Text zum Vortrag von Prof. Dr. Sieghart Döhring

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Text zum Vortrag von Prof. Dr. Sieghart Döhring
Väterliche Liebe und Christenhaß
Das Referat geht zurück auf einen Aufsatztext, welcher der veränderten Präsentationsform
angepasst und dabei gekürzt, an einigen Stellen auch ergänzt wurde.1 Der Titel greift eine
Formulierung aus dem Französischen auf und vertauscht dabei lediglich die Reihenfolge der
beiden Begriffe; sie findet sich in Louis Quicherats Monografie über den Startenor der Pariser
Opéra Adolphe Nourrit, den Uraufführungsinterpreten des Éléazar in Halévys La Juive. Dort
heißt es zur Charakterisierung des jüdischen Goldschmieds, des eigentlichen Protagonisten
der Oper: „Éléazar est dominée par deux sentiments, la haine des chrétiens et l’affection
paternelle“ („Éléazar wird beherrscht von zwei Gefühlen, Christenhaß und väterlicher
Liebe“).2 Diese Gefühlsantinomie beschreibt treffend den widersprüchlichen, ja zerissenen
Charakter der Figur, die Raum für divergierende Interpretationen läßt. So erscheint Éléazar
einerseits als Träger einer faszinierenden jüdischen Couleur, wie es sie in vergleichbarer
sympathieheischender Intensität auf der Opernbühne – wenn nicht gar auf der Bühne
überhaupt – bislang nicht gegeben hatte, und ist doch andererseits nicht frei von Stereotypen
der Judendarstellung, die – teils offen, teils verdeckt – antisemitische Vorurteile bedienen.
Verständlich
wird
diese
Zeichnung
der
Figur
erst
vor
dem
Hintergrund
der
operngeschichtlichen Situation und gesellschaftlichen Konstellation am Ort und zur Zeit der
Uraufführung der Juive. In den 1830er Jahren hatte sich an der führenden Pariser Musikbühne
als neue musikdramatische Leitgattung die große historische Oper etabliert, in der die
bewegenden Fragen der Menschheitsgeschichte, ihre gesellschaftlichen und religiösen
Kontroversen, versinnlicht im Medium von Musik und Theater, zur Sprache gebracht wurden.
Dabei ging von der Historie mitnichten eine distanzierende Wirkung aus, vielmehr fungierte
sie, indem sie das Geschehen ins Exemplarische rückte, als Brennspiegel aktueller Ideen. So
traf Eugène Scribe und Fromental Halévys Oper La Juive, als sie am 23. Februar 1835 in der
Pariser Opéra (damals Académie Royale de Musique) erstmals auf der Bühne erschien,3 mit
der Thematisierung religiöser Intoleranz am Verhältnis zwischen Juden und Christen (ein Jahr
später sollten am gleichen Ort Meyerbeers Les Huguenots die nämliche Frage am Verhältnis
1
Väterliche Liebe und Christenhaß. Die Rollengestalt des Éléazar in Halévys La Juive, in: Judenrollen.
Darstellungsformen im europäischen Theater von der Restauration bis zur Zwischenkriegszeit, hrsg. von HansPeter Bayerdörfer und Jens Malte Fischer, unter Mitarbeit von Frank Halbach (Conditio Judaica. Studien und
Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 70), Tübingen 2008, S. 21-39.
2
Luis Quicherat, Adolphe Nourrit. Sa vie, son talent, son caractère, sa correspondance, 3 Bde, Paris 1867, hier:
Bd. 1, S. 170.
3
Maßgebliche Quelle ist die Kritische Ausgabe der Partitur: Fromental Halévy La Juive […], hrsg. von Karl
Leich-Galland, 2 Bde., Kassel-Weinsberg 1999/2005.
1
von Katholiken und Protestanten exemplifizieren) den Nerv einer Epoche, in der von
fortschreitender Judenemanzipation einerseits, von einem sich dazu als Gegenbewegung
formierenden Antisemitismus andererseits höchst widersprüchliche gesellschaftliche und
politische Signale ausgingen.4 Allerdings sollte nicht außer acht gelassen werden, daß die
historische Oper keinen Geschichtstraktat darstellt, bei der ein politischer oder religiöser
Ideendiskurs „eins zu eins“ musikdramatisch umgesetzt erscheint. Theater und Musiktheater
nehmen Gedanken von außen zwar auf, reflektieren und verarbeiten sie aber stets nach den
Wirkungsgesetzen der Bühne, die mit psychologischer Schlüssigkeit des Lebens nicht immer
konform gehen. Für La Juive gilt dies sogar in besonderem Maße. Zweifellos ist das Werk ein
Ideendrama, freilich verpackt in spektakuläres Theater von derart blendendem Glanze, wie es
selbst die Pariser Opéra nur selten erlebt hatte. Ausschlaggebend für den Initialerfolg der
Uraufführung – darin stimmten die führenden Pariser Kritiker überein – waren denn auch zum
einen die feenhafte Mise en scène – ebenso prächtig (Einzug des Kaisers im I. Akt) wie
emotional aufwühlend (Hinrichtungsszene im V. Akt) –, zum anderen die gesanglich wie
darstellerisch keinerlei Wünsche offen lassende Besetzung, an deren Spitze der Tenor
Adolphe Nourrit als Éléazar, die Sopranistin Marie Cornélie Falcon als Rachel sowie der
Bassist Nicolas-Prosper Levasseur als Brogni standen. Vor allem Nourrit hatte für die
Ausformung des dramatischen Profils und der konzeptionellen Durchdringung seiner Rolle
maßgebliche Bedeutung.
Daß man hier von Seiten der Opéra in puncto Besetzung und Ausstattung aus dem Vollen
schöpfte, hängt gewiß auch damit zusammen, daß man dem Komponisten gegenüber eine
begründete Vorsicht an den Tag legte. Fromental Halévy, geboren 1799 in Paris als Sohn
eines aus Fürth in die französische Hauptstadt ausgewanderten deutschen Juden, hatte nach
Kompositionsstudien am Conservatoire u.a. bei Luigi Cherubini und dem Gewinn des
Rompreises eine anerkannte Stellung im Pariser Musikleben erworben: als Professor für
Harmonielehre am Conservatoire, als „maestro al cembalo“ am Théâtre-Italien sowie als
„chef de chant“ an der Opéra. Auch als dramatischer Komponist war er erfolgreich, jedoch
vor allem an der Opéra-Comique und dem Théâtre-Italien, an der Opéra lediglich mit einem
Ballett und einer Ballett-Oper. Auf dem Felde der großen Oper verfügte er noch über keinerlei
Erfahrungen, und diese Tatsache begrenzte verständlicherweise seinen Einfluß innerhalb des
4
Zur Entstehung und Rezeption der Oper in ihrem gesellschaftlichen Kontext vgl. Diana R. Hallman, Opera,
Liberalism and Antisemitism in Nineteenth-Century France. The Politics of Halévy’s La Juive, Cambridge-New
York 2002.
2
aus hochkarätigen Spezialisten bestehenden Produktionsteams, das die Opéra für La Juive
bereitgestellt hatte.
Insbesondere gegenüber Scribe, dem unbestritten führenden französischen Librettisten der
Zeit, gab es für Halévy Grenzen der Einflußnahme, sofern er überhaupt Willens gewesen sein
sollte, diese zu testen. Scribes Text, ohnedies ein „Werkstatt“-Produkt, wurde im Zuge des
Kompositionsprozesses fortlaufend weiterbearbeitet, auch von Halévys Bruder Léon und
Nourrit. Allerdings konnten dadurch grundlegende sprachliche und dramaturgische
Schwächen nicht behoben werden. Die Privathandlung einerseits, der Ideenkonflikt
andererseits sind nur unvollkommen miteinander verbunden: Jude wie Christ agieren auch als
Repräsentanten ihrer Religionen vorwiegend aus der Emotionalität ihrer Väterrollen; Éléazar,
der einst von Brogny verfolgt und mit dem Bann belegt wurde, rächt sich an diesem, indem er
ihm die Identität seiner Tochter erst im Augenblick ihres Todes offenbart. Diese
„Enthüllungsdramaturgie“ mit einem Dénouement, das mit dem Schluß des Stücks
zusammenfällt, funktioniert als solche auch unabhängig vom Antagonismus ChristentumJudentum und könnte auf historischer wie privater Ebene auch ganz anders motiviert werden,
man denke etwa an Verdis Trovatore (1853). In La Juive ist es der Machtapparat der Kirche,
dem die Unschuldigen zum Opfer fallen, attestiert vom Beifallsgeheul eines pogromsüchtigen
Mobs. Diese Erfahrung einer unversöhnlichen Feindschaft, die ihm als Juden von der
christlichen Gesellschaft entgegengebracht wird, gibt denn auch letztlich den Ausschlag für
die Entscheidung Éléazars, die geliebte Ziehtochter seiner Rache zu opfern und in den
Märtyrertod zu schicken.
Die lediglich lockere Verbindung zwischen Stoff und Dramaturgie spiegelt sich in der Wahl
von Ort und Zeit der Handlung. In einer frühen Phase der Planung war dafür das indische Goa
unter portugiesischer Besetzung zur Zeit der Herrschaft der Inquisition vorgesehen gewesen.
Die Verlegung nach Konstanz zur Zeit der Eröffnung des berühmten Konzils (1414-1418)
sollte Gelegenheit geben zu ausgedehnten Massenszenen und üppiger theatraler
Prachtentfaltung im architektonischen Ambiente einer spätmittelalterlichen Stadt, was die
Direktion der Opéra denn auch ausgiebig nutzte. Einzelne historische Ungenauigkeiten fallen
weniger ins Gewicht als die Tatsache, daß die Thematik des Konstanzer Konzils – das
Kirchenschisma – mit dem Ideenkonflikt der Oper rein gar nichts zu tun hat. Warum Scribe
die Wiederbegegnung von Éléazar (jetzt ein reicher Goldschmied) und Brogni (jetzt Kardinal
und Präsident des Konzils) nach ihren früheren traumatischen Erfahrungen in Rom gerade in
3
der Konzilstadt Konstanz stattfinden läßt, wird erst verständlich vor dem Hintergrund des
französischen Antiklerikalismus, der nach dem Ende der Restaurationsepoche und dem
Beginn der Julimonarchie in der Literatur wie in der Kritik einen neuen Höhepunkt erlebte.
Geistiger Bezugspunkt war dabei Voltaires Religions- und Kirchenkritik, die sich in
besonderer
Weise
am
Konstanzer
Konzil
entzündet
hatte,
das
durch
die
„Ketzerverbrennungen“ von Johann Hus und Hieronymus von Prag zum Symbol für die
blutige Gewaltherrschaft der Kirche geworden war.5 Voltaires Gedanken waren während der
1830er Jahre in Frankreich Gegenstand breiter öffentlicher Diskussionen, die vielfach auf die
literarischen und dramatischen Genres abstrahlten und in deren Kontext auch La Juive zu
sehen ist.
Beiläufige Anspielungen auf Hus und die Hussiten finden sich vereinzelt in den ersten beiden
Akten, werden aber im Verlauf der Oper nicht wiederaufgenommen; anstelle von Hus und
Hieronymus übernehmen Éléazar und Rachel als Juden die Rollen der „Ketzer“, über die das
Konzil – historisch inkorrekt, aber symbolisch zutreffend – das Todesurteil fällt. Interpretiert
man La Juive auf diese Weise im Sinne der zeitgenössischen antiklerikalen Denktradition, so
kann man die Oper in der Tat „ein wahrhaftiges kleines Meisterwerk im Voltairischen Genre“
nennen, so der Kritiker der „Gazette de France“. Eine derartige Sichtweise setzt allerdings
voraus, daß man zahlreiche weitere Aspekte des komplexen Ideenzusammenhangs der Oper
ausblendet. So folgt aus der Anklage des Verfolgers nicht zwangsläufig die Parteinahme für
den Verfolgten. Vielmehr hat es der wendige Scribe meisterhaft verstanden, in der
Darstellung des Jüdischen unterschiedliche Akzente zu setzen und widersprüchliche
gesellschaftliche Befindlichkeiten – die Akzeptanz des Juden als eines gleichberechtigten
Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft einerseits, seine Ausgrenzung aufgrund nach wie vor
virulenter Vorurteile gegenüber dem vermeintlich Fremden andererseits – subtil
auszubalancieren. Darüber hinaus bediente sich Scribe in der Charakterisierung der beiden
Protagonisten gängiger Topoi der Judendarstellung: des „bösen“ Vaters und seiner „schönen“
Tochter, für die Christopher Marlowe (The Jew of Malta, ca. 1590: Barabas-Abigail), William
Shakespeare (The Merchant of Venice, ca. 1600: Shylock-Jessica), sowie in jüngster Zeit
Walter Scott (Ivanhoe, 1819: Isaac-Rebecca) attraktive Vorlagen geliefert hatten.
Shakespeares Stück war 1827 durch das Pariser Gastspiel einer englischen Truppe, Ivanhoe
durch das gleichnamige Pasticcio Antonio Pacinis nach Musik Rossinis ein Jahr zuvor im
Odéon zu frischen Theaterehren gekommen. Während das positive Bild der „schönen Jüdin“
5
Als kanonischer Text zu dieser Thematik galt Voltaire, Essay sur l’histoire générale et sur les mœurs et l’esprit
des nations depuis Charlemagne jusqu’à nos jours, Genf 1756.
4
im wesentlichen feststand, erfuhr das negative ihres männlichen Counterparts gerade in diesen
Jahren eine Veränderung und Vertiefung, und zwar durch die romantische Umdeutung des
Shylock ins schicksalhaft Tragische. Aus dem eindeutig bösen oder komischen wurde ein
gebrochener, moralisch gespaltener Charakter, der eher Mitleid als Abscheu erregte. Das neue
Shylock-Bild hat in Éléazar seine direkte Entsprechung, nur daß hier nach den
Wirkungsgesetzen
des
musikalischen
Theaters
die
Gegensätze
noch
plakativer
herausgearbeitet und ins Extreme übersteigert erscheinen. In dieser Widersprüchlichkeit der
Figur erschließt sich der problematische Judendiskurs von Scribes und Halévys Oper.
In allen fünf Akten von La Juive ist Éléazar szenisch und musikalisch präsent, jedoch mit
unterschiedlicher dramaturgischer Gewichtung. Besondere Bedeutung kommt seinen
Auftritten im I., IV. und V. Akt zu, insofern dort in den Begegnungen mit seinem Widerpart
Brogni die katastrophische Vorgeschichte ihrer Beziehung sukzessive enthüllt wird, um in
eine neuerliche, nunmehr endgültige Katastrophe zu münden. Daß der Protagonist bei seinem
ersten Auftritt nicht mit einer Arie eingeführt wird, stellt in der Oper der 1830er Jahre längst
kein Novum mehr dar, dennoch überrascht hier das Ausmaß seiner musikalischen und auch
dramatischen Zurücknahme. Scribe und Halévy geben in La Juive ein neuerliches Beispiel für
jene ausgefeilte Introduktionsdramaturgie, wie sie von Rossini und Meyerbeer zunächst für
die italienische Oper entwickelt und sodann auf die neue Grand opéra übertragen worden war
und deren Kennzeichen die Exposition der gesellschaftlich-politischen Grundthematik in
konzentrierter Form bildet. Dies ist hier der Umschlag von Religiosität in Gewalttätigkeit,
musikalisch realisiert durch den abrupten Wechsel vom Orgelklang und „Te deum“ in der
Kirche zum Pogrom des Pöbels auf der Straße. Der harte Schnitt zwischen den beiden
Sphären begründet eine dialektische Beziehung zwischen den von ihnen repräsentierten
Inhalten: als Profanierung des Heiligen und Sakralisierung der Gewalt. Damit wird auf die
Judenverfolgung gleich zu Beginn in bündiger Weise angespielt, und die unmittelbare
Reaktion der Betroffenen ist Angst, der Rachel bei ihrem ersten Auftritt an der Seite des
stummen Éléazar in bewegenden Worten Ausdruck verleiht. Auf die Introduktion als
dramaturgischen Schlüssel für die thematischen Idee der Oper verweist zu Recht Ulrich
Schreiber: „Da ist in wenigen Minuten die Musikbühne zum Welttheater geworden.“6
Als
Éléazar
und
Rachel
angesichts
einer
inzwischen
zunehmend
feindseligen
Menschenmenge dem Stadtvogt Ruggiero zum Verhör vorgeführt werden, erhebt Éléazar
6
Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Das 19. Jahrhundert, Kassel 1991, S.
378.
5
erstmals die Stimme, wenn er auf die Frage, wie er es wagen könne, an einem Festtag zu
arbeiten, in provokativer Weise seine jüdische Identität herausstellt und aus ihr ein eigenes
Recht ableitet: „Und warum nicht? Bin ich nicht ein Sohn Israels und hat der Gott der
Christen mir zu befehlen?“7 Das „heilige Gesetz“ („sainte loi“) der Christen, auf das Ruggiero
verweist, habe ihm nur Unglück gebracht: „Und warum sollte ich es lieben? Euretwegen habe
ich auf dem Scheiterhaufen meine Söhne zugrunde gehen sehen, während sie nach mir ihre
Arme ausstreckten!“ Der schneidende Ton von Éléazars Worten findet seine adäquate
musikalische Entsprechung im Deklamationsmelos des Rezitativs. Er wird auch beibehalten
in der anschließenden Begegnung mit Brogni, der beim Verlassen der Kirche nach dem „Te
deum“ der Streitenden gewahr wird und sogleich die Befragung des Delinquenten übernimmt.
Als Éléazar, vom Kardinal dazu aufgefordert, seinen Namen nennt, kommt dieser ihm
bekannt vor. Der Jude hilft seiner Erinnerung auf: Zusammengetroffen waren beide einst in
Rom, wo Brogni – damals noch weltlicher Beamter – seine Frau und seine Tochter durch den
Tod verloren hatte,– für ihn der Anstoß, die geistliche Laufbahn einzuschlagen. Was Éléazar
freilich verschweigt, ist die Tatsache, daß er Brognis Tochter damals das Leben gerettet, sie
unter dem Namen Rachel als seine eigene Tochter angenommen und im jüdischen Glauben
erzogen hat. Er beschuldigt Brogni, ihn aus Rom verbannt zu haben, aber dieser, durch die
Konfrontation mit der für ihn traumatischen Vergangenheit tief bewegt, reagiert auf die
Provokation nicht mit Zorn, sondern mit Milde: Er begnadigt Éléazar, bietet ihm seine
Freundschaft an und bittet ihn um Vergebung, sollte er ihn beleidigt haben, doch der Jude
weist ihn brüsk zurück: „Niemals!“ („Jamais!“), – im Uraufführungslibretto noch mit dem
Zusatz: „Nein, niemals Vergebung den Christen, die ich hasse!“ Diesen Gegensatz der
Charaktere vertieft die nun folgende Cavatine Brognis („Si la rigeur et la vengeance“) mit der
er in feierlichem Sarastro-Ton für „pardon“ und „clémence“ plädiert, während Éléazar in
einem A-parte Rache an den Christen fordert und jede Verbindung zu ihnen ablehnt (Brogni:
„Wenn auch Starrheit und Rachsucht sie [= die Juden] das heilige Gesetz hassen lassen, so
möge deine Vergebung, mein Gott, sie an diesem Tage wieder zu dir zurückführen“; Éléazar:
„Seine überflüssige und verspätete Milde wird meinen Glauben nicht erschüttern; ich bewahre
in meinem Herzen die Rache, kein Bund zwischen ihnen und mir“). Sowohl die Konzilianz
des Christen, als auch die Unversöhnlichkeit des Juden erscheinen aus deren
unterschiedlichen Erfahrungen heraus psychologisch glaubhaft begründet, ihre musikalische
Vermittlung im „Gefühlskraftwerk“ der Oper bringt sie jedoch auf höchst unterschiedliche
Weise zur Geltung: Das strömende Melos der tiefen Bassstimme evoziert das Bild eines
7
Alle Übersetzungen vom Verfasser nach dem vertonten Text der Kritischen Ausgabe (vgl. Anm. 3), sofern
nicht anders vermerkt.
6
menschenfreundlichen Weisen, die harsche Deklamation des Tenors dasjenige eines
rachsüchtigen Fanatikers: Dem Christen wird die Fähigkeit zur Läuterung zugebilligt, dem
Juden nicht.
Am Schluß des I. Aktes kommt es zu einer neuerlichen Konfrontation Éléazars und Rachels
mit der Bevölkerung, als die beiden im Trubel der den Einzug des Kaisers erwartenden
Menge auf die Stufen der Kirche abgedrängt werden, – ein Tabubereich für Juden. Aus ihrer
bedrohlichen Lage befreit sie der Jude „Samuel“, tatsächlich der mächtige Reichsfürst
Léopold, der sich mit dieser falschen Identität Zugang zum Hause Éléazars verschafft und die
heimliche Liebe Rachels gewonnen hat; er gibt sich dem Anführer der kaiserlichen Garde
vertraulich zu erkennen und erwirkt so deren Schutz für die Bedrängten. Das allgemeine
Erstaunen über die unerklärliche Wende weicht schnell gespannter Erwartung angesichts des
sich nähernden Festzuges, während Éléazar im Überschwang der Freude über Rachels
Rettung seinen Vatergefühlen emphatischen Ausdruck verleiht. So wird denn, nachdem zuvor
ausgiebig der Christenhaß als Konstante von Éléazars Charakter vorgeführt worden ist, am
Schluß des I. Aktes die Liebe zu seiner Ziehtochter als nicht minder bestimmende Triebkraft
seiner gespaltenen Natur zur Anschauung gebracht.
Der im Hause Éléazars spielende II. Akt enthält an seinem Beginn mit der Darstellung des
Seder-Mahles im Rahmen des Pessach(Passah-)festes den direktesten Bezug auf „Jüdisches“
innerhalb der Oper. Daß es sich tatsächlich um jenes Fest handelt, mit dem die Juden
alljährlich den Auszug der Israeliten aus Ägypten feiern – als kollektive Erinnerung wie als
Verheißung der Beschützerrolle ihres Gottes für sein Volk – ergibt sich zweifelsfrei aus einer
Bemerkung Rachels im I. Akt, die den Geliebten für den Abend zur Feier der „pâque sainte“
ins Haus ihres Vaters einlädt, aber auch aus dem Ablauf des Geschehens selbst, insbesondere
der Verteilung der „mazzôt“ (der ungesäuerten Brote) durch den der Feier präsidierenden
Éléazar. Seine Apostrophierung als „Judenoper“ – ob in bewundernder oder polemisierender
Absicht – verdankt das Werk vor allem dieser in der Geschichte des Musiktheaters singulären
Szene von atmosphärischer Dichte, die den fremdartigen Zauber einer alttestamentlichen
Patriarchenwelt beschwört. Für die musikalische Umsetzung haben sich direkte Zitate
jüdischer Musik bislang nicht nachweisen lassen; offenbar verfuhr Halévy hier nach dem
Grundsatz der herrschenden Couleur locale-Ästhetik, nämlich ein Milieu bzw. eine Epoche
mit zeitgenössischen Kunstmitteln symbolisch zu imaginieren. So wies er im Entr’acte und
während der gesamten Szene der Harfe (dem Instrument Davids) die Führungsrolle zu und
7
gestaltete die erste vokale Nummer in responsorischer Satzstruktur mit Éléazar als
„Vorsänger“, einer Struktur, die auch in der zeitgenössischen Synagogenmusik gängig war, zu
der Halévy selbst Beiträge geliefert hatte. Das anschließende Solo Éléazars hält sich
melodisch und satztechnisch an den zeitgenössischen Opernstil, wie überhaupt der gesamte
Komplex rollenspezifisch als „Szene und Arie“ des Éléazar angelegt ist. Auch im Rahmen der
religiösen Feier zeigt Éléazar Züge abweisender Strenge, so wenn er gegen „Verrat“
(„trahison“) und „Treulosigkeit“ („perfidie“.) Gottes Zorn heraufbeschwört. Natürlich
reflektiert diese Passage die allgemeine historische Situation der Juden als Verfolgte und zielt
darüber hinaus auf den Betrüger Léopold, der sich als „Samuel“ ebenfalls im Kreis der
Feiernden befindet (dessen Identität freilich nur der Zuschauer kennt), gleichwohl bekräftigt
sie das bisherige Bild Éléazars als eines kompromißlosen Streiters für seinen Glauben.
Das nun folgende Trio (Prinzessin Eudoxie erscheint, um für ihren Bräutigam Léopold eine
wertvolle Kette zu erstehen, die ihr der Goldschmied zu einem überhöhten Preis verkauft: „Tu
possèdes, dit-on“) fügt dem Bild Éléazars einen weiteren, besonders unsymphatischen Zug
hinzu: Habgier. Daß Scribe sich nicht zu schade war, dieses abgegriffene Klischee der
Judendarstellung hier erneut aufzugreifen, belegt einmal mehr seine Arbeitsweise als Montage
motivischer Versatzstücke, und gerade auf dieses glaubte er dort nicht verzichten zu dürfen,
wo es ihm um die Schaffung von „jüdischer Couleur“ ging. Jedenfalls war er von Anfang an
bestrebt, dies bezeugen frühere noch weit krassere Entwürfe der Szene, das Motiv der Habgier
als „jüdischen“ Zug im Charakter Éléazars zu verankern und mit demjenigen des
Christenhasses emotional zu verknüpfen: Erst in der Übervorteilung der Christen findet seine
Liebe zum Gold ihre Erfüllung als Ausdruck höchsten Vergnügens. Die musikalische
Umsetzung von Scribes dramatischer Textvorlage im Sinne der Integration einer neuen
„Farbe“ ist Halévy gründlich mißlungen, verfällt er doch während des gesamten Trios in
einen werkfremden brillanten Opéra comique-Ton. Dies gilt nicht allein für die Partien
Eudoxies und Léopolds, bei denen ein derartiges Idiom allenfalls angemessen sein könnte,
sondern auch für Éléazar; gerade die oben zitierte Passage und ihre Wiederkehr in der Coda –
in einem buffonesken Sechszehntel-Parlando mit kecken Punktierungen – charakterisieren ihn
als eine eher komische Figur.
Ich übergehe den zweiten Teil des II. Aktes, den gesamten III. Akt sowie den ersten Teil des
IV. Aktes: Léopold hat seine wahre Identität gegenüber Rachel und Éléazar offenbart; Rachel
macht seine Täuschung öffentlich, indem sie ihn vor den Würdenträgern des Reiches der
8
verbotenen Beziehung mit ihr – der Jüdin – bezichtigt. Dem christlichen Verführer, seiner
jüdischen Geliebten und deren Vater droht die Hinrichtung; für Éléazar zeichnet sich die
Möglichkeit ab, durch den gemeinsamen Märtyrertod mit seiner Ziehtochter an deren
leiblichem Vater Rache zu nehmen; gleichzeitig versucht Eudoxie, Rachel zu einer
Falschaussage zu bewegen, um Léopolds Leben zu retten, und ist Brogni bestrebt, Rachel
durch ihre Konversion zum Christentum vor dem Tod zu bewahren. In dieser Situation
kommt es im IV. Akt zwischen Éléazar und Brogni zu einer neuerlichen Begegnung
(Schauplatz ist der Empfangsraum eines Gefängnisses): Éléazar allein, so bedeutet es ihm
Brogni, habe es in der Hand, das Leben der Tochter zu retten, wenn er sie dazu bringe, ihrem
Glauben abzuschwören, – eine Offerte, die Éléazar brüsk zurückweist. Sein Gott, der Gott
Jakobs, sei der „einzige wahre“ („le seul véritable“) und wie dieser einst die Makkabäer zum
Sieg geführt habe, so werde er auch künftig die Söhne Israels triumphieren lassen. Und dann
beginnt Éléazar mit Brogni sein grausames Spiel, indem er einen weiteren Schritt – aber noch
nicht den letzten – zur Aufdeckung seines Geheimnisses unternimmt: Nein, er fürchte nicht
den Tod, vielmehr sei dieser seine Hoffnung, aber zuvor werde er sich an einem Christen
rächen, und dieser werde er – Brogni – sein. Anknüpfend an ihr früheres Gespräch über die
Vorgänge in Rom berichtet er, daß bei dem Brand von Brognis Haus zwar dessen Frau, aber
nicht dessen Tochter ums Leben gekommen sei; „ein Jude“ habe sie lebend geborgen, diesen
Juden kenne er, werde ihn aber niemals nennen: „Und mein Geheimnis wird mit mir sterben“
(„Et mon secret va mourir avec moi“). Hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und
Verzweiflung wirft sich Brogni Éléazar zu Füßen, um ihn umzustimmen, doch dieser bleibt
hart.
Das Bild des vor dem Juden knieenden Kardinals hat wegen des ihm innewohnenden
Symbolcharakters und seiner historischen Sprengkraft das zeitgenössische Publikum
aufgewühlt: Ist Éléazar hier wirklich noch das „Opfer“ („victime“), als das er sich gegenüber
Brogni bezeichnet, oder ist er nicht schon dabei, zum Täter zu werden? Dramaturgisch steht
die Oper an dieser Stelle vor dem Höhe- und Wendepunkt, und da der Fortgang der Handlung
abhängt vom Ausgang des Kampfes zwischen den beiden widerstreitenden „Seelen“ in
Éléazars Brust, der Liebe zu seiner Ziehtochter und dem Haß auf die Christen, kann der
Konflikt psychologisch und dramatisch plausibel nur in ihm selbst aufgelöst werden, d.h. nach
den Formkonventionen der Oper in einer Arie. Eine solche war an dieser Stelle ursprünglich
nicht vorgesehen gewesen, und es ist das Verdienst des ebenso musikalisch gebildeten wie
theatererfahrenen Darstellers des Éléazar, eben Adolphe Nourrits, dies als Problem für das
9
Rollenprofil, aber auch für die Gesamtdramaturgie der Oper rechtzeitig erkannt sowie auf den
Abschluß des IV. Aktes mit einer Solonummer hingewirkt und für diese auch den Text
verfaßt zu haben. Das Ergebnis ist eine große zweisätzige Arie nach dem zeitgenössischen
italienischen Modell (also mit Cabaletta samt Überleitung und Wiederholung), das in der
französischen Oper eher selten begegnet, hier jedoch auf die dramatische Situation des
Schwankens zwischen den beiden „sentiments“ wie angegossen paßt: Die einleitende Szene
und der erste Ariensatz (Andantino) schildern Éléazars wachsende Bereitschaft, Rachels
Leben den Vorrang vor seinen Rachegefühlen zu geben; in der Überleitung faßt er diesen
Entschluß, rückt aber sogleich wieder von ihm ab, als er von draußen die Pogromrufe der
Menge vernimmt; in der Cabaletta (Allegro) bekennt er in rauschhafter Begeisterung seine
Bereitschaft zum Märtyrertod an der Seite der „geliebten Tochter“.
Das Rezitativ spannt einen weiten Gefühlsbogen von Todesentschlossenheit zu väterlicher
Milde. Der Anfang mit seinen sprachlichen Anklängen an den romantischen Satanismus zeigt
Éléazar in der Rolle des Verdammten und mythischen Rächers:
Geh, meinen Tod zu verkünden; meine Rache ist gewiß.
Ich bin’s, die dich für immer zum Seufzen verdammt!
Ich habe dir auferlegt meinen ewigen Haß
und nun kann ich sterben.
Indes läßt ihn der Gedanke an die Tochter und ihren bevorstehenden Tod innehalten und sich
seiner eigenen Schuld bewußt werden:
Aber meine Tochter!... O Rachel! Welch schrecklicher Gedanke
Läßt mein Herz zerreißen.
Furchtbarer Wahnsinn, betäubende Wut,
du bist es, die ich, um mich zu rächen, meiner Wurt opfere.
Der langsame Ariensatz faßt Éléazars Bindung an Rachel in einen imaginären Dialog des
Vaters mit der geliebten Tochter. Zweimal wendet er sich an die ihm von Gott zum Schutze
Anvertraute, deren Glück er sein ganzes Leben geweiht hat, und die er nun bereit ist, dem
Henker zu überantworten. Dazwischen glaubt er ihre Stimme zu vernehmen, die in
Todesangst nach ihm ruft und um Rettung ihres jungen Lebens – des Lebens seines Kindes –
fleht:
Rachel, als der beschützende Gott
meinen bebenden Händen deine Wiege anvertraute
habe ich deinem Glück mein ganzes Leben gewidmet
und nun bin ich es, der dich dem Henker ausliefert.
Aber ich höre eine Stimme, die zu mir schreit:
Rettet mich vor dem Tod, der mich erwartet!
Ich bin jung und ich hänge an meinem Leben
10
o mein Vater, verschont eure Tochter!
Ach! Rachel, als der beschützende Gott [usw.]
Der bogenförmigen Textstruktur entspricht musikalisch eine dreiteilige Reprisenform (a-b-a´).
Für die Rahmenteile verwandte Halévy eine um die Dominante kreisende melancholische
Melodie in Moll (f), deren jüdische Provenienz Abraham Zebi Idelsohn aufgedeckt hat. Den
Mittelteil,
dessen
zunächst
verhaltene
Erregung
sich
am
Ende
in
einem
Verzweiflungsausbruch entlädt, gestaltet er als einen weiten melodischen Spannungsbogen in
der Durparallele (As).
Der englische Musikwissenschaftler Cormac Newark hat dem musikalischen Aufbau dieser
Arie eine interessante, wenn auch überspitzte Deutung gegeben: In dem Kontrast zwischen
der „oriental color“ der Rahmenteile und der klaren diatonischen Affektsprache des Mittelteils
sieht er eine verschlüsselte Aussage über Rachels gespaltene Identität: Christin durch Geburt,
Jüdin durch Bekenntnis. Da allein Éléazar diesen Zwiespalt ihrer Person kenne, empfinde
auch nur er den Konflikt, der musikalisch dadurch chiffriert werde, daß der Vater mit der
Tochter im „orientalischen“, die Tochter mit dem Vater im „europäischen“ Idiom
kommuniziere. Insofern es sich in Wahrheit um ein Selbstgespräch Éléazars handele, sei die
Stimme der Tochter zu verstehen als sein schuldbewußtes alter ego, das die Besinnung auf
Rachels Herkunft anmahnt: “[…]the reason Éléazar is so tortured over the fate of Rachel is
that she is not, after all, his biological daughter and therefore not Jewish, an irony with
implications for what the audience may think about blood […].”8 Allerdings unterstellt die
Annahme, Éléazar würde bei dem Gedanken „leiden“, Rachel sei nicht seine leibliche
Tochter, diesem ein „biologistisches“ Denken, das mit dem Charakter der Figur
schlechterdings unvereinbar erscheint. Tatsächlich bedeutet Rachels Abstammung als solche
für Éléazar keinerlei Anfechtung; so lange jene sich selbst als „Jüdin“ versteht und an dieser
Überzeugung festhält, ist sie seine, nicht Brognis „Tochter“. Nur dann würde er sie an ihn
verlieren, wenn sie sich von ihrem Glauben lossagte; anzunehmen, daß sie dies je täte, hat
Éléazar zwar keinen Grund, aber es bleibt bei ihm offenbar ein Rest von Zweifel, ob das
Wissen um ihre Herkunft Rachel nicht doch in ihrer Entscheidung schwanken machen könnte,
und deshalb enthält er es ihr vor, selbst noch angesichts des Schafotts. Da aber allein Rachels
Abkehr vom jüdischen und Hinwendung zum christlichen Glauben ihre Rettung bedeuten
8
Cormac Newark, Ceremony, Celebration, and Spectacle, in: Roger Parker/Mary Ann Smart (Hrsg.), Reading
Critics Reading. Opera and Ballet Criticism in France from The Revolution to 1848, Oxford-New York 2001, S.
155-187, hier: S. 162.
11
würde, stellt sich für Éléazar die Frage: Opfert er Rachels Leben ihrem Glauben, oder ihren
Glauben ihrem Leben? Für den Juden, der die Christen mit „ewigem Haß“ verfolgt, steht die
Antwort im Grunde von vornherein fest, und weil er das weiß oder zumindest ahnt, fühlt er
sich gegenüber der Tochter in der Schuld.
Vergegenwärtigt man sich die Unausweichlichkeit von Éléazars Entscheidung, so wird
deutlich, daß die dramaturgische Funktion seiner „Szene und Arie“ nicht in der Herbeiführung
einer Peripetie bestehen kann, vielmehr allein in der Nobilitierung der Figur des Protagonisten
als eines an seinen Widersprüchen leidenden Charakters. Dies ist denn auch mit dem
langsamen Ariensatz auf beispielhafte Weise gelungen. Umso weniger überzeugt die
Dramaturgie des nachfolgenden „tempo di mezzo“, wirken doch Éléazars Entscheidungen
zunächst für, dann gegen das Leben der Tochter weder in sich noch in ihrer schnellen Abfolge
psychologisch überzeugend. Unglaubwürdig erscheint zumal, daß das Pogromgeschrei der
Menge – für Éléazar gewiß keine neue Erfahrung – in der Lage sein sollte, einen so
schwerwiegenden Entschluß, wie er ihn gerade gefaßt hat, sogleich wieder umzustoßen. Nicht
die Bereitschaft, Rachel nun doch als Märtyrerin in den Tod zu schicken, wirkt befremdend,
sondern die Schnelligkeit und Leichtigkeit, mit der dieser abermalige Gefühlsumschwung
vonstatten geht. Von nun an bis zum Schluß der Szene (und zugleich des Aktes) steigert sich
Éléazar in eine alle Grenzen sprengende religiöse Ekstase und Todesbereitschaft, die Züge
von Hysterie, ja Wahnsinn annimmt („avec exaltation“ lautet die Vortragsanweisung am
Beginn der Cabaletta): Gott möge ihn erleuchten, wenn er die „geliebte Tochter“ auffordert,
an der Seite des Vaters in den Tod zu gehen, und sie um Vergebung bittet, daß er ihr die
Märtyrerkrone überreiche; Furcht und Klage bedeuteten nichts angesichts der heiligen
Begeisterung, die ihn für den Sieg des Gottesreiches beseele.
In der Überleitung vor der Wiederholung der Cabaletta erfahren die Pogromrufe der Menge
eine klangliche Intensivierung; bestanden sie zuvor nur aus Männerstimmen, so treten nun
auch Frauenstimmen hinzu. Éléazar fühlt sich dadurch erst recht herausgefordert, die
Entscheidungsgewalt über das Leben der Tochter auszuüben:
Israel fordert sie,
es ist der Gott Jakobs
dem ich ihre Seele geweiht habe.
Niemals werde er – Éléazar – es zulassen, um einer kurzen Verlängerung ihres irdischen
Lebens willen, sie des ewigen Lebens zu berauben, da der Himmel sie bereits erwarte. Es ist
12
deutlich: Nach seinem Glaubensverständnis sieht sich Éléazar im Recht und in der Pflicht,
über das Seelenheil seiner Tochter zu entscheiden, und dieses hängt – so seine unumstößliche
Überzeugung – allein davon ab, daß Rachel ihrem jüdischen Glauben treu bleibt, selbst um
den Preis der Opferung ihres Lebens. Fraglich erscheint allerdings, ob sich Éléazar für diese
Haltung tatsächlich so umstandslos, wie er es tut, auf die Religion seiner Väter berufen kann,
war es doch in biblischen Zeiten nicht der „Gott Jakobs“, sondern „Baal“, der Menschenopfer
forderte.
Zum Zerrbild des Jüdischen, das der Text hier entwirft, gehört auch die Vemischung von
Éléazars Rettung der Seele Rachels und seiner Rache an Brogni. Ihr hatte Éléazar nach
langem inneren Ringen abgeschworen und zugleich die Konsequenz dieser Entscheidung für
sein Handeln benannt: „Ach, ich schwöre für immer meiner Rache ab; Rachel, nein, du wirst
nicht sterben!“ Tatsächlich setzt in der gegebenen Situation der Verzicht auf Rache das
Weiterleben Rachels voraus. Schickt Éléazar seine Ziehtochter, wie er nun beschließt, in den
Märtyrertod, so vollzieht er eben doch, nurmehr metaphysisch überhöht, sein Rachewerk an
Brogni, – es sei denn, er würde diesem das Wissen über Rachels wahre Identität für immer
vorenthalten. Genau das aber tut er nicht, wie der Verlauf des V. Aktes erweist.
Der „tragische“ Schluß der Oper mit der öffentlichen Hinrichtung der beiden Juden und der
Aufdeckung
von
Rachels
Herkunft
durch
Éléazar
im
Augenblick
ihres
Todes
(vorausgegangen ist die Umwandlung des Todesurteils für Léopold in Verbannung, nachdem
Rachel sich selbst der Falschaussage bezichtigt hatte) steht am Ende intensiver und
langwieriger Bemühungen um ein dramaturgisch plausibles, dabei bühnenwirksames
Denouement der komplizierten Handlung. Vorrang hatte lange Zeit die Idee eines „lieto fine“
mit weitgehenden Auswirkungen auf die szenische Struktur vor allem der letzten beiden Akte,
die in zahlreichen Textvarianten durchgespielt wurden. Grundgedanke war die Konversion
Rachels zum Christentum, ihre Hinwendung zum leiblichen Vater und ihre Abkehr vom
Ziehvater, sowie der Ausschluß Éléazars aus der allgemeinen Versöhnung. Der Jude – so
heißt es – entfernt sich mit einem zornigen Blick auf Rachel („…s’éloigne en jettant sur elle
un regard de courroux“), – vergleichbar dem Abgang Beckmessers in der Festwiesenszene am
Schluß von Wagners Meistersingern von Nürnberg (1868). Die Außenseiterrolle Éléazars und
damit diejenige des „Juden“ innerhalb der „christlichen“ Gesellschaft erscheint damit von
Beginn an vorgegeben, und Scribe brauchte denn auch, als er von einem „lieto fine“ Abstand
nahm, in der Charakterisierung des Éléazar lediglich dessen negative Eigenschaften zu
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verstärken und ihr zerstörerisches Potential noch deutlicher hervortreten zu lassen. Auch der
Horror-Schluß mit dem Sturz der Verurteilten in einen Kessel mit kochendem Wasser (oder
Öl; die Quellen sind hier nicht eindeutig) war nach dem Zeugnis Vérons, des damaligen
Direktors der Opéra, die Idee Scribes, dem es hier einmal mehr darauf ankam, dramatische
Effektivität durch szenische Mittel zu erhöhen. Für das Bild des Juden Éléazar liefert die
Schlußszene eine letzte sinistre Facette.
Unmittelbar vor der Hinrichtung wendet sich Éléazar an Rachel mit der Frage, ob sie leben
wolle, allerdings ohne ihn und als Christin. Das für Rachels Entscheidung grundlegende
Faktum ihrer Herkunft freilich enthält er ihr nicht nur vor, sondern verschleiert es sogar noch,
indem er sie mit „mein Kind“ anredet. Für diesen Preis weist Rachel ihre Rettung zurück und
bekennt sich zum Märtyrertum. Damit ist für Éléazar der Weg frei, seinen Racheplan in die
Tat umzusetzen. Noch einmal erweckt er bei Brogni die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit
der Tochter, indem er dessen Frage, ob sie noch lebe, bejaht, aber nur um ihn gleich darauf
zum Augenzeugen ihres furchtbaren Todes werden zu lassen. Dargestellt wird dies mit den
Mitteln einer ausgefeilten „Suspense“-Dramaturgie, die sich nicht in der perfekten
Realisierung eines grellen Theatereffekts erschöpft, sondern der Charakterzeichnung des
Protagonisten einen bislang noch fehlenden Zug hinzufügt: Grausamkeit, zweifelsohne auch
gegen sich selbst. Éléazars Worte und Gesten, letztere ablesbar an den minutiösen
Regieanweisungen, bezeugen die Eiseskälte, mit der er das erforderliche Timing seiner
Enthüllung sicherzustellen bestrebt ist, indem er während seiner Antwort an Brogni die letzten
Schritte Rachels an den Rand des Kessels beobachtet, um erst im Augenblick ihres Sturzes in
denselben dem Kardinal sein triumphierendes „Da ist sie!“ entgegenzuschleudern.
BROGNI:
Bereit zum Sterben, antworte dieser Stimme die dich anfleht:
Dieses Kind, das der Jude den Flammen entrissen hat…
ÉLÉAZAR (kalt):
Nun denn?
BROGNI
Antworte: Meine Tochter, lebt sie noch?
ÉLÉAZAR (auf Rachel blickend, die dabei ist, die Plattform oberhalb des Kessels zu
besteigen):
Ja!
BROGNI (mit Freude):
Gott! Wo ist sie denn?
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ÉLÉAZAR (auf Rachel zeigend, die man in den kochenden Kessel stürzt):
Da ist sie!
(Brogni stößt einen Schrei aus und fällt auf die Knie, sein Kopf in den Händen verbergend.
Éléazar wirft ihm einen Blick des Triumphes zu, dann geht er mit festem Schritt zur
Richtstätte.)
CHOR:
Ja, es ist geschehen, und an den Juden sind wir gerächt worden!
(Währenddessen besteigt Éléazar die Treppe, die zum eisernen Kessel führt; der Vorhang
fällt.)
Das letzte Wort freilich hat der Mob, der ebenso brutal wir ahnungslos die Ermordung der
Juden als „Rache“ feiert. Die durch Vorschläge geschärften Tonrepetitionen lassen die
Passage als musikalisch stilisiertes Gelächter erscheinen
Es fällt schwer, den Text wie die Bildsprache des Schlußtableaus anders zu “lesen” denn als
emotionalen Appell an antisemitische Vorurteile. Der Triumph des Juden und der Schmerz
des Christen haben ihren gemeinsamen Grund im Tod derjenigen, die Jüdin nach ihrem
Bekenntnis, Christin nach ihrer Abstammung ist. Da diese erst im Augenblick ihres Todes
vom Juden als Akt der Rache gegenüber dem Christen offengelegt wurde, verlagern sich die
Sympathien des Zuschauers nahezu zwangsläufig vom Verfolgten auf den Verfolger, in den
Worten Ulrich Schreibers: „Unser Mitleid für die geopferte Rachel wird gerade dadurch
verstärkt, daß sie ihren Tod als Christin erleidet, als Rassegenossin der überwiegenden
Mehrheit des Publikums. Und sie erleidet diesen Tod, weil sie den Haß ihres jüdischen
Ziehvaters auf die Christen teilt. Da wird im Rezipienten sacht, aber unerbittlich die
Pogromsituation verkehrt: die Juden als reale Opfer werden zu den wahren Tätern
diffamiert.“9 Sollte diese Darstellung einem Kalkül entspringen, so unterstellt dieses beim
zeitgenössischen Publikum eine „biologistische“ Denkweise und eine solche dürfte, wenn
auch noch nicht in Form eines rassenideologischen Systems, in der Tat verbreitet gewesen
sein, was von der aktuellen Antisemitismusforschung bestätigt wird.10 Zwar existieren
9
Ulrich Schreiber, a.a.O., S. 375.
Die aufgrund der späten Prägung des Begriffs „Antisemitismus“ (1879) vertretene Auffassung, auch das damit
bezeichnete Phänomen der rassischen Judenfeindschaft habe sich erst im späten 19. Jahrhundert herausgebildet
und vom zuvor herrschenden religiös begründeten „Antijudaismus“ abgesetzt, läßt sich nicht halten. Vgl. dazu
Johannes Heil, „Antijudaismus“ und „Antisemitismus“. Begriffe als Bedeutungsträger, in: Jahrbuch für
Antisemitismusforschung, Bd. 6 (1997), S. 92-114, sowie Jens Malte Fischer, Richard Wagners „Das Judentum
in der Musik“. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M.Leipzig 2000, S. 33-45, hier: S. 35f.: „Es gibt […] parallel zur jüdischen Emanzipation eine Emanzipation
antijüdischer Vorstellungen von religiösen Begründungen, einen schleichenden Prozeß der Herausbildung des
rassischen Antisemitismus, der als Parallelprozeß zur jüdischen Emanzipation zu verstehen ist und sich wie diese
über den Zeitraum von etwa 100 Jahren erstreckt.“
10
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Zeugnisse für die Wahrnehmung Rachels als „Jüdin“ seitens des zeitgenössischen Publikums,
jedoch erweisen gerade sie sich als „biologistisch“ geprägt, beziehen sie sich doch
unmißverständlich auf den vertrauten literarischen und bildnerischen Topos der „exotischen
Frau“ und seine Verkörperung durch eine Reihe jüdischer Sängerdarstellerinnen, die während
der frühen Aufführungsgeschichte dieser Oper das Rollenprofil Rachels maßgeblich bestimmt
haben. Ob es sich dabei um repräsentative Meinungen handelte, läßt sich aus heutiger Sicht
kaum mehr entscheiden, zumal sie sich auf ephemere Theatereindrücke und nicht auf die
Analyse der Rolle und ihres dramatischen Kontextes stützen. Aber auch für diesen ergibt sich
ein zwiespältiges Bild. So sind die dramatis personae als Christen wie als Juden zwar durch
ihr Bekenntnis zur jeweiligen Glaubensgemeinschaft definiert, aber die Zugehörigkeit zu ihr
erlangten sie aufgrund ihrer Abstammung, – eben mit der einzigen Ausnahme Rachels, die als
als Tochter von Christen geboren wurde und ohne Wissen um ihre Herkunft als Jüdin
aufwuchs. Die Fokussierung der Schlußszene auf ebendieses Faktum und seine schockhafte
emotionale Aufladung lösen dann geradezu zwangsläufig beim Publikum jenen SympathieSwing von den Juden zu den Christen aus, der ihre historischen Rollen als Opfer und Täter
zwar nicht vollends negiert, aber doch in der Wahrnehmung relativiert, weil austauschbar
macht.
Offensichtlich war Scribe daran gelegen gewesen, das Stück weder als antiklerikales
Pamphlet, noch als Apotheose des Judentums wirken zu lassen. Beide Tendenzen, die sich
gegenseitig stützen, sind dem Stoff inhärent und begegnen denn auch immer wieder als
einseitige Lesarten der Oper je nach dem Standpunkt des Betrachters. Scribes Strategie
bestand nun darin, einen Ausgleich zwischen ihnen dadurch herbeizuführen, daß er die
widerstreitenden Parteien nicht im Schwarz-Weiß-Kontrast einander gegenüberstellte,
sondern Licht und Schatten unter beiden gleichmäßig verteilte. Angesichts des historisch
gegebenen Machtgefälles zwischen den herrschenden Christen und den von ihnen
beherrschten Juden konnte dies nur heißen, bei ersteren positive, bei letzteren negative
Gegenakzente zu setzen, konkret: den zur Versöhnung bereiten Brogni und den Fanatiker
Éléazar als Repräsentanten ihrer Religionen zu konfrontieren. Eine ausgewogene Darstellung
der Konfliktparteien wurde von Scribe in seinen Historienstücken stets angestrebt, und mag
man auch geneigt sein, ein solches Verfahren als „kompromißlerisch“ zu bezeichnen, so sollte
man doch zugleich bedenken, daß es der Differenzierung dient: im Theater wie im
Musiktheater die Voraussetzung für fesselnde Stücke und Rollen. Die Autoren der Juive –
und zu ihnen gehörte auch der Darsteller des Protagonisten – sahen in dem zwischen
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väterlicher Liebe und Christenhaß hin- und hergerissenen Juden zwar auch den geistigen
Repräsentanten eines historischen Ideendramas, mindestens ebensosehr aber die bravouröse
Rolle von ausgeprägter Eigenart. Als ihr Interpret war ursprünglich Levasseur vorgesehen
gewesen: ein Bassist also (er kreierte dann den Brogni). Daß der damals 33jährige Nourrit,
der Tenorstar der Opéra, die Vaterrolle des Éléazar übernahm, war ein doppeltes Wagnis,
widersprach es doch stimmlich wie darstellerisch gängigen Besetzungskonventionen. Allein
sein exzeptionelles künstlerisches Renommee ermöglichte es Nourrit, diese Entscheidung
eigenverantwortlich zu treffen und darüber hinaus auf die kompositorische Gestaltung der
Rolle – gleichsam als ihr Mitschöpfer – persönlich einzuwirken. Auf Nourrits Einfluß dürfte
auch das figurenspezifische musikalische Rollenprofil zurückgehen, das eine tiefere Tessitura
mit nur wenigen, zudem nicht extremen Spitzentönen und eine deutliche Reduzierung der
virtuosen Anforderungen (gemessen an den von Nourrit kreierten Partien in Opern Rossinis,
Aubers und Meyerbeers) vorsah. Zeitgenössische Kritiker überboten sich in Bewunderung für
die stimmlichen Farbwechsel und deklamatorischen Finessen, die der Sänger aufzubieten
wußte, um den widersprüchlichen Seelenregungen Éléazars nachzuspüren. Bei der Analyse
der Figur sollte daher nie außer acht gelassen werden, daß an ihrer Konzeption einer der
größten Sängerdarsteller des 19. Jahrhunderts mitbeteiligt war und daß er hier seine eigene
Rolle gestaltete. Bestimmte Züge der Figur, wie etwa die Affektwechsel auf engstem Raum in
der „Szene und Arie“ des IV. Aktes, die unter rollenpsychologischem Aspekt nicht völlig
überzeugen, entfalten ihre dramatische Plausibilität erst im hic et nunc des theatralen
Augenblicks und der Gestaltungskraft des Interpreten.
Der Charakter des Éléazar in seiner extremen Gespanntheit zwischen widerstreitenden
Empfindungen weist der Figur einen Platz zu in der langen Reihe ganz ähnlicher Figuren des
romantischen Theaters und Musiktheaters mit vielfältigen Rückbezügen auf die mythische
Gestalt des „leidenden Bösen“ in seinen verschiedenen literarischen Ausformungen. Im
Rahmen der Judendarstellungen hatte Shakespeares Shylock diese Linie vorgegeben und nicht
zufällig fand erst die Romantik zu einem tieferen Verständnis der Figur, erprobte für sie neue
differenziertere Deutungsmodelle. Scribes Éléazar knüpfte an die Motivklischees des
traditionellen Judenbildes an – im Sprachgebrauch der Zeit ist er damit ein „juif“ im
Gegensatz zum modernen, vom Liberalismus geprägten „israëlite“ – übersteigerte diese aber
ins Romantisch-Phantastische: Der jüdische Goldschmied aus Konstanz, der als Opfer zum
Täter wird, indem er diejenige, die er über alles liebt, um seines und ihres Seelenheils willen
dem Tod überantwortet, versetzt sich in die Rolle eines mythischen Rächers seines Volkes.
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Diese Überzeichnung des Jüdischen ins Dämonische, die als solche ebenfalls eine
antisemitische Klischeevorstellung bedient, wird hier freilich in die Geschichte zurückgeführt
durch die Konfrontation des Juden mit der „Menge“ („foule“, nicht „peuple“), welche die
Vernichtung des Außenseiters fordert, ihren Vollzug mit sadistischer Lust genießt („Oui, ce
spectacle nous enchante!“ = „Ja, dieses Schauspiel entzückt uns!“ artikuliert der Mob seine
Vorfreude auf die Hinrichtung, deren gräßliche Details er begierig ausmalt). Aus der Sicht des
Juden ist dies die reale Situation des Pogroms als Gegenstand seiner kollektiven Erfahrung,
und es spricht für Scribes und Halévys unbestechlichen Blick auf historische
Zusammenhänge, daß sie diesen Gedanken zum Schlüssel für die Psychologie der Rolle wie
für die Dramaturgie des Stücks insgesamt gemacht haben. Éléazars Christenhaß findet, wenn
nicht seine Rechtfertigung, so doch seine Erklärung in der Pogromhaltung des Pöbels, die sich
zwar christlich drapiert, tatsächlich aber einem kollektiven Aggressionstrieb zum Durchbruch
verhilft. So wird gleich am Beginn der Oper eine Drohkulisse errichtet, die sich zum Schluß
hin mit tödlicher Wirkung zusammenschiebt. Den Wirkungsmechanismus hat der junge
Giacomo Meyerbeer in einem Brief an seinen Bruder Michael (September 1818) hellsichtig
beschrieben, wenn er diesen ermahnt, nur ja nicht den Fortbestand des Judenhasses in der
Gesellschaft zu vergessen, „das eiserne Wort >Richesse<“, wie er sich ausdrückt: „Von
Individuum zu Individuum kann dieses Wort für eine Zeitlang in Vergessenheit gerathen
(immer auch nicht) bei einem versammelten Publikum nie, denn es bedarf nur eines, der sich
daran erinnert um der ganzen Maße [=Masse] ihr Natürel zurückzurufen.“11 Die „Psychologie
der Masse“, in der französischen Oper von Lesueur bis Meyerbeer eine Konstante der
Tableaudramaturgie, erfährt hier in der Anwendung auf die Judenthematik eine inhaltlich
überzeugende überzeitliche Legitimierung.
Prof. Dr. Sieghart Döhring
11
Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, Bd. 1 (bis 1824), hrsg. von Heinz Becker, Berlin 1960, S.
368.
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