Queen Victoria and her Age

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Queen Victoria and her Age
Scheusal oder Genie? Eine Legende wird entzaubert
Autor: Christian Feldmann
Redaktion: Hildegard Hartmann
Sprecherin:
Literaten und Drehbuchautoren pflegten sich für ihr Feindbild vom Kaiser Nero auf die
antike römische Geschichtsschreibung zu berufen. Die war nun in der Tat für Nero
vernichtend. Aus den Kaiserbiographien des Schriftstellers und Verwaltungsbeamten
Gaius Suetonius Tranquillus, gestorben um 130 nach Christus:
3. Zitator:
Man kann sagen, dass es keine Art von Blutsverwandtschaft gibt, gegen die er nicht mit
seiner Henkershand einen Schlag geführt hätte. Er kannte beim Morden weder Maß noch
Ziel, sondern würgte jeden Beliebigen unter jedem beliebigen Vorwand hin. Stolz und
aufgeblasen durch das Gelingen seiner Scheußlichkeiten äußerte er, vor ihm habe noch
kein Fürst gewusst, was er sich alles erlauben könne.
Sprecherin:
Ein Muttermörder und Brandstifter sei Nero gewesen, schreibt Sueton, ein Räuber und
Lügner, „schamlos in Haltung und Toilette“. Suetons Zeitgenosse Publius Cornelius
Tacitus, Historiker, Senator und später Proconsul der Provinz Asia, formuliert etwas
vornehmer, aber spürbar angeekelt:
3. Zitator:
Eine alte Liebhaberei von ihm war es, einen Rennwagen mit Vierergespann zu fahren,
und nicht weniger anstößig war seine Neigung, wie ein Bühnenkünstler zur Kithara zu
singen.
Sprecherin:
Neueste Forschungen lassen jedoch Zweifel an der Seriosität der klassischen römischen
Geschichtsschreibung aufkommen. Der italienische Journalist Massimo Fini fasst
zusammen:
Zweiter Zitator:
Bei Tacitus und Cassius Dio, ganz zu schweigen von Sueton, wimmelt es nur so von
Widersprüchen, eindeutigen Entstellungen, unverhüllter Einseitigkeit und plumpen
Fälschungen. In Wahrheit war Nero ein hervorragender Staatsmann. Während seiner
vierzehnjährigen Regierungszeit erlebte das Römische Reich eine Periode des Friedens,
des Wohlstands und der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte, wie es sie weder vor noch
nach seiner Zeit je erfahren hat. Ohne Frage war Nero größenwahnsinnig, ein Visionär,
der, wie Nietzsche sagen würde, im großen Stil dachte und der die Welt nach seinen
Intuitionen zu gestalten versuchte. Von ihm stammt die äußerst gewagte Idee zu einer
Kulturrevolution, durch die er die Römer von ihrer Rohheit abbringen und an die
zivilisiertere, verfeinerte Lebens- und Denkweise des Hellenismus heranführen wollte.i
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Sprecherin:
Ein deutscher Autor, der Münsteraner Religionssoziologe Horst Herrmann, sieht es
ähnlich:
Zweiter Zitator:
Neros Denken und Tun ist weithin mit Hilfe des Musters Generationenkonflikt zu erklären:
Hier dachte, fühlte, handelte ein junger Mann, dem der Senat wie ein Gremium
vergreister, vergrämter Männer erschienen sein musste. Diesen Reiz des Jugendlichen
verzeihen sie ihm nicht, die vom Leben verwundeten Männer im Senat.ii – Er sieht sich
als Künstler aus Berufung. Und er redet das Volk mit den seltsamsten Worten an: ‚Ihr
Herren, schenkt mir geneigtes Gehör!’ Soll sich Rom einem Komödianten beugen?iii
Sprecherin:
Welches Bild ist richtig? Die Geschichte dieses möglicherweise wahnsinnigen, vielleicht
auch nur verkannten Herrschers ist auf jeden Fall eine verrückte Geschichte. Und sie
beginnt schon ganz früh, in seiner Kindheit, mit seiner außergewöhnlichen Mutter.
Sprecher:
Julia Agrippina war eine Kölnerin. Ihr zu Ehren wurde die römische Veteranensiedlung am
Rhein, wo sie 15 nach Christus geboren worden war, in Colonia [gespr. Colónia]
Agrippinensis umbenannt. Sie stammte aus der julisch-claudischen Dynastie, war die
Schwester – und auch die Geliebte – von Kaiser Caligula und eine kaltblütige
Machtpolitikerin, bildschön, hochfahrend, arrogant, unschlagbar raffiniert.
Sprecherin:
Ihr Trauma war das Schicksal ihres Vaters Germanicus, eines erfolgreichen und beim
Volk enorm beliebten Feldherrn, der eigentlich Nachfolger von Kaiser Tiberius hätte
werden sollen, aber plötzlich an der Wassersucht starb. Lange glaubte man in der
Familie, Tiberius habe ihn vergiften lassen. Ihr Leben lang hoffte Agrippina, doch noch
irgendwie an der Macht im Reich teil zu haben. Sie entwickelte die fixe Idee, dass dann
eben ihr Sohn Kaiser werden sollte. Am 15. Dezember 37 wurde er in Antium an der
Mittelmeerküste geboren. Lucius Domitius Ahenobarbus (das heißt Rotbart) wurde er
genannt. Später sollte er den Namen Nero tragen.
Sprecher:
Mit viel Glück gelang es Agrippina und ihrem Sohn, die blutigen Machtkämpfe in der
julisch-claudischen Familie zu überleben. Lucius Domitius wollte eigentlich gar nicht
Kaiser werden. Er träumte von einer künstlerischen Laufbahn als Sänger, Tänzer und
Schauspieler, nicht von Feldzügen und Regierungsgeschäften.
Sprecherin:
Der von Ehrgeiz zerfressenen Agrippina war das egal. Sie setzte ihren Plan ebenso klug
wie zielstrebig in die Tat um.
Zweiter Zitator:
Erster Schritt.
Sprecher:
Nero erhielt eine exzellente Ausbildung in Literatur, Rhetorik, Philosophie und
Mathematik; dafür holte seine Mutter sich den Schöngeist und Philosophen Seneca ins
Haus, der damals groß in Mode war. Tatsächlich hielt Nero schon als Vierzehnjähriger,
nach römischem Recht gerade volljährig geworden, ganz passable Reden im Senat.
Zweiter Zitator:
Zweiter Schritt.
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Sprecher:
Die schöne Agrippina heiratete den als etwas vertrottelt geltenden, aber eine kluge Politik
betreibenden Kaiser Claudius und brachte ihn dazu, Nero zu adoptieren.
Zweiter Zitator:
Dritter Schritt
Sprecher:
Agrippina fädelte eine Ehe zwischen dem sechzehnjährigen Nero und seiner zwölfjährigen
Stiefschwester Octavia ein, die zwar überhaupt nicht sein Geschmack war – blässlich,
prüde, streng, aber eben die Tochter des Kaisers.
2. Zitator:
Und schließlich der letzte Schritt. Doch dafür gibt es nur starke Indizien, keine Beweise:
Sprecher:
Im Jahre 54, Nero war knapp siebzehn Jahre alt, starb Claudius urplötzlich. Man
behauptete, Agrippina habe ihn umgebracht, aus panischer Angst, der Kaiser könne
seinem leiblichen Sohn Britannicus die Nachfolge sichern. Nero war zwar begabt und
schon ziemlich populär, aber eben nur adoptiert. Agrippina landete einen
Überraschungscoup, denn sie geizte nicht mit Geld: Noch bevor die Nachricht vom Tod
des Claudius bekannt wurde, hatten die Prätorianer – die kaiserliche Leibgarde – Nero
zum neuen Imperator ausgerufen. Der Senat, vor vollendete Tatsachen gestellt, musste
zähneknirschend zustimmen.
Sprecherin:
Der siebzehnjährige frisch gebackene Kaiser, der jüngste, den Rom je gehabt hatte, legte
einen ausgesprochen guten Start hin: In seiner Antrittsrede, natürlich war sie vom
Hofphilosophen Seneca entworfen, schmeichelte er den römischen Patriziern und erteilte
allen Versuchungen, seine Macht diktatorisch auszuüben, eine Absage:
Zitator:
Meine Herren Senatoren! Ich bin jung und weiß nichts von Bürgerkriegen und inneren
Zwistigkeiten, ich bringe keinen Hass mit, keine erlittenen Kränkungen und keine
Rachegelüste. Ich werde nicht den Richter in allen Händeln spielen. In meinem Haus wird
nichts käuflich oder einer Günstlingswirtschaft zugänglich sein. Staat und Kaiserhof sollen
getrennt sein. Der Senat soll seine alten Rechte behalten!
Sprecherin:
Tatsächlich scheint es in den ersten Jahren seiner Regierung eine von gegenseitiger
Achtung geprägte Arbeitsteilung zwischen Senat und Kaiserhaus gegeben zu haben.
Seneca, der sehr integre Prätorianerpräfekt Burrus und natürlich die im Hintergrund
überaus aktive Agrippina machten keine schlechte Politik. Inwieweit der blutjunge Kaiser
daran beteiligt war, lässt sich im Rückblick schwer sagen. Die von ihm unterzeichneten
Erlasse lesen sich ziemlich vernünftig: Sie sorgten für eine gerechtere Steuerpolitik und
sollten Erbschleicherei und Urkundenfälschung verhindern. Die Getreideversorgung der
Hauptstadt wurde unter Nero entscheidend verbessert.
Sprecher:
Der Kaiser machte eine gute Figur – auch äußerlich. Nero war kein schöner, aber ein
stattlicher Mann, kräftig gewachsen, mit kupferfarbenen Haaren, gerader Nase,
rundlichen Wangen, sinnlichen Lippen; allenfalls das fliehende Kinn trübte den
angenehmen Eindruck etwas.
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Sprecherin:
Vor allem die einfachen Leute mochten ihn. Was fast verwundert, denn Nero legte
ausgesprochen unrömische Charakterzüge an den Tag. Das Kriegführen machte ihm nicht
den geringsten Spaß, und gegen Gewalt zeigte er eine instinktive Abneigung, zumindest
anfangs.
Zitator:
Wenn ich doch bloß nicht schreiben könnte!
Sprecherin:
– soll er geseufzt haben, als er das erste Todesurteil unterzeichnen musste.
Sprecher:
Unter dem als Friedenskaiser besungenen Augustus waren Tausende von Gladiatoren
dazu gezwungen worden, einander umzubringen oder zu verstümmeln. Nero hingegen
versuchte die Sensationslust der Menge zu befriedigen, indem er eine Seeschlacht in
einem riesigen Bassin nachspielte oder einen Elefanten über Seile balancieren ließ, der
einen römischen Adeligen auf dem Kopf trug.
Sprecherin:
Nach den großen Wagenrennen war es üblich gewesen, dass die Wagenlenker pöbelnd
und plündernd durch Rom zogen wie eine Horde Hooligans. Es war Nero, der dieses
gefährliche Treiben verbot – obwohl er eine Schwäche für den Rennsport hatte.
Sprecher:
Es war Nero, der sich in Spottgedichten und Wandgraffitis verhöhnen ließ und eher
amüsiert zeigte, als etwas gegen die Urheber zu unternehmen – nicht unbedingt das
Verhalten eines Tyrannen.
3. Zitator:
Das Reich zu vergrößern und auszubauen, lag überhaupt nicht in Neros Absicht –
Sprecherin:
– stellt sein Biograph Sueton lakonisch fest. Wenn die Doppeltüren des Janustempels in
Rom geschlossen waren, galt das als Signal, dass an sämtlichen Grenzen des Reiches
Frieden herrschte. In der ganzen langen römischen Geschichte gelang es lediglich drei
Kaisern, diese Türen wenigstens für ein paar Jahre geschlossen zu halten: Augustus,
Vespasian und – Nero.
Es gelang ihm deshalb, weil er auf Diplomatie und kluge Allianzen setzte statt auf
erbarmungslose Eroberungszüge. Lange schon schwelte der Konflikt um das Königreich
Armenien, das eingekeilt zwischen dem Römischen und dem Partherreich lag.
Sprecher:
Nach endlosen Verhandlungen, Scharmützeln, Drohgebärden und Rückschlägen schaffte
Nero eine politische Meisterleistung: Er erkannte den Bruder des Partherkönigs als König
von Armenien an – freilich als König von Roms Gnaden. Der stolze Vasall reiste mit
dreitausend Rittern, befreundeten Fürsten und prächtigen Geschenken nach Rom und
huldigte Nero.
Sprecherin:
Auch aus den britischen Inseln hätte er gern eine Pufferzone unter römischer Kontrolle
gemacht, doch die von den Druiden zum Widerstand ermunterten wilden Stämme hatten
keine Lust, sich zu unterwerfen. Nero soll mit dem Gedanken gespielt haben, Britannien
aufzugeben, wogegen die tonangebende Militaristenfraktion in Rom selbstverständlich
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Sturm lief. Geschickte Feldherren zerschlugen die Aufstandsbewegung, wie es später
auch in Judäa geschah. Aber statt grausame Vergeltung zu üben, betrieb Nero eine
behutsame Politik der Befriedung und des Wiederaufbaus.
Sprecher:
Wichtiger als Krieg und Eroberung, waren ihm Wissenschaften, Kunst und Kultur. Nero
rüstete eine Expedition nach Ägypten aus, um die Nilquellen zu entdecken, er
organisierte Ausgrabungen in Karthago und begann den Bau eines Kanals durch den
Isthmus von Korinth. Das Projekt hätte den Seeweg zwischen Griechenland, Italien und
Kleinasien kürzer und sicherer gemacht, wurde aber von seinen Nachfolgern leider nicht
weitergeführt.
Sprecherin:
Ein bisschen ähnelte Nero dem Bayernkönig Ludwig II. Beide mochten den Krieg nicht
und waren besessene Bauherren. Neros Architekten waren die ersten, die mit dem neu
entwickelten Baustoff Beton umgehen konnten; weil die Kuppeln und Rundtempel jetzt
keine riesigen Stützmauern mehr brauchten, wirkte die Architektur plötzlich viel leichter
und luftiger.
Sprecherin:
Neros Rolle als Zirkusbetreiber und Publikumsunterhalter gehört eher in diese Sparte
„Kunst und Kultur“ als in die Ecke „verrückter Selbstdarsteller“. Panem et circenses, Brot
und Spiele, verlangten die Römer von jedem ihrer Herrscher, und jeder Kaiser wusste an
der Stimmung in der Arena abzuschätzen, wie beliebt oder verhasst er bei der Masse
war. Nero verstand es, virtuos auf dieser Klaviatur zu spielen. Er verteilte großzügig
Geschenke und ersann prickelnde Sensationen für das Publikum.
Sprecher:
Doch gleichzeitig versuchte er tatsächlich, die Volksmassen zu erziehen. Er bot ihnen
mehr als Gladiatorenkämpfe und Tierhatz. Er begeisterte sie für Poesie, Theater, Musik,
Tanz. Wobei freilich schwer zu entscheiden ist, was die Menge mehr interessierte:
Dramentexte und Gedichtstrophen – oder ein leibhaftiger Kaiser, der vor ihnen über die
Bühne hüpfte und sich mit der Kithara in der Hand einem musikalischen Wettkampf
stellte.
Sprecherin:
Dabei soll er als Dichter und Sänger wirklich gut gewesen sein. Leider ist uns nur ein
einziger garantiert echter Vers aus seiner Feder erhalten:
Zitator:
Der Hals der Venustaube schimmert bei jeder Bewegung.
Sprecherin:
Als private Marotte hätte man diese Vorliebe für griechische Lebensart durchaus
akzeptiert. Gebildete Römer lasen Seneca, versuchten sich zu Hause mit eigenen Versen
oder spielten die Kithara – aber nie wären sie auf den Gedanken gekommen, öffentlich
aufzutreten. Nero war besessen davon.
Sprecher:
Im Lauf der Jahre scheint er sich immer exzessiver als Lyraspieler, Sänger, Schauspieler,
Tänzer und – nicht zu vergessen – als Rennfahrer betätigt und die Regierungsgeschäfte
stark vernachlässigt zu haben. Auf einer Griechenlandreise sammelte er bei Festspielen
und Wettkämpfen nicht weniger als 1808 Siegeskränze, die er in seinen Schlafräumen
und im Circus Maximus aufhängen ließ. Das konnte nicht gut gehen. Zwischen Nero und
dem Senat entspann sich ein Dauerkonflikt, der dazu führte, dass der erst so gutwillige
Kaiser immer autoritärer und misstrauischer agierte. Er trennte sich von seinen Beratern.
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Sogar seinem alten Lehrer Seneca befahl er den Selbstmord, weil er ihn in eine
Verschwörung verwickelt glaubte.
Sprecherin:
Dass er sich in den Augen konservativer Kreise unmöglich machte, war der Grund für die
Eskalation – nicht Neros sexuelle Experimentierfreude, die die Gemüter heute noch
aufwühlt. Denn der Umgang mit schönen Knaben war für die römische Oberschicht
damals ebenso gang und gäbe wie Partnertausch und Inzest.
Sprecher:
Das war also nicht das Problem. Auch nicht die Verbrechen, die in allen
Geschichtsbüchern stehen und an denen Historiker zunehmend Zweifel äußern;
zumindest rücken sie die Fakten zurecht: Der in den Tod getriebene Seneca war ein
raffgieriger Intrigant im Spiel um Besitz und Macht. Neros Mutter Agrippina, die er mit
tückischer Raffinesse ermorden ließ, hatte plötzlich Sympathien für seinen Stiefbruder
Britannicus als den besseren Kaiser erkennen lassen. Sie hätte möglicherweise Nero
beseitigt – darin hatte sie Erfahrung -, wäre er ihr nicht zuvor gekommen.
Sprecherin:
Britannicus, ein Epileptiker, starb zwar auch auffallend plötzlich, aber es ist nicht
bewiesen, dass Nero dabei seine Hand im Spiel hatte. Dass er seine schwangere
zweite Frau Sabina Poppaea in einem Wutanfall mit einem Fußtritt ins Jenseits
beförderte, erscheint höchst zweifelhaft. Nero liebte die mondäne Dame abgöttisch und
freute sich mächtig darauf, Vater zu werden.
Sprecher:
Wirklich übel mutet allerdings der Mord an Poppaeas Vorgängerin Octavia an, die Nero im
Dampfbad ersticken ließ, weil sie ihm mit ihrer vornehmen Zurückhaltung auf die Nerven
ging und weil er freie Hand bei Poppaea haben wollte. Diese Bluttat verzieh ihm auch das
römische Volk nicht, das die schlicht auftretende Patrizierin verehrt hatte.
Sprecherin:
Vielleicht brach ihm auch die Finanzkrise den Hals, in die er das Reich mit seiner Bauwut
gestürzt hatte. Wieder eine Parallele zu König Ludwig II. in Bayern. Der hatte freilich
nicht mit den verheerenden Folgen eines Hauptstadtbrandes zu kämpfen wie Nero im Juli
64. Zehn von vierzehn römischen Stadtvierteln wurden von den Flammen völlig zerstört.
Der Kaiser ließ beim Wiederaufbau die Straßen verbreitern, schrieb massive Steinmauern
für alle Gebäude und andere Maßnahmen zur Brandverhütung vor. Aber das kostete viel
Geld. Nero begann nicht nur die Provinzen und ihre Tempelschätze auszuplündern,
sondern auch die Senatoren zu finanziellen Sonderleistungen heranzuziehen. Als er
verfügte, dass der Nachlass aller Personen, die den Kaiser in ihrem Testament
unfreundlicherweise nicht bedacht hatten, dem Fiskus verfallen sollte, war das Maß voll.
Sprecher:
Das Gerücht, Nero selbst habe den Brand gelegt, hat wenig für sich – in diesem Fall hätte
er wohl für den Schutz seines eigenen Palastes gesorgt und seine geliebten Kunstschätze
in Sicherheit gebracht. Aber es ist ein Indiz dafür, dass das Volk dem Kaiser mittlerweile
so ziemlich alles zutraute. Und auch den Christen, einer jüdischen Geheimsekte von
Habenichtsen und Asketen, die den römischen Göttern die Verehrung verweigerten und
vom Weltuntergang in einem großen apokalyptischen Brand redeten.
Sprecherin:
Ihnen schob Nero die Schuld am Brand zu. Die Christen zum Sündenbock zu machen,
war auf den ersten Blick ein schlauer Einfall. Aber der Schauspieler und Tänzer auf dem
Kaiserthron hatte das Gespür für die Realität endgültig verloren. Nach einer
gescheiterten Verschwörung reiste er im Jahr 66 – es war das zwölfte Jahr seiner
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Regentschaft – fluchtartig nach Griechenland und wagte sich erst im Januar 68 nach Rom
zurück. Er litt ganz offensichtlich an Verfolgungswahn, inszenierte Prozesse wegen
Majestätsbeleidigung und ließ den Senat während der Sitzungen von schwer bewaffneten
Soldaten besetzen.
Sprecher:
An den Grenzen des Imperiums formierte sich der Widerstand: Der angesehene
dreiundsiebzigjährige Statthalter Galba zog aus Spanien mit seinen Truppen gegen Rom.
Als in dem politischen Chaos die Getreidepreise stiegen, meuterte das Volk.
Der Senat erklärte Nero zum Staatsfeind, und am Ende ließ auch die Prätorianergarde
den glücklosen Kaiser im Stich.
Sprecherin:
Von allen verlassen und von einem Verhaftungskommando gejagt, nahm sich Nero am 9.
Juni 68 das Leben, besser gesagt, er versuchte sich einen Dolch in den Hals zu stoßen.
Aber er war zu zaghaft, einer seiner Sklaven musste ihm helfen. Neros letzte Worte sind
gut verbürgt:
Zitator:
Qualis artifex pereo!
Zitator:
Was für ein Künstler stirbt mit mir!
Sprecherin:
Die mit Rom verbündeten Parther trauerten aufrichtig um Nero, und auch in Rom, wo
mürrische, sparsame Soldatenkaiser einander abwechselten, begann bald die verklärte
Erinnerung an den lebenslustigen Nero zu blühen.
Sprecher:
Wenn da nicht die Geschichtsschreiber gewesen wären, die für eine beispiellos schlechte
„Presse“ sorgten. Moderne Historiker aus England, Frankreich und Rumänien weisen
allerdings darauf hin, dass ihre antiken Vorläufer parteiisch waren: Sie dienten den
Interessen des Senats, der mit Nero über Kreuz gewesen war, und später des
Christentums, das aus dem ersten Christenverfolger verständlicherweise einen Satan
machte.
Sprecherin:
Moderne Autoren wie Massimo Fini oder Horst Herrmann vermuten Neros politische
Größe gerade in seinem Showtalent: in seiner Fähigkeit, das Volk für sich und seine
Kulturrevolution zu gewinnen. Kulturrevolution? Richtig gehört. Nero versuchte die
Mentalität der römischen Gesellschaft zu verfeinern, indem er sie mit Sitten und
Lebensstil der Griechen anreicherte.
Sprecher:
Was eine eminent politische Wirkung haben musste. Denn eine Verschiebung des
kulturellen Schwerpunkts nach Osten war für das expandierende Weltreich
unvermeidlich. Der klassische römische Bürger hielt immer noch das Kapitol für den
Nabel der Welt; er hatte es dringend nötig, andere Kulturen und Lebensweisen kennen zu
lernen.
Sprecherin:
Wenn das stimmt, war Nero eigentlich ein vorausschauender und kluger Politiker, weil er
durch und durch Künstler war.
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i
Massimo Fini: Nero. Zweitausend Jahre Verleumdung. Die andere Biographie. Aus dem
Italienischen von Petra Kaiser, Herbig München 1994, 12 f [SACHBUCH]
ii
Horst Herrmann: Nero. Eine Biographie. Aufbau Berlin 2005, 243 [SACHBUCH]
iii
Herrmann, a. a. O. 190 f
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