Mikrobiologie des Alltags

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Mikrobiologie des Alltags
Mikrobiologie des Alltags
Kurzgeschichten
Eine Neujahrsgabe 2015
Liebe Leserin, lieber Leser
Dieses Bändchen mit sehr kurzen und auch schon mal etwas länger
geratenen Kurzgeschichten, Dialogen und Betrachtungen war ursprünglich als Präsent und verspätete Neujahrsgabe gedacht, wenn
man will, auch als eine Art Neujahrsblätter 2015 der durchaus
gepflegten aber dennoch ironisch bissigen und nicht immer freundlichen Art.
Die 140 Seiten beginnen mit einer konsumentenfeindlichen Weihnachtsgeschichte und enden mit noch weniger konsumfreudigen
Erkenntnissen über das Schreiben aus der Sicht eines Getroffenen.
Leserinnen und Leser werden in kurzen Aufblenden alte Bekannte
aus früheren Erzählungen wieder erkennen, so etwa den etwas
exzentrischen Roman Artmann und seine „Beatrice“, die ganz
schön erregende Gynäkologin, Frau Dr. med. Morgenthaler.
Mit von der Liegestuhlparty auf Artmanns Terrasse ist auch wieder
der britisch unterkühlte Ephraim B. Thalberg. Hinzu kommen der
Mediensprecher der Kantonspolizei, Gian Linard Denoth, und seine neue, erotisch ziemlich herausfordernde Freundin, lic. iur. Franca Settembrini.
Dann fehlt natürlich nicht der hochbegabte Palmenkletterer und
Tobsuchtsspezialist Karlo Oberholzer: „Ich will da unbedingt mitmischen, verdammt!“
Und auch Pat Strasser ist wieder dabei, ganz alleine in seinem Loft,
wo er neue Kabarett-Nummern probt.
Einzig der Verfasser von vollendeten Vierzeilern, Herr Stewart N.
Brann, tritt hier als energischer Verfechter sogenannt moderner
Theaterformen zum ersten Male auf.
Somit wünsche ich viel Vergnügen und ein erfreuliches 2015.
Valentin Trentin
Valentin Trentin
Mikrobiologie des Alltags
Kurzgeschichten
Eine Neujahrsgabe 2015
Die Menschen stolpern über Maulwurfshügel, nicht über Berge.
K'ung-fu-tse
Mikrobiologie des Alltags
Kurzgeschichten
Eine Neujahrsgabe 2015
© 2015 Valentin Trentin
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-906112-38-1
Verlag swiboo.ch
Druck & Cover: Zumsteg Druck AG, 5070 Frick
Satz: Valentin Trentin
Dank an:
Auch dieses Mal wieder an Frau Katrin Lindegger für die
kompetente Hilfe in Sachen Graphik und Gestaltung und wie
immer an die dienstfertige Crew der Zumsteg Druck AG.
Ferner an Max Dohner, der mir zu Verschlankungen geraten
hat. Gelungen ist das nicht immer.
Und an Roland Zehnder, dem Inhaber eines Etablissements
für konsequentes Mucki-Wachstum und zielführendes Ausdauer-Training, der mich freundschaftlich aber mit Nachdruck ermunterte, in der Schreibgaleere stets weiter zu rudern.
Nicht zuletzt geht ein breiter Dank an meine Frau Christiane, die Teile dieses Buches durchkorrigiert und immer noch
einen Fehler mehr entdeckt hat.
Inhalt
Weihnachten 2014
7
Ostern 2014
19
Germany
21
Lokalblatt
23
BEST OF
27
Phubbing
31
Botschaften aus Burkistan
35
Big Macs und Krokodilleder-Handtaschen
37
Ein Fall für Madame Michèle?
39
Herr Schwab weffelt!
43
Sprachenpass? Nix Spass!
47
Über den Zustand der Nation
49
Sind i-Phoniker realitätsblind?
55
Das Facebook: Ein Fake fürs Leben
59
SF SRF: Krampf der Wettkämpfe
63
Hilfe, die Femen tanzen!
65
Das Antlitz des Wahnwitzes!
69
STERNstunde der Heuchler!
77
Oberholzer schreibt einem Kritiker einen Brief.
83
Eine Meise im Kopf?
89
Der Superlativ: Der Schaumbläser der Stilistik
91
The days after: Katastrophe oder Katharsis?
99
Inflatolenzen auf den Lehrstühlen
105
"Nicht weinen, Peter. Du kriegst dein Geld noch."
109
Much Ado About Nothing im Kloster Maria Seestern
111
Schreiben über das Schreiben?
133
Weihnachten 2014
Freitag-Morgen, 19. Dezember 2014. Viertel nach elf Uhr. Thalberg
begegnet im Einkaufszentrum Stehlwies von Stauffenberg einer
alten Bekannten, Frau Fabiola Bavardier.
Ephraim Thalberg wusste definitiv, dass er auch dieses Jahr der
Weihnachtspufferei nicht entkommen würde. Aber er brauchte nun
mal sofort neue Rasierklingen. Er hatte nicht die Absicht, wie Rabbi
Mordechai Shain auszusehen. Überhaupt die Orthodoxen und die
Sache mit Jahve. Das hatte einen Bart. Das war nicht sein Stil, weder inhaltlich noch formal. Schon seine Vorfahren hatten Freud
vorgezogen.
Wenn man ihn gefragt hätte, was er denn „so religionsmässig“
sei, dann würde er geantwortet haben, primär Atheist, manchmal
Agnostiker und in letzter Instanz Jude. Damit müssten die sich
dann zufrieden geben.
Im Moment hatte er aber schnittigere Probleme zu lösen, als über
seine Genealogie nachzudenken. Um sie zu lösen, gab es die richtigen Ersatzklingen nur im Einkaufszentrum Stehlwies. Wenn schon
rasieren, dann nur mit Willmerson-Spezial-Fünffach-Klingen mit
Turbolader und eingebauter Warnblinkanlage, in der Luxus-A Variante mit dem Vorspiel zum Barbier von Sevilla in Dolby Stereo. Sie
wurden aus seinem geliebten England direkt importiert, by Appointment to HRH The Prince of Wales. „God shaves the skin“,
murmelte er vor sich hin und stellte sich Prince Charles Ohren
beim Rasieren vor.
Noch draussen vor dem Haupteingang war er vorbeigehastet an
einem kleinen Wäldchen armseliger Weihnachtsbäume. Drinnen
hatte er sich bloss einen Einkaufskorb gegriffen.
Und dort, in der Ladenstrasse erwarteten ihn zwei gelangweilte
und vertrottelte Talmi-Nikolause. Knapp entkam er der Rute und
dem infernalischen Sirenengeheul eines tobenden Trotz-Jungen mit
abstehenden Henkeltassen-Ohren und abgeflachtem Hinterkopf. Er
bedauerte auch für zwei Augenblicke die händeringende Mutter
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kurz vor dem Selbstmord, vermied im letzten Moment einen Zusammenprall mit dem bereits von etlichen Winterbieren schwer
angesäuselten Vater, schlängelte sich dann vorbei an einer Traube
von drei Türkenfamilien inklusive Schwarzmantel-Grossmütter und
Kopftuchmatronen, die auch nach Jahren noch kein Wort Deutsch
sprachen und nicht genau wussten, was nun schon seit Wochen
wieder mit diesen Christen los war. Das war aber auch das Einzige,
was ihn mit ihnen verband. Sollte er das bedauern?
An gehässigen und hässlichen Gesichtern vorbei steuerte er das
Nonfood-Departement an. Eine Mode-Giraffe mit blond gebleichten
Haaren stakte in schwarzen Bleistift-Jeans kaugummikauend, mit
wogendem Hinterteil an ihm vorbei und malträtierte den Steinboden mit sadistischen Kadenzen ihrer hochhackigen Stiefeletten. In
ein paar Jahren würde man sie hier ohne Stiefeletten wiedersehen,
müde und abgekämpft mit zwei plärrenden Kindern und ihrem
vorzeitig ergrauten Mann, der sich immer häufiger nach seinen
Kumpeln sehnt, nach Bierrunden und Nachtruhestörung.
Endlich stand er vor den tausend Kosmetika, von denen vielleicht
ein Dutzend sinnvoll oder brauchbar waren. Dies nach ein paar
Ausweichmanövern vor diesen Einkaufswagen mit Plastikautovorbau und verbissen steuernder Nachkommenschaft und nach einem
Umweg via Schokoladen, RedBull, Weihnachtstalmi und Teigwaren.
Und jetzt erst nahm er auch ihn bewusst wahr, den MuzakKlangteppich. Seit Wochen war die übliche kaufaufreizende Bumsmusik ersetzt worden durch Venezianische Klassik aus dem Canale
Puzzolente von André Rieux. Auch so ein Unterhaltungsmensch
mit Verfalldatum, dachte Thalberg.
Aber wo zum Teufel waren diese Klingen schon wieder? Die
müssten doch da vorne sein. Doch, dort sind sie. Er beeilte sich.
Nur raus hier. Und er hatte Glück. Er war offenbar nicht der einzige
Willmerson-Liebhaber. Zwei Schachteln lagen noch da. Sollte er
gleich beide nehmen? Die Rossini- und die Mozart-Variante?
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Er überlegte nicht lange, griff sich die beiden Sets, tat sie in den
Einkaufskorb und schaute sich um, ob er vielleicht drüben von der
Fleischabteilung etwas für den Grill mitnehmen sollte.
Aber das hätte er besser bleiben lassen. Sein Blick der Fleischeslust blieb an einer blonden Person hängen. Und die war ein Grund
mehr, den Notausgang zu suchen. Was nur hatte er getan, dass er
heute auch noch der begegnen musste?
Da vorne bei den Tchibo-Sachen fegte sie herum: Fabiola Bavardier, das Endlosband von Radio Banalia. Die Frau, die an einer Party
sämtliche Gäste mit ihrem kurzweiligen Alltag eindeckte, die dauernd ins Wort fiel und für die das Zuhören so schwierig war, wie
für ein Kind das Stillsitzen.
Da drüben stand sie: Teure Kleider, cremefarbige Jeans, eine gesteppte Bluse und ein Jäcken mit Pelzbesatz, beide in hellem Beige
gehalten, im gebleichten Haar irgendwas Fedriges. Das war Fabiola,
quirlig wie ein Eichhörnchen, die anstelle von Nüssen irgendwelche
Schnäppchen und Schächtelchen, Glaselefanten oder Gipsputten en
gros einkaufte, lauter Firlefanz, den sie in ihrer mit Nippes vollgestopften Wohnung aufstellte oder gleich verschenkte.
Thalberg versuchte, an ihr vorbei zu schleichen. Sie betrachtete
jetzt intensiv eine herabgesetzte Steppdecke aus 20% Kamelhaar
und überlegte wahrscheinlich, wem sie die schenken konnte. Im
Verschenken von peinlichen Überraschungen war sie Bezirksmeisterin. Das Unangenehme dabei war aber nicht das Geschenk an
sich, da bewies sie nicht selten guten Geschmack, sondern es war
die traurige Tatsache, dass man es nicht brauchte.
Thalberg hatte sie mal ein Gutscheinheftchen für Lektionen in einem Sportzentrum gekauft; dies in der irrigen Annahme, er hocke
nur zu Hause am Schreibtisch und weihe sich rund um die Uhr
ausschliesslich seiner Berufung als Managementtrainer. Dabei sah
man ihn fast jeden Tag mindestens eine halbe Stunde lang in Orlandos Muskel-Masse-Manufaktur, dies nicht selten zusammen mit
Artmann. Aber auch das wusste sie nicht. Wie sie so vieles nicht
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wusste über ihre Bekannten. Sie war ein wahrer Hort für Vorurteile
und Schnellabfertigungen. Die Bavardier war für Thalberg das, was
für Artmann die Stadträtin Krääzdorn.
Zwei Regale weiter versuchte Thalberg, die Fleischtheke auf
Schleichwegen zu erreichen. Und das war sein Fehler. Denn er hatte
vergessen, dass die Fabiola Bavardier auch eine grosse Köchin vor
den Herrn sein wollte. Und für richtige Männer brauchte man
Fleisch, das sie dann am Abend auftischte und zugleich eine halbe
Stunde lang ad libitum von Spitzenrestaurants schwafelte, wo man
das beste Stroganoff, das raffinierteste Mangosorbet und wo man
den sensationellsten Feldsalat mit Trüffeln bekäme. Zwischendurch
qualifizierte sie jeweils kurz noch ein paar Bekannte; und zwar so
oberflächlich, dass Thalberg nie genau wusste, wen sie da meinte.
Er hatte jetzt sein Ziel erreicht. An der Fleischtheke stand niemand. Und dieses Mal konnte er sich rasch entscheiden. Er zeigte
auf die Schweine-Racks, nahm gleich zwei, man weiss ja nie, vielleicht hatte er heute Abend noch einen Gast, wenn er Glück hatte,
sogar einen weiblichen Gast. Ja und dann erschrak er.
„Aha, gleich zwei. Du willst mich doch nicht etwa einladen? Oder
doch? Das geht leider nicht, vielen Dank, aber heute Abend habe
ich Gäste, ja weisst du, interessante Leute. Ein kleiner Kreis von
Ehemaligen. Aber erst mal Ciao, wie geht es, lange nicht mehr gesehen. Was machst du hier?“
Sie waren es, ihre Quäkstimme, ihr atemloses Redetempo, ihr
Mangel an Distanzgefühl, ihr allzeitiger Drang nach Beherrschung
der Lage und damit der Gesprächspartner. Dagegen hätte er eigentlich keine Einwände gehabt, wenn ihre Themen Thalberg auch nur
in Spurenelementen interessiert hätten. Während sie noch sprach,
hatte er sich langsam und sehr beherrscht umgedreht, das Fleischpaket in den Korb gelegt, um dann bereit zu sein für die Küsserei,
also etwas, was ihn am Anfang immer sehr befremdet hatte, dem er
sich aber nicht entziehen konnte, da er gesellschaftliche Usanzen
grundsätzlich anerkannte, auch wenn sie ihm nicht gefielen.
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Er musste jetzt antworten. Er wollte höflich sein und schaltete
auf das um, was er den „british conversation style“ nannte, eine
Variante von tödlich kühler Höflichkeit, vermischt mit arrogant
steiflippiger Freundlichkeit.
„Wie du siehst, kaufe ich ein und beantworte deine Fragen.“ Das
hätte er gerne sagen wollen, aber wie immer, es kam bei ihr nicht
dazu.
„Ja, ja, schon gut, das sehe ich doch. Wer hätte das gedacht?
Ephraim kauft selber ein. Diese Schweine-Racks muss ich auch mal
versuchen. Ach ja, weisst du, wo man die besten Koteletts essen
kann? Nein, weisst du nicht, im Bären von Schwarzenberg, da sollten wir unbedingt mal hingehen mit Freunden.“
„Wir?“
„Ja, wir. Was meinst du? Das wäre doch was. Da ist so viel geschehen in letzter Zeit. Muss ich unbedingt dir mal erzählen. Hast
du Zeit für einen Kaffee?“
Zeit schon, aber null Bedürfnis, dachte er entgeistert.
„Danke, ich hatte schon …“
„Na, komm jetzt. Du wirst doch noch einen zweiten vertragen.
Ich brauche jetzt dringend eine Pause. Bin schon den ganzen Morgen unterwegs. Ich muss unbedingt noch Geschenke und Essen für
Weihnachten einkaufen, ich hoffe, ich finde das hier im StehlwiesCenter. Also wirklich, die haben ja praktisch alles. Aber auch nicht
immer. Da war ich doch vor ein paar Tagen hier, ich brauchte dringend ein Brotmesser mit einem Elfenbeingriff, nein, doch kein echtes Elfenbein, ich liebe Elefanten, ich habe ein täuschend echtes
Imitat gefunden, zwar wie gesagt nicht hier, aber auf dem Weihnachtsmarkt in Stauffenberg, ja hier ganz in der Nähe, ich gehe da
heute Nachmittag noch einmal hin, also wenn du Lust hast, da hat
es sicher auch etwas für dich und deine, wie soll ich sagen, deine
Bekannten, was meinst du, da können wir dann einen Punsch trinken, den besten gibt es dort bei Robert Farmer, der hat auch diesen
sagenghaften Kirsch von dieser berühmten Hunkeler Brennerei in
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Heddelfingen, musst du mal hingehen, die haben da einen Brand
von der Schattenmorelle, einmalig sage ich dir, ein-mal-ig. Hast du
gewusst, dass es für fünf Liter Schnaps hundert Kilo Kirschen
braucht? Ist enorm, was das für Arbeit gibt. Also was ist? Kaffee?“
„Bitte entschuldige, ich hatte an diesem Morgen schon genug Kaffee. Zudem muss ich …“
„Ach was, niemand muss müssen. Du hast doch nicht etwa Herzprobleme wegen dem Kaffee? Mein Arbeitskollege Stüntzler war
kürzlich beim Herzspezialisten. Der hat einen schlechten Bescheid
bekommen, irgendwas mit Herzmuskel, und das so kurz vor Weihnachten, ist auch nicht einfach für ihn, für uns aber auch nicht. Ist
ein guter Freund, wir hoffen alle, dass er nicht … Sag mal, hast du
denn nie Zeit für deine Freunde, das ist doch wichtig, gerade jetzt
in der Weihnachtzeit?“ Was zum Teufel ging sie das an?
„Doch, für Freunde schon.“
Ihre Antwort kam drei Zehntelsekunden später als üblich. Jetzt
haben sie die „Freunde“ doch noch stutzig gemacht, dachte er.
„Ja dann, auf was warten wir noch? Wie lange sind wir jetzt eigentlich schon befreundet? Sicher über zwanzig Jahre?“
Befreundet? Eigentlich überhaupt nicht und schon viel zu lange,
überlegte Thalberg. Er war versucht, ihr das zu sagen. Doch er blieb
stoisch höflich und sagte bloss:
„Das sind bald zweiundzwanzig Jahre, eine unglaublich lange
Zeit.“
Sie aber liess ihm keine Zeit für weitere masochistische Überlegungen. Und wie bestellt sagte sie genau das, was er nicht hören
wollte.
„Zweiundzwanzig Jahre? Das ist selten. Komm, das wollen wir
feiern. Jetzt ist ein Cüpli fällig, finde ich. Ich lade dich ein. Zudem
habe ich etwas Hunger. Das Café da vorne hat wunderbare Schokogipfel, die besten weit und breit. Und ich muss dir noch erzählen,
wie ich zu meinem Weihnachtsbaum gekommen bin, gratis und
franko, also das war so.“
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Und dann legte sie auf dem Weg zum Café los. Irgendwas mit
Schwägerin im Restaurant Sternenhof in Bommerswil und Forstarbeitern. Thalberg konnte sich an diesen Part nicht mehr genau
erinnern. Wenige Minuten später sassen sie jedenfalls im Caffè
Martella vor ihren Cüplis. Die Bavardier genoss ihren Schokogipfel
und wollte Thalberg auch einen Biss überlassen. Aber Cüpli und
Schokogipfel? Das fand er nun doch sehr inkommensurabel.
Sollte er ihr das so sagen: Inkommensurabel? Lieber nicht, sie
hasste es, wenn sie etwas nicht verstand. Und sie verstand vieles
nicht. Und sich selber am allerwenigsten. Selbsterkenntnis gehörte
nicht zu ihren Kernkompetenzen. Irgendwann würde er ihr beide
vorhalten müssen, sowohl ihr Banalitätenkabinett als auch ihr
langweiliges Dauergeschwafel. Vielleicht nicht gerade an Weihnachten, aber sicher noch vor Ostern.
Sie hatte inzwischen die Weihnachtsbaum-Geschichte zwei Mal
erzählt. Sie nahm noch einen Schluck von dem billigen Prosecco
und warf dann erneut den Plaudermotor an.
„Ich freue mich immer auf Weihnachten, vor allem aber auf den
Advent. Ich finde, Vorfreude ist die schönste Freude. Ich kann es
jedes Jahr kaum erwarten, wenn Ende November …“
„Ende November ist gut!“
„Ja, finde ich auch, wo war ich, ja also wenn dann die Strassen
und Häuser mit tausend Lichtern geschmückt sind. Wenn’s dunkel
wird und es überall glitzert und glänzt …“
„Vor allem in den Warenhäusern.“
„Hast du was gegen Warenhäuser? Schon klar, und du bist und
bleibst ein Weihnachtsmuffel. Aber die Sorte Leute kenne ich. Mein
Exfreund war auch so einer. Der hat vor und an Weihnachten dauernd an seinem Maserati herumgebastelt, weil er sonst keine Zeit
dafür gehabt hätte. Das hat er jedenfalls behauptet.“
Thalberg befürchtete jetzt eine längere Tirade über ihren Ex, der
in der Tat ein seltenes Exemplar technologischer Verschrobenheit,
vor allem aber ein paar Millionen schwer war, von denen unsere
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gute Fabiola nach der Trennung mangels Heirat nie was gesehen
hatte. Sie wich zu seinem Glück von alleine diesem Thema aus und
sagte:
„Aber lassen wir das. In fünf Tagen ist Weihnachten. Ich will nur
noch an die Zukunft denken; und ich habe noch so viel zu tun. All
die Geschenke. Ich habe noch nichts für meine Töchter und ihre
Kinder. Ich glaube Sonja, meiner ältesten, schenke ich ein Paket
mit Bio-Delikatessen. Die kann das brauchen nach der Geburt. War
ja auch nicht gerade einfach. Obschon, die Gynäkologin, die Frau
Dr. Morgenthaler, ist einfach phantastisch. Kennst du sie? Hat die
nicht was mit Artmann?“
Das ging die Bavardier nun wirklich nichts an.
„Nein.“
„Aber kennst du sie?“
„Nein“, log er ohne Skrupel. Sie bohrte nicht weiter und sagte
übergangslos:
„Also diese Bio-Delikatessen musst du mal versuchen. Die bekommt man in Kunos Bioladen in Bad Schachenburg, ja gleich neben dem Slimform-Plus-Center. Ich glaube, ich schenke Laura, du
weisst schon, der anderen Tochter, ein Abo. Die ist nach der Geburt
etwas aus dem Leim gegangen. Schau mal, zum Glück habe ich da
keine Probleme. Au ja, nicht vergessen, heute Nachmittag habe ich
noch einen Termin bei meiner Kosmetikerin. Bin ja auch nicht
mehr die Jüngste.“
Jetzt erwartet die von mir, dass ich ihr sage, dass sie aussähe wie
Vierzig und wie die jüngere Furtwängler. Wie alt ist die Bavardier
eigentlich? Wie die ältere Furtwängler? Soll ich sie fragen? Thalberg
verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Er hat Lügen schon immer
zweitklassig, wenn auch manchmal nicht vermeidbar gefunden.
Zudem hätte er auch gar keine Zeit erhalten, ihr ein Kompliment zu
machen. Sie ratschte bereits wieder.
„Nachher fahre ich noch nach Bremersberg zu dieser Frau Schori,
ja weisst du, die mit diesen Vögeln und Zwergen, und diesen En-
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geln und lustigen Krähen aus Ton. Ich finde die noch originell. Das
gibt ein Geschenk für Gottfried und Elsi, den Eltern von meinem
Schwiegersohn Manfred. Mal etwas anderes. Krähen sind ja
schliesslich auch Gottes Geschöpfe.“
„Ja wie Hunde und Stubenfliegen“, gelang es Thalberg einzuwerfen.
„Ja, die auch, fuhr sie unbeirrt fort. Alle Kreaturen haben ein
Recht zu leben, auch Raben und Krokodile. Gerade an Weihnachten
sollten wir das Eine nicht vergessen.“
Was wir als das Eine gerade an Weihnachten nicht vergessen sollten, hatte sie aber nicht mehr gesagt, denn ihr war plötzlich eingefallen, dass sie auch für die Schwiegereltern ihrer Tochter Laura
noch nichts hatte. Leichter Anflug von Panik? Keine Spur.
„Die darf ich nicht vergessen. Vielleicht haben sie Freude an einem Geschenkgutschein für das Thermalbad von Bad Wyssenstein.
Und wie wär’s mit ein paar Zigarren für Otto? Du kennst dich doch
aus mit Stumpen. Wo krieg‘ ich die?“
„Stumpen am Kiosk und Zigarren im Denner. Das kannst du auch
gleich hier erledigen. Ich sollte jetzt eigentlich …“
„Du willst schon gehen? Aber ich habe doch noch gar nichts von
dir gehört, wie es dir geht, was du machst, ich meine an Weihnachten. Bist du dann alleine? Oder feierst du mit deinen Verwandten?“
„Nein, ich feiere eigentlich …“, gar nicht, wollte Thalberg erklären
und auf seine unchristlichen Traditionen hinweisen. Aber dazu
kam es wie immer auch dieses Mal nicht. Sie unterbrach ihn und
schnatterte ungerührt weiter.
„Also bei uns treffen sich immer alle auf dem Bauernhof von Elsi
und Gottfried, den Eltern von Manfred, du weisst schon, die
Schwiegereltern von Sonja. Komm doch auch vorbei, die hätten
sicher Freude, dich wieder mal zu sehen.“
Thalberg hätte ihr gerne gesagt, dass er sich in Gesellschaft mit
mehr als zehn Leuten nicht eben komfortabel fühlte, vor allem,
wenn quengelnde Kinder und nervöse Hunde dabei waren. Und
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genau das war dort zu befürchten. Aber auch für diese grundlegende Erörterung der condition humaine liess sie ihm keine Zeit.
Wie immer fuhr sie gnadenlos in ihrem feuereifrigen Plaudertaschenton fort und liess die Asche ihrer Eloquenz auf ihn hinunterregnen.
„Da gehe ich dann schon am Nachmittag des Heiligabends hin
und helfe ihnen, den Weihnachtsbaum zu dekorieren. Die sind ja
immer so froh, wenn ich komme und ihnen helfe. Da gibt es immer
so viel zu tun und zu besprechen. Au ja, das darf ich nicht vergessen, ich muss noch Zimt einkaufen. Und bei Zimt, da bin ich heikel.
Da gibt’s nur eine Sorte, die wirklich gut ist, die aus dem Spicecenter in Bad Michaelsberg. Aber das schaffe ich heute nicht mehr.
Wenn ich dann morgen schon dort bin, kann ich gleich noch bei
Vini & Grappe vorbeischauen. Ich brauche dringend noch einen
Villa de Varda für einen guten Freund und in der Kirchgasse bei
Springtime-Cosmetics eine Lomi-Lomi-Nui-Massage. Hat mir Annemarie empfohlen. Du weisst schon, Annemarie, die Tochter von
Pfarrer Pfister.“
„Kenn ich nicht.“
„Kannst du auch nicht, der ist vor zwei Jahren gestorben, Hirnschlag, du hast sicher davon gehört. Nein? Ja und mein Rücken war
schon immer mein Problem.“
Nur der Rücken? Und nur ihr Problem? fragte er sich.
„Schon als Kind. Und du? Keine Probleme? Gesundheit in Ordnung? Was machst du so? Immer fleissig Manager trainieren? Nützt
das überhaupt etwas? Ich meine bei diesen Unternehmern von
heute.“
Aber auch diese Fragen konnte er nicht beantworten, denn plötzlich schaute sie gebannt in die Richtung des Haupteinganges und
schrie beinahe hysterisch:
„Jetzt schau mal an, dort drüben, da kommt dieser Hannes. Ich
muss unbedingt mit ihm über sein Postulat zur kantonalen Ladenöffnungsdingsbums sprechen, ja irgendwas mit neuen Zeiten und
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so. Der Kerl will doch tatsächlich, dass am 24. Dezember bereits
am Mittag die Läden schliessen müssen. Er will … Froilein, zahlen.“
Der Mann kam näher. Sie winkte ihm heftig. Sah er sie nicht oder
wollte er sie nicht sehen? Thalberg stutzte. Den kannte er via Artmann. Der hatte doch diesen Politikermutanten mehr als einmal
durch den Kakao gezogen. Das war er. Das war dieser Johann
Leuchtenberger-Mozzi, einer der dämlichsten Grossräte im Kanton,
eine wahre Zierde der Fraktion.
Der kam jetzt näher, lächelte säuerlich, aber politisch korrekt. Alles deutete darauf hin, dass er sie erkannt hatte, aber offenbar
lieber geflohen wäre.
„Ephraim, bitte entschuldige mich, aber ich muss unbedingt mit
Hannes sprechen. Hier, ich leg‘ das Geld hin. Du zahlst dann für
mich? Ruf mich an. Ich würde ganz gerne noch mehr von dir erfahren.“
Und schon war sie mit ihren Einkaufstaschen weg, liess ihn und
die zwei halbleeren Prosecco-Gläser stehen, begrüsste diesen
Leuchtenberger-Mozzi und übergoss ihn trotz Tüten heftig gestikulierend mit Vorwürfen. Thalberg aber bestellte sich einen Ristretto.
Den brauchte er jetzt doch noch; und zwar dringend.
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Ostern 2014
Artmann erzählt eine Ostergeschichte.
Er hat Tradition, habe ich sofort gedacht. Vor zwei Tagen noch
hat er Wolken vor sich hergeschoben, der grau betrübte Karfreitag.
Ist wohl seine Art, den Jahrestag der Hinrichtung von INRI meteorologisch zu verdeutlichen.
Aber gut, heute ist Ostern, und der blutige Spuk ist seit gestern
vorbei. Et resurrexit tertia die secundum Scripturas. Was für Schriften? Augenzeugen mit Notizblock wie in Nordkorea gab es damals
doch gar nicht. Fast alles Analphabeten. Märchenrunden im Wüstensand. Keiner von den fiktiven Zwölfen hat etwas von der historischen Brisanz dieser Exekution geahnt. Soviel zur oralen Tradition.
Was soll’s? Jetzt ist endlich Ostern. Die Sonne lacht zwar immer
noch nicht. Das tut sie ohnehin nie, höchstens auf Kinderzeichnungen. Aber sie wärmt. Also raus mit dir in den Wald auf die
Laufstrecke. Das hatte ich vor einer Stunde beschlossen.
Später: Waldrandstrasse naturbelassen. Es naht auf einem Fahrrad ein Mann mit grauen Pelzkappenhaaren. Weiter hinten, was ist
das? Aha, ein Dreissigzentimeter-Trippel-Trappel-Schnüffel-Hündchen, und noch weiter hinten ein grellgrün anorakierter Zweibeiner.
Etwa 90 Zentimeter Kind schwanken und perpendikeln auf einem
Kindervelo, drohen dauernd umzukippen und kommen kaum nach.
Den Mann kümmert das nicht.
Auf dem Fahrrad nähert er sich mir. Das Bellmaschinchen auch.
Noch etwa fünf Meter. Dann höre ich es. Im Soziolekt der Comicsprache: „Grummel, Murmel, Brummel usw.“ Da führt einer
Selbstgespräche auf dem Fahrrad. Der könnte aber auch telefonieren, natellieren heisst das jetzt wohl. Der sieht mich nicht. Oder er
will mich nicht sehen. Das bleibt offen.
Nun ist er auf meiner Höhe angekommen. Er nimmt mich noch
immer nicht wahr. Nimmt überhaupt nichts wahr. Grüsst nicht,
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nickt nicht, die Krankheit der Epoche: Die Tyrannei der Intimität
oder ein Fall von Cocooning? Also grüsse ich auch nicht.
Das Tischset-Hündchen rückt auf, mustert mich blödäugig scheel
und revierbewusst. Es versucht tatsächlich, mich einzuschüchtern.
In Comicsprache: „Knurr, Burr, Murr.“ Dann trippelt es ohne weitere Herrschaftsansprüche in Richtung Velomonomane.
Nun packt mich der gesetzeshütende heilpädagogische Impetus.
Ich rufe dem indolenten Pedalentreter nach:
„Wem gehört dieser Hund?“
Keine Antwort, keine zurückblickende Reaktion! Retrograde Amnesie vermutlich. Nur Brabbel, Babbel. Der fährt einfach weiter in
seinem Monolog, auf seinem Fahrrad.
Nun packt mich das beleidigte Unrechtsgefühl beim Schopf und
ich rufe laut und gehässig:
„Der Hund gehört an die Leine!“
Wieder keine Reaktion. Ignoranz total. Nur ein kurzes „Komm
jetzt!“ zum Kind, ohne auch nur zurückzuschauen. Die kleine grüne Fussnote der Schöpfung tritt gequält in die Pedale. Das Kind
rückt zu dem auf, was es wahrscheinlich Papa nennt.
Kein Gespräch, kein Ruf, kein Geschrei, nichts. Alle drei verschwinden wortlos, in sich gefangen auf dem Feldweg und schleppen sich in ein Zuhause, das ich nicht kennen lernen möchte.
Ich stelle mir trostlose Lebensödnis in einem SechsfamilienWohnblock vor, ohne Frau, dafür mit feuchtschimmligen Kellerabteilen und mit einer schmierig-schmuddeligen GemeinschaftsWaschküche.
Was also war das jetzt gewesen? Eine zeitgenössische Familienidylle? Wie gesagt: Besuchen möchte ich sie nicht. Und die Frau
von Monolokus kennen lernen, auch nicht, falls er überhaupt eine
hat. Die Ärmste wäre mit einem Stillleben verheiratet.
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Germany
Artmann erzählt eine Deutschlandgeschichte.
Thalberg und ich sitzen also im Foyer, Fünfsternehotel in Frankfurt. Managementtagung zum Thema Raffgier oder Gewinnstreben?
Der Unternehmer von heute.
Ich habe Thalberg auf meine Lektüre im Weltblatt im Leintuchformat hingewiesen: „Da schau mal! DIE ZEIT berichtet von einem
BBC-Ranking: Deutschland sei das beliebteste Land der Welt.“
Da stand tatsächlich, Deutschland sei in der jährlichen BBCUmfrage auf Platz 1 gehievt worden. Für die Erhebung habe die
BBC mehr als 26‘000 Menschen in 25 Ländern befragt. Die an sich
gut renommierte British Broadcasting Corporation habe nach einer
persönlichen Einschätzung von 16 Staaten und der Europäischen
Union geforscht; und zwar, ob der Einfluss eines Landes in der
Welt "überwiegend positiv" oder "überwiegend negativ" sei.
Thalberg reagiert sofort, wenn auch distanziert unterkühlt:
„Ich kenne den Artikel. Da hätte ich drei Einwände. Erstens: Das
Frageniveau liegt auf Kanalisations-Niveau, also unter dem Facebook-Level und reflektiert das Urteilsvermögen der Befragten.
Zweitens: Die Befragten konnten vermutlich kaum Deutsch. Würden sie das deutsche Deutsch und seine knatternde Tonalität kennen, sie würden vieles an Deutschland anders sehen.“
Ich ergänze, ganz d’accord:
„Ja, die französische Eleganz fehlt ihr schon, zudem noch drittens, wenn du gestattest, deine Gedanken zu lesen: Man hat die
Schweiz ignoriert oder vergessen, und zwar sowohl als zu beurteilendes als auch als urteilendes Land.“
Dazu meint Thalberg nur wegwerfend aber diszipliniert:
„Ganz klar: Die haben uns bewusst ignoriert. Unsere freiheitsliebende Willensnation müsste an der Spitze vor Deutschland und im
Widerpart zu Germany liegen.“
Ich frage zurück:
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„Warum? Was hat die Schweiz, was Deutschland nicht oder nur
ansatzweise hat?“
Er darauf wie aus einem Blasrohr gepustet:
„Das weisst du nicht? Echte direkte Demokratie, Autonomie- statt
Hegemoniestreben, EU-Distanz, Friedensliebe, Besonnenheit, Arbeitsmoral, Mehrsprachigkeit und die Schönheit des Landes, wenn
auch nicht überall.“
Dann fügt er grinsend, aber hintergründig ernsthaft hinzu:
„Chauvinisten sind wir Schweizer nicht. Aber wir sind ein bisschen besser und bescheidener, als die Meisten von uns denken. Das
sage ich aber nie öffentlich. Diskretion und Understatement sind
auch eine Form von Selbstbewusstsein.“
Ich pflichte ihm bei, wenn auch mit dem leisen und etwas peinlichen Gefühl, dass mein Land verlautbarte Selbstbestätigungen gar
nicht nötig hat. Das wäre dann wirklich Chauvinismus.
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Lokalblatt
Karlo Oberholzer tobt wieder mal von seiner Privatpalme herunter. Darum sei hier präventiv vor der herben Wortwahl gewarnt.
„Jetzt schau dir diesen Müll an! Dieses elende Scheissblättchen
lässt wieder mal nichts unversucht, den Rekord an Langeweile und
Hohlheit zu brechen.“
Da Thalberg die toilettengeweihte Lokalgazette jeweilen nur
überfliegt, kann er nicht mitreden. Oberholzer lässt aber nicht
locker. Sein kritischer Klammergriff ist stählern.
„Hier, hör dir das an. Was der für ein Vollpfosten-Vokabular hat.“
„Wer?“
„Der da, ein Mediator, hier im ödesten Provinzblättchen der westlichen Flachländer.“
Dann liest Karlo vor: „Konflikte sind ja als Ausdruck von dynamischen Prozessen zu verstehen … und Kacke als Ausdruck von Verdauung.“
Thalberg fährt unsichtbar zusammen. Anale Begriffe konstituieren seinen Wortschatz nur bedingt; und Fäkalien berauschen seine
Sinne auch nicht gerade.
„Was für ein aufgeblasener Schwachsinn!“, ruft Karlo unbarmherzig aus. „Das klingt etwa so, wie wenn man sagen würde, Regen
ist ein Ausdruck von meteorologischen Prozessen. Oder Schreiben
ist das Ergebnis eines Schreibvorganges.“
Thalberg hat nichts dagegen und ergänzt ennuyiert:
„Oder Mediatoren sind das Produkt von sprachlichen Blasenbildungen.“
Oberholzer ist begeistert:
„Genau, dann wirst du auch daran deine Freude haben.“
Er liest weiter.
„Konflikte können in einem Unternehmen präventiv vermieden
werden durch die Implementierung eines KonflikmanagementsSystems, das leistungsfähigere und zufriedenere Mitarbeitende generiert.
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Thalberg glaubt es nicht. Oberholzer fährt dennoch gnadenlos
weiter:
„Was für ein trüber Schwachsinn! Stell dir mal vor, einer würde
sagen, nasse Kleider können bei Regenwetter präventiv vermieden
werden durch die Implementierung eines Niederschlags-Managements-Systems, das trockene Kleider generiert, wo doch ein ‚Nimm
Schirm und Mantel, es schifft draussen!‘ genügen würde. Den Kerl
sollte man in seinen Kleidern in den Dorfteich schmeissen. Und
auch für den Satz da, müsste er drei Tage lang in Hagel, Schnee
und Regen stehen müssen … zum Nachdenken.“
Thalberg fragt höflich uninteressiert: „Welcher Satz? Muss das
unbedingt auch noch sein?“
Oberholzer lässt nicht locker: „Doch, da kannst sogar du noch
was lernen. Hör aber genau hin: Es geht darum, sich einer absolut
gewaltfreien und neutralen Kommunikation zu bemühen. So ein
Satz ist doch selber schon nackte Gewalt.“
Thalberg meint dazu nur:
„Furchtbar, ich zittere jetzt noch. Und der Satz ist erst noch
falsch.“
„Na siehst du! Was habe ich dir gesagt?“, fährt Karlo immer noch
in Rage triumphierend fort. „Der Mann ist sprachlich ein Eunuch.“
„Du meinst impotent?“
„Ja, das auch, ein Spezialist für Seifenblasen. Die schillern bunt,
sind voller Luft und platzen beim kleinsten kritischen Windhauch.“
Thalberg rafft sich auf und rühmt Begeisterung imitierend:
„Bravo Hochwohlgeboren. Hoch der Graf! War’s das jetzt?“, fragt
er dann aber endgültig gelangweilt. Es gibt einfach zu viele Vakuumschnorrer auf Erden, denkt er.
„Einen noch gestattest du mir, oder? Dann hab‘ auch ich genug“,
bat Oberholzer jetzt hoffentlich zum letzten Mal.
„Wenn’s denn sein muss“, quittierte Thalberg ergeben.
„Es muss nicht, aber geniesse ihn trotzdem. An Banalität ist der
Satz nicht mehr zu überbieten: Eine Lösung ist nur möglich, wenn
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beide Konfliktparteien eine solche herbeiführen wollen. Ja, geht’s
denn noch? Ich glaub‘, ich falle vom Kamel. Das ist etwa so grindstirnig wie der Satz: Wenn ich die Zähne putze, dann sind sie sauber. Dafür gibt’s weitere drei Tage Im-Regen-Stehen, mit Gewitterbeilage.“
Thalberg rafft sich noch für ein letztes Mal auf und sagt:
„Und stimmen tut es auch nicht. Da macht sich dieser Mann was
vor. Weisst du, Streitmarder wollen im Grunde genommen gar keine Kompromiss-Lösungen.“
Darauf Oberholzer:
„Das allerdings, die wollen die Eier aus dem Nest des Anderen
klauen. Die wollen siegen, den Anderen in die Pfanne hauen. Oder
im Klartext: Lösungen gibt‘s nur, wenn einer nachgibt. Und das ist
dann meistens tatsächlich der Dümmere.“
Thalberg relativiert, wie immer, wenn es ihm zu apodiktisch
wird.
„Jedenfalls im Resultat. Ich gebe selten nach. Und eigentlich will
ich gar nicht erst kämpfen müssen. Wozu auch? Schon gar nicht
mit Leuten, die an irgendwas glauben, wie etwa an die Nützlichkeit
der Kirschessigfliege, an die Beata Maria Virgo, an die Grünen oder
an die gesunde Wirkung von Crèmeschnitten auf den Stoffwechsel.
Das lohnt sich doch nicht. Die reine Energieverschleuderung.“
Karlo hat wieder einmal Freude an Thalbergs gewählter Empathie
und sagt dann noch:
„Der Oberdoofe ist hier aber schon der Herr Redakteur. Der hätte
nicht nachgeben dürfen. So etwas veröffentlicht man doch nicht.
Sowas gehört nicht einmal in ein lokales Krambudenblättchen.“
„Oder dann erst recht, als Qualifikation“, meint Thalberg trocken.
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BEST OF?
Thalberg ist erschöpft. Er sitzt sehr bequem in einem der weichen Fauteuils auf Artmanns Terrasse, dampft an einer mitteldicken Montecristo herum und geniesst ihr herbes Aroma und die
zurückgekehrte Sommerwärme. Neben ihm betrachtet Artmann
wohlgefällig im anderen Balkonfauteuil hingelagert einen Schwenker mit sündhaft teurem XO-Cognac.
Das Stadtfest, die eher kühlen Bad Schachenburger Wasserfestspiele sind seit einer Woche Geschichte. An drei von vier Tagen
hatte es geregnet. Thalberg fragt träge und unerwartet:
„Waren die wirklich BEST OF? Was meinst du?“
„Was?“
„Ich rede vom Stadtfest, vor einer Woche.“
„Ach so, das“, erwiderte Artmann unwillig.
„Ja das, das war doch gar nicht mal so übel.“
„Ja, mag sein. Aber BEST OF? Also ich weiss nicht. THE BEST OFF
mit zwei F. Meinst du das?“, gibt Artmann jetzt zum Besten.
Der mit seinen plumpen Wortspielchen, sinniert Thalberg für
einmal ungewohnt pejorativ und zieht kräftig an seiner Double
Edmundo.
Und doch, ganz daneben liegt er nicht, denkt er. Die Gefühle sind
allerdings gemischt gewesen. Er erinnert sich gerne an die liebevoll
geführten Restaurants, die neuen oder vertieften Bekanntschaften,
weniger gerne an die eher mittelmässigen Kleinkunstdarbietungen,
dann aber wieder an den selbstlosen Einsatz der Vereine und an
die organisatorische Grosskampf-Leistung des OKs auf der erfreulichen Seite. Da möchte man auch gerne mal loben.
Aber dann das Wetter! Äusserst deprimierend. Drei Tage feucht
und kalt, Dauerregen inklusive. Die diplomatischen Beziehungen
der Stadt zu Wolkanien und Petrusalem sind offenbar angespannt.
Aber in scha'a llah! Da war nichts zu machen.
Artmann sagt jetzt, das mit dem Wetter habe er einfach ignoriert.
Im Gegensatz zum infernalischen Lärm.
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Thalberg immer noch entspannt von einer dämmrig-dunstigen
Blauwolke umschwebt:
„Du meinst, das monotone Gebumse der Totschlägermusik?“
„Mit zwei M! Ja, das auch, und die Kulinarik auf der Partymeile
Das war übel.“
„Ach das“, sagt Thalberg verstohlen gähnend zwischen zwei Havannazügen, „die hat unsere Magenresistenz ganz schön herausgefordert.“
Thalberg befürchtet, dass Artmann jetzt gleich loslegt und sich
wieder minutenlang über die Primitismen der Armen im Geiste
mokiert und geschmackvoll von Kotzmeilen und Rotzköpfen faseln
wird.
Aber er täuscht sich. Artmann ist nicht Oberholzer. Er beschränkt sich zwischen zwei Cognac-Schlucken eher schwach engagiert auf ein paar festtheoretische Ergüsse.
„Man muss es einfach wieder einmal zuspitzen. Das volksdümmliche Jekami-Konzept hat sich nicht bewährt. Etwa 70 Prozent, und
da mache ich mir wieder viele neue Freunde, hätte man sich ersparen sollen.“
Thalberg hat ihn dann trotz fauler Gleichgültigkeit gefragt:
„Was ersparen? Genauer bitte?“
Herausgefordert legt jetzt Artmann doch noch los, wenn auch
wie gesagt, immer noch sehr gesittet:
„Das war nicht BEST OF. Höchstens PISS OFF!“
„Na, na, jetzt bloss nicht ordinär werden.“
„Doch, mein Bester. Das verlangt Klartext. Das war pure Nötigung, nein, schlimmer, eine musikalische Kulturschande!“
„Ja, schon gut, jetzt riskier‘ doch nicht gleich einen Infarkt!“
„Ganz sicher nicht. Ich fress‘ das doch nicht in mich hinein. Das
ist und bleibt dampfkolbemässige Notzucht!“
„Dampfkolbenmässig?“
„Ja, zum Teufel, dampfkolbenmässiges Gestampfe und ein
dummdreister Gewaltskrach oben drauf; diese Rock-, Pop-, Hiphop-
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und Schrottkonzerte sind doch einfach nur noch gewalttätig, die
elfte Landplage für Ohr und Herz. Das ist BEST OF auf Radio Agonia-Niveau!“
Thalberg weiss, was jetzt kommt. Artmann wird sich wiederholen. Und wie bestellt sagt er:
„Bei denen gilt der Slogan: ‚Der Soundtrack zum Leben‘. Aber das
stimmt so nicht. Das müsste ‚Der Sounddreck zum Sterben! ‘ heissen.“
Thalberg fragt ihn wie immer von freundschaftlicher Höflichkeit
bewegt, und nachdem er sich die Todsünde aller Aficionados geleistet und die erloschene Zigarre mit viel Gefunkel wieder angezündet hat, fragt ihn also matt resignierend:
„Was würdest du denn besser machen?“
„Ist nicht einfach. Sicher mal weg mit dem elektronischen Getöse
und dem, ääh, ja genau, dem kulinarischen Gekröse. Vor allem aber
kein Heck-Meck mehr und weniger Dreck. Also statt Partymeile ein
Festparcours ohne Verstärkerkisten, hin zu dem, was tatsächlich,
verflucht noch mal, THE BEST OF sein könnte.“
„Und das wäre?“, will Thalberg nun doch noch wissen.
„Das wäre etwas mehr Bescheidenheit, ja, auch Freundlichkeit, so
was wie Herzlichkeit, ein intimeres Fest der leiseren Töne, und
primär von Schachenburgern für Schachenburger.“
„Nur für die?“
„Nein, notfalls auch noch für die Nachbardörfer, ja die Röhmerswiler auch. Die haben ja sonst nichts zu feiern!“
Wo er Recht hat, hat er Recht, denkt Thalberg jetzt und geniesst
seine wiederentflammte Sonntagszigarre.
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Phubbing
Karlo Oberholzer marschiert schon wieder an der Decke. Artmann
kennt das und nimmt es gelassen.
„Jetzt hat das verfluchte Kind auch noch einen Namen!“, brüllt
Karlo empört in sein Wohnzimmer.
„Welches Kind? Hat deine Nachbarin endlich geboren?“, fragt
Artmann freundlich aber wenig interessiert zurück.
„Die? Nein, die lässt sich Zeit mit dem Bratzen. Ich rede von Leuten, die nie Zeit haben für das unmittelbar Reale. Ich rede von
‚Phubbing‘.
„Klingt obszön.“
„Schon, ist es aber nicht.“
„Ja, was dann, ein Putzmittel gegen Fett-Flecken oder Spaghettisauce?“
„Weder noch.“
„Also was dann? Eine neue Puddingsorte mit Pflaumenmus?“
Artmanns Geduld verflüchtigt sich.
Oberholzer weist auf seine Privat-Wamme: „Soll das jetzt eine
Anspielung sein?“
„Nein, nur ein Lösungsansatz.“
Oberholzer lacht wider Erwarten und sagt dann schon fast
selbstgefällig triumphal:
„Voll daneben, der Herr Semantiker. ‚Phubbing‘ ist ein Kunstwort.
Es kombiniert ‚Phone‘ und ‚snubbing‘, das leitet sich von ‚to snub‘,
also ‚brüskieren‘ oder ‚vor den Kopf stossen‘ ab.“
„Dann ist es ein neuer Slogan der swisscom?“
Karlo grinst: „Ja, im weitesten Sinne. Aber trotzdem knapp daneben. Es geht da um die Typen, die den ganzen Tag auf ihren globilisierenden Miniglasplatten …“
„… man sagt globalisierend“, korrigiert Artmann absichtlich.
„In dem Fall nicht. Ich rede von den rotierenden Zeigefingern auf
den Smartphones, die dafür sorgen, dass Richard Sennett doch
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noch Recht behält. Du kennst doch Sennet?“, fragt Oberholzer diesen Intellektuellen da mal etwas hinterhältig herausfordernd.
„Ja, das ist … der hat doch … da gibt’s einen Buchtitel … Moment
… jetzt hab ich’s: ‚Die Tyrannei der Intimität‘ oder war es ‚Der Verfall und Ende des öffentlichen Lebens‘?“
„Genau der.“
„Ja, schön, aber was hat jetzt ‚snubbing‘ mit Sennet zu tun?“
„Nicht snubbing, phubbing! Ich rede von den Scheisskerlen, die
mit jemandem zu sprechen vorgeben und gleichzeitig auf ihren
Smartphones herumfingern.“
„Ach so, das. Das kollektivdigitale Delirium in fiktiven Parallelwelten?“
„Wenn du es unbedingt geschraubt ausdrücken musst. Ich nenne
das in aller Schlichtheit eine matschbirnige Frechheit.“
Artmann beginnt zu verstehen und will jetzt mithalten. Er bestätigt:
„Ja, allerdings: Statt Dialoge nur noch Monologe in Fakebook und
mit Shitter? Das meinst du doch?“
Oberholzer läuft schon wieder rot an und wird wieder lauter.
„Ich habe schon Pärchen gesehen, sie will kuscheln, klebt ihm am
Hals, während er auf sein Handy starrt und eine SMS bastelt.“
Artmann nickt und sagt dann:
„Jetzt hab ich‘s kapiert: phonen und snubben. Nicht übel. Das
kenn‘ ich. Musst nur mal mit den Kassenfrauen der Supermärkte
reden. Die erzählen dir dann von Kundinnen, die mit der linken
Hand telefonieren, mit der rechten Hand die Ware einpacken, bezahlen und dabei kein Wort mit der Kassiererin sprechen, sondern
irgend eine andere Ratschkiste mit den Details der letzten Nacht
mit Bruno eindecken.“
Oberholzer mustert Artmann kurz erstaunt.
„Bruno? Wer ist Bruno?“
Kurze Reflexionspause, dann die gespielte Erleuchtung:
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„Ach so, nur ein Beispiel. Ja, sehr originell. Und jetzt stell dir
aber vor, es gäbe so was Verrücktes wie eine Allianz der Vernunft.
Man würde übereinkommen, dass jedes Mal, wenn jemand mitten
in einem Gespräch das Smartphone zückt und zu phubben beginnen würde, quasi das „Hundi“ auf der Glasplatte sucht, wenn wir
exakt in diesem Moment einfach davonlaufen oder als mildere
Variante mal heftig und laut würden.“
„Faszinierend“, äfft Artmann Spock nach.
„Nicht wahr? Ich mach‘ das schon lange. Ich spreche grundsätzlich nicht mit Leuten, die kuhmässig einen Kaugummi im Maul
herumwälzen, mit vollem Mund sprechen oder eben während eines
Gespräches auf diese Scheissdinger starren oder mit ihnen spielen.
Da beantworte ich dann Phubbing mit Troubling.“
„Ist aber schon nicht sehr nett von dir.“
„Nein, nett nicht, aber notwendig“, sagt er triumphierend und
trotzig in die Gegend grinsend. Dann meint er noch, als bräuchte
Artmann Nachhilfeunterricht:
„Das leitet sich bekanntlich von to trouble, also „beunruhigen,
und belästigen“ ab. Alles klar?“
„Alles klar. A propos klar: Hast du noch von diesem Limoncello
übrig?“
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Botschaften aus Burkistan
„An Stoff mangelt es tatsächlich nicht im vermummten Absurdistan“, stellte Thalberg gelassen aber dennoch verstimmt fest. Da
könne er wohl zusammenpacken mit seinen liberalen Denkmustern.
„Wer sein Gesicht nicht zeigen kann, verliert sein Gesicht.“ Das
hatte Artmann apodiktisch festgehalten, vor ein paar Tagen, als sie
wieder einmal den Islamismus und den Dschihad auseinander
nahmen.
Thalberg hatte ihn dann gefragt, was er denn vom Vermummungsverbot halte?
„Aber das ist doch keine Frage: Vermummungsverbot ja, jederzeit. Ob Fussball oder Schwarzer Block, spielt keine Rolle. Das Gesicht wird gezeigt und gewahrt.“
„Ja aber, was ist mit den Burka- und Nikabträgerinnen? Auch
verbieten? Zurück zu cuius regio, eius religio?“
„Das ist doch ganz klar: Das geht so nicht!“, hat Artmann eher
gleichgültig geantwortet. War für ihn wohl kein innerer Konfliktstoff.
„Ja, aber wie denn?“, hat Thalberg dann nachgehakt.
Artmann hat wider Erwarten, wenn auch etwas verzögert geantwortet:
„Das weiss ich auch nicht so recht. Aber befremden tun sie
schon, ich meine diese schwarzen, totalvermummten Schleiereulen
auf dem Jungfraujoch oder auf den Seepromenaden. Sehen aus wie
islamistische Nonnen. Und irgendwie abstossend ist das schon
auch ein wenig. Ist ein ästhetisches Problem. Das sagen die Modisten. Und was tragen die darunter? Das fragen sich die Frivolen.
Kopftuch sei eine Frage religiöser Freiheit. So flöten die Toleranten.
Und wir hätten nun mal Glaubensfreiheit.“
Thalberg hat Artmann gemustert, als hätte der ihm weismachen
wollen, dass er jeden Tag drei Ave Maria beten würde und regelmässig zum five o'clock tea Koransuren vor sich hin murmle. Er
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hat dann etwas ungehaltener, als man bei ihm gewohnt war, aber
immer noch, wie es sich gehört, gelassen reagiert:
„Das ist nun mal so. Immer noch besser als braune Hitlerjugend
oder rote Jungpioniere.“
Darauf Artmann wenig überzeugt: „Ja, sicher doch. Aber da gibt’s
auch Leute, die dulden, dass Glaubensführer vorschreiben, wer mit
wem, wann und warum die Betten heimsuchen oder dekretieren,
wer Priester sein darf, warum Frauen das nicht dürfen, und wie die
sich anzuziehen haben, und dass wir an die jungfräuliche Zeugung
cum Sancto Spiritu glauben müssen.
Also ich weiss nicht, aber wahrscheinlich stimmt eben doch, was
Vargas Llosa zu diesen religionspolitischen Absurditäten schreibt:
Vor diesem Hintergrund seien das eben doch nicht bloss Kleidungsstücke, sondern Embleme einer Diskriminierung, der die
Frauen in weiten Teilen der islamischen Welt nach wie vor ausgesetzt seien. Hat was für sich, findest du nicht?“
Thalberg hat nichts einzuwenden gehabt und dann gesagt:
„Ja, unbedingt. Aber jetzt brauche ich nach so viel schleierhaftem Religionsmief ein scharfes Getränk. Sag mal, hast du noch von
diesem Blanton‘s … und eine Partagas Nr. 5 wär‘ jetzt auch nicht
übel.“
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Big Macs und Krokodilleder-Handtaschen
Oberholzer ist wieder mal explodiert. Diesmal äusserst dekorativ
mit dickem Theaterdampf.
Artmanns Versuche, ihn mit einem starken Getränk zu kalmieren, sind allesamt vorderhand gescheitert. Kater Karlo ist vom Fauteuil aufgesprungen und tigert nun mit einem vollen Glas in der
Schwenkhand im Appartement herum. Er tobt, und Artmann befürchtet, dass Freund Karl den teuren XO-Hennessy auf den Parkettboden verschüttet.
„Nein, verdammt!“, brüllt Oberholzer, „da macht mir keiner mehr
was vor. Er ist und bleibt ein politisch talentloses Arschloch, der ist
noch blöder als diese grossmäulige amerikanische Fernsehschnalle,
der man angeblich im Bankendorf keine Krokohandtasche verkaufen wollte, weil sie schwarz sei, schwarz wie diese Kommentare
von dieser Einsiedler Moralinkutte, ein beschissener Skandal ist
das, ja die TV-Ratschblase auch, aber ich rede jetzt von dieser verfluchten Handtasche, ich meine, dass eine Handtasche fünfunddreissigtausend Hämmer kosten soll. Damit könnte man in den
Schulhäusern ein paar nützliche Physik-Experimentier-Kästen anschaffen. Das wäre jedenfalls gescheiter als dieses blankgescheuert
hirnlose Gequake von dieser Medienkröte. Die soll damit Milliarden
verdient haben. Sagt man jedenfalls. Findest du das in Ordnung?
Soziale Gerechtigkeit und so? Nein? In Afrika oder sonst wo verrecken sie wie die Fliegen, und wir machen hier Werbung mit Kindern, die vor einem gigantischen Big Mac-Haufen gesetzt werden,
wahrscheinlich als Beitrag zum Welthungertag? Du kannst dir gar
nicht vorstellen, wie ich den Kanal voll habe von diesen Winfreys,
Perlens und Schwamingers, von diesen Schtochanskis, Meyers, Müllers, Hubers und Gaggenbühlers, Pfandmanns, Gröbels, Hemmlers
und Hugglins oder dieser Conchita Wurst. Die sind doch wirklich
nur arme Würste, ich sag‘s mal wie du Roman, arrogant und blasiert: Das sind ephemere Phänomene für Sonntagszeitungen. Die
lenken bloss von den drei tatsächlichen Armageddon-Potentialen
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ab. Die da sind, aufgepasst mein Lieber, da kommt es: Explosive
Bevölkerungsraten, verknappte Ressourcen und auf allen Breitenund Längengraden dieser anschwellende Fundamentalismus. Da
hast du dann die idealen Bedingungen für den nächsten Grosskrieg.“
„Ja, mag sein“, kontert Artmann schwach. „Aber nun setz dich
doch wieder hin. Ist doch schade um den Cognac. Noch einen? Und
ich hätte noch zwei Tüten Tyrell’s, du weisst schon, diese Chips
aus England, die ganz scharfen.
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Ein Fall für Madame Michèle?
Thalberg sitzt im Intercity.
Er fährt zu einem potentiellen Kunden in die Kapitale, natürlich
1. Klasse. Die zweite ist ihm zu schmierig und zu lärmig. Und dann
immer diese Gelegenheitsesser. Riecht manchmal wie neben einer
Frittenbude, wenn‘s ganz schlimm kommt, nach einem Dönerstand.
Ihm schräg gegenüber sitzt ein junger Mann, vermutlich um die
Dreissig. Nachtblauer Zweireiher, rosa Krawatte, Aktenkoffer, gepflegte Frisur. Das volle Business-Programm. Er liest Zeitung, irgendein Regionalblatt.
Thalberg bereitet sich auf sein Akquisitions-Gespräch vor und
liest noch einmal die Firmenbroschüre. Er will herausspüren, wer
wohl dort das Sagen hat. Da weisen Bilder meistens mehr aus als
das, was in dem Werbeprospekt beteuert wird.
„Entschuldigen Sie, bitte.“
Thalberg unterbricht seine Lektüre und will wissen, wer da
spricht, und ob er überhaupt etwas, und wenn ja, was er denn entschuldigen soll. Er blickt von seiner Broschüre auf und mustert den
jungen Mann. Der hat seine Zeitung gesenkt und blickt ihn zaghaft
an.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie einfach so anspreche. Aber ich
glaube, wir sind uns schon einmal begegnet. Sind Sie nicht Managementtrainer bei Krantzfeldter International? Ich war da mal in
einem Führungsseminar. Hat mir sehr geholfen.“
Thalberg fühlt sich zwar in seiner Lektüre gestört. Andererseits
ist er aber permanent um ein gutes Image seiner Unternehmung
besorgt, und da reagiert man höflich. Er sagt:
„Das freut mich für Sie und für uns natürlich auch. Mit wem …?“
„Entschuldigen Sie, mein Name ist Scheuermann, Walter Scheuermann, Strehler AG, Baukomponenten.“
Thalberg ist im Bild. Bei Strehler hat er tatsächlich mal das mittlere Kader trainiert. Ist aber schon ein Weile her, zwei oder drei
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Jahre sicher. Dieser Scheuermann? Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Er muss lügen und sagt:
„Richtig, Herr Scheuermann. Das ist jetzt auch schon wieder ein,
zwei Jahre her. Sind Sie immer noch bei Strehler?“
Jetzt mit beiläufigem Stolz: „Ja, Vizedirektor für den Einkauf. Ihr
Name ist doch Thalheim, oder?“
„Nein, Thalberg, wie der Filmmogul. Dann hat Ihnen also unser
Training weitergeholfen?“
„Ja sicher. Ich habe Ihr kleines Führungs-Brevier immer auf meinem Schreibtisch. Sie wissen schon: Direkt zum Ziel, Input zur
Bewegung.“
Thalberg lächelt freundlich und nachsichtig. Was soll er dem
Mann da den freudigen Stolz vergällen? Scheuermann scheint ein
fleissiger Schüler gewesen zu sein und es halbwegs ehrlich zu meinen. Er fährt fort. „Wissen Sie, Ihre Seminare waren konkret auf
den Führungsalltag zugeschnitten. Kein vages Zeug wie diese Abstimmungs-Prognosen
zum
EWR-Beitritt
oder
zur
AKW-
Moratorium-Initiative.“
Beginnt der jetzt zu politisieren? fragt sich Thalberg besorgt. Er
lässt ihn aber gewähren. Er sagt nichts. Offenbar fühlt sich Scheuermann ermuntert und fährt fort.
„Ich habe da eben gelesen, dass dieses bekannte Institut in Bern
sich auch bei der Anti-Minarett-Initiative, der SP-Steuerinitiative,
oder warten Sie, ja auch bei der Autobahn-Vignette gewaltig geschnitten hat.“
Thalberg lächelt immer noch verbindlich aber bereits gefährlich
nachsichtig. Obschon er politische Diskussionen überhaupt nicht
mag und wenn immer möglich meidet. Und das da droht eine zu
werden.
„Ganz zu schweigen von den Nationalratswahlen“, lässt ihn jetzt
Scheuermann noch wissen. Thalberg versucht es mit gelassener
Ironie. Er antwortet gestaltet freundlich:
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„Na ja, da gibt’s zwei Möglichkeiten: Entweder hat das Volk falsch
gelegen, oder die Prognosen waren halt zu ungenau.“
Jetzt ist Scheuermann nicht mehr ganz sicher. Was war das jetzt
eben gewesen? Thalberg möchte unbedingt in seiner Broschüre
weiterlesen. Aber dieser junge Kadermensch gibt ihn noch nicht
auf.
„Allerdings, das können Sie laut sagen, die lagen voll daneben.
Das ist ja Kaffeesatzlesen noch genauer.“
Oder Geomantie, vielleicht auch noch Numerologie, denkt Thalberg für sich. Und wenn das nicht hilft, dann nehmen wir halt die
Eingeweideschau und Vogelflugbeobachtungen. Laut sagt er:
„Ja, oder ein Eierorakel, oder wie wär’s mit Kristallkugeln?“
Scheuermann findet’s offenbar spassig. Er lacht, etwas gezwungen zwar, aber immerhin. Er will intellektuell mithalten und sagt:
„Genau, und wenn die versagen, dann bleibt uns immer noch das
nebulöse Orakel von Delphi oder die Hellseherin und Heilerin von
Rheinfelden, Madame Michèle. Kennen Sie die?“
Thalberg hat von ihr gelesen, und Artmann von ihr erzählt.
„Ja, ein Bekannter von mir hat mal was über sie geschrieben. Es
soll ja Leute geben, die sie ernst nehmen.“
Scheuermann beugt sich leicht vor und sagt jetzt verschwörerisch leise, als wäre es ein Geheimnis:
„Es soll ja Bosse geben, die holen sich bei ihr Geschäftsprognosen
und andere Ratschläge. Ich weiss zum Beispiel, dass …“
Thalberg hat jetzt genug. Böswilligen Gerüchten und intriganten
Ondits weicht er prinzipiell aus. Schädigt das Geschäft. Er unterbricht ihn.
„… dass ich jetzt unbedingt diese Broschüre noch durcharbeiten
muss; und Sie kennen ja den Grundsatz von Krantzfeldter International über die schriftliche Vorbereitung. Sie macht 90 Prozent des
Erfolges aus.“
„Okay, sicher, kein Problem. Ich wollte nur … ich sollte auch
noch …“
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Bis Bern schweigen sie. Scheuermann mustert Thalberg noch ab
und zu misstrauisch und gestaltet dann aber diensteifrig die Zukunft der Strehler AG. In der Kapitale angekommen, verabschiedet
sich der Jungmanager zwar freundlich aber unterkühlt.
Und Thalberg weiss jetzt definitiv, dass er von Strehler AG keine
Folgeaufträge mehr erhalten wird. Das bekümmert ihn aber wenig,
denn in einigen Minuten wird ihn der Chef Ausbildung des Führungsstabes der Armee, Oberst i Gst Jean-Pierre Wild, empfangen.
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Herr Schwab weffelt!
Artmann telefoniert mit Thalberg. Er ist überlastet und hat von ihm
wissen wollen, ob Krantzfeldter Interesse an einem Seminar-Kunden
hätte, den er unmöglich auch noch übernehmen könne.
Mit dem Vorbehalt, dass der Kunde mit der Rochade einverstanden
sei, einigen sie sich rasch über die Modalitäten, besprechen Lösungsvorschläge und vereinbaren auch gleich die Provision.
„Und sonst? Wie läuft’s bei euch?“, fragt Artmann der guten Ordnung halber, obwohl er wie immer wenig Zeit hat oder so tut als
ob. Aber Thalberg ist nicht irgendjemand. Genau besehen ist er ein
Freund. Und Freunde speist man nicht einfach ab.
Thalberg macht es kurz. Man sei zufrieden. Die Zahlen würden
stimmen und die Arbeit hänge ihm noch nicht zum Hals heraus.
Artmann bestätigt Ähnliches für seine Firma und fragt Thalberg, ob
jemand von Krantzfeldter International am WEF sein werde.
Thalberg reagiert gelassen, lacht kurz und meint dann aber sehr
bestimmt.
„Nein. Was sollen wir dort? Ist nicht unsere Liga. Zu dünne und
zuviel Luft.“
„Verstehe ich das jetzt richtig? Du meinst das, was für die Katzen
und Füchse gilt?“
„Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“
Artmann staunt kurz. Thalberg ist selten sarkastisch. Aber dass
er im Zusammenhang mit dem WEF gleich Weltbetrug andeutet,
befremdet ihn schon ein wenig, und das, obgleich auch er schon
mal WEF etwas unbeholfen als World-Eclipse-Fair und einmal sogar
unter Freunden es als widerlich eitle-Festhütte abgehandelt hat.
Artmann überlegt kurz, ob er es loswerden will, sieht keinen
Einwand und sagt dann:
„Ich habe gelesen, dass Davos als Veranstaltungsort des WEF zur
Debatte stehen würde.“
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Darauf Thalberg: „Das wäre sicher furchtbar, stell dir das mal
vor. Davos ohne diese Schaumschläger-Veranstaltung, ohne diesen
vanity and foam fair?“
Ist das noch Thalberg der Besonnene, der so spricht? Kommt da
noch mehr? fragt sich Artmann besorgt. Und es kommt noch mehr.
Thalberg fragt ihn:
„Du bist doch auch ein kritischer Beobachter solcher Anlässe.“
„Sicher. Und darum gehe im meistens auch gar nicht hin“, hilft
Artmann nach.
„Und du bist doch auch dieser Kerl, welcher generell Kongresse
eher für konkret wirkungslos hält, oder?“, doppelt Thalberg nach.
Das regt nun Artmann erst recht an.
„Ja, genau so ein Kerl bin ich. Weil … also in der Regel sind das
doch
auch
nur
Selbstbeweihräucherungs-Meetings
mit
etwas
Apéro-Riche-Smalltalk. Man lernt Leute kennen und wieder vergessen. A la fin du compte et du comptoir trägst du ein paar Dutzend
Visitenkarten nach Hause, denen du kaum noch ein Gesicht, eine
Idee oder ein Projekt zuordnen kannst.“
Ganz stimmt das zwar nicht, aber Thalberg will Artmann trotzdem nicht widersprechen. Er war einmal dabei gewesen. Er hat sich
danach geschworen: Nie wieder! Wahrscheinlich sieht das dieser
Oberholzer schon richtig. Er hat das WEF als einen gottverlassenen
und wahrscheinlich von Gott höchst persönlich verfluchten TingelTangel-Jahrmarkt abgekanzelt. Thalberg meint dann nun doch
etwas resigniert:
„Du bist streng mit dem Davoser Ehrenbürger. Das wird Herrn
Schwab gar nicht gefallen. Aber ich konzediere dir: Du hast nicht
ganz unrecht. Und dann diese Andeutungen! Neue Orte andenken
und umziehen. So etwas kann mir nun gar nicht behagen. Oder
wenn er zum Beispiel sagt, dass die Gastfreundschaft von Davos
leider nicht die ganze Bevölkerung durchdrungen habe. Als hätt‘
Ihro Hochnäsigkeit das alleine zu bestimmen.“
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„Ah ja? Klingt schon ein bisschen stopfnasig“, antwortet Artmann und fährt gleich fort.
„Das hört sich bedrohlich an. Aber bitte: Wer droht, ist tot. Wer
hat das gesagt? Mao oder Tschu En Lai?“
„Keine Ahnung. Stalin war es jedenfalls nicht, könnte es aber gewesen sein.“
Artmann kann es nicht lassen. Er sekundiert und ergänzt:
„Moment, ich lese dir das vor. Der sollte nun wirklich nicht herumposaunen, ich zitiere, dass man Davos die Treue halte, wenn
dagegen keine schwerwiegenden Umstände vorlägen. Aber es gäbe
da Grenzen. Hat Herr Schwab tatsächlich gesagt. Und weiter, hör
dir das an: Und die Konkurrenz in der Welt sei gross. Die Treue zu
Davos hänge nicht von ihm ab, sondern davon, ob seine Teilnehmer
sich in Davos wohlfühlen.“
Thalberg lacht ausnahmsweise mal sehr abschätzig und fragt
dann schon fast hämisch:
„Was meinst du? Wird nun im Dorf Weinen und Wehklagen sein?“
„Ja, vielleicht bei denen, die am WEF verdienen. Aber nicht bei
denen, die nur die Umtriebe und die Unbill zu spüren bekommen.“
„Die Unbill?“, fragt Thalberg, obschon er das Wort kennt. Aber
Artmann zu necken, macht ihm immer noch Spass.
Artmann antwortet erwartungsgemäss ironisch.
„Ja, warum nicht die Unbill? Oder soll ich sagen: Die Bitternis und
den Verdruss? Übrigens hat ihm das KKK, du weisst schon, das
Kritisch Konservative Komitee von diesem Typen, diesem Tintner
da beim Wasserschloss, der hat Herrn Schwab nicht einmal einen
BLECHERNEN ARMLEUCHTER verleihen wollen. Die Begründung ist
charmant: Am WEF wäre schon genug Metall zu Klump geredet
worden.“
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46
Sprachenpass? Nix Spass!
Oberholzer schreibt eine E-mail an Artmann.
Tag, Roman. Schon gehört? Der Bund (Eidgenossenschaft) führt
endlich einen Sprachenpass für fremdsprachige Ausländer ein, die
sich in der Schweiz dauerhaft niederlassen wollen. Nur wer sich
verständigen
kann,
erhält
künftig
eine
unbeschränkte
C-
Bewilligung. Gut so, aber im Vollzug etwas sperrig! Hier extra für
Dich ein Dialogausschnitt aus einer Befragung zwischen einem
Beamten (B) und Herrn Wojciech Mojzesowicz (WM).
B:
„So, Herr Mojzesowicz, Sie möchten also Schweizer werden?"
WM: „Niet, nix werden Szwajcar."
B:
„Also dann nur Bewilligung C?"
WM: „Co?" (Polnisch, phonetisch zo für was?)
B:
„Nix Zoo! Permischen Cee!"
WM: „Ah, I see, permit Cee?"
B:
„Ja, permit Cee. Den wollen Sie doch?"
WM: „Wollen? Was Wollen? Nix Pullover? Nix Kaschmir. Zu teuer."
B:
„Nein, nix Pulli! Also, haben Sie Ihren Sprachenpass dabei?"
WM: „Nix Spass machen lernen Deutsch, wollen permit Cee!"
B:
„Sie brauchen aber einen Sprachenpass."
WM: „Co?"
B:
„Sie besser Deutsch lernen müssen."
WM: „Nix deutsch, jestem Polakiem." (Ich bin Pole.)
B:
„Jesteś Polakiem (Du bist Pole), der nix Deutsch?"
WM: „Ich gut Deutsch: Von Fischer Fritz fischen frischen Fischen."
B:
„Ja, schon gut. Aber jetzt im Ernst. Wo ist der Sprachenpass?“
WM: „Ich nix Ernst, ich Wojciech.“
B:
„Ja, aber Sie, Herr, Moment … Herr Wojciech Mojzesowicz, Sie
haben keinen Sprachenpass und Sie müssen halt zuerst
Deutsch lernen.“
WM: „Nix Deutsch. Deutsche nix gut.“
B:
„Ja dann tut es mir Leid. Nix Papier Cee für Szwajcaria. Next,
please. (Kurze Pause, der Pole geht, und ein Tamile tritt ins
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Büro) Guten Tag. Und Sie sind also Herr Pasqual Nadeeka
Mahalingam Pushpakumara. Ist das Ihr voller Name? Nehmen
Sie bitte Platz. Sie haben Ihren Sprachenpass dabei.“
P. N. M. Pushpakumara antwortet in tadellosem und beinahe akzentfreiem Deutsch: „Ja sicher, einen Augenblick bitte. Ich
habe ihn in meiner Brieftasche.“
B:
„Ausgezeichnet. Dann wollen wir mal.“
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Über den Zustand der Nation
„Frau Dr. Morgenthaler?“
„Guten Morgen, Herr Artmann.“
„Guten Morgen, schon wieder munter? Schön, dass du anrufst.
Wie geht es dir? Gut geschlafen?“
Das „Du“ befremdete Artmann immer noch ein wenig. Aber seit
dem Ausflug nach Meran und dem Abenteuer im brennenden Zug
duzten sie sich. Wurde auch Zeit, dachte er. Zu weiteren Vertiefungen in dieser immer noch distanzierten Beziehung war es aber
leider nicht gekommen. Ein paar Abendessen und jetzt der Besuch
einer Operette von Offenbach.
„Ja, wie nach einer 48-Stunden-Schicht mit sieben Geburten, nur
noch tiefer und zufriedener. Ich habe wieder einmal durchgeschlafen.“
Das hätte sie mit mir auch haben können, jedenfalls danach,
dachte er, sagte dann aber:
„Der Abend hat dir also gefallen?“
„Ja sehr, und vielen Dank. Hätte nie gedacht, dass mir eine Operette je was sagen könnte.“ antwortete sie.
„Geht mir gleich. Und freut mich natürlich, das zu hören. Na ja,
Offenbach. Gehört schon eher zur musikalischen Oberklasse. Und
‚La Périchole‘ ganz bestimmt.“
Etwas Kultur soll bei Frauen immer gut ankommen. Kann sicher
nichts schaden, überlegte er.
„Ja, ich hab‘ nicht einmal gewusst, dass es die gibt“, erwiderte sie
nicht besonders verlegen. Artmann konnte es aber trotzdem nicht
lassen. Er sagte:
„Da könnten die österreichischen Schmalznudeln noch was lernen.“
„Welche Schmalznudeln?“
„Na, die Walzerkönige von Wien mit ihrer ZwetschgenknödelMusik. Ich bin ja auch nicht gerade süchtig nach Operetten. Bei
Robert Stolz habe ich immer gleich das Gefühl, ich sei in ein Si-
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rupfass gefallen, schlimmer noch, ich müsste sofort duschen oder
einen Selbstverteidigungskurs frequentieren.“
Ob Fremdwörter die Frau Doktor beeindruckten, wusste er nicht,
hoffte aber auf den Eros der gewählten Sprache.
„Ja, darin bist du ja geübt.“
Jetzt hatte sie doch noch auf die Bruckner Affaire angespielt, in
deren Verlauf Artmann einem Berufskiller direkt in den Arm geschossen und den Mann indirekt hinter Gitter gebracht hatte.
„Das streite ich gar nicht erst ab. Und dass die Handlung auch
ganz passabel war, ich meine gestern auf der Bühne. Auf jeden Fall
war sie nicht bloss Vorwand, ein paar Arien ins Publikum zu
schleudern.“
Sie lachte kurz und fragte dann:
„Sag mal, gibt’s davon CDs?“
„Ich denke schon. Bin aber nicht sicher.“
„Wann ist man das schon?“
„Ja, allerdings. Also ich müsste nachschauen. Ich kenne nur alte
Gesamteinspielungen auf Vinyl. Ich glaube mit Régine Crespin oder
Renata Tebaldi als Périchole, aus den Siebzigerjahren.“
„Würdest du …?“
„Ja sicher, bin selber neugierig. Ich kümmere mich darum. Vielleicht gibt es sogar eine CD. Und sonst? Was macht der Nachwuchs?“
„Er gedeiht. Vor allen der orientalische.“
„Das hat Tradition“, antwortete er unbekümmert und im Gegensatz zu ihr politisch korrekt.
„Ja, allerdings. Der Okzident ist da eher resistent“, gab sie sofort
zurück.
„Um nicht zu sagen, dekadent“, ergänzte er ganz dem Wortspiel
verpflichtet. Gerne hätt er ihr über Dekadenz noch mehr gesagt,
ging dann nicht weiter auf diesen persönlichen Prospekt ein, sondern fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten.
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„Also für die Dekadenz genügt in der Regel ein einziger Blick in
die TV-Welten.“
„Und wirfst du diesen Blick ab und zu?“, fragte sie.
„Ja sicher. Aber mehr als einen erträgt man so oder so nicht.“
„Manchmal genügt schon die Vorschau in den Zeitungen.“
„Das allerdings“, erwiderte er. „Und wenn du auch nur kurz in
die Röhre guckst, du weisst sofort über den Zustand der Nation
Bescheid; und zwar mehr, als dir lieb ist und du ertragen kannst.“
„Also bleibt nur: Gar nicht erst hinsehen?“, wollte sie jetzt wissen.
„Stimmt, aber so einfach ist das auch nicht immer. Da wird viel
versprochen und wenig gehalten. Und das sage ich auch am Abend
und nicht bloss jetzt, wenn der Morgenmuffel meinen Kreislauf
hemmt.“
„Ja, hast du denn nicht gut geschlafen?“
„Doch sehr gut. Aber, na ja, da gibt es noch Steigerungsformen.“
„Ach so, ja wie sähe denn so ein Komparativ aus?“ fragte sie jetzt
sehr neugierig geworden.
„Ganz einfach. Ein Komparativ braucht immer zwei Elemente,
zum Vergleich eben.“
„Zwei Elemente. Interessant. Darüber müssten wir uns mal bei
Gelegenheit unterhalten.“
„Unterhalten?“, wagt er sich nun doch noch vor.
„Ja, Unterhaltung ist immer gut. Das eröffnet manchmal ungeahnte Türchen.“
Artmann hatte verstanden. Da gab’s nichts mehr zu kommentieren. Das war kein Versprecher. Das war ein Versprechen, aber auch
ein leiser Appell an seine Geduld. Na bitte, kannst du haben, dachte
er. Ich bin keine zwanzigjährige Hormongranate mehr. Dennoch
würde er jetzt wohl besser etwas ablenken. Er sagte:
„Ja, aber das gilt nicht für die TV-Unterhaltung. Durch diese Türen marschiere ich sehr selten. Vorgestern zum Beispiel. Kennst du
diesen schiefmäuligen, ewig grinsenden Junggesellen?“
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„Ich kenne nur einen Junggesellen, und der ist nicht schiefmäulig, vielleicht manchmal etwas grossmäulig, das schon.“
„Aha, kenne ich ihn?“
„Frag ihn doch selber.“
„Wen? Den Schiefmäuligen im Fernseher?“, wich Artmann jetzt
endgültig aus. „Diesen Bachelor?“, ergänzte er.
Sie antwortet nach kurzem Überlegen:
„Ach so, der. Ja, denn kenne ich, vom Wegsehen. Das ist doch der
mit diesem sperrigen Namen.“
Alles wieder auf dem Hauptgleis, dachte er und sagte:
„Ja, irgendetwas aus dem Südosten. Heisst glaub‘ ich Vulgo
Gabritsch oder so“, erwiderte Artmann jetzt eher ungefällig.
Darauf sie: „Ja, und dann diese Giftspritzen, vollgepumpt mit Silikon und Neid, wenn eine rausgeschmissen wird.“
„Die wären mir an sich kreuzegal. Aber dass dieses kitschige Festival der Schminke, dieser Karneval der Schmiere, auch noch konsumiert wird, und so etwas Abgeschmacktes diesen TV-Boss, diesen, Moment ich hab’s gleich, diesen Dominik Kaiser, von sehr
guten Zuschauerzahlen und einer überwältigenden Resonanz in
den Medien daher labern lässt, das ist weder gut für meinen Blutdruck noch für meine Leberwerte.“
Er hörte sie lachen. Phase 1 war demnach erfolgreich: Sein Humor
kam an. Dann sagte sie:
„Für diese Werte gäbe es bei dir wahrscheinlich noch andere Ursachen. Aber du sagst es. Die tun ja alle so, als ob die Zuschauerzahlen ein Kriterium für Qualität sind. Da stimmt doch das Gegenteil.“
„Einverstanden. Die Höhe seines Miststockes sagt noch nichts
über den Bauern aus“, bestätigte er nur zu gerne.
„Ja sicher“, sagte nun auch sie leicht angeödet. „Nur ist der Bauer
in der Regel kein Volltrottel, der für Vollidioten Mist aufschichtet,
wie dieser Kaiser.“
Artmann zögerte. Sollte er es ihr sagen? Doch, das passte.
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„Du weisst aber schon, dass nächstes Jahr eine weitere Staffel
dieses Balzwettbewerbes aus den Geräten schleimen wird.“
„Nein, woher auch? Wann hätte ich denn Zeit dafür? Da werden
sich aber die Feministinnen freuen. Da hätten sie wenigstens einmal ausnahmsweise Recht. Ich schaue mir das sicher nicht an. Und
wenn doch, dann aus Freude an der Realsatire.“
Artmann wollte das toppen und sagte:
„Da wüsste ich dir aber noch etwas Besseres für das Gruselkabinett. Schau mal in "Bauer, ledig sucht …" und "Liebesglück im Osten" hinein. Da werden die Lebensnöte dieser armen Seelen verhöhnt. Das ist dann nur noch purer Zynismus. Und besonders ästhetisch ist es auch nicht.“
Sie meinte darauf offenbar abschliessend:
„Als hätten wir nicht schon genug Elend in den Hütten. Aber du
musst mich jetzt entschuldigen. Die Gebärmütter rufen.“
„Ja, klar. Nur etwas noch. Hättest du am nächsten Wochenende
mal Zeit für ein Abendessen?“
„Das kann ich dir beim besten Willen jetzt nicht sagen. Die Bäuerin muss die Brote aus dem Ofen holen. Ich finde, der Bauer sollte
etwas Geduld haben.“
„Der Bauer? Meinst du nicht den Bäcker? Ja, der hat ganz bestimmt Geduld. Jedenfalls mit dir.“
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Sind i-Phoniker realitätsblind?
Der Mediensprecher der KAPO, Gian Linard Denoth (GLD), gönnt
sich eine Kaffeepause und liest pflichtbewusst die Zeitung. Genauer:
Er durchforstet sein kantonales Leib- und Magenblatt, weil das zu
seinen Aufgaben gehört.
Warum er jetzt vor sich hin grinst, wissen wir noch nicht. Erst ein
paar Stunden später erzählt er es seiner neuen, hingebungsvollen
Freundin Franca Settembrini. Es soll sich dabei zwischen erotisch
bedingten, längeren Intermezzi unter und über zerwühlter Bettwäsche folgender Dialog entwickelt haben.
GLD: Das glaubst du nicht.
FS:
Warum nicht? Ich bin doch Juristin. Ich glaube schlichtweg
jeden Blödsinn, der auf Erden getrieben wird.
GLD: Dann glaubst du mir auch das. In Melbourne ist eine chinesische Touristin so in ihr Mobiltelefon vertieft gewesen, dass sie
über das Ende einer Mole hinausgelaufen und ins Wasser gefallen ist.
FS:
Geschieht ihr recht, der Schlitzaugenkuh!
GLD: Vorsicht Antirassismusgesetz, Frau Anwältin. Trotzdem, kann
man da noch lachen? Ich meine Schadenfreude und dergleichen. Ist ethisch schon nicht ganz einwandfrei.
FS:
Ach herrjeh, der Herr Polizist hat Bedenken. Aber gelacht hast
du trotzdem, oder etwa nicht?
GLD: Ja schon, aber nur kurz.
FS:
Das reicht. Gelacht ist gelacht. Sag mal … hier drin ist es
heute aber ziemlich kühl … komm doch bitte her … ich friere
ein bisschen … ich würde jetzt gerne etwas wärmer … und ich
muss dir was zeigen … ja, da, die Hühnerhaut … und da auch
… nein, da nicht … aber hier … holla … was haben wir denn
da unten … das Fähnlein der sieben Aufrechten … sieht aber
eher wie eine Fahne aus … darf ich mit auf die Wanderschaft
kommen? Jaa? Guuut … schon viel wärmer.
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Längere Pause. Wir kennen die spezifischen Inhalte und Bewegungsmuster dieser Sequenz nicht, glauben aber, dass sie ziemlich
synchron verlaufen sind. Eine gute Stunde später murmelt Franca
schläfrig und saturiert in das empfindsame Ohr von Gian:
FS:
Sag mal. Woher nimmst du eigentlich diese Ausdauer?
GLD: Na ja, ich trainiere halt auch privat.
FS:
Was? Doch nicht etwa?
GLD: Doch, bei Orlando, im VITAFORCE. Krafttraining und so.
FS:
Ach so, ich dachte schon. Also falls du … du hast meine
Nummer.
GLD: Genau, und ich weiss jetzt endlich, wozu man ein i-Phone
auch noch brauchen kann. Wobei, also um auf die nasse Chinesin zurückzukommen, wozu braucht man noch ein Smartphone, wenn man das hier und dich hat?
FS:
Ja stell‘ dir vor, man kann mit denen auch telefonieren. Aber
trotzdem, ich frage mich, was Suzie Wong wohl angeguckt
hat.
GLD: Das kannst du dir doch denken. Ich tippe mal auf Kosmetika
oder Bilder von der letzten Venedigreise. Also mir würde das
sicher nie passieren.
FS:
Was denn?
GLD: Das mit dieser Kuh im Wasser in Melbourne.
FS:
Ach so, die. Meinst du, die hat dabei was gelernt?
GLD: Wo denkst du hin? Das nächste Mal marschiert sie unter eine
S-Bahn, und wenn sie oder die S-Bahn das überlebt haben, in
einen Abfallcontainer, in einen Zeitungsständer oder in ihren
Zukünftigen.
FS:
Oder er in sie. Also, wenn wir schon davon reden: Ein berückender Gedanke, findest du nicht auch?
GLD: Ja schon. Ich würde aber gerne gedanklich noch etwas entspannen. Die Batterien und so.
56
FS:
Ah ja? Ich habe aber hier … und hier ... und da … ein Ladegerät. Ja, und dort auch. Mmh, schau an, schau an. Das kommt
ja knüppeldick. Gnade, Herr Wachtmeister.
GLD: Ooh nein. Strafe muss sein. Ich plädiere für die Höchststrafe,
Frau Anwältin.
Wieder eine längere Dialogpause mit recht eindeutigen Gefühlsbekundungen und anderen Exaltationen. Dann wird es eine Zeit
lang sehr still. Aber dann, nach etwa einer weiteren Stunde, was
haben die Zeit für einander, reden sie jetzt wieder in sprachlich
einwandfrei artikulierten, rational und semantisch nachvollziehbaren Sequenzen miteinander.
FS:
Diese Kühe hier oder in Melbourne, ich meine diese iPhoniker, wo leben die eigentlich?
GLD: Keine Ahnung, wahrscheinlich in einem irreal-digitalen Paralleluniversum.
FS:
In einem was?
GLD: In einer anderen Welt, einer Ersatzwelt. Für die ist die unmittelbare Gegenwart nur das Programm eines Störsenders.
FS:
Ja schon klar. Aber jetzt sage mir auch noch, du Klügster aller
Klugen, und Ausdauerndster aller Ausdauernden, was um alles in der Welt suchen diese i-Phoniker eigentlich dauernd auf
ihren Miniaturmattscheiben? Die ultimative Erleuchtung, das
nächste Date, einen Termin mit Gott, oder doch bloss die Wetterprognose und den Sendetermin von The Bachelor?
GLD: Woher soll ausgerechnet ich das wissen?
FS:
Na ja, als Medienchef der Polizei, also da könnte ich mir schon
vorstellen …,
GLD: … dass ich alles wissen müsste? In der idealen Welt von
Leibniz wäre das vielleicht so. Aber hier, in der Mikrobiologie
des Alltags, da vermute ich mal, dass es wahrscheinlich etwas
mit dem zu tun hat, dass die guten Leute sich unendlich
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langweilen und sich nicht mit sich selber beschäftigen können.
FS:
Du meinst, weil sie mit sich und der realen Welt nichts anfangen können?
GLD: Ja, wenn die das Gerät abschalten würden, würde sie die innere Leere eiskalt anfassen. Da würde denen ihr ganzes trostloses Leben auf den Kopf knallen.
FS:
Schon möglich. Und wie ist das bei dir?
GLD: Na ja, beruflich brauche ich das Teil schon: Da habe ich Bilder
und Protokolle, Zeitungsausschnitte praktisch in real time.
Aber privat: Nur Telefongespräche und manchmal eine SMS.
FS:
Ist aber schon lästig. Ich meine mitten in der Nacht ein Anruf,
Tatort und so?
GLD: Das ist mein Beruf … entschuldige … mein Handy schnurrt.
Denoth nimmt widerwillig ab.
GLD: Muss das unbedingt sein. Ja? Verdammt. Ja, verstanden. Gut,
ich komme. Ja, du mich auch. In Ewigkeit Amen.
FS:
Musst du weg?
GLD: Ja, tut mir leid. Da ist jemand in die Aare gefallen.
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Das Facebook: Ein Fake fürs Leben
Nach längerem Unterbruch sitzen Ephraim Thalberg (ET) und
Roman Artmann (RA) wieder einmal träge in den unendlich bequemen Fauteuils auf der Terrasse von Artmanns Hangwohnung.
Erschöpft von Gewinnmaximierung und Erfolgsstreben dampfen
sie mit mitteldicken Partagas im Mund vor sich hin und nippen ab
und zu an einem Hennessy Privileg.
Irgendwann rafft sich Artmann auf, überwindet die wohlige Erschöpfung und iniziert folgenden Dialog.
RA: Karl-Theodor hat mehr Fans als Angela.
ET: Was?
RA: Karl-Theodor hat mehr Anhänger als die Bundeskanzlerin.
ET: Was für Anhänger? Bling-Bling oder Kletten? Und wer ist KarlTheodor? Ein Internatszögling? Der Kollege von Törless?
RA: Noch nie was von und zu Guttenberg gehört?
ET: Ach der. Der Gladiator der Plagiatoren?
RA: Ja der. Hast du gewusst, dass dieser Freiherr von und zu Epigonien jetzt einen Facebook-Account hat?
ET: Nein, aber logisch. Facebook und fake a book passen doch gut
zusammen.
RA: Du sagst es. Trefflich gesprochen, Ihro Liebden. Der soll sogar
mehr sogenannte „Fans“ als die Kanzlerin gehabt haben.
ET: Auf Facebook?
RA: Ja, wo denn sonst? Für seine Dissertation?
ET: Und mehr „Fans“ als die Kanzlerin? Wie viele und wie viele
mehr?
RA: Das hat er nicht gesagt.
ET: Klar nicht. War ja zu erwarten. Und was heisst das schon, Facebook-Freunde? Digitale Surrogate. Soziale Prothesen. Emotionales Bakelit.
RA: Ja sicher, das auch. Und das Ersatzheer der Einsamen, diese
Troglodyten in ihren Nerdhöhlen. Aber Freunde? Also ich weiss
nicht. Würdest du mich facebooken?
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ET: Wieso denn, du bist doch leibhaftig zugegen, face to face.
Etwas längere Reflexionspause. Beide hängen ihren Lebenshintergründen nach und memorieren ihre Freunde. Viele sind es nicht,
dafür meist gute. Die Nebeldichte aus Havanna nimmt zu. Dann
bricht Artmann das Schweigen.
RA: Hast Recht. Die haben in der Tat nichts zu bedeuten.
ET: Bitte wer? Wer oder was hat nichts zu bedeuten?
RA: Diese peinlichen Illusionen der Facebook-Freunde.
ET: Ach so, die.
RA: Ja die, vor allem, wenn Politiker diese Geräte nutzen. Die hofieren alles, was Hosen und Röcke trägt. Vor allem vor den Wahlen.
ET: Und da manchmal auch ohne Hosen und ohne Röcke.
RA: Ja, und nach den Wahlen haben sie dann keine Zeit mehr für
uns.
ET: Da sieht man sie dann an Lobbyisten-Apéros und an Soupers
de Pistons.
RA: Pistons. Ach so, die. Die kommunizierenden Röhren. Beziehungen machen die Hälfte des Erfolges aus. Sag mal, wie lange wollen wir noch so geschwollen daherreden?
ET: Von mir aus ewig. Alles andere ist doch stinklangweilig.
RA: Genau so langweilig wie diese Facehooker.
ET: Ja, du sagst es. Wer will schon virtuelle Freunde am Beziehungshaken haben?
RA: Offenbar fast alle. Obschon, ich denke, zu echten Freunden,
und natürlich auch Freundinnen, verhält sich Facebook wie
echter Bienenhonig zu Melasse. Du weisst schon.
ET: Ja, dieses klebrige braune Zeug, das man wie Facebook kaum
mehr von den Fingern kriegt.
RA: Und das Widersinnige dabei ist, dass auch unsere Manager
diesem Oberflächen-Getippse frönen. Schau dir doch nur mal
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die Corona auf den Teppichetagen an. Wie sie mit ihrer knappen und schnelllebigen Zeit nicht mehr klar kommen, aber
dennoch da sitzen und kräftig führen, angeblich ihre Zeit managen und keinesfalls von Sinnkrise zu Sinnkrise torkeln.
ET: Und sich dann an irgendwelchen Zeitgeistseminaren für ein,
zwei Stunden tiefste Erkenntnisse geduldig eintrichtern lassen,
wie wichtig Inseln im Ozean der Zeit seien. Denn wer sich keine
Zeit nähme, bei dem würden Substanz, Verantwortung und Tiefe auf der Strecke bleiben.
RA: Und um solche Weisheit und gutsherrliche Botschaft zu verkünden, musste man unbedingt keinen geringeren als den Dissertations-Magier, Freiherr Karl-Theodor zu Guttenberg, direkt
aus Amerika einfliegen.
ET: Jetzt reden wir schon wieder von dem.
RA: Jawoll! Das mit der Substanz, Tiefe und Verantwortung ist von
ihm. Das hat er nicht abgeschrieben. Da verstehe ich jetzt aber
eins nicht. Für solche Plattheiten haben die Jungs mit den dicken Pulten und Salären tatsächlich Zeit?
ET: Ja, die haben sogar Zeit, um über die Zeit zu reflektieren, derweilen in den Buden die Stresshormone zwicken und die Zeitbomben ticken.
RA: Und kaum stehen sie wieder auf der Strasse oder sitzen in ihren 12-Zylinder-Limousinen, tippen sie hemmungslos managend auf ihren Smartphones dem Teufel den Schwanz ab:
„Komme heute sehr spät nach Hause. Richte schon mal die
Dessous und die Gummistiefel.“
ET: Also, bitte, Roman. Jetzt nur nicht geschmacklos werden.
RA: Nein, bewahre. Aber eins will ich schon noch loswerden. Diese
Industriekapitäne erinnern mich immer ein wenig an die SGH.
ET: SGH? St. Galler Hochschule?
RA: Nein. Doch nicht die HSG.
ET: Ja, wer dann? Die Schweizerische Gesellschaft für Hochstapelei?
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RA: Nein. Ich rede von der Schifffahrt-Gesellschaft-Hallwilersee.
Dort laufen die Schiffsführer bei Sturm und Hagel auch nicht
aus.
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SF SRF: Krampf der Wettkämpfe
Artmann (RA) telefoniert mit Karl Oberholzer (KO). Sie planen einen Ausflug nach Tirano mit der Bernina-Bahn.
KO: Also gut. Dann sehen wir uns übermorgen, Nullsechsdreissig in
Pontresina?
RA: Alles klar. Und was machst du heute Abend. Lust auf ein Bier?
KO: Nein, heute nicht. Vielleicht schaue ich fern. Kommt drauf an,
was die senden.
RA: Ich habe nachgesehen. Lohnt sich nicht. SF SRF bringt heute
den „Kampf der Chöre“.
KO: Was? Schlägt sich jetzt die Sängergilde gegenseitig spitalreif?
RA: Nein, die singen sich ins Wachkoma und dich gleich mit.
KO: Da kann ich mich ja gleich jetzt besaufen.
RA: Tu’s nicht, Karlo. Das ist das Gesingse nicht wert.
KO: Hatt‘ ich auch nicht im Sinn.
RA: Wart’s ab. Denn Gründe für ein ordentliches Besäufnis gäbe es
genug. Es kommt aber noch dicker. Die nehmen im Herbst den
"Kampf der Orchester“ auf.
KO: Ist nicht wahr! Schlagen die sich dann mit ihren Pauken und
Posaunen die Köpfe ein?
RA: Ja, so ähnlich, vermutlich eine Art Wrestling für Musiker.
KO. Im Schlamm? Die Damen im Bikini?
RA: Keine Ahnung. Ich weiss nur, dass der aufgeweckte BuntstiftSender etwas zur globalen Epidemie beisteuern will, alles und
jede unter Wettbewerbs-Bedingungen zu stellen.
KO: Ja, das hat jetzt Konjunktur. In Klagenfurz gibt’s jetzt sogar ein
Wettlesen. Stand in der NZZ.
RA: Ja, hab‘ davon gelesen. Es gibt bald nichts mehr ohne Streitaxt
und Hellebarde. Nach Kirschensteinspucken, Bierdeckelwettkauen und Mäusemelken wird dann wohl bald mal eine
„Olympiade im TV-Geräte-Weitwurf“ in drei Klassen ausgetragen: Schwergewicht mit SW-Kisten, Supermittelgewicht mit den
ersten Farbfernsehern und Fliegengewicht mit Laptops.
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KO: Und wie wär’s mit Adipösen anstelle des Unspunnen-Steins?
RA: Oder anstelle von Baumstämmen, wie bei den Schotten.
KO: Ja, und nach dem „Krampf der Orchester“ folgt dann der
„Kampf der Altersheime" mit Rolatorrennen.
RA: Oder der "Kampf der Tankstellendiebe" mit Life-Überfällen.
Erster Preis: Ein Jahr lang Gratisbenzin.
KO: Da fehlt dann nur noch der "Kampf der Steuerformularausfüller" mit Nachlassprämien oder lebenslanger Pauschalbesteuerung?
RA: Sehr schön. Ich hätte da aber noch den "Kampf der RedBullsäufer" mit Spital- und Wellness-Garantie. Und bevor du endgültig
mit einer TV-Paranoia in die Psycho-Reha eingeliefert wirst,
musst du dir noch den "Kampf der Dauergähner" mit einem
wasserdichten Anstellungsvertrag bei SF SRF für die Siegerperson reinziehen.
KO: Moment! Da lege ich noch einen drauf. Vorher genehmigst du
dir bei Chips und Bier noch den „Kampf der Rekrutenschulen"
unter dem Motto "Wer pustet mehr Leute weg?" oder "Wer
knipst mehr Leute aus!"
RA: Aber was wollen die da noch ausknipsen? Das Licht in den
Heiligen Hallen der Unterhaltungs-Tempel ist schon seit Jahren
aus. Et tenebræ eam non comprehenderunt.
KO: Ich auch nicht.
64
Hilfe, die Femen tanzen!
Franca Settembrini (FS) sitzt im Bademantel und sonst gar nichts
auf ihrem Sofa und lackiert sich malerisch nach vorne gebeugt die
Zehennägel.
Ihr gegenüber im Fauteuil versucht Gian Linard Denoth (GLD) die
Zeitung zu lesen. Einfach ist das nicht, denn feministisch bedeutsame Körperwölbungen scheinen ihm da und dort aus der Frotteetuchhülle frivol zu winken und blinken. Bereits verspürt er wieder
die Magnetkräfte des Ewig Weiblichen, die in seinen Lenden ihr Unwesen treiben. Er muss sich jetzt unbedingt auf die Spalten in der
Zeitung konzentrieren. Aber da sieht er jetzt genau das, was Franca
im Moment züchtig verhüllt. Er murmelt was vor sich hin.
GLD: Vor ein paar hundert Jahren hätte man die als Hexen auf den
Scheiterhaufen gezerrt.
FS:
Wen? Die Mannequins von Vivienne Westwood?
GLD: Die, und sie wahrscheinlich auch gleich, plus alle verrückten
Esohühner, wegen Zauberei und Kräutersud. Nein, ich meine
die Femen.
FS:
Ach die. Das gefällt euch Männern doch.
GLD: Ja schon, aber doch nicht vor dem Altar unter dem Spitzgewölbe des Kölner Doms. Steht jedenfalls hier.
FS:
Wo steht was? Hier, in diesem Raum? Da soll sich was wölben? Wo denn genau?
GLD: Was? Ja, wo denn? Ach so. Nein. Nicht schon wieder. Ich bin
doch kein Eros-Roboter. Hier, also in der Zeitung, da steht,
dass sich die Femen offenbar europaweit barbusig gegenseitig
zu imitieren beginnen.
FS:
Was soll ich dazu sagen? Die gehen mir am, du weisst schon
wo, vorbei.
GLD: Ja, dort, wo auch du sehr schön bist. Geht mir gleich, wenn
auch vielleicht weiter vorne.
FS:
Ferkel pornographisches!
65
GLD: Lieber das als ein kalter Fischotter. Ich frage mich nur, als was
man diese schrillen Exponate sehen soll. Wie man sie deuten
soll.
FS:
Für ein paar Wochen als flüchtige Sensation, als Tagesschau.
Aber die sind doch harmlos. Ich meine, verglichen mit dem Irren von Nordkorea, mit den Sprenggürtel-Attentätern der AlQaida und mit diesem Typen vom Islamischen Zentralrat
Schweiz, diesem Blankoscheck für den fundamentalistischen
Tunnelblick nach Mekka.
GLD: Oder mit diesen Kalifat-Mordbuben.
FS:
Also wenn wir schon mal dabei sind: Du vergisst die Typen da
in Mali, in Zentralafrika und dem Süd-Sudan.
GLD: Und was ist mit den Diktatoren und Potentaten in den Bananenrepubliken?
FS:
Ja, oder nimm diese terroristischen Banditen in der Ostukraine. Oder noch ekelhafter, diese Vollkriminellen in Nigeria, die
Boko Harem.
GLD: Haram, die heissen Boko Haram. Hat nichts mit einem Bock
im Harem zu tun. Leider, wäre doch sinnvoller? Weniger Zerstörung und so, oder?
FS:
Ja und sinnlicher. Es stimmt schon, was man über Männer
sagt. Nix im Schädel, und wenn, dann nur das Eine: Nur Odalisken und Lustleiber.
GLD: Nur dort? Also ich wüsste da noch ganz andere Körperteile.
FS:
Du wiederholst dich. Aber, darauf kann ich jetzt nicht auch
noch eingehen. Diese Zehen dulden keinen Aufschub … im
Gegensatz zu dir. Und diese Femen. Also die sind zwar
schamlos, aber letzten Endes doch harmlos.
GLD: Aha. Findest du? Die nehmen sich aber ziemlich wichtig. Und
in gewissen Ländern riskieren die auch was. In Russland sogar
Gefängnis.
FS:
Ja, das mag sein. Aber die Anliegen dieser Frauen in Ehren.
Aber gleich so? Muss das sein? Es gibt nun mal sakrosankte
66
Orte, wo sich das einfach nicht gut macht und à la longue
auch nicht lohnt.
GLD: Sicher, ja, einverstanden. Und stell‘ dir mal vor, es würden
sich an religiösen Orten noch andere Triebvarianten exponieren.
FS:
Du meinst …? Aber das tun die doch bereits, wenn auch angezogen.
GLD: Ja, die auch … du als Tessinerin weisst schon, was ich meine
… le banane con variazioni. Mich schüttelt‘s!
FS:
Oder auf den Punkt gebracht. Femen, das richtige Brustbild
am falschen Ort!
GLD: Sehr schön gesagt. Madame. Eine Bitte hätt‘ ich noch. Würden
Madame jetzt vielleicht demonstrieren, wie sie sich als Feme
gebärden würde?
Der Hausschuh flog haarscharf an seinem Kopf vorbei.
67
68
Das Antlitz des Wahnwitzes!
Der Kabarettist Pat Strasser tigert in seinem Loft herum und
spricht zu einem imaginären Publikum. Er übt für sein nächstes
Abendprogramm: „Strassercafé“.
„Meine Damen und Herren. Haben Sie einen Schutzraum zu Hause? Sie wissen schon, diese Betonsilos für Ihre Bordeaux und alten
Konfitüren, für Ihre verstaubten Liegestühle und die alte Puppenstube Ihrer Tochter? Jetzt bitte nicht lachen. Schutzräume sind
wieder in. Üben Sie präventiv schon mal am Belüftungsaggregat.
Nur kurbeln. Ist ganz einfach.
Sie fragen sich, warum? Lesen Sie denn keine Zeitung? Hören
kein Radio, nicht einmal fernsehen tun Sie? Wie halten Sie das nur
aus? Ohne Tagesschau, ohne diesen Silbereisen, ohne JokebeWerbung, ohne Sturm der Liebe?
Ach so, Ihr Leben ist schon stürmisch genug. Sie haben die Steuererklärung noch immer nicht abgegeben. Ihre Frau ist mit ihrem
Vitalcoach abgehauen. Das vereinfacht wenigstens Ihre Steuerdeklaration. Die Kinder vollpubertär aggressiv; und Ihr Hund Tasso
hat sich geoutet. Er treibt’s mit Rüden.
Ja dann sind Sie gestraft genug. Fehlt nur noch, dass Ihre neue
Freundin einer Freikirche angehört. Das ist schlimmer als ein
Schlagerwettbewerb. Glauben Sie mir: Ich verstehe das.
Dann wollen Sie jetzt wohl auch nichts hören von diesem brandgefährlichen Schnullerlutscherbubi. Nein, doch nicht der! Doch
nicht dieser Luca Hänni, dieser Bonsai-Elvis-Ersatz mit dem Drahthaardackelblick und wenn’s hochkommt mit dem Wortschatz eines
Kindergarten-Aspiranten. Vergessen wir den und seine Frisur! Die
alleine ist ja schon ein Grund für tiefen Kulturpessimismus. Und
wenn der dann noch singt, da rufen selbst die Softeis-Automaten
EXIT an.
Aber wie gesagt: Den Haarlacksoftie meine ich jetzt nicht. Nein,
ich rede von dieser aufgepumpten Diktator-Mumpsbacke, diesem
Dünn- und Dickdarm-Befriediger, der immer auf der Suche nach
69
Essen ist. Na, dämmert’s? Nein, doch nicht die Wildecker Herzbuben. Die gibt’s nur im Doppelpack. Ja, Pack wäre auch ein Stichwort. Aber das lassen wir jetzt lieber und schicken die wohl subito
in eine Klinik für Adipöse.
Reden wir doch mal von Kim Jong-un, das dicke Möpschen, der
Alptraum jeder kalorienbewussten Mutter: „Nein Kim, drei Mal
McKimsung‘s pro Tag muss reichen!“
Und auch bei ihm: Dieser Haarschnitt. Schon mal genauer angeschaut? Da sind wir uns doch einig. Der sollte mal zusammen mit
Hänni eine richtige Friseuse aufsuchen. Die müsste ihm dann diesen Coupe Pot de chambre wegschneiden. Ist doch wahr. Mit dieser
Haarkappe kommt er in keinen Nachtclub rein: „No way, fatty. Keep
out!“ Da würden die Tänzerinnen geschockt von ihren Stangen
purzeln. Und die sind ja allerhand gewohnt, was ihr Publikum betrifft, angefangen mit meinem coolen Onkel Charlie und zum Finale irgend so ein grindiger Edelweissprinz wie Gabalier.
Und Volksgenosse einer Neonazi-Kameradschaft kann Kim mit
dieser Pechkappe auch nicht werden. Aber vielleicht lassen sie ihn
doch noch in den Club rein. Als Lachnummer in einen Gothic Style
Club. Kennen Sie nicht? Noch nie drin gewesen? Ach so. Sie haben
keine Lust auf diese schwarzen Kreuzungen von Fledermäusen,
Sargpennern und Barbiepuppen, die in Katakomben und Gruften
herumwispern und auf Todestrieb machen.
Da geh’n Sie nicht rein, verstehe. Und dieser verwöhnte Nestflüchter aus Pjöngjang erst recht nicht. Das denken Sie doch. Da
könnten Sie Recht haben. Er hat Wichtigeres zu tun. Muss den Diktator spielen, das ist sicher anstrengend. Keine leichte Erbschaft.
Eine Mörderrolle, so zu sagen.
Sein Papi ist doch gestorben. Nun muss der Junge regieren, die
Tradition wahren und das Volk terrorisieren, verschaukeln und
verhungern lassen. Ist auch nicht einfach für den. Und wie gesagt:
Ein Diktator muss das einfach drauf haben. Muttermilch und so.
Dafür gibt‘s kein Studium, keine vierjährige Lehre, nur Vorbilder
70
wie Opi und Vati. Der war ja auch eine Nummer. Wie hiess der
schon wieder? Richtig: Kim Jong-il. Den hat man meist missmutig
mit Sonnenbrille und Pyjama vor irgendwelchen Esswaren gesehen
im spiessigen kackbeigen DSO (Diktatoren-Standard-Outfit) oder im
kotzbeigen DSA (Diktatoren-Standard-Anorak), vielleicht auch mal
in einer schwarzen DNA (Diktatoren-Normal-Ausgehuniform).
Wer sowas anzieht, muss eine schwere Kindheit gehabt haben.
Also Diktator, ich weiss nicht, ist doch eine schwierige Berufswahl.
Die wäre bei mir nicht an erster Stelle.
Ich meine, da liegst du noch im Bett mit zwei unbefriedigten
Konkubinen und Weltmeisterinnen im Orgasmus-Imitieren. Da
klopft es um zehn Uhr in der Früh an die Schlafzimmertüre. Das
sind dann garantiert wie immer diese Generäle und Sekretäre.
Und die stehen dauernd vor irgendeiner deiner tausend Türen
und wollen was von dir. Petitionen um Mitternacht, Beförderungsgesuche, wenn du gerade mal musst, Todesurteile schon zum
Frühstück, Menüvorschläge für den Abend beim Mittagessen, was
weiss ich. Irgendwann werde ich von denen ein paar erschiessen
lassen. Mir fehlen da nur noch ein paar Vorwände. Na egal, es geht
auch ohne. Diktatoren begründen nicht. Diktatoren verkünden.
Und überhaupt. Um zehn Uhr hast du noch keine Zeit für Staatsgeschäfte. Also gefälligst draussen bleiben. Zuerst mal wie Vati zwei
Stunden frühstücken.
So gegen Mittag bist du dann in deiner Büroturnhalle. Jetzt erst
lässt du deine Lakeitels vor. Die verbeugen sich erst mal; und zwar
tief, so tief, dass Rücken und Beine im rechten Winkel zueinander
stehen. Du blickst sie drohend an und sagst dann: „Was ist? Habt
Ihr die Stullenpakete dabei? Schon Lenin hat gesagt: Zuerst das
Fressen, dann die Moral. Kommt in einer Stunde wieder! Raus jetzt
mit Euch!“
Um ein Uhr mittags sind sie dann wieder in deinem Büro. Du fertigst sie kurz ab: „Also, was ist?“ – „Geliebter Führer, strahlender
Fixstern gleissender als die Sonne. Da wären 43 Deportationen ins
71
Stalag 14. 76 Todesurteile und der Menüplan für heute Abend. Was
befehlen Ihre Exzellenz?“ – „Wie viele Male muss ich es Euch noch
sagen? Lasst mich mit diesen Urteilen in Frieden. Hinlegen, hier auf
den Schreibtisch neben die Playstation. Ich unterschreibe sie nach
dem Mittagessen; und zwar unbesehen. Dafür bleibt mir keine Zeit.
Jetzt zum Menüplan von heute Abend. Sehr gut, sehr schön, Peking-Ente, lecker. Aber die Dessertplatte, da fehlen die Meringue
und der Doppelrahm aus meinem geliebten Emmental. Ja, die aus
Kemmeriboden-Bad. Da war ich immer als Kind. Und nachher will
ich Donald Duck-Filme anschauen, zusammen mit Ri Sol-ju. Lasst
sie dann rufen. Soll aber im Negligée antreten.“
Dicky hat tatsächlich eine schlanke Ehefrau. Na ja, Frauen lieben
halt die Macht, wie dick und doof diese Machtballung auch immer
daher watschelt. Die soll auch eine Tochter geboren haben. Von
ihm? Wie hat er das wohl hingekriegt? Zwischen Vesper und
Abendessen? Bitte jetzt nicht abschweifen, von wegen Zeugungsakt
und Stabilität des Bettes. Aber vielleicht irren wir uns da, frei nach
dem Leitspruch: Springt der Ochse auf den Hahn, war's wahrscheinlich Rinderwahn.
Also etwas zerstreuen muss der Mann sich doch. Ist doch wahr.
Was würden Sie jammern, wenn Sie dauernd überlegen müssten,
wen Sie heute aus dem Weg schaffen sollten. Jeden Tag diese Todesurteile. Die eiligen Fälle sogar während des Abendessens oder
im Bett, noch vor dem Frühstück. Das muss doch belastend sein.
Und seien Sie mal ehrlich. Diese Existenz hat ein gewisses Tragikflair. Da würden Sie auch kompensieren wollen, sei’s mit Essen, mit
Frauen oder indem Sie mit einem Panzer in der Gegend herumblochen.
Aber das ist Kom Jong-un bis vor kurzem verwehrt geblieben. Zu
dick. Er ist nicht durch die Fahrerlucke gekommen. Wirklich tragisch. Man hat ihm jetzt ein Geschenk der Russen umgebaut, einen
T-72. Mit einem XXL-Fahrereinstieg. Verzeihung, das muss Führer-
72
einstieg heissen. Und guck an, er bleibt nicht stecken, da kommt er
jetzt rein. Hei, wie sich der Bube freut.
Seine Fahrkünste seien fulminant. Er soll erst zwei PKW und ein
LKW zu Schrott gefahren haben. Zum Glück sass da niemand drin.
Die sollen alle rechtzeitig abgehauen sein, als sie gehört haben,
dass Bubi auf dem Panzergelände erscheinen würde. Zu ihrem
Glück hat das niemand gemerkt, dass die sich verdrückt haben. In
der Regel hat man in einem solchen Fall zum Vergnügen der Aufgehenden Sonne mannhaft zu sterben.
Oder bei Gelegenheit auch gleich mal vor Jubel ins Wasser zu
springen. Ja, das ist jetzt kein Witz. Als Kim zum Beispiel die Insel
Mu per Boot wieder verliess, sollen Dutzende Menschen ins eiskalte
Wasser gesprungen sein, um den Machthaber zu verabschieden, die
wollten ihm eine spritzige Freude bereiten. Würden Sie vor Freude
ins Wasser springen, wenn unser Bundesrat in corpore sich, sagen
wir mal vom Oeschinensee verabschieden würde, für SchneiderAmmann?
Und dann immer auch noch Kims Bäder in der Menge. Kim hat
sich auch schon mal beklagt. Er müsse sich ständig diese Visagen
anschauen, die sich vor erzwungen jauchzender Freude verzehren
und verzerren. Er soll sich auch bei seiner Oma ausgeweint haben.
Originalton Ost:
„Omi, das alles ist für mich eine schwere Bürde. Dauernd diese
Generalsmumien mit ihren Notizblöcken. Ich kann sagen, was ich
will, die notieren einfach alles. Wenn ich niesse, wenn ich einen
fahren lasse, wenn ich noch grössere Panzer anordne, das Pentagon
zerstäuben will, Obama als Affen hinstelle, Schneider-Ammann
einen Rhetorikkurs anbiete, wenn meine Unterhose spannt, oder
wenn ein Typ, ja der dahinten, nicht im Takt klatscht. Die notieren
sich alles. Als wär’s das Evangelium. Das hätte mal diesem Jesus
passieren sollen. Da stünde dann nichts mehr von Wundern und
Erwecken von Toten in der Bibel. Da stünde dann die traurige
Wahrheit über diesen arbeitsscheuen Prediger, der sich dereinst
73
kommen sehen will, zu richten die Lebendigen und die Toten. Na
ja, Omi. Da habe ich es einfacher. Ich bin schon da. Auf mich als
Erlöser muss niemand mehr warten. Denen besorge ich es schon zu
meinen Lebzeiten. Gell du verstehst mich, Omilein?“
Am drolligsten finde ich aber die Propagandastreifen im Fernsehen. Schon mal gesehen? Müssen Sie sich unbedingt antun. Das
ersetzt Ihnen ganze Comedy-Abende. Da brauchen Sie mich nicht
mehr. Wo immer er auftaucht, da ist Frohsinn und Bombenstimmung. Die Anweisungen an das Volk sind da unerbittlich und eindeutig: Heiteres Lachen und Winken, wenn er mit seinem fratzenhaften Speichelschlürfer-Gefolge und seinen Armeesattrappen
auftaucht.
Ist Ihnen das auch schon aufgefallen? Diese begeisterten Leute
aus dem Volk. So ein Publikum wünscht man sich. Merken Sie sich
das. Die lachen alle, als hätten sie freiwillig und mit Engagement in
die Hosen geschissen oder haben es auf Kommando und freudig
erregt noch vor. Und die sind dabei noch glücklich. So sehen die
auch aus.
Na ja. Ich kann das irgendwie verstehen. Oder möchten Sie dauernd wissen wollen, dass Ihnen Straflager Nr. 14 droht, wenn Sie
nicht mit vollem Lachsack mitmachen? Da ist Kim kategorischer als
Kant oder Louis XIV: La rigolade, c’est moi! Ist sein Wahlspruch.
Und der wird durchgesetzt.
Und wozu hat man dafür denn ein Millionenheer? Und wozu hat
man die Atombombe? Mit der Waffenruhe von 1953 ist jetzt nämlich Feierabend, hat er uns wissen lassen.
Also räumen Sie gefälligst Ihre Bordeaux, Konfitüren, Liegestühle
und Puppenstuben aus Ihrem Schutzraum weg. Fort mit den Fasnachts-Klamotten,
mit
den
Gartengeräten,
Ihren
1.
August-
Lampions und fort mit den Weihnachtsgeschenken der Schwiegermutter.
Die Lage ist ernst. Meine Empfehlung: Besaufen Sie sich entweder
täglich mit Ihren Rest-Châteaus. Oder machen Sie eine Spende für
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die Winterhilfe daraus oder noch besser: Lassen Sie die Flaschen
versteigern. Sie werden das Geld noch gut gebrauchen können.
Denn Schwarzkittel-Pilzkopf droht mit Atomkrieg. Schon gesehen, das Propagandavideo? Da marschiert die gigantischste Volksarmee, die Reihen fest geschlossen, in Seoul ein und nimmt
150'000 US-Bürger als Geiseln.
Tausende nordkoreanische Soldaten springen mit dem Fallschirm
über Seoul ab. Einen Rat? Jungs, wenn Ihr auf dem Boden seid und
clever seid. Wenn Ihr also schon mal dort seid, dann dreht Euch um
und lauft über … und zwar nach Süden. Und bevor die 3600 veralteten T-54 und T-55-Panzer die südkoreanische Hauptstadt besetzen. Denn spätestens dann müssen Sie hier in Helvetien in Ihrem
Schutzraum sein.
Denn es kommt noch besser: In anderen Videos gehen das Weisse
Haus und der US-Kongress in Washington in einem Flammenmeer
unter, und New York wird durch einen Raketenangriff zerstört.
Warum als nicht auch Sie in Ihrer friedlichen Kleinstadt oder auf
dem Dorfe? Ja, das macht Ihnen jetzt Angst. Dann ist jetzt Schluss
mit Spottnamen wie Kommunistendumpfbacke und Politboulette.
Schluss mit Ziernamen wie Sandkastenrambo und Nuggispastiker.
Derweil aber sitzt der „Geliebte Oberste Führer“ (Abkürzung
GOF) von Volk, Partei und Streitkräften, Babyspitzmäulchen Kim
Jong-un, am Schreibtisch über Papieren und spielt, umgeben von
seinen Generalsgouvernanten, wie ein ungezogener Junge Geostrategie für Anfänger mit atomaren Sprengköpfen, die angeblich existieren sollen. Ja sogar mit Raketen, die gerne daneben, also vielleicht gerade Sie, treffen.
Nun lachen Sie natürlich. Dafür sind Sie ja hergekommen. Ist
auch zum Lachen. Aber man lacht ein Gefrierfach-Lächeln, denn
man weiss, da ist es wieder einmal: Das Antlitz des Wahnwitz‘! So
eines hatten wir doch von 1889 - 1945 auch schon mal!“
75
Strasser steht jetzt still und schaut zum Fenster hinaus. Er ist sich
einfach nicht sicher. Der Text ist ihm zu brav. Diese Punschkugel
müsste man eigentlich noch ganz anderes apostrophieren. Schärfer,
verächtlicher, vernichtender.
„Mal überlegen. Wie wär’s mit Protozoenhirn, Bademützenduscher, Chefzäpfchen, Dönergesicht, Erdferkel, Fettbrägen, Gummipuppenknutscher,
Hirnabstinenzler,
Igelschänder,
Klotzkopf,
Lahmsack, Musikantenstadelfan, Nassbirne, Oberdumpfmeister,
Pflaumenaugust, Quatschnuss, Rumpelwichser, Sofakartoffel, Torfkopf, Unterhosenbügler, Vollpfosten, Waldschratt oder Zweizeller?
Nicht übel. Aber das wird nicht einfach sein. Da fehlt noch der
Kontext. Na gut. Ich mach‘ morgen weiter.“
Er geht zum Regal und genehmigt sich eine Kreativbelohnung, einen Bunnahabhian, einen 12 Jahre alten Islay Malt. Er nimmt einen
tüchtigen Schluck und murmelt dann vor sich hin:
„Über Alkoholismus sollte ich auch mal eine Nummer schreiben.“
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STERNstunde der Heuchler!
Roman Artmann und Frau Dr. med. Morgenthaler geniessen, beide immer noch unsicher in präsexueller Latenz verharrend, den
Ausblick auf Hügel und Felder unter der Burg Falkenstein. Sie sitzen
im Gartenrestaurant im Schatten der Bäume. Es ist Sommer.
Vor ihnen stehen im Eiskübel ein Falkensteiner Riesling und auf
dem weissen Tischtuch zwei gefüllte Gläser. Sie haben angestossen.
Seit ein paar Monaten duzen sie sich endlich. Aber die Erotik bleibt
auf Distanz.
Würde eigentlich langsam Zeit, denkt sie, wagt aber den entscheidenden Blick oder Berührung nicht. Sie möchte sich Zeit geben. Sie findet das spannender. Manchmal denkt sie, dass vieles an
diesem Roman Artmann etwas übertrieben konventionell ist. Sie
vermisst hin und wieder den Kerl in diesem Manne. Und doch.
Einmal hat er ihr das Leben gerettet. Das würde sie ihm nie vergessen. Aber sie hat auch den ermordeten Wolfgang Bruckner noch
nicht ganz vergessen, die Liebe ihres Lebens, wie das in einer TVSerie wohl getitelt würde. Sie will nicht mehr daran denken müssen. Und ob das mit diesem Artmann eine Zukunft hat, ja wenn sie
das wüsste, hätte sie längst die notwendigen Signale ausgestrahlt.
Aber sie muss zugeben: Gelangweilt hatte sie sich in seiner Gegenwart noch keine Sekunde.
Jetzt hat er eben von einem deutschen Politiker gesprochen, der
nach etlichen Gläsern Weisswein einer Dame ihre Oberweite erläutert hat.
„Das war vielleicht ein Aufruhr gewesen! Feministische Empörungsrhetorik allerorten: Die Fregatten haben aus allen Rohren
gefeuert.“
„Fregatten? Wen meinst du da?“, kommt es jetzt von Frau Doktor
gefährlich harmlos.
„Na ja, diese Frauen halt, du weisst schon.“
„Nein, eigentlich nicht. Aber ich kann es mir vorstellen. Sind ja
auch nicht gerade meine Favoritinnen.“
77
„Da bin ich aber froh.“ Die Klippe hätte er umschifft, denkt Artmann beruhigt, fährt dann aber gleichwohl in dieser gefährlichen
Fahrrinne weiter.
„Aber damit nicht genug. Die Heuchler von der Moralischen Aufrüstung haben ihnen Feuerschutz gegeben und die Journaillerie hat
Flammöl ins Feuer gegossen. Das kommt mir vor, als würde die
Feuerwehr Brände legen wie in diesem Film mit Oskar Werner.
Sie ignoriert den filmographischen Kenntnisreichtum von Artmann und sagt bloss:
„Aber warum denn?“
„Mediensprit, Auflagendiesel. Und das alles nur, weil eine Dame
der Schreibzunft sich aus schleierhaft durchsichtigen Motiven nach
einem Jahr, aber genau zur richtigen Zeit daran erinnert, dass dieser ältere FDP-Süffel und Schlitzohr-Politiker ihre Oberweite als
trachtentauglich bezeichnet hat. Klar, so was sagt man nicht.“
„Warum denn nicht?“, fragt sie nun doch sehr süffisant und
schaut dabei auf Falkenstein hinunter, als wäre ausgerechnet dort
der Beweis für alles Harmlose dieser Welt zu finden. Artmann will
bekräftigen, dass er den zeitgemässen Anforderungen des Eros
gewachsen ist und sagt:
„Ja, warum eigentlich nicht. Aber doch nicht so plump direkt.“
Sie schaut ihn jetzt strenger als auch schon an, lächelt dann aber
doch bedeutend nachsichtiger und fragt ihn:
„Ja wie denn? Wie würdest du einer Frau so etwas sagen? Ich
meine subtiler und wenn’s geht liebevoll, von mir aus auch verklausuliert? Du liebst doch diese Umwege.“ Leider nur zu häufig,
denkt sie.
Jetzt schaut er ihr fest und nun seinerseits beinahe herausfordernd in die Augen. Auf keinen Fall jetzt auf ihr prachtvolles
Brustbild starren, befiehlt er sich. Das wölbt sich heute aber auch
ganz besonders provokativ in Stereo unter der straffen Bluse. Was
für Unterwäsche sie wohl …? Ich bin einfach hoffnungslos. Die
verfluchten Testosterone! Jetzt nur nicht sich verwirren lassen.
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„Tja, das ist jetzt nicht ganz einfach. Vielleicht würde ich sagen,
dass sie nicht nur in dieser Tracht sehr gut aussehe. Und dass die
Käserei in der Vehfreude wahrscheinlich den Umsatz verdoppeln
würde, wenn sie dort angestellt wäre. Nicht gerade originell, aber
immer noch besser als diese Pumphosenerotik von diesem Lustgreis und Saftsack.“
Jetzt lacht sie. Jetzt nur nicht aufhören, denkt er. Die Erotik der
klugen Worte wirken lassen.
„Mein Tipp: Am besten ist, man sagt gar nichts und geniesst still
und dezent die Hügellandschaften.“
Blick schweifen lassen, als meinte er die Topographie rund um
Burg Falkenstein. Dann sagt er ohne Rücksicht auf Ruf und Renommee:
„Und denken kann man sich ja immer noch, was man will. Erotik
mit Phantasie braucht Hüllen und lebt von Andeutungen. Alles
andere ist Pferdestriegeln und Physiotherapie. Also wenn schon
Anmache, dann bitte verbal originell, mit Charme, wenn man welchen hat, aber ganz sicher nicht mit anatomischen Landschaftsschilderungen. Jedenfalls nicht vorher. Nachher schon! Die Frau,
die sich nicht freut, wenn man sie schön, klug und na ja, du weisst
schon wie findet, möchte sich bitte melden.“
„Nein, weiss ich nicht“, behauptet sie jetzt.
„Ja was wohl, wie wär’s mit begehrenswert, aufregend?“
„Du meinst sexy?“
„Ja, das auch. Mir gefällt das Wort nicht. Klingt pubertär.“
„Ja gut. Aber was hast du mit ‚nachher schon‘ in Bezug auf die
Landschaftsbeschreibung angedeutet? Was genau meinst du mit
‚nachher‘?“
„Nach der Oper natürlich, was denn sonst?“
„Ja, was denn sonst, klar.“ Ist sie jetzt enttäuscht?
„Aber das weisst du doch. Muss ich jetzt unbedingt detailliert
werden? Ich denke an das Nachher, was dann bei dir früher oder
später als Folge des Vorher deine Sprechstunden aufsucht.“
79
„Ja, das ist beruflich gesehen ein schöner Nebeneffekt. Du meinst
also, man darf einer Frau sagen, was dir an ihr en détail gefällt?“
„Aber sicher. Selbst dann, wenn jetzt sämtliche feministischen
Rohre und Torpedos wegen diesem beduselten Tollpatsch von
Minister auf uns arme Männer gerichtet sind. Ich sage es dir jetzt
grad
heraus:
Keine
Östrogen-Kampfgruppen,
keine
Quoten-
Marschkolonnen und keine Roten Feminismus-Armeen werden uns
Schwanzisten daran hindern können, den erregenden Merkmalen
des weiblichen Körpers alleine still, und im Kreise der Freunde,
etwas weniger still verbal zu huldigen.“
Er atmet erleichtert durch. Solche Sequenzen gelingen auch nicht
immer. Aber dieses Mal hat er es geschafft. Immerhin lächelt sie
noch.
„Und umgekehrt, gilt das auch?“, fragt sie hellhörig geworden.
„Aber sicher. Nur keine Missverständnisse jetzt. Aber bevor ich
zu dozieren beginne: Wir sollten doch auch mal was bestellen.“
„Ja, Debatten machen hungrig und dick, siehe Politiker.“
Artmann nickt, schaut kurz verstohlen an sich runter und meint
dann: „Nur das noch: Also Gleichberechtigung muss schon sein?
Findest du nicht?“
Jetzt werde ich auch noch banal, denkt er. Sie aber antwortet sofort begeistert.
„Ja, unbedingt. Was hast du denn gedacht? Und die verbalen Huldigungen? Die genügen aber nicht immer. Also manchmal braucht
es da Handfesteres.“
Artmann ist freudig verlegen, unterdrückt das aber heldenhaft
und kontert lachend:
„Einverstanden. Du hast also nichts gegen das, was lebensfremde
Moralisten anzüglich nennen.“
„Nein, wenn’s raffiniert und geistreich ist, wie sollte ich? Bin ich
das nicht wert?“
„Doch, doch, kein Zweifel. Aber du verstehst auch, wie begeistert
wir Männer sein können, wenn eine Frau andeutet, dass sie sich die
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zentralen Regionen unserer Anatomie durchaus in prallen Lederhosen vorstellen könne.“
„Ja sicher, solange du darin nicht aussiehst wie diese Katzelruter
Schmalzbuben.“
„Nein bewahre. Aber du hättest nichts dagegen, wenn wir Männer
das als Kompliment nehmen und nicht gleich wie diese vollbebuste
Trachtentrine zum STERN oder zu anderen scheinheiligen Bildmedien rennen und auf Empörung machen würden?“
„Aber sicher, was sollte ich denn dagegen haben? Nur eine Bitte
hätte ich schon. Niemals Sepplhosen tragen, versprichst du mir
das?“
„Wenn du es wünschst, schwöre ich es dir.“
„Nicht nötig.“
„Gut, dann bestelle ich jetzt.“
Kurzer kritischer Blick. Dann lacht sie und sagt: „Nur du?“
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Oberholzer schreibt einem Kritiker einen Brief.
Sehr geehrter Herr Hintze-Sargfelder
Eigentlich schreibe ich Kritikern selten bis nie. Bei Ihnen aber
lohnt es sich zumindest, wenn man die lindernde Wirkung einer
harschen Antwort für das eigene Wohlbefinden berücksichtig; nicht
aber, wenn man bedenkt, wie wenig man durch Repliken verändern
kann, wenn sie einem literarischen Phimosenheini wie Ihnen geweiht sind.
Mann, was haben Sie da für einen gigantischen Miststock angehäuft, auf dem Sie sich gebärden, als trüge das Krähen eines Hahnes zur Apotheose eines Kritikerdaseins bei. Nichts da mit Vollendung. Was Sie da gestern in der Literarischen Rundschau über Arno
Schmidt zusammengeschmiert haben, zeugt nicht von vollendetem
Handwerk, sondern allenfalls von Ihrer geistigen Verelendung. Das
ist veredelter Dünnschiss mit Lackfirnis. Und der stinkt genauso
wie Ihre Ahnungslosigkeit zum Himmel.
Da rümpft man schon die Nase, wenn man Ihr Verhältnis zu den
nackten Fakten genauer betrachtet. Ein einziger kurzer Blick auf
Wikipedia hätte da genügt, Sie eines Besseren zu belehren. Aber
dafür sind Sie wohl zu faul gewesen.
En détail dies: Schmidt wurde nicht in Bargfeld geboren, sondern
in Hamburg, am 18. Januar 1914, wohl eines der Schicksalsjahre
des 20. Jahrhunderts, wie das selbst Ihnen nicht entgangen ist. Da
haben Sie Recht. Aber Paul Klee malte 1914 sein „Motiv aus Hammamet“ nicht in Marokko sondern in Tunesien. Da irren Sie zum
zweiten Mal. Und der dritte Irrtum folgt sogleich.
Nicht 1913, sondern im gleichen Jahr 1914, schuf Franc Marc das
Bild „Tirol“. Und dann noch dies als Viertes: Die erste Ausstellung
des „Blauen Reiters“ wurde nicht in der Galerie Tannhäuser sondern Thannhauser eröffnet. Da haben Sie sich von Ihrer eigensinnigen, keinesfalls nachvollziehbaren Wagner-Idolatrie übertölpeln
lassen.
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Aber damit noch nicht genug an Trottelhaftem. Sie schreiben
richtig, dass Marc 1916 vom Kriegsdienst befreit wurde. Und es
stimmt auch, dass er an seinem letzten Einsatztag vor der Freistellung, am 4. März 1916, als Leutnant der Landwehr während eines
Erkundungsritts bei Braquis gefallen ist, angeblich knapp 20 km
östlich von Sedan. Das war aber nicht bei Sedan, sondern bei Verdun. Und ihn hat nicht eine Gewehrkugel getroffen, sondern es
haben ihn zwei Granatsplitter getötet.
Und dann noch dies: Wenn Sie sich schon in diesem zeitlichen
Kontext des Namens Schmidt in unwesentlichen Details verlieren
wollen, dann aber bitte korrekt.
Zum Beispiel James Joyce. Der hat 1914 nicht seinen „Ulysses“ –
das war 1922 – sondern den Erzählband „Dubliner“ veröffentlicht.
Aber das ist in Ihrem scheinbar progressiv paralysierten Gehirn
offenbar nicht hängen geblieben.
Dafür langweilen Sie uns mit dem Hinweis auf die Hofoper in
Wien, wo 1914 „Der Glöckner von Notre-Dame“ von einem Franz
Schmidt uraufgeführt und bald vergessen wurde, ein Vorgang der
mit Arno Schmidt etwa so viel zu schaffen hat, wie Sie als Kritiker
mit kulturhistorischem Grundwissen und Daten, nämlich verdammt wenig. Dass Sie dann auch noch den Sänger Josef Schmidt
erwähnen, werten wir als pekuniäre Äufnung des Zeilenhonorars.
Tja, und dann legen Sie los gegen den Mann aus Bargfeld, Sie
Suppenkopf von Philologen. Sie bezeichnen ihn als grimmigen
Egomanen, als Berserker. Na und? Ist doch ein Kompliment. Sie
meinen das aber nicht so, sondern vergnügen sich mit dem luziden
Reinfall, dass Schmidt ein Trümmerfeld an Sprachverhunzung
hinterlassen habe. Was man dereinst von Ihren Hinterlassenschaften erzählen wird, will ich gnädig verschweigen. Zu peinlich für Sie
und den stillen Orten dieser Welt.
In einem Punkt haben Sie aber ausnahmsweise mal das Regalbrett in Ihrem Tassenschrank richtig eingebaut. Nämlich wenn Sie
schreiben, dass man den „Solipsisten in der Heide“ nicht vergessen
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aber kaum gelesen hat. Das scheint auch auf Sie zuzutreffen, wenn
ich sehe, worauf Sie Ihre Urteile referieren.
Um da ein klares Bild zu entwickeln, müsste man schon diesen
abgehoben unberechenbaren Intellektuellen angehören, die von
Schmidt fast alles, und das mehr als einmal, immer wieder mit
Genuss und Gewinn gelesen haben.
Zu denen gehören Sie aber mit Gütesiegel und Dreijahresgarantie
nicht. Sie kennen ja nicht einmal den „Leviathan“, und von „Julia
und die Gemälde“ haben Sie auch noch nie gehört. Und wussten
Sie, dass Schmidt auch Gedichte geschrieben hat? Nein? Nur ahnungsloses Staunen, Sie Wunderkerze! Oder seine Mondmetaphern? Das sind sicher ein paar hundert und jede ein Prachtstück
für sich. Zu Ihrer Weiterbildung hier vier davon:
… der kantige Mond: sägte im schnarchenden Gewölk, daß es milchig stäubte ...
… und der Lügenmond (wie alle Blassgesichter) bog sich mokant
inmitten ehrsamen‘ Silberhaars …
… oben der Lichtteich im rauhen Wolkenmoor …
…. der frühreife Mond schob, rachitisch …
Wie sind Sie überhaupt auf Schmidt gestossen? Wie der Nachtwandler an die Türzarge? Muss wehgetan haben. Davon haben Sie
sich offenbar bis heute nicht erholt. Sie tun’s wahrscheinlich nie,
aber mal angenommen, Sie würden mich fragen, wie ich Schmidts
Bücher kennen gelernt habe, dann erinnere ich mich vage an einen
Freund, der mir einen Band Gedichte empfohlen hatte. Erinnerung
und Wirkung = Null!
Dann aber las ich die für jene fernen 50-er Jahre sehr freizügige
und erotisch durchglühte „Seelandschaft mit Pocahontas“. Das war
dann der Anfang einer Dauerliaison mit Arno Schmidts Werken.
Ja auch mit dem von Ihnen vielgeschmähten „Zettels Traum“,
dieser geballter Ladung an Megatonnen-Wissen und schneidender
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Sprachgewalt. Die habe ich tatsächlich mal gekauft und nach Hause
geschleppt.
Damit wir es nicht vergessen, hier noch das Folgende: Wenn Sie
einmal, bei Ihnen wahrscheinlich wirkungslos, doch noch darin zu
lesen beginnen, dann beherzigen Sie das, was Schmidt selber zu
diesem Gewalts-Konvolut gesagt hat: Das Buch muss man nicht
unbedingt von vorne nach hinten gelesen haben. Lesen Sie Buch vier
und Buch sieben, das sind die besten. Und wenn es Ihnen gefällt,
können Sie ja noch weiterlesen.
Typisch Schmidt: Immer flott bereit zum Spott. Auf dieser Welt
bleibt einem ja auch nichts Anderes übrig. Nur Schöngeister wie Sie
haben dafür kein Sensorium, sondern höchstens ein geistiges Suspensorium, das Sie vor den bösen Buben schützen soll.
Und dabei vergessen dann Amöbenhirne wie Sie, was dieser
Schmidt nicht alles war in seinem Leben: Schlesier aus Lauban,
Lagerbuchhalter, Artillerist in der Wehrmacht, mit ihr in Norwegen,
Kriegsgefangener, Polizeidolmetscher, Verfasser von sieben- und
zehnstelligen Logarithmentafeln, Astronom, Kenner der Alten Griechen, Übersetzer, Radio-Essayist und vor allem aber ein Büchermensch, der allein und fast nur für und in der Literatur lebte, die
Restauration der Adenauer-Jahre verachtete und ein entschiedener
Atheist war.
Aber auch das verkennen Sie. Sie machen auf empörte Christenseele und auf Verteidiger des Abendlandes und des Religiösen, also
auf Wolkenschieberei. Und Sie mögen offensichtlich keine selbstbewussten erratischen Blöcke im Literaturwald wie diesen störrischen Schmidt.
Ahnen Sie überhaupt, was der Mann konnte? Der muss das jedenfalls gewusst haben. Darum lehnte er wohl von sich überzeugt
das Angebot ab, in die einflussreiche Gruppe 47 eintreten zu dürfen. Wo Sie wahrscheinlich ein speichelleckeres Te Deum angestimmt hätten, schrieb er lakonisch zurück, er eigne sich schlecht
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als literarisches Mannequin. Muss man bei der Gruppe 47 auch
singen oder braucht man nur nackt vorzulesen?
Das nicht, aber irgendwie an den Sozialismus glauben, war damals Mode und schon mal nicht schlecht. Literatur und Politik?
Auch so eine Mesalliance, ein garstig Lied, dem auch Sie offenbar
mehr frönen als gut ist für Ihr Urteilsvermögen.
Nun denn. Ob mit oder ohne Gesellschaftsleben. Ich muss Ihnen
für Ihr literarisches Seelenheil dringend raten, zögern Sie bitte
nicht, beschaffen Sie sich vielleicht mal eines von Schmidts früheren Werken, wie etwa die erwähnte Seelandschaft mit Pocahontas,
Die Umsiedler oder Das steinerne Herz, vielleicht auch eine jener
Zukunftserzählungen wie Die Gelehrtenrepublik oder KAFF auch
Mare Crisium. Gibt’s übrigens auch als Hörbücher, kompetent und
lebhaft gelesen von Jan Philipp Reemtsma.
Oder wenn’s Sie’s lieber bildhaft mögen, wie wär’s damit? Schauen Sie sich das hervorragend gemachte TV-Feature an: MEIN HERZ
GEHÖRT DEM KOPF, wo Schmidt nicht ganz zu Unrecht als Robinson Crusoe der deutschen Literaturlandschaft, als rebellischer Pionier der Sprache bezeichnet wird.
Um Ihre bedenklichen Blockaden und kanonischen Vorurteile –
Sie haben wohl zu häufig literarischen Landstreicher-Quartetten
gelauscht – und Ihr christlich abendländisch schwindelerregendes
Weltbild etwas zu zerbröseln, will ich Sie mit Nachdruck dazu verführen, wenigstens mal die „Seelandschaft“ in Ihre Hände zu nehmen. Am besten mach‘ ich das mal mit einer Inhaltsangabe. Die
bringen auch versteinerte Typen wie Sie auf Vordermann. Hier für
Sie der leicht verschärfte Verlagstext.
Der Erzähler Joachim, ein mittelloser Schriftsteller, und Erich
Kendziak, ein gutsituierter Malermeister, knattern mit dem Motorrad ins Oldenburgische an den Dümmer See. Die beiden Freunde
wollen ein paar Urlaubstage verbringen. Als sie Annemarie und
Selma, zwei junge Sekretärinnen, kennenlernen, treten die gemeinsamen Kriegserinnerungen hinter rasch hervorbrechender Vergnü-
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gungslust zurück. Joachim und Selma steuern in eine Romanze, die
nur wenige Tage währt, sie schreiben ihre Namen ins Wasser und
rudern des Nachts durchs Schilf. Immer wieder jedoch durchbrechen die rotzigen Kommentare Joachims zu Christentum und Adenauerrestauration das sommerliche Idyll und tauchen die gesellschaftliche und politische Realität der 50er-Jahre in unbarmherzig
grelles Licht.
So, das war’s denn. Ich bilde mir nun nicht ein, dass Sie bekehrt
sind. Bei Ihrer latenten Verstocktheit stünde auch ein Inquisitionsbüttel am Rande der Verzweiflung.
Und Sie werden sich wohl kaum auch noch fragen, warum ich es
trotzdem getan habe. Ganz einfach, um Sie zu ärgern und mir etwas frische Luft zu verschaffen. Von mir aus können Sie PilcherRomane, Suter oder Glattauer lesen, oder Sie vergnügen sich mit
Pornoheftchen. Gibt’s die überhaupt noch?
Egal: So lange Sie noch etwas lesen, besteht noch Hoffnung für
Sie. In diesem Sinne und
Mit nachsichtigen Grüssen
Ihr Karl Oberholzer
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Eine Meise im Kopf?
Sonntag, Wohnung von Thalberg, irgendwann um 1430 Uhr, Hörspiel SWR2, „Sbrinz und Brunz“, von Arnold Decker.
Thalberg traut seinen Ohren nicht. Das hört sich etwa so an:
Mmmh, krrr, bruuh, hall tog, schenüüt werttttrb, Ich habebebe einen Vogel tirili tirila auf der bibi Zunge, gröm, gluu, phii, schnull,
blooh, bra, Ich fafahr dahin mein Strrra, ssmou mpff, bräääh,
schroou, gaga, len, zrain, holf, dmich, scho nietzsch err.
Gegen Abend ruft er Artmann an. Er muss diesen Vogel im Kopf
loswerden.
„Sag mal, hast du das auch gehört, dieses Hörstück von diesem
Decker?“
„Ja, zufällig, knapp drei Minuten lang. Akustisch verstanden habe
ich nichts, verbaler Lachenmann, allerhöchstens“, sagt Artmann.
„Da muss eine Meise im Kasten gewesen sein.“
„Allerdings. Hat wohl zuviel gezwitschert. Habe vielleicht 10 Prozent verstanden, wenn’s hochkommt“, sekundiert Thalberg.
„Mir ist es hochgekommen, inklusive Galle.“
„Aber jetzt, es geht dir wieder gut? Ganz sicher? Sowas geht vorbei wie Politikerskandale und der Weihnachtswahnsinn.“
„Nur schneller“, kommentiert Artmann und fährt fort: „Das soll
angeblich eine vielstimmige Hommage an den Sturm und Drängler
Jakob Michael Reinhard Lenz gewesen sein.“
„Ja, und dafür hat‘s auch noch einen Preis gegeben.“
„Ah ja? Die goldene Leimrute? Und weisst du mit welcher Begründung?“, hakt Artmann nach.
„Kein Problem. Ich habe den Artikel vor mir. Sowas muss man
nachlesen, sonst glaubt man es nicht. Hör zu. Die sprechen, natürlich hochkamm-geschwollen, von erforschtem Klangraum, von der
Vielstimmigkeit des Textes, von polyphoner Sprachlandschaft. Das
Hörstück öffne einen unerwarteten Imaginationsraum aus Sprach-
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sinnlichkeit und der Kraft der Wörter gegen die Zumutungen des
Lebens, sowie die noch nie gehörte Annäherung an das …“
Artmann kann nicht mehr. Er unterbricht: „Lass Gnade walten
und alle Hoffnung fahren. Die Zumutungen des Lebens! Was soll
das denn sein? Aldi, Spar und Medusen?“ Thalberg lacht jetzt doch
noch.
„Vielleicht. Aber in den Billigläden kriegst du wenigstens was
Brauchbares fürs Geld.“
„Immer noch der elende Utilitarist“, gibt Artmann zurück. Thalberg lässt sich auch heute nicht beeindrucken und sagt:
„Einverstanden. Aber du wirst nicht nachweisen können, dass in
diesem Hackstück auch nur ein einziger zu Ende gedachter Gedanke hörbar oder sogar erkennbar gewesen ist.“
„Zugestanden.“
„Und das, was man ein narratives Kontinuum nennen könnte, davon nicht die Bohne.“
„Ja doch, genehmigt.“
„Nur Kraut, Silbengeraspel und bizarr verschrobene Artistik.“
„Aber ganz sicher, und verbales Gehäcksel.“
„Ja, genau! Dann aber von immanenter Kraft labern, von Zumutungen des Seins salbadern!“
„So lass sie doch, wenn’s ihnen im Leben weiterhilft.“
„Tut es aber nicht. Die merken nicht einmal selber, dass dieses
Hörstück eine artifizielle und zusammengenagelte Zumutung ist;
oder im Sprachhack des Autors: Hrrr, buuuh, gottwa sfürnim po
ten tes gewääsch!“
Artmann hat nun genug gehört.
„Es reicht. Hab’s kapiert. Kommst du heute noch vorbei? Für ein
gepflegtes Besäufnis? Ich habe gestern einen Camus Celebration
und zwei Cohibas, Maduro 5 Genios, erhalten. Ein Kundengeschenk. Die Flasche fühlt sich einsam.“
„Welche Flasche?“
„Arschloch! Sagen wir um neun?“
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Der Superlativ: Der Schaumbläser der Stilistik
Der Kabarettist Pat Strasser hat die Textpassage „Superlative“ für
sein neues Abendprogramm: „Strassercafé“ abgeschlossen und testet sie jetzt in seinem Appartement. Er spricht ab Blatt zu einem
imaginären Publikum.
Meine Damen und Herren: Superlative sind in. Wer hat den
Grössten, den Längsten, den Dicksten und den Schnellsten … Superlativ. Woran haben Sie denn gedacht? Also bitte, doch nicht hier.
Leiden Sie unter Hormondruck? Ich habe Ihre Karre, den Schlitten,
Ihren Achtzylinder gemeint. Und ich habe primär, wie gesagt, den
Superlativ im Visier.
Ihn sollte man meiden, wie die Katze die Spitzmaus, der Mann
den Feminismus, und die Frau die Schuhläden. Vorurteile, klar. Sie
und Superlative sind so was von nicht angesagt. Und bitte, beachten Sie: Das gilt fürs ganze Leben und für den persönlichen Stil.
Superlative sind wie künstliche Haarteile. Viel Volumen, wenig
eigene Inhalte.
Aber das haben nur die Werbepfeifen noch nicht gemerkt. Für die
ist alles nur vom Besten, Feinsten und Reinsten. Da wird aufgeblasen und gefälscht. Bitte merken Sie sich: Superlative sind ein Übel
erster Ordnung. Sie gleichen den Banken ohne ausreichendes verbales Eigenkapital.
Wollen Sie ein paar Beispiele hören? Nein? Ja, warum denn nicht?
Ach so. Sie möchten nicht ertappt werden. Ja schon gut, also Sie
dort, ja Sie in der zweiten Reihe, Sie machen sowas doch nicht. Gut,
in Ordnung. Ich glaube Ihnen kein Wort. Denn mein Leitsatz heisst
immer noch: Ehrlich währt am Längsten. Verzeihung. Ich meinte
lange genug bis zur nächsten Lüge.
Also jetzt seien Sie doch mal ehrlich, haben Sie noch nie einen
Brief oder eine Ansichtskarte zusammengekritzelt, sagen wir mal
aus der Toskana, in den Iran getrauen Sie sich ja doch nicht. Da
soll es am gefährlichsten sein. Quatsch, da kann ich Ihnen Syrien
eher empfehlen. Da ist Action. Gut, ist nicht Ihr Favorit. Aber neh91
men Sie mal an, Sie haben vor zehn Jahren in Aleppo eine Ansichtskarte geschrieben und schliessen „mit herzlichsten Grüssen
aus dem sonnigen Syrien“ oder „herzlichst grüsst dich Dein allerliebster Schnuffelpuffel.“
Oberpeinlichst, nicht wahr? Peinlicher geht‘s ja nicht mehr.
Schnuffelpuffel! Warum schreiben Sie nicht gleich „Völlig ausgepowert, Dein Rammelpeter?“ Oder: „Mit Sonnenstich, Dein Oberstecher.“ Geben Sie’s doch einfach zu. Sowas ist doch nur als Ausdruck von Selbstironie zu ertragen. Da kommen versteckter Eigendünkel und scheinbare Bescheidenheit am Idealsten zusammen.
Und merken Sie sich das: Es ist zu spät für Reue, meine Damen
und Herren. Sie sind ertappt worden. Sie haben das geschrieben.
Kommen Sie, ist doch nicht so schlimm. Wir machen alle Fehler,
nur ich nicht.
Sie kennen doch das Weihnachtslied: „Was soll das bedeuten, es
taget ja schon?“ Eine Frage, die man sich nicht nur an Weihnachten
stellen sollte. Schlage vor, ein bis zwei Mal pro Tag. Wenn Sie die
Steuererklärung ausfüllen. Wenn Ihnen Ihre Freundin Ihren Wohnungsschlüssel in die Hand drückt, ein Lebewohl murmelt, „mach’s
gut und wenn’s geht, bei der Nächsten besser!“ Das allerdings, das
ist dann kein Superlativ. Das wäre dann der komparative Ultimativ.
Na, taget es schon? Wie auch immer. Wir alle wollen das. Vor allem Sie, meine Herren, wir wollen ab und zu klarstellen, wer der
grösste, netteste und herzlichste Kerl auf dem Kampf- und Balzplatz ist. Ja doch, die Frauen auch, aber anders. Mehr mit … aber
lassen wir das. Seit Eva ist das ein Dauerbrenner. Lohnt sich nicht.
Jetzt genieren Sie sich doch nicht so, meine Herren. Gestehen Sie:
Niemand ist doch herzlicher und liebenswürdiger als Sie. Und der
Potenteste von allen. Wir glauben Ihnen das. Aber deswegen müssen Sie doch nicht gleich „Allerherzlichste Grüsse aus dem Hindukusch“ versenden.
Gut, egal! Letztendlich ist das Ihre Privatsache. Sie veröffentlichen Ihre Ansichtskarten ja wohl kaum auch noch im Internet. Wie
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bitte? Sie machen das? Und nicht nur das? Aber die Hosen, die
bleiben doch oben? Sie sind doch nicht etwa Politiker? Moment
mal, da bahnt sich ein Irrtum an. Die lassen doch nie und nimmer
die Hosen runter. Bei dem, was da rauskäme. Da würden sie baden
gehen. Ja gut, manchmal nötigt sie halt die Presse dazu. Nein, nicht
Sie in der zweiten Reihe. Entschuldigen Sie, aber Ihre Sitznachbarin
schaut sehr beunruhigt drein. Sie heissen nicht zufällig Müller?
Nein?
Ach so, das ist Ihre Ehefrau. Entschuldigen Sie. Die hat ein Recht
auf diesen unruhigen Blick. Schon gut, alles klar, lassen wir das mal
ruhen. Wir reden immer noch von diesen unnötigen Superlativen
und nicht von den engsten Hosen. Da hätte ich dann noch ein
schönes Beispiel für Sie. Wollen Sie’s hören? Gut, auf Ihre Gefahr.
Hat nichts mit ausgefüllten Hosen zu tun. Da habe ich doch in
einem Kulturmagazin folgenden Satz gelesen:
Der israelische Musiker Avishai Cohen ist einer der angesagtesten
Trompeter in New York. Was soll denn das jetzt heissen? Weiss ich
jetzt, wie der spielt? Nein, ich weiss nur, in New York gibt es angesagte Trompeter und einige von denen sind noch angesagter? Und
dieser Cohen ist der angesagteste. Da versagt jetzt mein Verstand.
Ihrer auch?
Das wäre etwa so nichtssagend, als würden Sie verkünden: Ich
habe drei Hunde: Hasso ist lieb, Fido noch lieber aber Spitzi ist der
liebste von allen. Und was heisst schon lieb? Nicht vergessen, wir
reden hier von Hunden. Und da muss man einfach etwas wissen.
Dass nämlich alle drei der Nachbarin in den Garten scheissen, und
alle drei bellen den anderen Nachbarn in den Wahnsinn. Von wegen
lieb.
Trotzdem, die Steigerungsformen von „lieb“ wäre immerhin
schon mal eine differenzierende und handfeste Botschaft, wenn
Sie, meine Herren, an Ihre diversen Freundinnen denken, ja meine
Damen, auch an die Kerle. Jedenfalls besser als dieser inhaltslose
Vergleich aus New York.
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Meine Nachbarin im Nachbarhaus, Frau Schmalohr, was gibt’s da
zu lachen, die heisst wirklich so, jedenfalls immer noch besser als
Breitmaul oder Raffzahn.
Also Frau Schmalohr ist sicher die Allerliebste, aber trotzdem
etwas einfach gestrickt. Also die bringt Sätze fertig wie: Sehen Sie
Herr Strasser. So ist das Leben. Wenn es schneit, dann wird alles
weiss. Ja und wenn es auf die Birne hagelt, dann gibt es Kopfweh.
Und wenn einer statt seine Frau sich auf den Daumen nagelt, dann
tut das auch weh. Entschuldigen Sie den Vergleich. Aber das Reimangebot war zu verlockend.
Natürlich habe ich das zu Frau Schmalohr nicht so gesagt. Man
weiss ja nie bei solchen Leuten. Die merken mehr, als gut ist für sie
und uns lieb sein kann.
Nun aber noch das: Also meine andere Nachbarin, Frau BreitkopfHärtel, liebt Superlative. Die ist immer im besten Restaurant gewesen, dort kocht man das leckerste Gulasch von Westeuropa inklusive Ukraine und sie findet die Speckthaler Rublerbuben die absolut
schmissigste Volksmusikgruppe der letzten Dezennien.
Ja, schon gut. Das Wort Dezennien hat sie nicht verwendet. Muss
sie auch nicht. Die einfacheren tun’s auch. Ihr genügt es doch
schon, wenn sie die drei letzten Wochen einigermassen überblickt.
So bringt sie es jedes Jahr mindestens auf die drei fettesten
Schlachtplatten in den drei vergammelsten Wirthäusern ihres Horizontes.
Aber was soll’s? Ihr Mann, also der Herr Breitkopf, hat mir mal
im strengsten Vertrauen gesagt: Weisst du, sie ist vielleicht nicht
die hellste Birne im Kronleuchter, und auch nicht die schönste
Rose im Garten, aber sie ist immer noch am schnellsten im Bett …
du weisst schon, was ich meine.
Das wollte ich eigentlich so genau gar nicht wissen, was er meinte. Kam es ihr schnell, oder war sie dauernd müde und deshalb am
Abend immer schnell in den Kissen? Ehrlich gesagt tippte ich eher
auf die zweite Variante, denn als eilfertigste Nymphomanin war sie
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einfach nicht phantasierbar. Die sieht eher aus, wie meine dickste
Tante in der Familie, die Tante Wilma, das umfangreichste Wunder
aller Zeiten, unter der Hand deshalb auch kurz Tante Urwaz genannt. Da, ja da, da ist jetzt ein Superlativ nun wirklich angemessen. Denn in unserer Familie sind die Dünndruckausgaben eher
selten.
Gut. Sie sehen also: Superlative sind nicht realistisch. Sie sind wie
Frauen, die Orgasmen vortäuschen. Superlative sind so was wie
getürkte Höhepunkte. Oder wie Waschmittel, die Blendwerke der
Bleichmittel, Tenside und Enzyme, die für das strahlendste, sauberste vor allem aber für das weisseste Weiss sorgen, als könnte
Weiss weisser als weiss sein. Oder wollen Sie mal toter als tot sein?
Blöder als blöd? Ja das ginge allerdings wieder, wenn man an „saublöd“ denkt.
Und da fällt mir sofort Kintopp ein, und zwar von Bollywood bis
Hollywood: Sie kennen doch den „Fluch der Karibik Nr. 3“? Das soll
der teuerste Film aller Zeiten sein, mit einem Superlativ-Budget von
300 Millionen Dollar. Haben Sie ihn gesehen? Geben Sie’s ruhig zu.
Aber Sie wissen schon, was eine indirekte Proportionalität ist.
Ehrlich, Sie sind sicher? Glaub‘ ich Ihnen nicht. Am besten wir machen jetzt ein Beispiel, bevor wir Arbeitsgruppen bilden müssen.
Man weiss ja nie. Nicht, dass Sie dann zu Hause jammern, dieser
Strasser ist mir einfach zu intellektuell.
Also das Beispiel geht so: Je dünner die Filzstifte sind, desto
mehr haben in der Schachtel Platz. Alles klar. Und jetzt für den
Film: Je teurer ein Film ist, desto dünner ist sein Gehalt. Ja, ja, ich
weiss, das stimmt nicht immer, ist aber als Qualitätsleitplanke für
Kinobesuche ganz brauchbar.
Aber damit noch nicht genug. Sie wissen doch sicher, was ein Papagei ist. Das sind diese gefiederten Imitatoren-Plaudertaschen. Da
gibt es einen auf Neuseeland. Sein Name ist, bitte beherrschen Sie
eventuelle Schreikrämpfe oder asthmatische Lachanfälle, sein Name ist nicht Kakadu, sondern Kakapo.
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Der ist schlicht flugunfähig und dies als einziger. Dieser Kakapo
ist nicht wegen seines Namens wütend geworden – Sie möchten ja
auch nicht so heissen, oder als Kakapo in Ihrem Bekanntenkreis
herumgeboten werden – also dieser Papagei ist stocksauer geworden, weil ihn irgend so ein Journihirni als den flugunfähigsten Papagei der Welt beschrieben hat.
Seine Wut kann man doch verstehen, oder möchten Sie als grösster Tiefflieger aller Zeiten herumgereicht werden? Flugunfähigster
Papagei! Dann müsste es doch logischerweise auch noch Papageien
geben, die nur bedingt flugfähig sind. Gibt es aber nicht. Herumflattern können sie alle irgendwie. Es würde also genügen, ihn als
den einzigen bekannten, flugunfähigen Papagei zu bezeichnen.
Wenn wir schon beim Herumflattern sind, dann müssen wir jetzt
auch noch von den Autofahrern sprechen. Auch da wütet der Superlativ wie ein Ferrarifahrer mit Potenzproblemen. Ja Maserati,
Lamborghini oder Porsche geht auch.
Da werden dann Autofahrer einer bestimmten Nation als die
rücksichtslosesten Europas gebrandmarkt. Da reicht doch rücksichtslos ohne Europa vollkommen. Und trotzdem müssen wir
diese stilistischen Frivolitäten lesen, obschon ihre Urheber wissen,
dass man auch nicht von der schwangersten Frau in der Nachbarschaft oder von dem namenlosesten Elend in Afrika schreiben sollte.
Als absolute Schandtat wider Sinn und Vernunft verurteilen
strenge Stilisten den sogenannten Hyperlativ mit Adjektiven, deren
Positivform schon als Superlativ gelten kann. Beispiele: einzigst,
einzigartigst, unnachahmlichst et alii. Da kann man nur noch seufzen und aushauchen: Einzigartig furchtbar!
Woher aber kommt das alles? Sie werden es nicht glauben. Von
der Kirche. Auch hier ist die Kirche schuld. Und wie meistens die
katholische. Ja wie heisst es denn im Ordinarium missae, genauer
im Gloria? Der Anfang ginge ja noch, obwohl auch der uns schon
an den Rand eines Komas treiben kann: Quoniam Tu solus Sanctus,
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Du allein bist der Heilige. Und dann: Tu solus Dominus, Du allein
bist der Herr – das würde ich gerne mal von meiner Freundin hören, statt dauernd Staub wischen, die Badewanne putzen und ihre
Wäsche falten zu müssen – und Tu solus Altissimus, Du allein bist
der Höchste – wenn Sie das doch nur einmal über meine gymnastischen Bettkünste sagen würde. Aber sagen Sie selber: Dieses „Du
allein bist der Höchste“ ist als Alleinstellungsmerkmal schon eine
Zumutung. Oder nicht? Wie grössenwahnsinnig muss man denn
sein, so etwas einfordern zu wollen?
Kommt aber vor. Vergessen Sie bitte analog zu meiner Tante Urwaz den Gröfaz nicht. Sind Deutsche im Publikum? Ja, Sie da hinten. Gröfaz? Nein? Da können Sie nichts dafür. Ist schon lange her.
Haben viele vergessen. Gröfaz steht für „Grösster Feldherr aller
Zeiten“. Sie wissen aber schon, wer gemeint ist? Der Böhme Wallenstein? Oder Napoleon? Nein, geht nicht. Gröfaz, das schafft nur ein
Deutscher. Verzeihung. Ja doch, er war auch Österreicher. Die Berliner haben dann unter Lebensgefahr aus dem Gröfaz den „Grössenwahnsinnigsten Fatzke aller Zeiten“ gemacht. Alles klar? Und
hier stimmt auch der Superlativ. Ja richtig, der Mann hiess Schicklgruber.
So, jetzt wissen Sie Bescheid. In Kurzfassung: Superlative: nicht
gut. Komparative: bedingt gut. Fazit: Bescheiden bleiben. Sie müssen kein Grösaz werden, kein „Grösster Stilverderber aller Zeiten“.
Übrigens. Was wäre dann ein Gröspatz. Ein Riesenvogel? Kommen
Sie nicht darauf? Im Foyer finden Sie Wettbewerbskarten. Einfach
die richtige Lösung ankreuzen und einsenden. Der ausgeloste Sieger erhält ein Buch über den Grökaz, den grössten Kabarettisten
aller Zeiten. Wer das sein soll? Lassen Sie sich überraschen. Wenn
Sie jetzt an mich gedacht haben, nehme ich Ihnen das nicht übel.
Soviel also zum Thema Grössenwahnsinn und Superlativ.
Und nun fassen wir zusammen. Wenn Sie künftig das beherzigen,
was Sie hier jetzt gelernt haben, dann werden Sie auch diese beiden
versteckten Pseudosuperlative aus Gazetten und Waschzetteln
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entlarven. Nummer 1: „Die Wahrscheinlichkeit ist minimst“. Minimer geht’s wohl nicht mehr. Nr. 2: Noch nie hat man sich so intelligent schlapp gelacht. Bei dem Satz jederzeit.
Übrigens, woher weiss der Verfasser, dass es nicht noch schlapper geht? Wenn Sie zum Beispiel diesen Schnäppchensender ansehen. Ja, HSE24, diese Online- und Teleshopping-Zumutung mit den
schmierigsten Pomadenschwätzern und den überkleistertesten –
bitte nachsprechen – den überkleistertesten Tussen aller Nagelstudios und Fratzenboutiquen der westöstlichen Hemisphäre und
Diwane.
Also darauf gebe ich eine Dreijahresgarantie. Der Sender ersetzt
Ihnen sämtliche Comedy- und Kabarettprogramme. Und sollten
den Kirchen keine Höllenstrafen für Atheisten mehr einfallen. Hier
ist die wirklich allersadistischste Lösung. Sie werden in ewiger Verdammnis Tag und Nacht den zugekleisterten – geht doch – Stossverkäuferinnen und den gelierten Ladenschwengeln zuschauen und
zuhören müssen, wie sie den Ramsch von der Resterampe verhökern.
Apropos Atheisten und „Tu solus altissimus“. Meine Damen und
Herren, jetzt wird’s ernst. Ich hätte da nämlich noch eine einfache
Frage. Lebt Gott eigentlich noch? Und Nietzsche irrt? Wir sollten
das jetzt mal miteinander erörtern.“
Pat Strasser bricht hier ab, geht zu seinem Schreibtisch zurück
und setzt sich. Er ist halbwegs zufrieden. Denn die Fortsetzung hat
er unter dem Arbeitstitel „Irrsinn“ bereits geschrieben, zusammen
mit Artmann getestet. Beide haben sie für gut befunden. Er muss
zugeben, es geht voran. Die Krise scheint überwunden zu sein; bis
zum nächsten Mal.
Quellen: Briefenden, az-Medien, 20 Minuten, Der Dummdeutsch-Blog und sprache kompakt.de
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The days after: Katastrophe oder Katharsis?
Wen wundert’s? Oberholzer ist zufrieden mit dem Resultat aber
unzufrieden mit den Kommentaren. Die Sieger delirieren von
„Schlüsselmoment der Politik“, besingen den „triumphalen Sieg“,
während die Verlierer über die bittere Niederlage lamentieren und
den Untergang des Abendlandes beargwöhnen. Und das bei einem
JA-Mehr von 50,3 %. Und jetzt sei die Nation gespalten wie noch nie.
Oberholzer beginnt wieder mal auf seine bekannt exzessive Art zu
reflektieren:
Was erzählen diese Mikrogehirne da wieder? Ist doch schon historisch falsch. Die Nation hat noch ganz andere Krisen überstanden: 1712, Villmergen Aargau, dann die Alte Eidgenossenschaft,
Sonderbundkrieg, die politischen Schützengräben vor dem 1. Weltkrieg. Dagegen ist dieses Abstimmungsergebnis ein Badewannenpupser.
Meine Güte, lesen denn diese mürben Schwachbirnen keine Geschichtsbücher? Nur verstockte Bildungsverweigerer und geistige
Armenhäusler landauf, landab!
Das Telefon schnarrt. Oberholzer nimmt ab.
„Ja?!“
„Thalberg. Stör ich?“
„Nein, du nicht.“
„Ja, wer dann?“
„Die von der Presse.“
„Ach so, die. Was haben die jetzt wieder angestellt?“
„Hast du die Kommentare gelesen?“
„Ja flüchtig, wir reden von der Abstimmung, nicht? Ich würde sagen, eine Überraschung.“
Thalberg ist bekannt für britisch indolente Coolness und seine
steife Lippe. Hat er in England erworben. Den Ruf will er pflegen
und sich erhalten. Zudem hat er keine grosse Lust, mit Oberholzer
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über Zuwanderungsprobleme zu debattieren. Der aber offenbar
schon. Er sagt:
„Ja, das auch. Aber damit wird doch dieses starke Land fertig
werden?“
„Ja sicher, wo also ist das Problem?“
„Das Problem sind die Kommentatoren. Da hat doch tatsächlich
eine Brunzkachel von einem Chefredaktor geschrieben, dass es die
Schweiz nicht gibt. Dass unser Land aus verschiedensten Lebenswirklichkeiten bestünde. So was ist Chefredaktor! Chefdeserteur
und Chefignorant würde besser passen. Oder noch besser: Ein
Chefsesselfurzer!“
„Entschuldige Carlo, aber das ist doch bei einigen von denen habituell. Du hast da zu hohe Erwartungen.“
„Ja zur Hölle, mag ja sein. Aber der Satz dieses tintenfingrigen
Daumenlutschers von den, wie hat er das genannt, von den verschiedenen Lebenswirklichkeiten, das ist doch einfach nur noch
kalter Griessbrei; etwa so banal wie die Aussage, dass Katzen miauen, Hunde bellen und Politiker manchmal lügen. Was für ein
einfältiger Untergangspinsler? Idiotischer Panikmacher. Verkündet
wegen einer Abstimmung die nationale Apokalypse, weil das Ergebnis nicht zu seiner Schuhgrösse passt. Wahrscheinlich 36!“
Thalberg lässt sich nicht anspitzen. Er sagt nonchalant und pointiert hochnäsig:
„Der Blick in die Presse und auf die Strasse ist immer etwas befremdend. Und sehr peinlich. Der gibt dir vermutlich Recht. Aber
die Vergangenheit widerlegt ihn. Besonnenheit und Mässigung haben in diesem Land noch immer gesiegt.“
„Ja, früher vielleicht. Aber heute dominieren die Ersatzteildenker
und Erbsenspalter.“
„Und die Erbsenzähler der politischen Latifundien“, ergänzt
Thalberg lakonisch.
Oberholzer ignoriert das. Er lässt sich nicht aufhalten und sagt:
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„Ein Carl Spitteler wäre heute so undenkbar wie eine Rückkehr
von Jesus auf die Erde.“
Als Agnostiker muss Thalberg das dahingestellt lassen. Er überspringt es und wird kategorisch.
„Das hat aber Dostojewski anders gesehen. Und ich tu das auch.“
Oberholzer ist einen Moment lang unsicher.
„Dostojewski? Was soll der jetzt hier? Ach so. Jetzt dämmert’s.
Der Grossinquisitor und Jesus. Ja warum denn nicht? Du meinst
also auch, wenn dieser Jesus wieder ins Jammertal herabsteigen
würde, da wäre dann nichts mehr mit familiär bedingter Güte und
Milde, vor allem, wenn er sehen müsste, was diese politischen
Flachbettpenner alles anstellen?“
Thalberg fühlt sich unbehaglich. Er weicht aus und sagt:
„Das weiss ich nicht. Ich befürchte nur, dass dein Jesus gar nie
existiert hat, jedenfalls nicht so, wie verkündet wird. Folglich ist
diese Debatte wenig zielführend. Das könnte man jedenfalls von
Spitteler nicht sagen.“
„Jesus und jetzt Spitteler? Wie bist du eigentlich auf den gekommen?“, will Oberholzer wissen.
„Na ja. EU, Kotau und Bittsteller-Knierutschen. Spitteler hat immerhin im richtigen Moment, wie heisst es da so schön, ‚der schlotternden und lotternden Nation‘ die Leviten gelesen. Der soll übrigens, soviel ich gelesen habe, eine nüchterner Atheist gewesen
sein.“
Oberholzer überraschte das nicht. Er meinte dennoch:
„Das weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass viele Eidgenossen heute
schlottern und lottern vor den Gruppenknutschern der moribunden EU. Von den Kommissaren ist ja bis jetzt nicht einer demokratisch legitimiert. Alles nur Handbuchkopierer und HochleistungsChiller!“
„Na, na. Jetzt übertreibst du aber schon ein wenig.“
„Ach woher denn? Vor diesen Igelschändern sollen wir wie armselige Bittsteller zittern? Vor diesem brüchigen Konstrukt, dieser
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waidwunden EU? Sag mir, warum zum Teufel? Warum soll man
sich zu einer Kranken ins Bett legen, wenn man gesund ist?“
„Na ja, zu empfehlen ist es nicht gerade. Kommt ein bisschen auf
die Art des Fiebers an.“
Oberholzer stutzt einen Moment lang. Dann begreift er und lacht.
„Ja, ja, schon gut, du alte Lustwurzel. Aber jetzt mal abgesehen
von den Fieberschüben der Triebe … da gibt es doch bei uns tatsächlich Kompetenzbrünzler, die wollen partout in der Scheisse
waten, die wir von diesem Megamoloch EU serviert bekommen.“
Das ist jetzt doch zuviel für Thalberg, der einen EU-Beitritt
durchaus erwägen würde, wäre diese wie die Schweiz gewachsen
und demokratischer organisiert, will sagen dezentral und wesentlich föderativer.
„Ja schon. Das Menü ist nicht immer sehr bekömmlich.“
„Nicht bekömmlich? Was hat nur dieses England aus dir gemacht? Wieder mal sehr vornehm ausgedrückt. Nicht bekömmlich!
Mir kommt es gleich hoch. Ein Schlangenfrass ist das, was uns diese Kommissions-Luftpumpen für ein paar Wirtschaftsvorteile auf
den Tisch knallen. Ich verwette ein teures Fünfgangmenü, die
könnten wir auch auf andere Weise erstreiten, wenn wir wirklich
wollten. Aber unsere europhilen Melonenschänder möchten tatsächlich rein in dieses Irrenhaus des blanken Integrationswahnsinns.“
Thalberg seufzt unhörbar und meint dann etwas resigniert:
„Nun beruhige dich. Das wird nicht geschehen. Die Zahlen sind
eindeutig. Achtzig Prozent der Helvetier wollen nicht in die EU.“
„Ja stimmt. Aber genau dafür rügt uns ausgerechnet Deutschland, das seit Jahren wieder Truppen ins Ausland marschieren
lässt. Und auf ZDF-HISTORY sehen wir fast jeden Tag irgendwo die
Wehrmacht in Schwarz-Weiss herumstrolchen. Ich habe manchmal
den Eindruck, die bedauern zwar ihre Vergangenheit, aber in etlichen Nassbirnen kommen diese nostalgischen Veredelungsversu-
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che nur allzu gut an. Bleiben Sie uns treu, flötet dazu der habituelle
Dauergrinser Guido Knopp.“
„Herrjeh, Karlo. Was willst du? Die Deutschen von heute sind nun
mal nicht zu beneiden.“
„Das allerdings. Und ich sage dir auch, bevor wir einen Beitritt in
die EU auch nur schon andenken, müsste man der EU wünschen,
dass sie sich, statt uns mit Retorsionen zu drohen, dass diese real
existierende EU sich grundlegend verändern müsste. Und wenn wir
schon über unseren grossen Nachbarn reden. Was würde wohl
geschehen, wenn die Bundesbürger Deutschlands und überhaupt
die Bürger aller anderen EU-Länder darüber abstimmen könnten,
ob sie überhaupt die EU und diese länderverblödende und staatenverödende Freizügigkeit wollen?“
„Ja, da wäre ich auch auf das Ergebnis gespannt. Immigration
und Integration harmonieren halt nicht immer“, versucht Thalberg
Oberholzer einmal mehr von der Palme herunter zu locken. Aber
der bleibt oben und sagt:
„So ist es. Die können nicht einmal abstimmen. Die nennen das
dann mit geschwollenem Kamm Repräsentative Demokratie. Dabei
ist jedem klar, der sein bisschen Geschichtsbewusstsein noch zur
Hand hat, dass Demokratie mehr ist, als nur alle vier Jahre
Oberdumpfbacken zu wählen, die partiell offenbar in einer anderen
politischen Wertegalaxie leben als ihr Volk. Und das gilt nicht nur
für die BRD, sondern für die meisten europäischen Staaten und
manchmal finden wir auch in unseren Gauen solche Sterndeuter,
wie bella figura gezeigt hat.“
Thalberg ist nun doch etwas irritiert.
„Bella figura? Was meinst du damit? Oder wen? Doch nicht Berlusconi?“
„Nein, bestimmt nicht. Wer redet denn noch von diesem Pimmelschwenker? Aber du kennst sicher beide, diesen selbstverliebt aufgeblasenen Starjournalisten Hans A. Gasser und seinen bukolisch
herumfuhrwerkenden Wiegenfest-Gratulanten, Werner Mayr von
103
Deppenberg. Also die habe ich nie als bedeutende Lichtspender im
helvetischen Halbdunkel gesehen. Die gehören zur Leichten Banallerie der Europa-Turbos und der Apéro riche-Szene.“
„Ach, die meinst du. Und die werden immer noch wahrgenommen?“
„Ja doch. Die Pudelföhner haben Hochkonjunktur. Vor allem,
wenn diese Quarknasen die EU bejubeln. Wenn man ihnen dann
aber nachweist, warum wir die EU meiden sollten, dann toben die
in den Feuilletons herum, wie Rumpelstilzchen, dem man auf die
Schliche gekommen ist. Dann werden die zu halbliterarischen
Sandkastenrambos und Teilzeitprimaten.“
„Ja, das ist sicher unangenehm“, erwidert Thalberg allmählich
doch ein bisschen saturiert von den Injektiven dieses Oberholzers,
den er meistens eigentlich ganz gut mag.
Er möchte jetzt aber auf den Punkt kommen und Oberholzer mitteilen, dass er sich mit Artmann am Abend im „Boothafen“ treffe,
und ob er mitkommen wolle? Roman würde sich freuen. Aber
wahrscheinlich wird Oberholzer jetzt dann gleich zum finalen
Atomschlag ausholen und die Menschheit vernichten.
„Unangenehm? Ist das alles, was du denen zu sagen hast? Diesen
Unterhosenbüglern, diesen Hornviehidioten und Wichtelschändern?
Zu diesen … diesen. Ach verdammt, mir gegen die Wörter aus.“
„Wie wär’s mit Zahnpastavorwärmer?“, schlägt Thalberg leise vor.
Oberholzer ist begeistert. Und eine Minute später ist der „Bootshafen“-Termin abgemacht.
104
Inflatolenzen auf den Lehrstühlen
Ephraim Thalberg (ET) und Roman Artmann (RA) gönnen sich
zwei Tage Auszeit mehrheitlich auf zwei dickgepolsterten Liegestühlen in einem Ressort für burnoutgefährdete Spitzen der Gesellschaft.
Thalberg nuckelt an einer Partagas Serie D Nr. 4 Especial während Artmann im helvetischen Intelligenzblatt aus Zürich blättert.
Ein lautes Rascheln droht die Idylle zu zerstören. Thalberg macht
mit Seneca auf jüngere Stoa und pafft weiter.
Artmann hält gegenwärtig nicht gerade viel von Epiktet und sagt:
„Jetzt hör dir doch mal diesen Satz an: Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften haben recht differente Publikationskulturen.
ET:
Na und? Leute lesen halt je nach Interesse verschiedene Bücher.
RA: Oder verqualmen die Gegend. Es geht hier aber noch weiter im
Text, hör zu: Dies rührt daher, dass die Naturwissenschaften
aufgrund ihrer engen Anbindung an gesellschaftliche Produktion zu langfristig einheitlichen Gegenstandskonzeptionen tendieren, während diese in den Geistes- und Sozialwissenschaften
nach wie vor strittig sind.
ET:
Kurz gesagt: Naturwissenschaften nützlich, Geisteswissenschaften Luxus im Überfluss, folglich zu hinterfragen?
RA: Etwas simpel, findest du nicht?
ET:
Ich sag nur Winckelmann: Edle Einfalt, stille Grösse.
RA: Schön wär’s. Hier haben wir es aber mit Sprache zu tun. Ich
rede von banalem Gedöns und unsinnigen Längen. Hör zu.
ET:
Muss ich? Und dann edel leiden, still verzweifeln?
RA: Jetzt komm‘ schon. Ich bring dir nachher einen Cognac. Es
stehen sich daher eine in die Breite und Tiefe gehende Wissensentwicklung, die idealiter …
ET:
Idealiter? Warum nicht gleich idioditer?
RA: Jetzt reiss‘ dich zusammen. Wir können dann später mal nach
prallen Grössen und froher Einfalt spähen. Hör zu … die also
idealiter die Historizität der Gegenstände und ihrer Konzeptio105
nen, also die Fachgeschichte selbst, mit im Blick behält, und ein
auf enge Innovationszonen bezogener Erkenntnisfortschritt,
der auch das noch nicht Gewusste bereits als Aufgabe scharf
umrissen hat, gegenüber."
ET:
Wer sowas schreibt, muss ein Sadist sein oder begnadet gedankenlos und edelsinnig einfältig.
RA: Das kommt hin: Der Text stammt aus einer Passage aus einem
Handbuch für Literaturwissenschaft, geschrieben von einem
Professor für Literaturwissenschaft.
ET:
Ein Textexperte also?
RA: Sozusagen.
ET:
Aber hast du verstanden, was der uns sagen wollte?
RA: Wahrscheinlich, dass jedes Fach anders ist. Naturwissenschaften basieren halt eher auf Fakten.
ET:
Wahnsinn, welch‘ profunde Erkenntnis.
RA: Ja, und bei den Geistes- und Sozialwissenschaften ist dann
mehr Spielraum für Spekulatives zu entdecken. Deshalb klingen die Texte in den verschiedenen Fächern auch unterschiedlich.
ET:
Unterschiedlich einfältig, hohl und aufgeblasen?
RA: Etwa auf dem Niveau: Wenn ich eine Zigarre rauche, gibt es
Rauch, nur eben mit ein paar tausend exquisiten Wörtern
mehr.
ET:
Sie ist mir ausgegangen. Ein Skandal sowas.
RA: Und das alles nur wegen diesem Katheder-Rotwelsch?
ET:
Ich hätte Lust, es Inflatolenz zu heissen. Du verstehst schon?
RA: Ja sicher. Soll ich dir mal zeigen, wie man das macht?
ET:
Was macht?
RA
Banales aufzublasen und entweichen zu lassen.
ET:
Ich zünde mir nur noch rasch wieder diesen edlen Bengel an.
RA: Also dann. Hör zu. Das tönt dann so:
Meine, ääh, meine intestinalen Rezeptionsfaktoren haben ein
Insuffizienzniveau rekonstruiert, das die Konnektivität zu
106
den, ääh, Satisfaktionsindikatoren nicht mehr im Sinne eines,
warte, ich hab’s gleich, im Sinne eines euphorischen Equilibriums interpretiert und sich generell in der Relation zu den,
ääh, seienden Seins-Komponenten des tragischen Heidegger‘schen Daseinsbegriffes, will sagen, im Spiegel einer vitalen
Funktionenerhaltung, in einer, sagen wir mal, äusserst dekonstruktiven und pejorativ exemplarisch-fundamentalen Kontradiktion in, Moment, ja genau, in statu nascendi befindlich,
ääh, wähnt und daher extrem klamativ, also wehklagend, den
existentiellen Status, sozusagen, eines nutritiven Mangelphänomens reklamiert.
ET: Soll heissen?
RA Verdammt noch mal, ich habe Kohldampf!!!
ET: Dann geh’n wir jetzt zum Buffet.“
107
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"Nicht weinen, Peter. Du kriegst dein Geld noch."
Karl Oberholzer schreibt einen Leserbrief zum Finanzdebakel der
Oper Schunkelberg. Diesmal vermeidet er sorgfältig Pejorativa und
bemüht sich, im temperierten Stil von Thalberg zu schreiben.
Nun hat‘s also doch nicht hingehauen. Das kommt davon, wenn
man an „die Harmonie der Welt“ glaubt und nicht „dem schlauen
Füchslein“ vertraut.
Was hohe Wellen wie im fliegenden Holländer auftürmen sollte,
ist nicht das mutmassliche Finanzdebakel der Dreigroschenoper
Schunkelberg, sondern die Erkenntnis, dass hier das Mittelmass
sich gebärdet, als leuchte eine Supernova am Opernhimmel. Eine
"kulturpolitische Stalllaterne" wäre ein angemessener Begriff.
Statt über die Qualität und die Notwendigkeit der Aufführung
von „Il Trovatore auf dem Lande“ zu fluchen und zu debattieren,
erhitzt man sich über das Verlustgeschäft.
Dabei wäre die Lösung so einfach: Keine volatilen Flamenco-, keine seichten Operetten- und mediokren Opernaufführungen mehr in
der Region. Nix Verkaufte Braut, nix Fidelio oder La damnation de
Faust und auch keine Trojaner und Puritaner, keine Margarethe
und keine Frau ohne Schatten mehr.
Und dann müssten die grossen und kleinen Krämerseelen auch
nicht mehr um ihre Sponsorengelder fürchten.
Denn die investieren sie ja primär für den eigenen Geschäftserfolg und erst sekundär für die Herren Inszenatoren und Produzenten.
Kultur und Geschäft: Meistens eine Mesalliance per se. Und noch
was: Ob Pietro Bernardo oder Rico Springinsfeld: Auch am Schunkelberg kriegt man nichts geschenkt. Also Peter, nicht weinen.
Karl Oberholzer, Bad Schachenburg
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Much Ado About Nothing im Kloster Maria Seestern
Bad Schachenburg. Mitternacht naht. Artmann will schlafen gehen. Er überprüft noch kurz die E-Mails. Im ersten stellt Jaguar ihren neuen XE vor. Etwas zuviel Showbiz, findet er. Das will er sich
dann morgen genauer anschauen. Die zweite Nachricht ist wichtiger.
Sein Ex-Partner, der ehemalige Marketing-Leiter bei Holtzmann &
Heuberger Training AG, Stewart N. Brann, hat geschrieben. Seit
Jahren frotzeln der englisch-schweizerische Doppelbürger und er
miteinander, sehr selten gegeneinander.
Brann ist zudem ein begnadeter und reimsicherer Verfasser von
Vierzeilern. Beide ergehen sich seit Jahren in mehr oder weniger
albernen Wortspielen, über die Aussenstehende nur den Kopf schütteln können.
Artmann sieht schon im Titel, was ihn erwartet: Ziemlich sicher
eine Replik auf seinen Verriss einer seiner Meinung nach trolligen
und koboldigen Aufführung von „Viel Lärmen um Nichts“ im Hof
des Klosters Maria Seestern, inklusive Philippika gegen die hilfeschreienden Absurditäten des Regietheaters.
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Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 25.08.2014 15:49
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Ich habe bis zum Kapitel „Kritik der unreinen Vernunft“ auf Deiner Internetseite alles aufmerksam und überwiegend mit Vergnügen gelesen. Und natürlich kenne ich auch Deine generelle Abscheu
vor dem Regietheater.
Eigentlich ging es mir zuerst ja wie Dir, sodass ich das Maria Seestern-Theater gar nicht erst heimsuchen wollte.
Dann jedoch stiessen wir auf das Interview mit Sandra Veronika
Fritsch; und ab da waren wir etwas voreingenommen umgepolt.
Vielleicht auch, weil unser Junior seit ihrem Karrierebeginn mit ihr
befreundet ist, aber natürlich auch, weil wir sie von verschiedenen
hervorragenden Aufführung in Berlin kennen; zudem ist sie ja
noch Schauspielerin des Jahres.
Ich erwähne das nicht so sehr als gesuchte Rechtfertigung für
das Theater, sondern weil sich Sandra erklärtermassen nicht dazu
erniedrigen würde, sich auf schlechtem oder vulgärem Theaterniveau zu bewegen.
Es liegt mir auch fernstens, Dich bezüglich Regietheater bekehren
zu wollen, möchte nur einfach entgegenhalten, dass wir uns – trotz
einiger frivoler, aber eben satirisch überzeichneter Szenen, dass
selbst eher sittsame Menschen wie zum Beispiel meine Gattin alles
andere als peinlich berührt waren – dass wir uns also wirklich bestens amüsiert haben.
Vielleicht kann ich Dich überreden, Dir die Inszenierung doch
noch anzusehen? Da wäre ich dann gespannt auf Dein nächstes
Urteil.
Mit herzlichem Gruss
Stewart
112
Von: Roman Artmann <[email protected]> 25.08.2014 18:12
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Herzlichen Dank für die therapeutische Anregung, die hier einem
unheilbaren Kranken zu Teil wird, der permanent und unsäglich an
einer Bühnenphobie und an einer theatralischen Allergie leidet (Ev.
auch Melpomenitis oder Thaliaphobie). Gegen sie habe ich leider
bis jetzt kein wirksames Präparat gefunden. Mir scheint, ich bin ein
hoffnungsloser Fall.
Gestatte mir aber dennoch, mich zu wehren, wenn auch durch
Deine Argumente geschwächt und mehr zugunsten einer Rechtfertigung auf empirischer Basis.
Und da erzähle ich Dir am besten etwas über den Auslöser meiner Breitseite gegen die Ejakulationen des modernen Theaterbetriebes. (Falsche Metapher, ich weiss.)
Es war der auch Dir bekannte Musikkritiker Brian Christen-Sinz,
der mich negativ inspiriert hat. Das war so: Der hat wieder mal
rezensionistisch gejubelt und einen lorbeerbekränzenden KritikerDreifachsalto hingelegt (Auch die Metapher klemmt.), was mich
immer gleich misstrauisch macht.
Also beschloss ich kalt, da nicht hinzugehen. Ich würde mir doch
nicht ansehen wollen, wie im Klosterhof von Maria Seestern laut
Christen-Sinz kopuliert, geduscht, gebadet, ejakuliert, Popel abgewischt, aus- und angezogen, geschrien, gesungen, krampfartig geheult und gespuckt wird. Zudem gehe ich, wie Du weisst, ja schon
grundsätzlich nicht mehr ins Theater.
Denn sage mir: Sollte ich mir tatsächlich einen Schauplatz wählen, wo offenbar mit viel Lärmen, mit viel Wind aus Gedärmen und
Gehirnen, Shakespeares „Viel Lärmen um Nichts“ laut Christen-Sinz
dezidiert obszön und angeblich very shocking inszeniert worden
sein soll? Das grenzt doch an Masochismus und von Deiner Seite
an Sadismus, mich an diesen Schweinetrog zu treiben. Du schreibst
113
zwar, das sei nur halb so wild gewesen. Aber das sehe ich aus
grundsätzlichen Erwägungen anders.
Nun glaube bitte nicht auch noch, dass ich vor Krudem und Indezentem zurückschrecken würde wie die Nonne vor dem „Gott sei
bei uns“ oder vor einem nackten Mann, was bisweilen dasselbe ist.
Im Gegenteil: Derb und deftig darf das Leben schon sein. Aber
ein bisschen geistreich auch. Und eher nicht säuisch wohl und grölend wie in Auerbachs Keller. Ich brauche grundsätzlich weder
gängige bühnenunreife Sekretionen, sadomasochistische Praktika
oder clowneske Exaltationen moderner Inszenierungen, um Shakespeare à fonds besser zu verstehen, geschweige denn auch noch zu
geniessen.
Also verzeih‘ dem leicht autistischen Manne, der seine Vorurteile
nicht los wird und zudem sich nicht gerne unter die Leute begibt.
Mit schönen Grüssen auch an Deine shakespearegestählte Gattin
Roman
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 26.08.2014 08:15
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Ja, ja, schon gut. Ich verstehe das ja. Und doch, Du weisst, dass
ich vom manchmal doch recht deftigen Shakespeare ohnehin kein
Heiligenbild habe. Und ich darf bemerken, dass sein burlesker
Schalk und die brillante Verballhornung menschlicher Arroganz,
Habgier und Scheinheiligkeit im Klosterhof wunderbar interpretiert
wurde. Das sei Deiner giftgetränkten Feder entgegengehalten. Da
hat mich auch keineswegs gestört, dass z.B. einmal der FreistossSpray eingesetzt wurde, um einem Schauspieler klar zu machen:
Bis hierher und nicht weiter.
114
Der langen Schreibe kurzer Sinn: Ich hätte fast eine Flasche Kalterer darauf verwettet, dass Du Dich nach Überwindung des rustikalen Kritik- und Leserbrief-Wettschreibens mehr amüsiert hättest,
als Dir lieb gewesen wäre – vielleicht auch nur, weil hier genau
Deine unerschrockene, aber hochpräzise und professionelle Unverfrorenheit auf ganz erfrischende Art zum Zuge gekommen war.
Darum sorry - es war einfach von A-Z ein Vergnügen, und wenn
da einer noch das Toupet hatte, in der AZ von Laientheater zu
sprechen, war das für mich nicht zum ersten Mal ein Zeichen, dass
sich Kritiker in unserem Kanton manchmal nicht einmal bemüssigt
finden, zumindest einmal die Fakten zu konsultieren.
Mit herzhaftem Gruss pro Theater mit oder ohne Regie
Stewart
Von: Roman Artmann <[email protected]> 26.08.2014 12:00
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Dieser Freistoss-Spray! Genau das ist es: Diese überflüssige
Kleckserei und Jockerei auf den Bühnen. Einen Jux wollen die Regisseure sich machen. Wenn‘s dann wenigstens bei einem bliebe!
Und nicht jeder ist ein Nestroy oder von mir aus auch Raimund.
Klar doch: Das war kein Laientheater und war sicher auch kein
Theater für Laien. Und ich glaube Dir auch, dass hier meine Lieblinge, also Unerschrockenheit, hochpräzise und professionelle Unverfrorenheit – Danke für die Rosen – auf Dich erfrischend gewirkt
haben; und vielleicht hätten sie es auch auf mich. Das käme dann
halt auf ein Experiment an.
Aber da gleich eine Flasche verwetten; und dann noch Kalterer
(Buäääh!); also da haben wir beide etwas Besseres verdient, mindes115
tens einen 2000er Château du Tertre. Und was die Rustikalität von
Leserbriefen betrifft, da keimen schon auch mal ein paar boshafte
Zensurideen.
Giftgetränkte Feder? Du weisst aber: Gifte in angemessener Dosierung sind Heilmittel; und die braucht das Regietheater dringend.
Da könnte man noch Hamlets Analyse herbeizitieren: Oh, horrible,
oh, horrible, most horrible! (Hamlet: 1. Aufzug, 5. Szene)
Muss ich also wirklich dabei sein, und das beziehe ich jetzt nicht
auf die Seestern-Aufführung, wenn mit billiger Taschenspielerei,
banalen Sauereien, mit Blendwerk und Spektakel der Text genotzüchtigt, die schönsten Metaphern verhunzt werden, und wo generell Diktion und Gestus verwahrlost daherkommen? Antwort wird
erbeten.
Herzlich Roman
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 26.08.2014 20:24
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Ich habe darauf keine Antworten. Wenn Du das so sehen willst,
was soll ich dagegen einwenden? Und Du musst auch nicht dabei
sein. Dennoch würde ich die Seestern- Aufführung nicht in deinem
Kategorien-Schema sehen und beurteilen wollen.
Mit eiligem Gruss
Stewart
116
Von: Roman Artmann <[email protected]> 26.08.2014 22:34
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Es ist schon spät. Gleichwohl drängt es mich, ein paar Dinge hervorzuheben. Vielleicht verstehst Du dann meine Vorbehalte besser.
Ich gestehe gerne und mit Genuss: Ich habe seit 1975 kein sogenanntes grosses Theater mehr von innen gesehen.
Dabei wird es auch bleiben. Ich verfüge auch nicht über ein Kategorien-Schema. Es ist viel einfacher. Ich verabscheue dieses exaltierte Bühnengezappel und roboterhafte Szenengehampel. Und
noch schlimmer: Ich brauch‘ es auch nicht.
Wenn ich die Mysterien und Hysterien der partiell dekadenten
modernen Gesellschaft studieren will, dann frequentiere ich ein
Einkaufszentrum. Wenn ich mich über die armseligen und hilflos
intriganten Pirouetten der Politiker amüsieren will, dann schaue ich
mir eine Talkshow an oder studiere die Banalitäten, welche Politiker auf Leserwanderungen sekretieren, und wenn ich wissen will,
was in den kulturellen Feuchtgebieten so herumkriecht, dann wate
ich in den Feuilletons herum oder höre zur Not auch mal RADIO
SRF2 KULTUR.
Also nichts da mit Theaterbesuch, auch nicht in Maria Seestern,
wo ich selber noch 1967 als "Spielleiter" in Wilders „Unsere kleine
Stadt“ auf der Bühne herumdilettiert hatte. Weit eher werde ich ein
altes zerschlissenes Reclam-Bändchen aus dem Bücherregal hervorklauben und wieder einmal „Viel Lärmen um Nichts“ in der
Baudissin-Übersetzung lesen. Da stürmen dann die Imaginationen
mächtig auf mich ein; und das erst noch ungetrübt und von alleine.
Da werde ich dann das Stück ohne Regietheater-Gängelei, BuffoGaukeleien, Intendanz-Neu- und -Nekrosen, vor allem aber ohne
theatralische Abfallentsorgung meinen eigenen Bildwelten und
Phantasien mit Hochgenuss überlassen dürfen.
117
Und was ich mir dann so zusammenreime, das bleibt, ganz im
Sinne Schillers, einer wesentlich lebendigeren, privaten Schaubühne
in einer freien, mehr oder weniger moralischen Anstalt vorbehalten.
Das war jetzt ein bisschen apodiktisch. Nimm es bitte nicht zum
Nennwert, sondern als Ausdruck einer tiefen Abscheu gegen alles
Theatralische auf der Bühne aber auch im profanen Leben.
Etwas müde: Roman
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 27.08.2014 16:56
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Hab‘ das schon verstanden. Meine Apologie der SeesternAufführung werde ich dennoch hochhalten. Etwas weniger hochgestimmt bin ich, wenn ich daran denke, dass wir uns doch alle bald
wieder auf das brave Kurtheater freuen müssen, wo die Abonnenten der allseits beliebten Wanderbühnen wieder ein Potpourri an
mehr oder weniger standardisierten Wertvorstellungen geniessen
dürfen.
Entschuldige, das war jetzt keineswegs auf Deine Kritik bezogen,
sondern bezog sich mehr auf das generelle Theaterniveau im Kanton, das vielleicht ganz ähnlich positioniert ist wie der Fussball:
Manchmal ein Glückstreffer, aber daneben doch immer irgendwo in
der Gegend von Auf- und Abstieg angesiedelt. So, nun habe ich
auch meinen Gewürz- und Gemüsekorb geleert und kann mich
wieder weniger theatralischen Dingen zuwenden. Es geht ja
manchmal auch im Alltag um viel zu viel Lärm um nichts.
Mit unverändert heiteren Grüssen: Stewart
118
Von: Roman Artmann <[email protected]> 30.08.2014 21:47
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Da hast Du allerdings Recht. Das Meiste, was wir zu hören bekommen, ist wirklich nur mittelmässig bis unmässig. Entschuldige
überdies, wenn ich erst jetzt antworte. D‘accord Kurtheater: Ist
manchmal eher was für Geriatrie-Abteilungen und AmüsementBewirtschaftung. Nichts dagegen. Ich komme aber auch da ohne
aus.
Was sagt eigentlich Shakespeare selber zum Thema Inszenierung,
Schauspielerei und Darstellung? Da lassen sich, nicht in „Much
Ado“, sondern im „Hamlet“ ein paar Fingerzeige zitieren, die man
als Zeugnisse gegen die Regietheater-Exkremente, also gegen die
theatralische Abfallbewirtschaftung verwenden könnte, wobei ich
schon die Gegenargumente in Marsch-Kapellen-Formationen daher
dröhnen höre.
Mein Guter, ich weiss natürlich, dass wir nicht mehr im 16. oder
17. Jahrhundert leben. Trotzdem. Gerne schlage ich das den Exzentrikern der Bühnenkünstlereien um die Ohren. Du findest es,
leicht gekürzt, im dritten Akt in der Zweiten Szene, wo Hamlet und
einige Schauspieler auftreten. Also bitte.
HAMLET
Sägt auch nicht zuviel mit den Händen durch die Luft, so - sondern behandelt alles gelinde! Denn mitten in dem Strom, Sturm und,
wie ich sagen mag, Wirbelwind Eurer Leidenschaft müsst Ihr Euch
eine Mäßigung zu eigen machen, die ihr Geschmeidigkeit gibt.
O es ärgert mich in der Seele, wenn solch ein handfester, haarbuschiger Geselle eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt, um den Gründlingen im Parterre in die Ohren zu donnern, die
meistens von nichts wissen als verworrnen, stummen Pantomimen
und Lärm.
119
Ich möchte solch einen Kerl für sein Bramarbasieren prügeln lassen; er herodisiert noch über den Herodes. Ich bitte Euch, vermeidet
das! Seid auch nicht allzu zahm, sondern lasst euer eignes Urteil
euren Meister sein: passt die Gebärde dem Wort, das Wort der Gebärde an; wobei ihr sonderlich darauf achten müsst, niemals die
Bescheidenheit der Natur zu überschreiten.
Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels entgegen, dessen Zweck sowohl anfangs als jetzt war und ist,
der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten; der Tugend ihre eignen Züge, der Schmach ihr eignes Bild, und dem Jahrhundert und
Körper der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen. (…)
Und die bei euch die Narren spielen, lasst sie nicht mehr sagen, als
in ihrer Rolle steht; denn es gibt ihrer, die selbst lachen, um einen
Haufen alberne Zuschauer zum Lachen zu bringen, wenn auch zu
derselben Zeit irgendein notwendiger Punkt des Stückes zu erwägen
ist. Das ist schändlich und beweist einen jämmerlichen Ehrgeiz an
dem Narren, der es tut.
Soweit also Shakespeare. Der Mann spricht mir aus Seele und
Verstand. Und ich verhehle auch nicht den Verdacht: Maria Seestern scheint vielleicht doch ein wenig so ein Ausfluss von jämmerlichem Ehrgeiz und Narretei zu sein, um wieder mal ein hübsches
altes Wort zu strapazieren.
Und gib es wenigstens einmal ruhig zu. Regisseure haben die
Tendenz zur Selbstüberhöhung. Die nehmen sich wahnsinnig wichtig, wichtiger als den Autor des Stückes, das sie dekonstruktiv zertrümmern.
Oder salopp gesagt. Wozu soll ich mich im Theater martern,
wenn ich zu Hause das Stück lesen und mir jederzeit eine eigene
Bühnenfassung schaffen und die schönsten und besten Stellen
jederzeit einprägen kann?
Es ist wie mit Literaturtagen. Wozu da hingehen, wenn ich den
Text zu Hause lesen und reflektieren kann? Bin ich denn ein Anal-
120
phabet, der sich vorlesen lassen muss? Ich höre jetzt schon Deinen
Einwand: Aber Theater, das ist nicht nur „words, words, words“.
Ich weiss. Und doch, mir genügen sie. Die kreischenden Furien und
die blökenden Spastiker überlass ich dem Szenenpublikum noch so
gerne.
Ich scheine wirklich unbelehrbar zu sein. Ich denke tatsächlich
so, finde es zwar schade, kann’s aber nicht ändern. Wenn mir Theater tatsächlich fehlen würde, glaube mir. Ich würde einen Anlauf
nehmen und zur Maria Seestern pilgern.
Das ist jetzt ein langer Sermon geworden; und ich darf gespannt
sein auf Deine Antwort.
Für heute: Good night, sweet prince, and flights of angels sing
thee to thy rest!
Von: Roman Artmann <[email protected]> 31.08.2014 09:03
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Sonntag-Morgen. Die Glocken verkünden lautstark Metaphysisches. Eigentlich eine Anmassung der Kirchen, die Ungläubigen
derart zu beschallen. Da wird doch für eine schwindende Minderheit geläutet. Aber seien wir tolerant. Die Ohrenärzte brauchen ihr
Patientengut.
Und wie meistens trifft’s der Herr Geheime Legationsrat Goethe,
wenn er Mephisto sagen lässt:
Jedem edlen Ohr
Kommt das Geklingel widrig vor.
Und das verfluchte Bim-Bam-Bimmel,
Umnebelnd heiteren Abendhimmel, (Gilt am Morgen erst recht.)
121
Mischt sich in jegliches Begebnis,
Vom ersten Bad bis zum Begräbnis,
Als wäre zwischen Bim und Baum
Das Leben ein verschollner Traum.
Aber das nur nebenbei. Du hast auf mein E-Mail von gestern
(noch) nicht geantwortet. Ich nehme nicht an, dass Dich meine
Argumente plattgewalzt haben. Das würde ich bedauern. Eine Replik würde mich schon freuen. Ohne Dialektik ist das Ganze doch
bloss masturbativ.
Bis dann also
Roman
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 31.08.2014 21:36
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Bin eben erst von einer Reise nach Wien zurück und habe Deine
E-Mails vom 30. und heute erst jetzt gelesen. Was soll ich sagen?
Sweet prince Hamlet mag Recht haben. Aber man könnte sich auch
fragen, wie er selbst wohl heute seine Stücke spielen würde; und
als Regisseur inszenierte? Da bin ich aber überfragt. Ich kenne die
Fachliteratur nicht. Möchte das auch nicht. Können wir uns darauf
einigen, dass wir uns das nächste Mal nicht in einem Theaterfoyer
sehen, sondern bei einem Abendessen im Restaurant „Bootshafen“
in Ballnach? Ich muss jetzt schlafen. Fliegen macht müde.
Schläfrig
Stewart
122
Von: Roman Artmann <[email protected]> 01.09.2014 10:23
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Einverstanden. Ich rufe Dich an. Weil ich’s aber nicht lassen kann,
hier noch pro domo ein kleiner Nachschlag zur gefl. Lektüre:
Ich hasse Regisseure, die kommen und sagen: „Ich habe für Hamlet noch keinen Einfall, ich weiss nicht, was ich aus dem Stück machen soll.“
Meine Antwort ist dann: Lesen Sie. Lesen Sie das Stück. Und inszenieren Sie, was da geschrieben steht. – Anstatt das Stück zu inszenieren, wollen halt viele nur sich selbst in Szene setzen.
Sie müssen unverständlich sein, denn sonst käme ja jeder schnell
dahinter, was für ein Scharlatan sich da in Szene gesetzt hat.
Man muss nicht nur gegen die Everdings vorgehen, sondern auch,
vor allem! Gegen die jungen Schwindler, die nur angeblich progressiven Theaterleute.
Na, von wem ist das? Nein, nicht von Maria Becker. Es ist von
Therese Giehse.
Ja ich hör‘ sie schon, meine Freunde vom Feujetong: Das sind
doch Ansichten von gestern, antiquiert und festgefahren, nicht auf
der Höhe des gegenwärtigen inszenatorischen Kanons.
Mag sein. Aber gestern ist nicht immer überholt, sondern nicht
selten Massstab. Ich gebe zu, ein Massstab, an dem ich mich festklammere.
So das war’s. Bleibe mir dennoch gewogen: Roman
123
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 01.09.2014 11:11
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Ja sicher, warum denn nicht? Ich antworte Dir später. Muss einen
Theaterprospekt texten.
Herzlich: Stewart
Von: Roman Artmann <[email protected]> 01.09.2014 12:23
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
In der Zwischenzeit hätte ich noch was für Dich. Da gibt es einen
Musikwissenschaftler an der Universität Zürich, einen Prof. Dr.
Laurenz Lütteken, der in der NZZ folgendes vorschlägt? Er sähe
gerne die Falstaff-Fuge künftig in einer Version für Marimbafon
und Vuvuzelas.
Seine Aufzählung von Regiertheater-Originalien ist übrigens für
diese Aberrationen kennzeichnend: Rheingold auf den Ölfeldern
Kaliforniens, als Umwelt-Katastrophen-Szenerie in Müllbergen oder
als Panoptikum aus Video, Clownerie und Geisterbahn. Mein Vorschlag wäre: Rheingold in einem Bankkundentresor und in der
tiefer gelegen Kanalisation spielen lassen oder, um beim Wasser zu
bleiben, in einem Firmen-Waschraum mit WC-Kolonnaden, wo dauernd die Türen auf und zuklappen und die Sicht frei wird auf das
thronende Personal.
Das käme dann dem Figaro von Augsburg im Personalraum nahe.
Warum nicht gleich im Scheffbüro hinter, unter und auf dem
Scheffpult mit Einlagen von Ursus und Nadeschkin. Da hätte man
doch wenigsten was zu lachen.
124
Das würde mir allerdings dann wieder vergehen, wenn ich den
Barbiere im Mafia-Milieu gesungen bekäme und die Manon auf dem
Flughafen.
Aber ich hätte da auch noch ein paar Ideen. Der Barbiere wird am
Fliessband einer Rasierklingenfabrik aufgeführt; und die Protagonisten müssten sich dauernd beim Rasieren schneiden, damit
der zeitgenössische Bedarf nach Blut- und Hodentheatralik befriedigt wird.
Und die Damen müssten sich beim Ariensingen die Beine rasieren, damit die erotischen Zwangsbedürfnisse gestillt werden könnten.
Ah ja, was die Manon betrifft, da fällt mir ein, wie wär‘s mal mit
einer Aufführung in einer Kaserne der Waffen-SS? Des Grieux als
reumütiger Hauptsturmführer und Lescaux als simpler Wehrmachtsgefreiter?
Herr Prof. Lütteken erwähnt übrigens berechtigt süffisant , wie
die explikatorischen Hilfsdienst-Interpreten dem ratlos novitätengeilen Publikum eine Art Beipackzettel mit Gebrauchsanweisungen
anbieten, damit man verstehen lernt, warum Junkie-Tristan sich
den Liebestrank in die Vene spritzt oder Lulu in einem ausgefallenen Sexklub pornografische Filme zeigt. Das sehe ich aber nicht so:
Eine Oper, die man erklären muss, ist doch vor allem was zum
Lachen, Mann. Nicht? Dann aber sicher was Trauriges.
Der satirisch inkubierte Professor legt dann noch kräftig nach
und erinnert uns an Rigoletto auf dem Planeten der Affen, Rinaldo
in der Hotelhalle, die Zauberflöte auf der Pflegestation.
Was wiederum mich verführen könnte: Rigoletto in einen 50erJahre-SBB-Wartesaal (Raucher), Rinaldo in eine Festung des Gotthardmassives und die Zauberflöte in eine Ziehharmonikafabrik zu
verlegen, von mir aus bei Matthias-Hohner AG in Trossingen oder
bei den VEB Klingenthaler Harmonikawerken. Spielt doch keine
Rolle wo.
125
Hauptsache das Publikum findet das halt schon noch originell,
und dem Spektakel mangelt es nicht an unendlicher Ödnis, Nacktheit, Blutrausch und Körpersäften aller Art, um noch einmal den
feschen Musikwissenschaftler zu zitieren.
Hauptsache die Szenen schockieren, stacheln auf und lassen uns
fassungslos zurück. Was kümmert uns dann im Angesicht des Bildergewitters und der visuellen Sekundär-Handlungsstränge der
Text, die Musik, die Entwicklung der Charaktere und der Handlung?
Da hilft dann alleweil nur noch eine konzertante Aufführung,
obschon auch sie nur eine Notlösung sein kann und nicht aufs
Innigste zu wünschen ist, auch wenn sie immer noch besser ist, als
die Götterdämmerung auf einem lecken Panzerkreuzer.
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 01.09.2014 19:22
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Du kannst es nicht lassen. Dennoch sollte man Deine Inszenierungsvorschläge unbedingt weiterleiten. Jetzt aber etwas anderes,
ernsthafteres.
Kennst Du Jürgen Nonselns? Das ist ein Intendant eines Dreispartenhauses. Der sagt in einem Interview, ich weiss nicht mehr
wo, dass man akzeptieren müsse, dass Zuschauerreaktionen, wie
etwa bei Bieito, aufgewühlt bis ablehnend sein können.
Aber in seiner Stadt sei ein solcher Diskurs eben noch möglich.
Und dies, obschon in unserem Land die grösseren Denkplattformen
fehlen würden – so wie es sie in Deutschland gebe. Er vermisse den
intellektuellen Diskurs über Theaterästhetik in unserem Land, gerade weil die Qualität hier hoch sei.
Zudem beobachte er, dass das Theater auch auf politischer Ebene
an Akzeptanz verliere – wie die anderen Künste auch. Theater wür126
de in der politischen Auseinandersetzung im Parlament weniger als
öffentlicher Debattierort und dafür als Teil einer Kreativwirtschaft
gesehen.
Und dann bringt er den entscheidenden Satz: Theater brauche es
als gesellschaftliches Korrektiv. Die spannendste Kunst sei stets
aus Widerstand heraus entstanden. Könne Theater eine Gesellschaft nicht mehr aus ihren Angeln heben, ziehe man ihm die Zähne.
Das ist doch sicher nicht ganz falsch? Was denkst Du?
Have a nice evening
Stewart
Von: Roman Artmann <[email protected]> 02.09.2014 12:34
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Doch. Da ist einiges falsch. Oder es fliesst träge unreflektiert im
grossen Hauptstrom. Und ja, von diesem Nonselns habe ich gehört.
Grundsätzlich vorab dies: Diese Intendanten nehmen sich und das
Theater a priori immer wichtiger als sie tatsächlich sind, siehe Giese. Man hat immer das Gefühl, dass der Autor eines Theaterstückes
nur Vorwände zu liefern hat, ein Stück endgültig in tausend Fetzen
zerreissen zu dürfen.
Und alle gleichen sich in dem, was sie verbreiten; wie wichtig sie
für die Kultur seien, dass ohne Theater der totale Armageddon
drohe, und dass man akzeptieren müsse, dass Zuschauerreaktionen ein Massstab für die Qualität der Inszenierung seien, also je
ablehnender desto besser? Und dann diese Anmassung: In unserem
Land fehlten die grösseren Denkplattformen, so wie es sie in
127
Deutschland gäbe. Klar doch: Ich würde an seiner Stelle den intellektuellen Diskurs über Theaterästhetik in unserem Land auch
tadeln, wenn dieser sich anmasst, die gegenwärtige Aufführungspraxis zu kritisieren oder zu veralbern.
Aber sich dann wundern, wenn die degoutanten Blut und HodenAufführungen, diese Rotz und Kotz-Darbietungen – ich wiederhole
mich, ich weiss – auch auf der politischen Ebene an Akzeptanz
verlieren.
Ja, da sind sie dann unüberbietbar, die Regisseure. Und wer sorgt
denn eigentlich dafür, dass man überhaupt verächtlich von Kreativwirtschaft zu sprechen beginnt? Doch nicht wir.
Aber das alles lässt mich kalt. Denn ich muss mir das ja nicht anschauen. Hingegen würde ich mir gerne noch die Generalaussage
von Nonselns vorknöpfen, nämlich den Satz, Theater brauche es
als gesellschaftliches Korrektiv. Ja sicher, auch wenn die Korrekturanstalt eher einer Korrektionsanstalt gleicht und wenig bewirkt.
Und eines ist sicher: Theater braucht auch das gesellschaftliche
Korrektiv vor allem dann, wenn es nur noch auf den Umwegen der
Kommentarwirtschaft verstanden oder auch gar nicht mehr verstanden wird.
Und wie man die unstimmige Metapher und Stilblüte von einem
Mann der Sprache verstehen will, dass Theater die Gesellschaft aus
ihren Angeln heben sollte, und wenn das nicht mehr gelänge, man
ihm die Zähne ziehen würde, diese Meisterleistung an Metaphorik
möchte ich nicht weiterverfolgen. Aber sie ist bezeichnend für
Leute, die vor allem sich, statt die Stücke in Szene setzen.
In einem Punkt hat Nonselns aber vollkommen Recht: Die spannendste Kunst ist stets aus Widerstand heraus entstanden. Genau:
Aus dem Widerstand, für den ich hier stehe und nicht anders kann.
So, jetzt mag ich nicht mehr und grüsse herzlich
Roman
128
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 03.09.2014 21:22
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Roman
Auch wenn Du nicht mehr magst, das hier muss ich Dir einfach
noch sagen.
Zuerst aber nach wie vor sei Dank Dir für Deinen spitzmunteren
und offenbar finalen Kommentar, den ich mit Vergnügen, aber
natürlich zuweilen auch mit blanker Entrüstung ob Deines vorbeugenden Generalurteils verinnerlicht habe.
Würde ich Dich nicht besser kennen, wäre meine Diagnose eindeutig: Unheilbare und hochgradige Allergie gegen jegliche Art von
Theater, Intendanten, Regisseuren und womöglich auch von Darstellern, vermutlich ausgelöst durch ein wahrhaft traumatisches
Erlebnis, das allein schon beim blossen Gedanken an Theater solcherlei Reaktionen und Ausschläge hervorruft.
Von: Roman Artmann <[email protected]> 03.09.2014 23:11
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Du hast es getroffen. Die Allergie lässt sich in der Tat auf fundamentale Erlebnisse und Auslöser zurückführen, die ich vor Jahrzehnten im Theater an der Hinkelsteinwiese erdulden musste.
Dort hat noch vor dem Beginn des Stückes ein Schauspieler
schleppend penetrant aus dem Telefonbuch vorgelesen. Danach
hat derselbe scheppernde Steine in einem Aluminium-Teekessel
herumgeschüttelt.
Meine Ohren haben revoltiert und später wohl auch meine generelle Lust auf Theater. Soviel zu meiner Phobie, oder wie Du es
nennst, zu meinem traumatischen Erlebnis.
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Nun denke nicht, das alleine sei’s gewesen. Da kommt aber noch
einiges hinzu. Nicht zuletzt die affektierten Schauschppieler und
die schnoddrigen und ungepflegten Regisseure, die dauernd modisch den unbestimmten Artikel verschlucken und aussehen, als
seien sie soeben der städtischen Müllabfuhr entstiegen.
Nicht einmal richtig reden könnense. Und dann eben diese Gemümmel und mundfaule Gemurmel der Akteure, das jetzt auch vor
den Tatorten nicht mehr Halt macht: „Hasduneahnungwassonemkriminellenalleseinfäld.“
Mir fällt nichts mehr ein.
Gute Nacht
Roman
Von: Stewart N. Brann <[email protected]> 07.09.2014 08:32
An: Roman Artmann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Guten Morgen Roman
Also wusst‘ ich‘s doch. Sowas prägt. Ich muss Dir aber sagen.
Solche Teekessel-Absurditäten sind heute nicht mehr üblich. Was
nicht bedeuten soll, dass es keine anderen mehr gäbe. Ich begrüsse
auch nicht alles, was da auf den Bühnen hingeschmiert wird. Zum
Beispiel diese krude Tendenz, nackt und schreiend herumzuirren.
Vor kurzem hat ein Zuschauer auf die Bühne gerufen, wann denn
die da oben sich endlich wieder mal was anziehen wollen?
Dennoch bin ich, im Gegensatz zu Dir, da nicht zuletzt deshalb
etwas versöhnlicher, weil es im profanen Welttheater meines Erachtens noch um ein Vielfaches schlimmer zu und her geht. Und während auf der Bühne wenigstens nur gespielt wird, spielen die
selbsternannten oder oft sogar staatlich legitimierten Regisseure
menschlicher Schicksale ihre triste Rolle mit blutigem Ernst und
ohne Rücksicht auf reale Verluste.
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So gesehen ist, jedenfalls aus durchaus angebrachter pessimistischer Sicht, selbst himmelschreiendes Theater nichts Anderes als
ein Spiegelbild himmelschreiender menschlicher Unmenschlichkeit.
Das eine rechtfertigt natürlich das Andere in keiner Weise, ist lediglich eine weitere Feststellung in unserem Disput um Macht und
Ohnmacht, egal ob im gespielten oder realen Theater. Betroffen
macht beides, und Du hast natürlich Recht, dem einen vorsorglich
fernzubleiben. Dem anderen können wir ja nicht ausweichen, nur
von Glück reden, wenn gerade anderswo "gespielt" wird.
Mit trotzdem unbeugsam heiteren Sonntagsgrüssen: Stewart
Von: Roman Artmann <[email protected]> 03.09.2014 23:11
An: Stewart N. Brann
Einspruch, Euer Ehren! - oder: hier irrt Artmann
Lieber Stewart
Ja, ja, mit allem d’accord. Aber muss man denn immer hysterisch
verrenkt auf den Bühnen herumzirkeln? Im sogenannten realen
Leben geschehen viele Ungerechtigkeiten und Unmenschlichkeiten
still, unbemerkt und mit jenem leisen Zynismus, der auf den dickflorigen Teppichetagen üblich zu sein scheint..
Mein Theaterideal ist immer noch eine unheimlich hinterhältig
dahinschleichende, weniger vom Gestus, sondern fast nur vom
Wort her gesteuerte Inszenierung von Schnitzlers „Professor Bernhardi“ im ORF in den Achtzigerjahren gesendet.
So etwas habe ich nie wieder gesehen. Du wirst sagen. Kunststück, wenn der nicht mehr ins Theater geht. Noch einmal. Lesen
genügt mir. Jetzt gerade Faust II.
Stets und für immer herzlich
Roman
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Schreiben über das Schreiben?
Kleiner Vorspann
Ursina (16) lebt in G. besuchte aber die Bezirksschule in S.. Sie
schreibt fürs Leben gerne. „Ich schreibe, also bin ich“, heisst ihr
Lebensmotto.
Erzähl mir, wieso du Cop geworden bist.
Genau kann ich das nicht sagen. Aber ich stelle mir gern vor, dass
ein Cop, ein guter Cop, jemand ist, der ein bisschen die Welt verstehen will.
Oh dann stimmt es also, was man über Detective Neil Hockaday
sagt. Du bist kein pflegeleichter Mann.
Die Variante für Autoren:
Erzähl mir, wieso du Autor geworden bist.
Genau kann ich das nicht sagen. Aber ich stelle mir gern vor,
dass ein Autor, ein guter Autor, jemand ist, der ein bisschen die
Welt, (also die Menschen und sich selber) verstehen will.
Oh dann stimmt es also, was man über dich sagt. Du bist kein
pflegeleichter Mann.
Martin Walser: In den Tagebüchern vermittelt er die Einsicht, dass
erst Schreiben dem Leben einen Sinn gibt.
Und kennen Sie diesen Verlegerwitz? Ein Dichter telefoniert mit
seinem Verleger: "Ich soll also mehr Feuer in meine Gedichte legen?"
– "Nein, nein, umgekehrt - die Gedichte ins Feuer!"
133
Der Hauptteil
Nein, das nicht, nie im Leben, dachte er, als ihm wieder einmal
die Geschichten ausgegangen waren. Schreiben über das Schreiben?
Also das würde er nie. Das haben andere bis zum Abwinken getan,
in ihren Büchern und in endlos hyperventilierten Talkshows.
Aber dann konnte er es doch nicht lassen. Er stellte sich vor, er
würde interviewt und mit der handelsüblichen Allerweltsfrage
phantasie-infizierter Journalisten konfrontiert, was ihm denn
Schreiben bedeute?
Aber genau das hatte er sich selten ernsthaft überlegt. Eigentlich
gar nie. Er wusste es schlicht nicht. Auch jetzt nicht, als er im Tief
seiner Geschichtenlosigkeit auf diese verflucht unfruchtbare Metaebene auswich, was er kalt erkannte und jetzt im vollen Bewusstsein der temporären Leere nur zu offensichtlich tat.
Das bekannte Zitat von Gottfried Benn über das Gedicht hätte er
gerne mit resignierter Pose und mit weltschmerz-überschatteter
Mimik bestätigt.
Benn sagt nämlich: Schreiben generell ist die unbesoldete Arbeit
des Geistes, des Fonds perdu, eine Art Aktion am Sandsack, einseitig,
ergebnislos und ohne Partner –: evoë!
Er liess es bleiben, denn die Aktion am Sandsack war eher so etwas wie Schattenboxen: Mit blanken Fäusten aus dem Vollen ins
Leere. Oder von einer Leere in die nächste. Aber das war noch deprimierender als die Frage: Warum schreiben Sie? Ach herrjeh:
Warum schrieb er? Er wusste es im Grunde genommen nicht. Er
tat‘s einfach.
Er hatte es schon immer getan, schon in der 4. Primarklasse, eine
Eisenbahngeschichte: Lawinenniedergang auf die Geleise der Gotthardlinie, ein Junge rettet den Schnellzug nach Chiasso, in Schulschrift und damals schon mit einer grässlichen Klaue.
Seit vielen Jahren schrieb er jetzt mindestens eine Seite pro Tag.
Wenn das dann erledigt und gar nicht mal so übel war, dann glaubte er, sich wähnen zu dürfen, wie wahrscheinlich Prometheus sich
134
am eigenen Feuer oder etwas blasphemischer, wie Gott sich am
siebten Tag gefühlt haben müsste. Aber weder die Welt noch die
meisten Bücher sind in sieben Tagen entstanden.
Im Gegenteil: Die Metapher von der Schreib-Galeere hatte schon
was für sich. Aber dennoch: Das dichte, das satte Gefühl nach einer
wohlgeratenen Seite. Das war schon was!
Und der Vergleich mit dem Sandsack ist eigentlich schon richtig,
dachte er ab und zu dann doch wieder. Und noch etwas fragte er
sich: Für wen genau schrieb er eigentlich. Er wusste er nicht. Nicht
einmal, ob überhaupt für jemanden.
Da war er auf Vermutungen angewiesen. Niemand sagte ihm ins
Gesicht. „Dein Zeug ist Mist. Ist ja ganz nett? Aber muss das sein?“
Das wäre doch zumindest deutbar gewesen. Aber wie soll man
etwas deuten, wenn gar nichts zurückkommt. Das Schweigen
ringsum schafft Zweifel. Man kann die verstehen, welche sagen,
lieber ein Verriss als gar nichts. Dann bist du wenigstens noch im
Gespräch, wenn sie auch nicht mit dir persönlich reden.
Einige sagen dann vielleicht etwas an Männerabenden oder an
Geburtstags- und Cocktail-Partys nach ein paar Gläsern:
„Was sagst du zum neuen Buch von dem?“
„Schreibt der Bücher? Hat der nichts Besseres zu tun?“
Die Gastgeberin sagt dann vielleicht konziliant, sie wolle es mit
niemandem verderben, und auch nicht Gegenstand einer Satire
werden. Das tönt dann aus ihr vielleicht so:
„Nun ja, ich habe es zu lesen versucht. Nach ein paar Seiten habe
ich es aber weggelegt. Keine Zeit.“
„Du? Keine Zeit?“
„Ja doch, das Buch ist sehr komplex und – der Champagner ist
dort hinten, Claire – entschuldige, wo war ich? Wie gesagt, es ist
sehr kompakt geschrieben, sozusagen ein Konzentrat und nicht
immer leicht zu verstehen. Also du brauchst manchmal sogar ein
Lexikon.“
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„Ein Lexikon, ich bitte dich. Also, das ist mir zu anstrengend. Ich
will mich unterhalten. Darauf haben wir doch noch ein Recht, findest du nicht?“
„Ja, sicher doch, und dann dieser vertrackte Stil, und wie gesagt
diese Fremdwörter, die keiner so recht versteht.“
Kulturschnallen, dachte er. Im Grunde genommen ist es doch
ganz einfach. Es ist die alte Leier: Schreibt man für ein breites Publikum, dann droht Niveauverlust. Wählt man einen Stil mit Niveau,
droht Publikumsverlust. Das hat doch schon der alte Dr. Samuel
Johnson abgehandelt:
Man hat den Stil dieser Essays beanstandet und geltend gemacht,
er sei verschachtelt und geschraubt und wimmle von altertümlichen
Ausdrücken und Fremdwörtern. Man muss in der Tat zugeben, dass
der Satzbau oft (…) umständlich ist.
Das war seiner auch. Nicht immer. Aber die Vermutung war ja
nicht ganz zu widerlegen, dass ein Satz mit mehr als zwei Relativpronomen und erst noch im Konjunktiv Präteritum für viele Konsumenten eine unüberwindbare geistige Panzersperre darstellen
könnte, die Defätismus und Rückzug empfähle/empföhle, wenn
seine Sätze zu pompös, zu barock daherkämen.
Wobei das Begriffspaar „Defätismus und Rückzug“ ihn nebenbei
daran erinnerte, dass er schon immer angenommen hatte, die beiden Wörter würden die zerebrale Verfassung der Mehrheit spiegeln.
Und dann diese angeblichen Fremdwörter, die er jederzeit verteidigte, und von denen er mit Sicherheit wusste, dass sie nicht selten
präziser sind als ihre deutschen Äquivalente.
Er kannte das. Warum sollte er die Intelligenz der Leser schonen?
War es denn nicht beleidigend, ein tieferes Niveau vorauszusetzen
und auf diesem tiefer gesetzten Plafond zu schreiben? Ein Text ist
doch keine Sportversion eines VW Golf.
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Und überhaupt. Der Leser soll sich gefälligst ein bisschen anstrengen. Für die Leserschaft gilt doch in bescheidenerem Umfang,
wohl auch, was Arno Schmidt zu diesem Problem schreibt:
(…) Die Oberflächenbehandlung muss eine andere sein als aus der
klassischen Literatur gewohnt, (so) dass die Leserschaft zwangsläufig immer klein bleiben wird. Das ist ja auch bei klassischer Literatur die Regel.
Aber ist es nicht eher so, wie es Orlando, der Inhaber des VITAFORCE Trainingscenters, mal auf seine unverwechselbar direkte Art
gesagt hat?
„Schreibe du deine Bücher! Was kümmern dich die Kommentare.
Freu‘ dich an den guten und scheiss auf die negativen. Auf diese
Ignoranten bist du doch gar nicht angewiesen.“
Das war zwar tröstlich, aber eben doch nicht ganz wahr. Kritik
war schon immer eine Frage der Flughöhe, der aggressiven Verfassung und des Eigendünkels des Kritikers.
Aber auch das kannte er. Zudem waren ihm einige seiner Leser
und vor allem Leserinnen persönlich bekannt. Eine hatte ihm mal
geschrieben:
„Ich habe sofort darin zu lesen begonnen. Bin bereits auf Seite 58
und habe heute meinen Haushalt völlig vernachlässigt.“
Bis jetzt war das eindeutig eine der freundlichsten Elogen gewesen. Noch ein paar solche Reaktionen, und er würde sich eine Zugehfrau und ein Köchin anschaffen können, die seinen Haushalt
nicht vernachlässigen würden, wie er es leider manchmal tat.
Genau besehen hatte er allerdings keinen Grund, sich zu beklagen. Einige wenige Leser hatten ihm geschrieben, meistens kurze
Perioden, als wollten sie ihm einen schnellen Gefallen erweisen.
Und diese Rückmeldungen waren doch sehr ermunternd. Er hatte
sie natürlich gesammelt. Sie reichten von „skurril, witzig, amüsant,
wortgewaltig wütend, geschliffen, pointiert, sophistiziert, spannend bis zu unterhaltend“.
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Ein Freund hatte sogar gelobt:
„Bin begeistert, Wortspiele, Wortreichtum, bin etliche Male in
schallendes Gelächter ausgebrochen, ein tolles Vergnügen.“
Aber was denken die, welche ihm nicht schreiben, die sich zurückhalten, sei es aus Pietät, aus Gleichgültigkeit, aus Neid, oder
weil sie ohnehin nichts von ihm hielten?
Er versuchte gar nicht erst, das einzuordnen oder sich zu grämen, weil Schreiben letzten Endes doch ein sehr einsames und
unsicheres Unterfangen ist.
Ja, das war es, sagte er sich fast jede Woche einmal, wenn er wieder einmal versucht war, alles hinzuschmeissen und sich ab sofort
dem dolce far niente hinzugeben: Eine gut gepolsterte Liege, Gin
and Tonic, Zigarre und ein treues Weib, dass ihm den Morgenkaffe
ans Bett trug.
Kein Mensch wartet sehnsüchtig auf deine Bücher, sagte er sich
immer wieder. Und schon gar nicht jene 50 Prozent, die gar nicht
oder sehr wenig lesen, und wenn, dann höchstens Gratiszeitungen
für Simpel; oder Schlagzeilen, die grösser sind als fünf Zentimeter.
Wenn er also das alles resümierte und dabei berücksichtige, dass
sogar ehemalige Fussballer Bücher schreiben, dann hätte er gute
Gründe gehabt, mit der Zeilenschinderei Schluss zu machen.
Er tat es nicht, denn Schreiben bedeutete ihm, ob falsch oder
richtig, war unerheblich, aber immerhin noch, als Mensch wahrgenommen zu werden und somit zu existieren.
Er tat es, obschon er sich auch nur als Sprotte im grossen
Schwarm der Schreibsardinen herumflitzen sah. Und was hätte er
denn sonst tun sollen? Essiggurkengläser sammeln? Extremsportlich krepieren? Planespotting betreiben oder Autographen ersteigern, oder sonst irgendwelches nihilistisches Zeug?
Um sich Mut zu machen, wiederholte er gerne, was Christian Haller in seinem Essay Feldtheorie des Ichs festgestellt hatte:
Denn selbst hinter den nur noch mathematisch zu formulierenden
Theorien (Er meint die elektronischen, virtuellen Räume mittels
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Quantenphysik wie ICT und TV) steht der Mensch da, der Einzelne
mit seinen stets ähnlich bleibenden Fähigkeiten, der versucht, die
unlesbare Welt, in die er sich hineingestellt sieht, lesbar zu machen:
dieser fortgesetzte, dichterische Versuch.
Gerne hätte er auch von sich sagen wollen, was Bernd Rauschenbach als sein Biograph dem Mann aus Bargfeld einräumt, dass er
nämlich gerne souverän genug wäre, ein Subjekt zu sein, das seine
Feder in Salzsäure und den Leser in Schrecknis taucht, sich einen
Dreck um das kümmert, was das Publikum will und er als Intellektueller (nur) für Intellektuelle schreibt.
Aber das klang schon etwas sehr anmassend. Also liess er es
bleiben und ging einfach von folgender Prämisse aus: Also wenn
schon Literatur, dann aber auch ein paar Gedanken über die Funktion von Literatur.
Und da hielt er es einmal mehr mit Dr. Johnson. Der soll laut
Boswell mal über Literatur von sich gegeben haben, dass sie uns in
den Stand versetzen sollte, das Leben mehr zu geniessen oder es
besser zu ertragen. Dem wollte er nichts mehr beifügen.
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