Die politischen Dimensionen des Action Samba und
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Die politischen Dimensionen des Action Samba und
Die politischen Dimensionen des Action Samba und der Rhythms of Resistance Bewegung Hausarbeit im Rahmen des Studiums der Kulturwissenschaften an der Universiät Hildesheim / Schwerpunkt Musik Kontakt: [email protected] Inhaltsverzeichnis [1] Einleitung......................................................................................................... 1 [2] Rhythms of Resistance – ein Überblick..........................................................1 [2.1] Entwicklungsgeschichte der Bewegung.............................................3 [2.1.1] Exkurs: die Blocos Afros Brasiliens......................................5 [3] Konzeptionelle Ausrichtung und Selbstverständnis.......................................8 [3.1] Äußerlich wirksame Strategien..........................................................9 [3.1.1] Funktionen des Action Samba im Protestkontext...............9 [3.2] Interne Dimensionen des Action Samba..........................................11 [4] Einordnung – Action Samba als politische Musik?.......................................12 [5] Fazit.................................................................................................................16 [1] Einleitung September 2000: die Weltbankgruppe findet sich in Prag zu einer internationalen Tagung ein, begleitet von massiven Protesten verschiedenster linker Bewegungen, die in der Institution ein Machtinstrument des westlichen Kapitalismus und eine Geißel der Entwicklungsländer sehen. Unter den Protestierenden befindet sich eine große Anzahl in den Farben Pink und Silber gekleideter Personen, die teilweise mit großen Trommeln und sonstigen Rhythmusinstrumenten ausgestattet sind. Mit lauten Sambarhythmen und Tänzen erreicht die Gruppe das Konferenzcenter der Weltbank und darf erleben, wie reihenweise Polizeikräfte verstört zurückweichen, die ansonsten mit aller Härte gegen eindringende Demonstrierende vorgehen würden. Schließlich muss die Konferenz aufgrund der Protestierenden um und teilweise sogar im Gebäude abgebrochen werden. Eine Sambaband und eine tanzende Menschenmasse in pinken Feenkostümen haben für so viel Verwirrung in den sonst klaren Fronten zwischen Demonstrierenden und der Polizei gesorgt, dass der hochkarätige Besuch voreilig abreiste. Die Wirkung dieses Ereignisses sollte bald Schule machen und eine Vielzahl von Action Sambabands weltweit entstehen lassen, die sich unter dem Namen Rhythms of Resistance vereinigten. In der vorliegenden Arbeit möchte ich dieses Phänomen untersuchen, eine systematische Beschreibung der Geschichte, Organisation und Motivation der Bewegung liefern und feststellen, in wie weit der Samba, wie ihn diese Gruppen praktizieren, als eine politische Musik verstanden werden kann. Dabei werde ich mich bei der Beschreibung hauptsächlich auf Quellen aus dem Internet berufen, da publizierte Literatur über die Bewegung nach meinem bisherigen Kenntnisstand nicht verfügbar ist. In dieser relativen Neuheit und Unerforschtheit liegt für mich gleichzeitig der Reiz, mich mit diesem Thema auseinander zu setzen. [2] Rhythms of Resistance – ein Überblick Das Netzwerk von Sambagruppen mit politischem Hintergrund, die sich unter dem Titel Rhythms of Resistance vereinigt haben, wächst ständig an. Nach der Gründung der ersten Formation in London im Jahr 2000 sind es mittlerweile über 50 Gruppen, die meisten davon in Europa, aber auch in Israel, Kanada, Mexiko und Australien. 1 Gemeinsam ist 1 Vgl. „RoR groups worldwide“, verfügbar über: http://maps.google.com/maps/msie=UTF&msa=0&msid=204009484479655484085.00049a759efde09 6893a5 allen der kreative Kampf gegen die negativen Auswirkungen des Kapitalismus und der Globalisierung, sowie gegen Sexismus, Umweltzerstörung, Sozialabbau, Militarismus, und weitere Problemfelder, die allgemein in ein kritisches linkes Politikverständnis eingeordnet werden können.2 Jede Samba Gruppe agiert dabei autonom und entscheidet selbst woran sie sich beteiligt, welche Themenfelder ihr besonders wichtig sind und wie sie sich politisch genau positioniert. Es existiert kein Manifest, dem sich die Gruppen verpflichten und auch keine übergeordnete Leitstelle, die die weltweit verstreuten Sambistas, wie die Akteure sich selbst oft bezeichnen, koordinieren. 3 Lediglich eine Internetseite (www.rhythms-of-resistance.org) dient als Informations- bzw. Austauschplattform für alle Bands, sowie eine Mailingliste über die aktuelle Termine bekannt gegeben werden. Ziel dieser Vernetzung ist neben dem Informationsaustausch das Ermöglichen von Zusammenkünften der verschiedenen Formationen auf internationalen Großevents linker Protestbewegungen wie beispielsweise den Demonstrationen gegen die G8 oder die Weltbank, aber auch eher nationalen Protesten wie der Anti-Nazi-Demonstration in Dresden.4 Zusammentreffen bedeutet in diesem Zusammenhang das gemeinsame Musizieren vor dem Hintergrund der 14 Rhythms of Resistance Standartrhythmen, die alle Gruppen unter zur Hilfenahme der online zur Verfügung stehenden Noten und Hörbeispiele erlernen.5 Zur Verständigung während des Musizierens dient ein differenziertes Zeichensystem, welches selbst in großen Gruppen das Kommunizieren von Breaks, Songwechseln oder dynamischen Veränderungen ermöglicht. 6 Die Rolle des Zeichengebers, auch Mestre genannt, wird dabei von mal zu mal gewechselt, um keine Hierarchie innerhalb der Gruppe entstehen zu lassen. 7 Die Gründe für gerade diese Art des musikalisch-kreativen Protests sind vielfältig. Am häufigsten finden sich in den Selbstdarstellungen jedoch Folgende: Aufbrechen der Assoziation linker Gegenbewegungen mit zerstörerischer Militanz 8; 2 Vgl. Action Samba Berlin: „Über Uns - Was wir machen und warum“, verfügbar über: http://asb.so36.net/site/about.html, Abs. 7 [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 3 Vgl. rhythms of resistance: „Who we are“, verfügbar über: http://rhythms-ofresistance.org/spip/article.php3?id_article=36, Abs. 4 [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 4 Vgl. Action Samba Berlin: „The RoR Network“, verfügbar über: http://asb.so36.net/site/network.html, Abs. 4 [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 5 Vgl. Action Samba Berlin: „The Tunes“, verfügbar über: http://asb.so36.net/site/tunes.html [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 6 Vgl. Action Samba Berlin: „The Tunes“, verfügbar über: http://asb.so36.net/site/signs.html [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 7 Vgl. rhythms of resistance UK: „the mestre“, verfügbar über: http://www.rhythmsofresistance.co.uk/? lid=104 [Datum des Zugriffs: 13.02.2011] 8 Vgl. rhythms of resistance UK: „why we do it“, verfügbar über: http://www.rhythmsofresistance.co.uk/? lid=52, Abs. 9 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] Öffnung der Protestbewegung für Aussenstehende9; Irritation gängiger Reaktionsmuster von Ordnungskräften durch spielerisches Auftreten 10; positive Belebung von oft eintönigen Demonstrationen11; Bildung eines Orientierungspunktes bzw. einer treibenden Kraft innerhalb der Demonstration12. Aufgrund der speziellen Anwendung des Samba und zur Abgrenzung gegenüber herkömmlichen Samba Gruppen wird im folgenden die Bezeichnung Action Samba im Sinne der Berliner Rhythms of Resistance Gruppe Action Samba Berlin verwendet. [2.1] Entwicklungsgeschichte der Bewegung Um die Entstehung des Rhythms of Resistance Netzwerks nachzuvollziehen, ist eine nähere Betrachtung der linkspolitischen Bewegungen in London zwischen 1995 und 2000 notwendig. Mit dem Aktionsbündnis Reclaim the Streets entstand dort eine lose zusammenhängende Gruppe, die durch öffentliche Strassenpartys auf die Privatisierung von öffentlichem Raum hinweisen wollte und gleichzeitig mit kreativen Besetzungen hauptsächlich in London aktiv wurde.13 Da bewusst auf den Vergnügungscharakter gesetzt wurde, spielte Musik dabei eine entscheidende Rolle. Waren anfänglich mobile SoundSystems im Einsatz, ging man bald dazu über Livemusik dezentral einzusetzen, um der Gefahr einer Abschaltung der Musik durch Ordnungskräfte entgehen zu können. Als besonders effektiv erwiesen sich dabei Samba-Percussion-Gruppen, wie sie in Form der Barking Bateria Samba Band an der East London University 1996 entstand.14 „It was so clear to me that we needed to find a way where the sound was coming from everywhere and nowhere. If only each of us had something to bang, some instrument - and we were synchronist, that would be so much harded for the police to simply switch the plugs and take away the music.“ 15 Die Reclaim the Streets Bewegung wuchs weiter an und erlebte ihren Höhepunkte 1999 9 Vgl. Ebd., Abs.11 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 10 Vgl. Ebd., Abs.18 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 11 Vgl. Paula Pink/ Sara Silver: „Pink und Silver / Tute Bianche. Neue Aktionsformen im Kontext internationaler Proteste“, verfügbar über: http://www.copyriot.com/bewegt/p&s+tb.html, Kapitel: Strategien von Tute Bianche und Pink & Silver, Abs. 8 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 12 Vgl. rhythms of resistance UK: „why we do it“, a.a.O., Abs.18 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 13 Vgl. Sonja Brünzels, 1999: „Reclaim the Streets: Karneval und Konfrontation“, verfügbar über: http://www.derive.at/index.php?p_case=2&id_cont=291&issue_No=2, Abs. 4 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 14 Vgl. Gründer der Barking Bateria, in: Expósito, Marcelo; Vila, Nuria, 2007: “tactical frivolity + rhythms of resistance” (Film) verfügbar über: http://www.archive.org/details/tacticalfrivolity, min 11:45 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 15 Ebd., min 12:47 mit dem Carnival against Capitalism, bei dem ca. 4.000 Menschen auf den Straßen Londons, aber auch in anderen Großstädten der Welt, gegen Privatisierung und kapitalistische Ausbeutung demonstrierten.16 Der Name weißt dabei bereits auf die karnevalesken Formen hin, die diese Demonstration annahm und augenscheinlich vom brasilianischen Karneval entlehnte. Auch bei diesem Großevent nahmen Sambagruppen teil. All diese Ereignisse dienten als Erfahrungshorizont für die im Jahr 2000 in Prag stattfindende Gegenbewegung zum internationalen Weltbanktreffen, über das eingangs bereits berichtet wurde. Hier trat neben dem Schwarzen Block, der oft als militant eingestuften Gruppe von schwarzgekleideten Autonomen und dem Weißen Block, der Gruppe defensiv bewaffneter und in weißen Overalls gekleideter Demonstrierenden, der Karneval Block hinzu. Gemeinhin wird die letztgenannte Gruppierung als Pink and Silver bezeichnet, da die Akteure sich in diesen Farben kleiden. 17 Die Sambabands, welche spätestens seit den Ereignissen in Prag fester Bestandteil des Karneval Blocks bzw. der Pink and Silver Bewegung sind, entwickelten in den folgenden Jahren eine große Eigendynamik, sodass die karnevalesken Elemente je nach Art der Protestform mehr oder weniger angewendet wurden. Auch losgelöst von Demonstrationen und Kostümierung erprobten die Sambabands nun die Wirkung ihrer Musik. 18 Die in den letzten zehn Jahren erfolgte Verbreitung des Konzepts und die Entstehung des weltweiten Netzwerkes von Sambagruppen in den bereits beschriebenen Ausmaßen, war letztlich die folgerichtige Entwicklung aus den positiven Erfahrungen in London und Prag. Damit ist in aller Kürze die Entstehungsgeschichte von Rhythms of Resistance beschrieben. Die Gruppen verweisen in ihren Selbstdarstellungen jedoch auf ein weiteres historisches Ereignis, welches für die Konstituierung der Bewegung entscheidend war – die Gründungen der Blocos Afros, den Afro-Block-Trommelgruppen Brasiliens. So heißt es beispielsweise auf der Internetseite der Berliner Gruppe: “Wir sehen uns in der Tradition der Afro-Block-Trommelgruppen, die in den 1970er Jahren in Brasilien aufkamen. Diese entwickelten sich aus den ärmsten Stadtteilen und wurden zu einer Bewegung des Widerstandes und einer Quelle des Selbstvertrauens.“19 Um diese Selbsteinordnung in die Tradition brasilianischer Sambagruppen besser zu 16 Vgl. The Guardian, 1999: „Police clash with protesters at Carnival Against Capitalism“, verfügbar über: http://www.guardian.co.uk/uk/1999/jun/18/1, Abs. 4/ 5 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 17 Vgl. rhythms of resistance UK: „why we do it“, a.a.O., Abs.7/ 8 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 18 Vgl. Action Samba Berlin: „The RoR Network“, a.a.O., Abs. 1/ 2 [Datum des Zugriffs: 17.02.2011] 19 Action Samba Berlin: „Über Uns - Was wir machen und warum“, a.a.O. [Datum des Zugriffs: 17.02.2011] verstehen, soll im Anschluss die Geschichte der Blocos Afros und damit die Geschichte des bahianischen Karnevals, aus dem diese Gruppen hervorgingen, dargestellt werden. [2.1.1] Exkurs: die Blocos Afros Brasiliens Nachdem Brasilien im Jahr 1500 von Portugiesen „entdeckt“ wurde, gewann das Land sehr bald eine große Bedeutung für den Anbau von Zuckerrohr. Die dafür benötigten Arbeitskräfte wurden aus Afrika in die neue portugiesische Kolonie verschleppt. Schätzungsweise fünf Millionen Afrikaner verschiffte man unter unmenschlichen Umständen in den folgenden drei Jahrhunderten hauptsächlich in ein Gebiet Brasiliens, dass sich bald als Zentrum des Kolonialreiches etablieren sollte: Bahia. 20 Dem entsprechend ist Salvador, die Hauptstadt Bahias, bis heute geprägt durch die afrobrasilianische Bevölkerung, die dort ca. 80% der Gesamtbevölkerung ausmacht. 21 Der geschichtliche Hintergrund der Sklaverei und die damit verbundene Diskriminierung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung, welche auch nach dem Verbot der Sklaverei im Jahr 1890 anhielt und bis heute nachweisbar ist, hat eine ebenso lange Geschichte der Emanzipation und der Versuche des Aufbegehrens der Afro- Brasilianer_innen22 mit sich gebracht.23 Petra Schaeber, die ihre Dissertation der kulturellen Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen und deren politischen Auswirkungen in Brasilien gewidmet hat, zeigt darin insbesondere den großen emanzipatorischen Einfluss der Blocos Afros in den 70er Jahren auf. Sie sieht die Trommelgruppen als „(...)Wegbereiter der aktuellen Rassismusdebatte in Brasilien heute, in der es um die Festlegung von Quoten an den Universitäten und andere Formen der sogenannten affirmative action geht.“24 Als entscheidende Voraussetzung und Nährboden für die soziale Bewegung der Blocos Afros muss der brasilianische Karneval gesehen werden. „Karneval und sein Vorläufer, das Entrudo, sind europäische Festtraditionen, die 20 Vgl. Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, Berlin (Dissertation), S. 73-76 21 Vgl. Ebd., S.19 22 Die, in dieser Arbeit durch einen Unterstrich gefüllte, Lücke zwischen maskuliner und femininer Endung ist eine aus dem Bereich der Queer-Theorie stammende Variante des Binnen-I. Der so genannte Gender Gap soll ein Mittel der sprachlichen Darstellung aller sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, auch jener abseits der gesellschaftlich hegemonialen Zweigeschlechtlichkeit sein. In der deutschen Sprache wäre dies sonst nur durch Umschreibungen möglich. Die Intention ist durch den Zwischenraum einen Hinweis auf diejenigen Menschen zu geben, welche nicht in das ausschließliche Frau/MannSchema hineinpassen oder nicht hineinpassen wollen, wie Intersexuelle, Transgender oder Transsexuelle. 23 Vgl. Ebd., S. 16, 17 24 Vgl. Ebd., S. 16 von den Portugiesen nach Brasilien gebracht wurden. Beides waren Vergnügen, die zunächst nur der hellhäutigen Elite vorbehalten waren. Im Lauf der Zeit eroberten die afrikanisch-stämmigen Sklaven und ihre Nachfahren den Karneval als Raum für eigene Musik- und Tanztraditionen, teilweise in Symbiose mit den europäischen Formen.“25 Die erste Welle der „Afrikanisierung“ des brasilianischen Karnevals fand 1880 statt, als sich afro-brasilianische Vereinigungen vermehrt an dem Karneval der weißen Elite beteiligten und dieses Fest für sich mit beanspruchten. Diese Gruppen, Afoxé genannt, griffen die Ästhetik ihres Herkunftskontinents auf und ließen die zu dieser Zeit verbotenen Riten der afrikanischen Candomblé Religion in ihre Karnevalspraxis und ihre Musik einfließen. Bald missfiel der weißen Bevölkerung jedoch die mobilisierende und ihrer Meinung nach unzivilisierte Kraft, die von diesen Gruppen ausging, sodass es 1905 zum Verbot und in Folge dessen zu starken Repressionen gegen diese Gruppen kam. 26 Die zweite Phase der „Afrikanisierung“ fand in Rio de Janeiro statt und ergab sich aus den Sambaschulen, die sich zum Ende der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts gründeten. Zunächst setzten sie sich mit ihrer Teilnahme am Karneval über die existierenden Verbote hinweg, bis 1936 schließlich ein Gesetz erlassen wurde, dass ihre Teilnahme legalisierte. Diese Entwicklung ist vor allem vor dem Hintergrund der wachsenden Begeisterung der weißen Bevölkerung für die Musik des Samba und der Suche nach einer verbinden brasilianischen Identität zu verstehen. Hermano Vianna umschreibt diesen Prozess als „(...) Transformation des Samba von einer Volkskultur zum Ausdruck nationalen Stolzes auch der Eliten.“27 28 Dem entsprechend wurde den Samba Schulen der thematische Rahmen des Umzugs diktiert (die glorifizierte Geschichte Brasiliens) und politische Aussagen verboten.29 Erst die dritte Welle des Einmischens der Afro-Brasilianer_innen in das Karnevalsgeschehen brachte die seit langem notwendige kritische Auseinandersetzung mit der Rassendiskriminierung mit sich. 1975 gründete sich in dem Armenviertel Liberdade, einem Stadtteil Salvador de Bahias, eine Karnevalsgruppe, die durch die internationalen 25 Ebd., S. 18 26 Vgl. Ebd. S. 100, 101 27 Hermano Vianna, 1995: „O Mistério do Samba“. Rio de Janeiro, Zahar, S. 127, erwähnt in: Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 103 28 Diese Entwicklung muss in Verbindung mit den politischen Umwälzungen in Brasilien zu dieser Zeit gesehen werden. Der 1937 mit einem Staatsstreich an die Macht gekommene Präsident Getúlio Vargas führte eine Reihe von wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen durch und belebte den Mythos Brasiliens als ein rassendemokratischer Staat. In diesem Zusammenhang legalisierte er ein Vielzahl von afro-brasilianischen Praktiken und Gebräuchen und erhob diese sogar zu nationalen Symbolen, jedoch ohne dabei eine wirkliche Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung zu befördern. (PS, MdT, 122/ 123) 29 Vgl. Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 102 - 104 Gleichberechtigungskämpfe der schwarzen Bevölkerung inspiriert wurde und sich dem entsprechend Poder Negro (Black Power) nannte. Aufgrund von Problemen mit der Polizei bei der Registrierung für den Karneval nannte man sich jedoch in Ilê Aiyê (Haus der Schwarzen) um. Die skandierten Slogans wie etwa „Weißer wenn du wüsstest, welchen Wert der Schwarze hat, du würdest dich in Teer baden, um auch schwarz zu werden“ lösten einen Schock bei der weißen Bevölkerung und der Presse aus, die daraufhin versuchte die Gruppe als „rassistischen Block“ unmöglich zu machen. 30 Bewusst setzte die Gruppe auf Symbole und Kleidung ihrer Heimat Afrikas und integrierte die ritischen Instrumente der Candomblé Religion in ihre Auftritte. All ihre Bemühungen beruhten auf der Stärkung des schwarzen Selbstbewusstseins und der Vermittlung dessen über ihre Musik. Ilê Aiyê war damit maßgebend für alle folgenden Blocos Afros. 31 „Als wir Ilê gründeten, war die Teilnahme der Schwarzen am Karneval ganz gering. Damals gab es keine Blocos mit einer auf die Schwarzen ausgerichteten Philosophie, wohl gab es Karnevalsgruppen in denen viele Schwarze waren. Gerade deshalb gründeten wir Ilê. Weil wir beobachteten, dass die Schwarzen nur als Musiker oder Träger der Allegorien am Karneval teilnahmen.“ 32 In Folge der Gründung Ilê Aiyês entstanden viele weitere Blocos Afros, die bald das Bild des bahianischen Karnevals entschieden prägten. Heute sind von dieser Vielzahl noch fünf große Formationen übrig geblieben, die jedoch nicht weniger maßgebend für den Karneval sind und den Willen zu einer schwarzen Identität im Sinne der Ilê Aiyê bewahren. Über ihre Texte vermitteln die Gruppen Wissen über ihren Heimatkontinent und die Wurzeln der Afro-Brasilianer_innen. Zu den jeweiligen selbstgewählten jährlichen Karnevalsthemen werden kleine Informationsbroschüren angefertigt, die die Bevölkerung diesbezüglich informieren.33 In den Rhythmen sind heute neben den Sambaelementen, die in ihrer polyrhythmischen Struktur ihre Wurzeln in der afrikanischen Musik hat, auch Reggae, Merengue, sowie Rock und Rap verarbeitet.34 Zudem spielt die tänzerische Darbietung der Blocos eine wichtige Rolle. 35 Allgemein werden die Blocos Afros als Wegbereiter einer politischen Veränderung in Brasilien gesehen und können in der Bedeutung für den Abbau der Rassendiskriminierung in den letzten Jahrzehnten nicht zu hoch eingeschätzt werden. Vor allem die Art und Weise mit der dieser Wandel eingeleitet wurde, ist beispielhaft und wird in diesem Sinne auch 30 Vgl. Ebd., S. 178 31 Vgl. Ebd., S. 178-182 32 Antonio Carlos dos Santos (Vovô), zitiert in: Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 181 33 Vgl. Ebd., S. 172, 173 34 Vgl. Ebd., S.175 35 Vgl. Ebd. S. 174 vom Netzwerk Rhythms of Resistance aufgegriffen. „In Bahia sind die Blocos Afros vor allem Modelle. Modelle einer Ästhetik, der Kraft, des Mutes, der Anmut und Schönheit, der Fähigkeit und Kreativität, des Vertrauens und der Einheit.“36 Die Parallelen zum Rhythms of Resistance Netzwerk sind vielseitig. Sowohl die Rhythmen als auch die Verbindung der Musik mit Kostümierung, sowie mit tänzerischen und choreographischen Elementen, das soziale Engagement, die Nutzung der Musik in einem politischen Kontext, der lockere netzwerkartige Zusammenschluss ohne gemeinsames Manifest und doch mit gleichen Zielen und Vorstellungen – all das sind Analogien, die sich finden lassen und von den Rhythms of Resistance Mitgliedern bewusst vertreten werden. Dennoch existieren die heutigen Action-Sambabands in einer anderen Zeit, in einem anderen Umfeld und haben sich aus anderen Gründen zusammengefunden. Die Berliner Aktivisten und Aktivistinnen erklären beispielsweise, „(...) dass das Ausmaß und die Struktur dieser Ausbeutung und Unterdrückung [bezüglich der Situation im Brasilien der 70er Jahre; d.V.] nicht vergleichbar sind mit unserer westlichen Realität.“ 37 Notwendiger Weise führt dieser neue Kontext bei den Rhythms of Resistance Gruppen zu einer eigenständigen Entwicklung mit eigenen Strategien, Zielen und Inhalten [3] Konzeptionelle Ausrichtung und Selbstverständnis In den Selbstdarstellungen im Internet finden sich vielfältige Beschreibungen der Praktiken, die den Action Samba aus Sicht der Akteure nach außen gerichtet zu einem erfolgreichen Instrument des Protestes machen und nach innen gerichtet, zu einem Stück gelebter Utopie werden lassen. Die aus meiner Sicht wichtigsten Gesichtspunkte in diesem Zusammenhang seien im Folgenden zusammengefasst dargestellt. [3.1] Äußerlich wirksame Strategien Über die Mailingliste des Netzwerkes fand im Februar 2011 eine Diskussion statt, die das Selbstverständnis der Gruppen widerspiegelt. Angeregt durch die Erkundigung eines Mitgliedes zu Fragen, die mit Organisatoren und Organisatorinnen von Demonstrationen im Vorfeld zu klären sind, entwickelte sich eine generelle Auseinandersetzung über die Rolle von Sambagruppen. 36 Hélio Santos, 2001: „A Busca de um Caminho para o Brasil“, São Paulo, S. 259, erwähnt in Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 311 37 Action Samba Berlin: „Über Uns - Was wir machen und warum“, a.a.O., Abs. 2 „(...) we do ask them always how they see 'our role' in the demo / action. We explain them that our goal is to be 'tactical' and not only attracting people, we give them some examples of what that could be, and then we ask them if they think we could have that function in their demo/action or not. (…) We started to use this filter because the first year of our existance here we were mostly asked to play on 'happenings' or street processions.“38 In zwei weiteren Mails werden ähnliche Beschreibungen geliefert. 39 Zudem fällt der Begriff der tactical frivolity, dem sich die Beteiligten verpflichtet fühlen. Dieser Begriff, der wohl am ehesten als taktischer Leichtsinn verstanden werden darf, spielt in den Selbstdarstellungen der verschiedenen Gruppen immer wieder ein große Rolle. To me the pink and silver is actually tactical frivolity. (…) You are using frivolousness, silly- and funnyness. your using it tactically in a situation where everyone is geared up for confrontation.”40 Die Akteure nehmen ihre Musik folglich als strategisches Mittel war und grenzen sich von der herkömmlichen Funktion von Livemusik ab, indem sie den rein kontemplativen Zugang zu ihrer Musik verneinen und sich gegen die Vereinnahmung als Begleitkapelle und Hintergrundmusik wehren.41 [3.1.1] Funktionen des Action Samba im Protestkontext Berichte über erfolgreiche, aktionistische Interventionen durch Rhythms of Resistance Gruppen sind häufig zu finden. Dabei wird immer wieder auf die animierende Rolle in Bezug auf die übrigen Teilnehmenden einer Demonstration hingewiesen. 42 Beim Weltbanktreffen in Barcelona 2001 motivierten Sambaistas hunderte Menschen nach einem anstrengenden Demonstrationstag zum örtlichen Polizeipräsidium zu ziehen und die dort festgehaltenen Kameraden und Kameradinnen von draußen zu unterstützen. 43 Ähnlich mobilisierend wirkte die einleitend beschriebene Situation in Prag. Außerdem kann eine Sambaband aufgrund der auffälligen Kleidung und der akustischen Soundkulisse leicht zu einem Orientierungspunkt auf einer Demonstration werden. Der 38 rhythms of resistance Mailingliste: 15. Februar 2011, 12:37:35 39 Vgl. rhythms of resistance Mailingliste: 16. Februar 2011 00:54:19 / 16. Februar 2011 22:17:29 40 Mitglied von Rhythms of Resistance London, in: Expósito, Marcelo; Vila, Nuria, 2007: “tactical frivolity + rhythms of resistance”, a.a.O., min 6:06 41 Vgl. rhythms of resistance Mailingliste: 16. Februar 2011 00:54:19 / 16. Februar 2011 22:17:29 42 Vgl. rhythms of resistance: „Where we do it“, verfügbar über: http://www.rhythmsofresistance.co.uk/? lid=804 [Datum des Zugriffs: 19.02.2011] 43 Vgl. rhythms of resistance, 2002: „rhythms of resistance“, in: SchNEWS Yearbook 2002, verfügbar über: http://www.schnews.org.uk/sotw/rhythms-of-resistance.htm, Abs.6 damit verbunden Verantwortung scheinen sich die Beteiligten bewusst. 44 Neben dieser mobilisierenden Funktion ist Action Samba auch in der Lage eine deeskalierende Funktion zu übernehmen. Zunächst einmal können Sambagruppen durchaus konfrontativ auftreten und sollten mit ihrer Entschlossenheit, für ihre Ziele in jedweder Form einzustehen, nicht unterschätzt werden. Das Bild von pazifistischen Demonstrierenden, die mit ihrer Musik lediglich zur Erbauung der restlichen Protestierenden beitragen wollen, ist sicher falsch.45 Vielmehr ist die Verkleidung und das spielerische Auftreten strategisch zu sehen, im Sinne der tactical frivolity. Bei Konfrontationen mit Ordnungskräften können diese sich nicht auf das gängige Feindbild der aggressiv auftretenden, vermummten Demonstrierenden verlassen, sondern werden mit bunten, musizierenden Menschen konfrontiert. Das gewalttätige Vorgehen gegen derartig auftretende Personen wird erschwert und bietet diesen somit einen größeren Handlungsspielraum und mehr Möglichkeiten für Interventionen. 46 Über diese Wirkung gibt es jedoch unterschiedliche Meinungen, wie im nachfolgenden Zitat deutlich wird. Aber nicht nur die akute Wirkung kann entscheidend sein, auch die öffentliche Legitimation von harten Polizeieinsätzen gegen Demonstrierende im Nachhinein wird mit dem Verzicht auf eine Inszenierung von Bedrohung erschwert, wie ein Mitglied der Londoner Sambaband berichtet: “I don´t think that tactical frivolity is like a way of avoiding the violance of the police or the state because I think they will do whatever they feel they need to do to maintain their control in a situation. But in order for the state function it needs kind of a legitimacy. It needs to be on to tell a story about its violence, that it was necessary, that it was needed to protect people. I think tactical frivolity makes it harder to mobilize these kind of stories, it makes it harder for them to like sort of play the politics of fear.”47 Der Hinweis auf die Rolle der öffentlichen Meinung spielt bereits in die nächste, die sympathieweckende Funktion des Action Samba hinein: „Wir möchten nach außen und innen ein wilderes und lebendigeres Bild abgeben, als eine Latschdemo an Langeweile und Unentschlossenheit, und ein schwarzer Block an Dumpfheit, männlichem Großkotz oder lediglich vorgespiegelter Entschlossenheit so manches Mal vermittelt.“ 48 44 Vgl. rhythms of resistance Mailingliste: 15. Februar 2011, 12:37:35 45 Vgl. Action Samba Berlin: „Über Uns - Was wir machen und warum“, a.a.O., Abs. 7 46 Vgl. Paula Pink/ Sara Silver: „Pink und Silver / Tute Bianche. Neue Aktionsformen im Kontext internationaler Proteste“, a.a.O., Kapitel: Entstehungsgeschichten; Pink & Silver; Abs. 8 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 47 Mitglied von Rhythms of Resistance London, in: Expósito, Marcelo; Vila, Nuria, 2007: “tactical frivolity + rhythms of resistance”, a.a.O., min. 15:30 48 Paula Pink/ Sara Silver: „Pink und Silver / Tute Bianche. Neue Aktionsformen im Kontext internationaler Durch die Verkleidung und das kreative Auftreten wird bei den Passanten und Passantinnen Sympathie und Interesse geweckt und das stereotype Bild der Störer_innen aufgebrochen.49 Das erleichtert die Kommunikation der eigenen Ziele und führt womöglich schneller zu Solidarisierungen. Die friedliche und ansprechende Wirkung von Musik und Karneval wird dementsprechend auch hier als Strategie eingesetzt. [3.2] Interne Dimensionen des Action Samba Viele Protestformen setzen einen hohen Grad an physischer Fitness und ein selbstsicheres Auftreten voraus. Der Protest bleibt somit einer bestimmten Gruppe von privilegierten Menschen vorbehalten. Der Protestsamba eröffnet hier Möglichkeiten auch für Menschen mit Handicap oder mit Ängsten vor der Aggressivität, die teilweise auf Demonstrationen zu finden ist, an den Aktionen teilzunehmen. 50 „Maybe you don't want to be a tactician or are unable to be involved in this way, but that can't stop you from playing a instrument, making props, or covering yourself in glitter, and showing your dissatisfaction that way.“ 51 Außerdem kann Rhythms of Resistance eine Alternative für Menschen sein, die ihren Unmut auf die Strasse tragen wollen, sich dabei jedoch weder einer Partei oder einer institutionalisierten Organisation anschliessen möchten, noch Zugang zu den oft szeneinternen linken Gruppierungen haben. Mit ihrer prinzipiellen Offenheit gegenüber neuen Mitgliedern und der Selbstdarstellung im Internet bietet das Netzwerk einen breiten Zugang für engagierte Menschen. Die Vernetzung erleichtert durch das online geteilte Wissen zudem die Neugründung und damit die Weiterverbreitung der Action Samba Idee.52 Durch regelmäßige Workshops und offene Proben wird dieser Effekt noch verstärkt.53 Ein anderer häufig erwähnter Aspekt innerhalb des Samba Netzwerkes ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Strukturen. Eine gerechtere Welt ist nicht nur im Proteste“, a.a.O., Kapitel: Symbolik, ... bei Pink & Silver und Tute Bianche, Abs. 3 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 49 Vgl. Ebd., Kapitel: Strategien von Tute Bianche und Pink & Silver, Abs. 2 [Datum des Zugriffs: 21.02.2011] 50 Vgl. rhythms of resistance UK: „why we do it“, a.a.O., Abs.11 [Datum des Zugriffs: 19.02.2011] 51 Ebd., Abs. 30 52 Vgl. Ebd., Abs. 22 53 Vgl. rhythms of resistance UK: „workshops“, verfügbar über: http://www.rhythmsofresistance.co.uk/? lid=119 [Datum des Zugriffs: 29.02.2011] Großen das Ziel, sondern wird auch im eigenen Handeln gesucht und verwirklicht. 54 Hierarchien werden in jedweder Form bekämpft, sei es durch die Anwendung des Konsensprinzips bei anstehenden Entscheidungen, dem bewussten Wechsel der Aufgabenbereiche der einzelnen Mitglieder oder dem Vermeiden von Wissenshierarchien.55 „Our music and our actions – it´s all about how we want to live. We want a world more equal, more just, where people have access to information and resources. We try to embody this in how we function right now because there is no point waiting till after the revolution because you never gonna get there unless you start now.” 56 [4] Einordnung – Action Samba als politische Musik? In diesem Abschnitt soll es um die Gründe gehen, die dazu geführt haben, dass ausgerechnet der Samba als Musik für das Rhythms of Resistance Projekt ausgewählt wurde. In wie weit beinhaltet diese Musik Anknüpfungspunkte für politisch motivierte Menschen, welche speziellen Eigenschaften macht sie attraktiv für Protestbewegungen? Kann der Action Samba, wie die Rhythms of Resistance Gruppen ihn praktizieren, in den Diskurs um politische Musik verortet werden? Eine politisch-agitatorische Wirkung, die sich über Musiktexte ausdrückt, kann in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden, da abgesehen von einzelnen Parolen 57, die als Breaks zwischen den Sambarhythmen platziert werden, keine Lyrics vorkommen. Diese Tatsache ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Musik in linken Bewegungen fast immer über die Texte funktioniert. Günther Jakob zeigt die lange Geschichte der Vereinnahmung populärer, meist anspruchsloser Musiken für politische Ziele von Agitprop über Protestsongs bis zum heutigen politischen HipHop auf. 58 Noch deutlicher wird die Rolle des Textes in der Abhandlung von Ulrich Stölzel, der sich explizit mit 54 Vgl. Action Samba Berlin: „Über Uns - Was wir machen und warum“, a.a.O., Abs. 16 55 Vgl. Mitglied von Rhythms of Resistance London, 2004, in: “TACTICAL FRIVOLITY + RHYTHMS OF RESISTANCE“ (Film 2007) verfügbar über: http://www.archive.org/details/tacticalfrivolity, min. 36:50 [Datum des Zugriffs: 14.02.2011] 56 Ebd., min. 36:40 57 Vgl. Die je nach Thema der Veranstaltung gerufenen Parolen stellen einen Sonderfall dar. Sie können nicht ohne weiteres als „Text“ dieser Musik deklariert werden, da sie auch unabhängig von den Sambabands häufig und in gleicher Weise zu hören sind. Sie gehören nicht notwendiger Weise zur Musik dazu und werden bei vielen Auftritten vernachlässigt. Dennoch kann eine Wechselbeziehung zwischen Parolentext, sofern er denn vorgetragen wird und Musik nicht ausgeschlossen werden. Die hier vorgenommene Analyse in Bezug auf textuelle Elemente klammert diesen Umstand aus, da für eine genaue Betrachtung weiterführende musiksoziologische Theorien herangezogen werden müssten, die den Umfang der Arbeit übersteigen würden. 58 Vgl. Günther Jakob 1997: „Was ist ein Protestsong“, verfügbar über: http://www.rocklinks.de/texte/protestsong.htm, Kapitel: Populäre Sounds als zugkräftiges Medium linker Propaganda [Datum des Zugriffs: 19.02.2011] Demonstrationsmusik beschäftigt. Er sieht in Anlehnung an Max Fuchs die textorientierte Musik bei politischen Massenveranstaltungen als Distinktionsmittel, als Abgrenzung gegen ideologisch Andersdenkende und als Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls. 59 Für die Analyse von Rhythms of Resistance bedeutet dies, dass aufgrund des Fehlens textueller Elemente eine agitatorische oder distinktive Wirkungen nicht im Vordergrund steht. Eine andere Herangehensweise Musik mit einem politischen Gehalt aufzuladen, zielt darauf ab, ihr einen revolutionären Charakter zu verleihen. Zum einen ist dies möglich, indem die musikalischen Mittel im Sinne des Fortschrittsideals zu immer hochwertigeren und komplexeren Formen ausgebaut werden oder im avantgardistischen Sinne etwas fundamental Neues aufwerfen, womit die alten Formen revolutioniert werden. 60 Die hier verhandelte Sambamusik, die zwar von den Rhythms of Resistance Gruppen erweitert wurde, indem andere Musikstile wie Reggae, Balkan Musik oder Funk mit einbezogen wurden,61 bleibt dennoch einem sehr einfachen und traditionellen rhythmischen Gefüge verhaftet. Sie lässt keinerlei revolutionäre Elemente im musikalischen Sinne erkennen. 62 Zum anderen lässt sich eine revolutionäre Musik auch darauf begründen, dass sie, ohne eine solche Wirkung zu intendieren, sich einer konservativen Opposition entgegen stellt. Als Beispiel führt Jakob die Etablierung des Jazz in Europa in den 20er Jahren an – eine Entwicklung, die von konservativen Kreisen als Angriff auf die eigenen kulturellen Werte diskreditiert wurde.63 Der Samba dürfte eine solche Wirkung nach seiner mehr als hundertjährigen Existenz und breiten Rezeption in allen gesellschaftlichen Schichten jedoch verloren haben. Dennoch berufen sich die Action Samba Gruppen auf die politische Sprengkraft, die der Samba in den 70er Jahren durch die Blocos Afros bekam und laden die Musik somit mit einem revolutionären Gehalt auf. Dem Rezipienten auf politischen Massenveranstaltungen dürfte diese Bedeutungsebene allerdings verborgen bleiben. Über die Idee einer revolutionären Musik hinaus lässt sich auch über eine musikimmanente Qualität spekulieren, die den Idealen der Bewegung zugute kommt und 59 Vgl. Ulrich Stölzel, 2001: „Musik und Politik. Aspekte der Inszenierung und Wahrnehmung von Musik im Kontext politischer Massenveranstaltungen“, Berlin (Hausarbeit) verfügbar über: http://www.grin.com/e-book/105936/musik-und-politik-aspekte-der-inszenierung-und-wahrnehmungvon-musik-im, S.10,11 [Datum des Zugriffs: 10.03.2011] 60 Vgl. Günther Jakob: „Was ist ein Protestsong“, a.a.O., Kapitel: Antideutsche Musik 61 Vgl. Auch bei diesen Kombinationen kann davon ausgegangen werden, dass sie auf die modernen und ebenfalls stilübergreifenden Rhythmen der Musik heutiger Blocos Afros zurück gehen. Vergl. Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 175 62 Vgl. Die Simplizität der Rhythms of Resistance Rhythmen ist dabei natürlich bewusst gewählt, um, wie bereits beschrieben, auch unmusikalischeren Menschen die Möglichkeit zu bieten, in den Sambagruppen zu partizipieren. 63 Vgl. Ebd. Kapitel: Antideutsche Musik, Abs. 4-6 eine politische Positionierung vermitteln kann. Der musikwissenschaftliche Diskurs um die Aussagekraft von Musik ist groß und wird seit Jahrzehnten geführt, ohne dabei zu einem eindeutigen Ergebnis zu kommen. Tendenziell wird der Musik eine konkrete Aussagekraft jedoch abgesprochen: „Aufs neue konnten hier die Forscher mit wissenschaftlicher Genauigkeit ein altes Wissen feststellen, nämlich, daß „ohne die Hilfe des Wortes, für die gleiche musikalische Botschaft ebenso viele verschiedene Bedeutungen bestehen, wie es unähnliche Menschen gibt“.“ 64 Dass Musik Stimmungen und Emotionen vermitteln oder bedienen kann, ist hingegen anerkannter. Silbermann spricht dabei vom „sozialen Effekt“ und unterstellt der Kunst „Schilderung der Gefühle und Emotion einer Person“ zu sein, mit dem Ziel diese Gefühle auch bei anderen hervorzurufen. 65 Jakob nennt in diesem Sinne den Punk oder den Freejazz als Beispiele, die allein über die musikalischen Mittel eine hohe expressive Qualität erreichen. In diesem Zusammenhang spricht er von der wenig spezifischen Kategorie der „Energie“ und der energetischen Wirkung, 66 die wohl auch für den Action Samba bedeutsam ist. Christiane Gerischer hat in ihrer detaillierten Analyse der Rhythmen, die von den Blocos Afros gespielt werden, differenzierte und vielfältige rhythmische Strukturen nachgewiesen und schreibt dem „ (…) rollende(n) von tiefen Frequenzen getragene(n) und von scharfen Akzenten vorwärts getriebene(n) groove (...)“ eine zum Tanz animierende Wirkung zu. 67 Solche Wirkungen sind bei den Rezipienten und Rezipientinnen nur schwer nachzuweisen. Es mangelt an eindeutigen Indikatoren für die Feststellung derartiger Effekte in empirischen Untersuchungen. Des weiteren sind die außermusikalischen Faktoren, die die empfundene Wirkung zusätzlich prägen, schwer von den innermusikalischen zu trennen. 68 Nichts desto trotz ist aus wissenschaftsfernen Bereichen im Bezug auf Samba immer wieder von Fröhlichkeit, Ausgelassenheit, Rausch, Ekstase 69 oder einer befreienden Wirkung70 die Rede. Es ist also davon auszugehen, dass diese Zuschreibung ein Grund für 64 Vgl. Alphons Silbermann, 1957: „Wovon lebt die Musik“, Gustav Bosse Verlag, Regensburg, S. 72 65 Ebd., S. 74 66 Vgl. Günther Jakob: „Was ist ein Protestsong“, a.a.O., Kapitel: Protestsongs ohne Text, Abs. 1 67 Christiane Gerischer, 1996: „Die blocos afros aus Bahia (Brasilien): Entwicklung eines populären Musikstils“ Berlin (Magisterarbeit), erwähnt in: Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 174, 175 68 Vgl. Rainer Dollase, 1997, in: Bernhard Frevel (Hrsg.): „Musik und Politik. Dimensionen einer undefinierten Beziehung“, Regensburg, erwähnt in: Ulrich Stölzel, 2001: „Musik und Politik. Aspekte der Inszenierung und Wahrnehmung von Musik im Kontext politischer Massenveranstaltungen“, a.a.O., S. 16 69 Vgl. Dance to Dance: „Startseite“, verfügbar über: http://www.dancetodance.chwww.dancetodance.ch/taenze_samba.html, Abs.1 [Datum des Zugriffs: 11.03.2011] 70 Vgl. Go Brazil: „Startseite“, verfügbar über: http://www.go-brazil.de/, Abs. 2 [Datum des Zugriffs: 11.03.2011] die Wahl des Samba als politische Aktionsform war. Und auch eine mobilisierende und belebende Wirkung bei den Rezipierenden und weiteren Demonstrationsteilnehmenden kann, wenn auch nicht wissenschaftlich nachweisbar, unterstellt werden. In diesem Zusammenhang scheint noch die Tatsache interessant, dass Sambamusik nur in der Livedarbietung auf politischen Veranstaltungen Verwendung findet und erfahrungsgemäß, wenn gerade keine Sambaband angereist ist, nie über die oft mitgeführten Soundsysteme zu hören ist. Auch erfreut sich der Samba in linken Kreisen keiner vornehmlichen Popularität und scheint im musikalischen Alltag der Einzelnen kaum eine Rolle zu spielen. Die wie auch immer geartete Wirkung hängt folglich sehr stark von der Live Performance ab, die in der Regel auch über das Samba spielen hinaus geht und mit Kostümen und anderen karnevalesken Elementen verbunden wird. Insgesamt scheint die Performativität des Action Samba die wichtigste Kategorie für seine Beurteilung und Einordnung zu sein, wie auch die im vorherigen Kapitel beschriebenen Strategien und Selbstwahrnehmungen verdeutlichen. Die kollektive Spielweise, die mögliche Vereinfachung der Rhythmen für das Vortragen durch Laien, die nicht festgelegte und nahezu unbegrenzt erweiterbare Spieler_innenanzahl, die Dezentralität dieser Vortragsform, der Verzicht auf elektronische Instrumente – all dies sind Eigenschaften die von entscheidender Bedeutung für den Action Samba sind und sich rein auf die Vortragsweise beziehen. Dementsprechend kann weniger die Musik selbst als politisch bezeichnet werden, sondern vielmehr das Musik machen, was zum politischen Akt wird. Eine Aktivistin der Londoner Rhythms of Resistance Gruppe argumentiert in eine ähnliche Richtung. Für sie ist das bloße Musizieren im öffentlichen Raum schon als politischer Akt zu bewerten. In Zeiten der Privatisierung von immer mehr öffentlichem Raum kann das spontane und unangemeldete Sambaspielen auf Straßen und Plätzen als Rückeroberung dieser Orte für die freie Verfügbarkeit und Nutzung gesehen werden und damit als Rebellion gegen eine kapitalistische Verwertungslogik. 71 72 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Musik aufgrund ihrer Produktionsbedingungen ausgewählt wurde und weniger aufgrund musikimmanenter 71 Vgl. Mitglied von Rhythms of Resistance London, in: Expósito, Marcelo; Vila, Nuria, 2007: “tactical frivolity + rhythms of resistance”, a.a.O., min. 35:25 72 Das dieser Aspekt durchaus politische Relevanz hat, zeigen die jüngsten Geschehnisse in Freiburg. Den dort ansässigen Sambistas wurden auf Anweisung der Stadt die Instrumente durch die Polizei entzogen und eine Herausgabe dieser nur unter der Bedingung einer von nun an vorherigen Anmeldung aller Aktivitäten der Sambaband in Aussicht gestellt. Die Betroffenen sehen in dieser Vorgehensweise die Freiheitsrechte des Protestes bedroht und befürchten eine weitere Einschränkung des öffentlichen Raums. Vgl. rhythms of resistance Mailingliste: 22. März 2011, 23:38 Eigenschaften. Zwar spielen auch der historisch erlangte politische Gehalt, den der Samba in Brasilien erworben hat und die Zuschreibung einer belebenden und energetischen Wirkung eine Rolle, das Hauptkriterium scheint jedoch die Art und Weise zu sein, wie diese Musik gespielt wird. Die Musik selbst kann nicht als politisch bezeichnet werden, wohl aber der Akt des Musik-Machens. [5] Fazit Das relativ junge Phänomen Rhythms of Resistance hat eine rasante Entwicklung hinter sich und ist aus den derzeitigen Protestbewegungen nicht mehr wegzudenken. Als eine von vielen kreativen Protestformen wie der clowns army, dem radical cheerleading, guerilla gardening und Straßentheater, trägt es zur Belebung der jahrhundertealten Kämpfe um soziale Gerechtigkeit bei. Dennoch muss die Bewegung aufpassen, nicht gegen den eigenen Willen zur Unterhaltungsmusik für die Protestmärsche zu werden. Es zeichnet sich bereits eine Stigmatisierung des Samba Blocks als Sammelbecken für gemäßigte Einstellungen und nur indirekte Teilnahme an Protesten ab. Und in der Tat birgt diese Protestform das Risiko einer nur symbolischen Kritik, wenn sie nicht den aufgelisteten Funktionen und ihrer taktischen Rolle treu bleibt: Idealtypisch gesprochen, ist Karneval zunächst inklusiv - seine Sogwirkung ist stark genug, um Grenzen zwischen Akteuren und Zuschauenden, oben und unten, gut und böse zu verwischen. Protest dagegen ist konfrontativ und exklusiv - er scheidet die Guten von den Bösen, die Ankläger von den Angeklagten. Beides verträgt sich nicht gut. Karneval kann zwar Protest, Kritik, Utopie ausdrücken - aber nicht in Form eindeutiger Positionen, sondern durch Verschiebung von Bedeutungen, oft auf der symbolischen Ebene.73 Die positiven Effekte dieser Protestform bürgen folglich gleichzeitig ihr größtes Risiko und drohen den politischen Protest zu einer, wenn auch erheiternden, gleichzeitig doch wirkungslosen Tanzveranstaltung werden zu lassen. Die Untersuchung des politischen Gehalts des Action Samba hat ergeben, dass die Musik an sich keinen politischen Gehalt vermitteln kann. Die Kraft und politische Brisanz dieser Protestform hängt von den Einstellungen und Zielen, mit denen sie Vorgetragen wird, ab. Das Musik machen muss mit einer politischen Intention und einer Entschlossenheit verfolgt werden, um wirksam zu sein. Muniz Sodré formulierte in einem Artikel der Taz in Bezug auf die Blocos Afros: „Die Musik ist die Waffe, mit der er [der negro, d.V.] ein ihm 73 Sonja Brünzels: „Reclaim the Streets: Karneval und Konfrontation“, a.a.O., Abs. 4 nicht zugängliches Territorium erobert und dieses mit den Besonderheiten seiner Mentalität neu konstituiert.“74 Die Aussage lässt sich auch auf die Rhythms of Resistance Bewegung beziehen. Nur wenn die Akteure den Samba und den Karneval als politische Waffe zu gebrauchen wissen, lässt sich mit ihr „unzugängliches Territorium“ erobern und eine Veränderung der politischen und sozialen Verhältnisse herbeiführen. 74 Muniz Sodré, zitiert nach: Petra Schaeber, 2003: „Die Macht der Trommeln. Die kulturelle Bewegung der schwarzen Karnevalsgruppen aus Salvador/Bahia in Brasilien“, a.a.O., S. 44