nicht, dass hier ein Arzt, der
offenkundig weder von der ADHS noch ihrer Behandlung die geringste Ahnung hat, über die
medizinische Anwendung von Methylphenidat spricht, könnte man glauben, er zitierte aus einer
„Reader’s Digest“-Version von Huxleys „Brave New World“. Mit der Lebenswirklichkeit von ADHSBetroffenen und ihren Familien haben die hobbypsychologischen Ausführungen aus dem
unerschöpflichen Phrasenschatzkästchen der ADHS-Gegner freilich nichts zu tun.
Doch für Frau Wahl und ihren kleinen MPH-Selbstversuch ist der herzkundige Medizinmann offenbar
ein idealer Gesprächspartner, mithin die richtige Wahl. Ihre Erkenntnis „sechs Tabletten am Tag ist
unglaublich viel“ (ich persönlich finde ja, dass 24 Stunden am Tag noch viel mehr ist, ganz zu
schweigen von 1440 Minuten!), ergänzt er durch die tiefschürfende Erläuterung: „Wenn das Kopfkino
erstmal anfängt, dann werden Hormone im Körper ausgeschüttet und der Herzschlag wird noch
beschleunigt.“ Aha, so funktioniert das also mit diesem Herz und diesem Hirn und dem erstaunlich
simplen Stoffwechsel im menschlichen Körper. Vor dem Hintergrund dieses profunden ärztlichen
Fachwissens wird auch verständlich, warum die ominöse „Überdosis“ von täglich sechs Tabletten
Ritalin die Medizinstudentin Sabine F. (übrigens die jüngere Schwester von Christiane F.) verändert
hat: „Sie raucht viel mehr, isst kaum mehr, schottet sich von ihren Freunden ab, fängt an zu lügen.“
Hoffentlich schwindelt sie sich nicht auch noch durch Physikum und Staatsexamen, sonst ist zu
befürchten, dass die von hinten mit Wollmütze und verfremdeter Stimme gezeigte vermeintliche
MPH-Großkonsumentin in der nächsten RTL-Reportage von vorne und mit Arztkittel zu sehen ist, wie
sie als Psychiaterin übers Kammerflimmern philosophiert: „Wenn das Herzkino erstmal anfängt, dann
werden Hormone im Körper ausgeschüttet und der Hirnschlag wird noch beschleunigt.“
Eigentlich braucht die tapfere Journalistin mit dem gleichermaßen selbst- wie sinnlosen Hang zur
Laienempirie gar keinen Kardiologen, denn ihre rücksichtlose Eigenschau, gepaart mit einem
messerscharfen Verstand, lassen sie die fatalen Wirkungen des Methylphenidats selbst erkennen:
„Mein Herz geht auch schon total schnell, das kann nicht gut sein.“ Satz und Szene waren den RTLRedakteuren so kostbar, dass sie gleich zweimal im selben Beitrag unterbracht wurden. Später
räsoniert sie mit gleicher Stringenz: „Dass nur zwei Tabletten meine Stimmung, meine körperliche
Verfassung so verändern können, hätte ich nie gedacht. Dabei war ich in ständigem Kontakt mit
meinem Arzt.“ Wie gut, dass sich Frau Wahl kein Insulin spritzte oder Desfluran inhalierte,
metaphysischer Arztkontakt hin oder her, denn da hätte sich Schlimmeres einstellen können als ein
erhöhter Puls. Allerdings: Warum sollte sie ihrem Körper Wirkstoffe für Diabetiker oder gar ein
Anästhetikum zuführen, ohne zuckerkrank zu sein oder einer Narkose zu bedürfen?! Mit gleicher
Berechtigung lässt sich jedoch fragen, warum jemand, der nicht an ADHS oder Narkolepsie leidet, ein
Stimulans wie Methylphenidat einnimmt – und zudem glaubt, es würde ihm gut tun.
Leider hat niemand bei RTL die Sinnfrage gestellt, zumindest nicht die Frage nach einem inhaltlichen
Sinnzusammenhang des kruden Fernsehbeitrags. Hätten nicht ein wenig Recherche im Internet sowie
die Nachfrage bei einem Facharzt, der sich damit auskennt, die Nebenwirkungen des Selbstversuchs
voraussagen und sogar verstehen lassen? Methylphenidat ist ein Sympathomimetikum: Es wirkt
stimulierend auf den Sympathikus – einen Teil des vegetativen Nervensystems, das u.a. den
Blutdruck und die Herzfrequenz reguliert. Selbiges steht auch im Beipackzettel eines jeden MPHPräparates. Da Herz und Hirn (zumindest für die meisten Menschen und in den meisten Berufen)
recht wichtige Organe sind, können Substanzen, die an diesen Orten wirken, auch bedeutsame
Nebenwirkungen haben, nachgerade in einem gesunden Körper, der einer künstlichen Stimulation
nicht bedarf. Immerhin führt selbst der Beipackzettel einer nicht verschreibungspflichtigen Substanz
wie Acetylsalicylsäure (Aspirin) u.a. Übelkeit, Erbrechen, Bauchschmerzen, Hirnblutungen, MagenDarmblutungen, Blutdruckabfall, Anfälle von Atemnot, Entzündungen der Nasenschleimhaut,
allergischer Schock, Schwellungen von Gesicht, Zunge und Kehlkopf, dazu Kopfschmerzen, Schwindel,
Tinnitus und geistige Verwirrung als Nebenwirkungen auf. Verwunderlich ist in diesem
Zusammenhang allenfalls, dass Frau Wahl ungeachtet ihrer zuvor eindrücklich verfilmten Lektüre des
Beipackzettels von Concerta einige Filmsequenzen später in einem Moment nächtlicher
Selbstbespiegelung äußert, das Medikament solle „heute noch gar nicht richtig anschlagen, […], erst
in den nächsten Tagen“. Eine solche Erwartung muss den Hersteller gerade dieses Präparates
besonders enttäuschen, hat er sich doch alle Mühe gegeben, die üblicherweise rasche Anflutung und
kurze Wirkdauer des Methylphenidats von drei bis vier Stunden auf ein Mehrfaches auszudehnen.
Angesichts des boulevardjournalistischen RTL-Selbsterfahrungstrips darf die Mär von den „Studien“,
die angeblich belegten, Ritalin sei „unter jungen Erwachsenen zur Modedroge geworden“, durchaus
bezweifelt werden. Methylphenidat lässt nicht allein das Herz von Journalisten schneller schlagen,
sondern raubt auch anderen bisweilen den Schlaf. Manch ADHS-Betroffener kennt diese
Nebenwirkung aus den ersten Wochen der Medikamenteneinnahme bis zum Abschluss der
Dosistitration. Danach sind nur wenige fachärztlich korrekt diagnostizierte und medikamentös
eingestellte Patienten durch anhaltende Nebenwirkungen einer MPH-Behandlung belastet. Im Fall
der ADHS überwiegt der Nutzen der Medikation die unerwünschten Nebenwirkungen sowohl aus
Sicht der Betroffenen als auch der Angehörigen bei weitem. Welche Mutter und welcher Vater eines
ADHS-Kindes würde diesem jahrelang tagein tagaus ein Medikament geben, das nichts bringt außer
Nervosität und Schlafstörungen??? Da mögen sich die Eltern bisweilen tatsächlich wünschen, der
hyperaktive Nachwuchs ließe sich durch eine Tablette kurzerhand ruhigstellen, wie es die dümmliche
Anmoderation des RTL-Beitrags einmal mehr als vermeintliches Ziel jedweder medikamentöser
ADHS-Therapie formuliert. Doch gerade das leisten die in der ADHS-Behandlung als Substanzen
erster Wahl eingesetzten Stimulanzien nicht.
Soll man sich nun über einen Fernsehbeitrag wie „Ritalin: So gefährlich ist das ADHS-Medikament“
ärgern? Zu ernst, zu attraktiv, zu verbreitet ist das Thema, schrieb ich eingangs der Rezension, als
dass man sich über die experimentelle Selbst-Investigation eines sinnbefreiten Journalismus
unbeschwert amüsieren könnte. Andererseits landen die „punkt 12 Reporter“ so treffsicher auf
derselben Stelle, von der sie abgesprungen sind, dass man ihre Documentary mit ein bisschen Ironie
kurzerhand als unbewusst-ungewollte „Mockumentary“ begreifen kann, die der medialen Diskussion
der ADHS und ihrer medikamentösen Behandlung durchaus parodistische Momente abzugewinnen
vermag. RTL gelingt es, nicht nur alle Klischees zum Reizwort „Ritalin“ in einen Fernsehbeitrag von elf
(!) karnevalesken Minuten zu packen, sondern auch jede noch so zynisch-alberne Vorstellung des
Medienlaien, wie zielgruppenorientierter Journalismus heute funktioniert: talentfreie Laiendarsteller
spielen in eleganter Schlichtheit die vermeintlichen und realen Dramen einer Welt, die viel zu
kompliziert ist, als dass der Zuschauer sie nach 30 Jahren Privatfernsehen in Deutschland noch
ernsthaft sehen und verstehen möchte. Was kommt nach dem geistigen Sparprogramm des
redaktionseigenen MPH-Selbstversuchs? Wird Frau Wahl einen Airbus voller Touristen nach Mallorca
fliegen, um zu zeigen, wie gefährlich Urlaub am Ballermann sein kann? Wird das RTL Nacktjournal
künftig exclusiv, explosiv und extra aktuell über „Risiko: So gefährlich ist das Leben“ berichten und
endlich klären, warum es meistens tödlich endet? Oder schickt RTL seine Reporter künftig „punkt 12“
zum Mittagessen, damit sie kein weiteres mediales Unheil anrichten?! Fragen über Fragen, die „Mein
RTL“ mir, Dein RTL dir und unser aller RTL der Menschheit dringend beantworten sollte, bevor es uns,
wie Oliver Kalkofe es einst so trefflich formulierte, in die geistige Insolvenz gesendet hat.
Schonungslose Gedankenarmut von punkt 12 bis Mittag.
17.02.2014 © Dr. Johannes Streif

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