Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat?
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Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat?
Michael N. Ebertz1 Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat? Herausforderungen von Professionalität und Konfessionalität I. Zu den eigentümlichsten Beobachtungen der letzten 50 Jahre zählt die Tatsache einer (seit den 1960er und 1970er Jahren registrierbaren) gewaltigen Stellen-Expansion der verbandlichen Caritas in Deutschland, und zwar trotz einer Jahrzehnte währenden Kirchenkrise. Inzwischen ist das gesamte Netzwerk der verbandlichen Caritas in Deutschland auf mehr als 500 000 Hauptamtliche expandiert, und ‚die Caritas‘ ist dabei zum größten nicht-staatlichen Arbeitgeber, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa geworden. Diese Expansion geht ja in den letzten Jahrzehnten keineswegs mit einer gesellschaftlichen Aufwertung von Kirche und christlicher Konfession einher, sondern hängt - gegenläufig zu Prozessen der gesellschaftlichen Entkonfessionalisierung und Entkirchlichung2 – mit der enormen Expansion des Sozialstaats zusammen. Dessen Sozialleistungsumfang hat sich seit 1970 (von 84,2 Mrd.; 1990: 338,3) auf heute (2009) 754,0 Mrd. € verneunfacht, und daran hat die verbandliche Caritas wie alle anderen Wohlfahrtsverbände - bis zum Ende der 1980er Jahre über das sozialrechtlich garantierte Subsidiaritätsprinzip - partizipiert. Die Expansion der verbandlichen Caritas ist nicht zuletzt Ausdruck einer Steuerung kirchlichen Organisationsgeschehens durch sozialstaatliche Interessen und damit Ergebnis von Produkt- und Branchenkonjunkturen, die – angesichts gleichzeitig massiv rückläufiger kirchenbezogener Religiosität - kaum auf die religiöse Motivation der Kirchenmitglieder zurück zu führen ist; es sei denn man unterstellt, die Kirchenmitglieder gehen zwar sonntags nicht mehr in die Kirche, sondern engagieren sich werktags bei der Caritas. Während die Zahl der Hauptamtlichen bei der verbandlichen Caritas wuchs, ging der Anteil der Ordensleute unter ihnen (auf ca. 1%) zurück, ebenso der Anteil der Ehrenamtlichen unter den Helfenden, die Zahl der Priesteramtskandidaten, Kirchenmitgliedern und der der Anteil Anteil der der Gottesdienstbesucher Kirchenmitglieder an den unter Einwohnern den in Deutschland selbst, der heute auf katholischer Seite nicht einmal mehr ein Drittel (31%) ausmacht. Die Austrittszahlen des hinter uns liegenden Jahres dürften den 1992 erreichten Spitzenwert übersteigen und auf katholischer Seite zum ersten Mal in der Zählungsgeschichte die Zahl der Austritte auf der evangelischen Seite überspringen; und auch in qualitativer Hinsicht zeichnet sich eine Verschiebung der Ausgetretenen ab – es sind nicht mehr nur die unter 40jährigen gut ausgebildeten und vergleichsweise Prof. für Soziologie, Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Freiburg ([email protected]) 2 S. Michael N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt. Zum Wandel der Sozialgestalt von Kirche, Frankfurt 1998, bes. 25ff, 69ff. 1 1 einkommensstarken Männer, die im letzten Jahr ihre Bindung an unsere Kirche gekappt haben. II. Bereits die genannte Expansion der verbandlichen Caritas trotz anhaltender und komplexer – und sich inzwischen zuspitzender - Kirchenkrise3 lässt ja die Frage entstehen, ob die damit zum Ausdruck kommende Verflechtung mit dem Sozialstaat den kirchlichen Wohlfahrtsverband nicht unter eine fremde Logik, in die Logik der Wohlfahrtspolitik, und damit zumindest in das Risiko zwingt, den Eigensinn von ‚Caritas‘ zu verletzen, ja auf Dauer zu gefährden. Ist, wo ‚Caritas‘ drauf steht, nur noch ‚Wohlfahrt‘ drin? „Haben wir nicht zu oft“, fragte einmal Bischof Franz Kamphaus, „nur deswegen etwas gebaut oder Stellen eingerichtet, weil es Zuschüsse dafür gibt?“4 kommt nicht von ungefähr, dass sich seit den 1980er Jahren die Es Fragen nach dem ‚Proprium‘ – nach den Besonderheiten und Eigentümlichkeiten - von organisierter Caritas und Diakonie mehren.5 Auch in empirischen Fallstudien in konfessionellen Einrichtungen wurde wörtlich festgestellt, „dass die vor Ort Verantwortlichen häufig ... keinen besonderen Wert auf eine konfessionelle Orientierung legen“.6 Erinnern wir uns: Spätestens seit den 1980er Jahren sah sich der Sozialstaat mit grundsätzlichen Anfragen an seine Funktionalität und Legitimität konfrontiert und geriet 3 Vgl. Michael N. Ebertz, Kirchenkrise – Sendungskrise. In: Impulse für die Pastoral. Sonderausgabe 2010, 18-24. – Ders., Quo vadis Kirche? Wie kann die katholische Kirche wieder glaubwürdig werden? Vortrag auf dem Studiennachmittag für Religionslehrkräfte am 13. Juni 2010. Herausgegeben vom Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim. Hildesheim 2010. – Kirchenkrise: Zur Lage der Kirche in Deutschland. In: unitas. Zeitschrift des Verbandes der wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine UNITAS 150/2010, 258-262. 4 Franz Kamphaus, „Die Wahrheit in Liebe tun“. Zum Stellenwert der Caritas in der Gemeinde, in: Handbuch der Caritasarbeit, Paderborn 1986, 513-526, hier 519f. 5 Vgl. Kamphaus, a. a. O., 515f, 521; Dieter Emeis, Was ist ein christliches Krankenhaus?, in: Stimmen der Zeit 196/1978, 117-126; Basina M. Kloos, Führen statt verwalten – Erwartungen aus der Sicht des Krankenhausträgers, in: Krankenhaus Umschau 58/1989, 802-804; Heinrich Pompey, Das Profil der Caritas und die Identität ihrer Mitarbeiter/-innen, in: Deutscher Caritasverband (Hg.), caritas ’93: Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 1992, 11-26; Rolf Zerfaß, Das Proprium der Caritas als Herausforderung an die Träger, in: ebd., 27-40; Johannes Busch, Leitung verantworten, in: Gerhard Röckle (Hg.), Diakonische Kirche, Neukirchen-Vluyn 1996, 86105; Hejo Manderscheid, Modernisierung kirchlicher Caritas. Wohin geht der Weg heute?, in: Werner Krämer/Karl Gabriel/ Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild für kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck, Münster 2000, 154-185; Thomas Schmidt, Qualitätskriterien auf dem Prüfstand. Zur Spiritualität kirchlicher Krankenhäuser, in: Krankendienst 78/2005, H. 5, 97-101. 6 Roland Rausch, Das Selbstverständnis freigemeinnütziger Krankenhäuser und gesellschaftliche Erwartungen. Ergebnisse einer Studie, in: Siegfried Eichhorn/Heinz Lampert (Hg.), Ziele und Aufgaben der freigemeinnützigen Krankenhäuser, Gerlingen 1988, 87-133, hier 104f. 2 unter Veränderungsdruck.7 Voraussetzungen zu Der beruhen Wohlfahrtsstaat - etwa was schien die nicht Ordnung nur der auf veralteten Geschlechter, die Geburtenhäufigkeit, die demographische Entwicklung und die Stabilität der Familie und des Arbeitsmarktes angeht. Der Wohlfahrtsstaat schien zunehmend seine eigenen Probleme zu erzeugen. Er zeigte ungeplante Folgen, die seine eigenen Voraussetzungen untergraben. Statt soziale Probleme zu lösen, wurde er selbst zum Problem. So standen seit den 1980er Jahren in je unterschiedlicher Ausprägung und Intensität alle europäischen Länder vor der Herausforderung, „ihre bisherigen wohlfahrtsstaatlichen Arrangements reformieren, umbauen und neu erfinden zu müssen“.8 Bis heute hat Wohlfahrtspolitik seitdem “immer weniger den politischen Kampf um die Verbesserung der Lebenslage bestimmter benachteiligter Personengruppen“ zum Thema, sondern in ihr geht es um das “Einwirken des Staates auf die bereits etablierten sozialpolitischen Einrichtungen im Sinne einer bestimmten Steuerungsintention, z.B. der Kostenersparnis oder der besseren Koordination zwischen verschiedenen Einrichtungen“.9 Diese so genannte „Sozialpolitik zweiter Ordnung“, welche die „Sozialpolitik erster Ordnung“ überlagerte und schließlich ablöste, hat auch in Deutschland zu Schüben der marktorientierten Entstaatlichung und dabei zu einer veränderten Form staatlicher Politiksteuerung, auch und gerade der Wohlfahrtsverbände und damit eben auch der verbandlichen Caritas als dem größten Wohlfahrtsverband geführt.10 Die „Sozialpolitik zweiter Ordnung“ hat nicht zuletzt auch zu einer politisch initiierten Überlagerung des rechtlich verankerten Subsidiaritätsprinzips durch die Einführung von Wirtschaftlichkeits- bzw. Wettbewerbsprinzipien geführt.11 Die Wohlfahrtsverbände einschließlich der verbandlichen Caritas wurden damit gewissermaßen von der Heimat aus Staatsnähe in die Fremde des Marktes verwiesen. Der Trend geht damit vom Status Vgl. statt vieler: Fritz Boll/Hubertus Junge (Hg.), Der Sozialstaat in der Krise, Freiburg 1984. 8 Karl Gabriel, Vorwort, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 46/2005, 7-13, hier 7. 7 9 Franz-Xaver Kaufmann, Art. Sozialpolitik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik, Freiburg/Basel/Wien 1993, 998-1005, hier: 1000; s. zu den politischen Hintergründen auch Michael N. Ebertz, Soziale Arbeit unter Ökonomisierungsdruck, in: Caritas 98 (1997), 105-111. 10 Vgl. Werner Schönig/Raphael L´Hoest (Hg.): Sozialstaat wohin? Umbau, Abbau oder Ausbau der Sozialen Sicherung, Darmstadt 1996; Horst Baier, Gesundheit als Lebensqualität. Folgen für Staat, Markt und Medizin, Osnabrück 1997. 11 S. auch Thomas Klie/Utz Kramer (Hg.), Soziale Pflegeversicherung, Baden-Baden 1998; Ulrich A. Birk u. a., Bundessozialhilfegesetz, Baden-Baden 1998; Reinhard Wiesner (Hg.), SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, München 2000. Während durch das Pflegeversicherungsgesetz und durch die BSHG-Novelle freigemeinnützige mit privatgewerblichen Leistungsanbietern gleichgestellt und günstige Preis-LeistungsVerhältnisse zum entscheidenden Kriterium eines Vertragsabschlusses erhoben wurden, setzt hierfür das SGB VIII (KJHG) auf Qualitäts(entwicklungs)vereinbarungen. 3 zum Kontrakt: “Nicht mehr der rechtliche Status und die entsprechende ordnungspolitische Privilegierung einer Organisation (ist) entscheidend, sondern die Frage, ob zwischen dem zuständigen öffentlichen Träger und dem jeweiligen freien Leistungsanbieter eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität von Leistungen sowie die zu erstattenden Kosten geschlossen wurde“.12 Damit wurde eine Verschiebung, eine Tendenz zur Entflechtung der Staat-Verbände-Relation, die für die Phase einer Sozialpolitik erster Wohlfahrtspflege Ordnung typisch war, d.h. eine Deprivilegierung der Freien eingeleitet.13 Auch durch die wachsende europäische Integration werden die deutschen Wohlfahrtsverbände in eine neue Fremdheit gestoßen.14 Die Zwischenstellung zwischen Staat und Markt, in die nun auch die verbandliche Caritas geraten war, zwingt die caritativen Einrichtungen, sich nach mehreren Seiten hin zu orientieren und zu legitimieren: nach der Seite der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen und der Politik, derzeit zunehmend auch nach der Seite der Wirtschaft, sowie nach der Seite der kirchlichen Institution mit ihrer theologischen Programmatik und ihren eigenen arbeitsrechtlichen Anforderungen. Professionelles Wirtschaften freilich ist rationales Wirtschaften, und „rationale Wirtschaft ist“, wie schon Max Weber nüchtern pointierte, „sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der Menschen untereinander auf dem Markt entstehen ... Geld ist das Abstrakteste und ‚Unpersönlichste‘, was es im Menschenleben gibt“. Und Max Weber weiter: Je stärker das professionelle Wirtschaftsleben seinen „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ folgt, desto „brüderlichkeitsfeindlicher“, desto „unzugänglicher“ wird es „jeglicher denkbaren Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“, als deren Hochform Weber das Ideal der Caritas – „der Liebe zum Leidenden als solchen, der Nächstenliebe, Menschenliebe Holger Backhaus-Maul, Wohlfahrtsverbände als korporative Akteure, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 26-27 (2000), 22-30, hier: 29. 13 Anhänger der Theorie des Neokorporatismus tendieren dazu, diese Transformation auf das Schlagwort ´vom Neokorporatismus zum Postkorporatismus´ zu bringen; so etwa Stefan Pabst, Interessenvermittlung im Wandel. Wohlfahrtsverbände und Staat im Postkorporatismus, in: Arbeitskreis Nonprofit-Organisationen, Nonprofit-Organisationen im Wandel. Ende der Besonderheiten oder Besonderheiten ohne Ende?, Frankfurt 1998, 177-197, was freilich problematisch ist, wenn man glaubt erkennen zu können, dass „für die bestehenden Wohlfahrtsverbändestrukturen [...] die Grundvoraussetzungen für ein neokorporatistisch geprägtes Verhandlungs- und Austauschsystem selbst in Ansätzen kaum festzustellen sind“, so Berthold Broll, Steuerung kirchlicher Wohlfahrtspflege durch die verfassten Kirchen, Gütersloh 1999, 371, s. auch 74ff. 14 So fällt etwa in Schweden „das weitgehende Fehlen religiös-caritativer Organisationen auf. Man wird daher aus schwedischer Perspektive wenig Verständnis für das ‚deutsche Modell‘ erwarten dürfen“; und „sollte die Rolle von Trägern der freien Wohlfahrtspflege Gegenstand von Auseinandersetzungen auf der europäischen Ebene werden, so scheint die Position Frankreichs schwer voraussehbar. Einerseits wurde deren Bedeutung in jüngster Zeit entdeckt, andererseits ist nicht auszuschließen, dass die große Bedeutung kirchlicher Verbände in Deutschland den Widerstand laizistischer Kreise gegen ein kirchliches Engagement im Bereich der sozialen Dienste aktiviert“, so Kaufmann, Wohlfahrtspflege, 61, 65. 12 4 und schließlich: der Feindesliebe“ - wertet.15 Und mit der illusionslosen Sprache Max Webers lässt sich ergänzen: Auch „alle Politik muss ... nur um so brüderlichkeitsfremder gelten, je ‚sachlicher‘ und ‚berechnender‘ ... sie ist“, auch als „Sozialpolitik“, sofern sie „unvermeidlich stets wieder an der sachlichen Pragmatik des Staatsräson: an dem ... Selbstzweck der Erhaltung Gewaltenteilung“ orientiert ist. (oder 16 Umgestaltung) der inneren und äußeren So stellt sich heute die Frage – nun weitaus verschärfter – neu, ob der kirchliche Wohlfahrtsverband nicht unter eine weitere fremde Logik, in die Logik der Wohlfahrtsproduktion, und damit in das Risiko gerät, den Eigensinn von ‚Caritas‘ zu verletzen, ja auf Dauer zu gefährden. Muss im Zuge der Ökonomisierung und neuen staatlichen Steuerung der Wohlfahrtsverbände die theologische und geistliche Prägekraft der kirchlichen Wohlfahrtsverbände zurückgehen? Zehrt die Brüderlichkeitsfeindschaft der Mächte der Ökonomie und der Politik die Substanz der Caritas auf? Auf evangelisch-theologischer Seite ist in zugespitzter Weise im Blick auf das Diakonische Werk gesagt worden, indem dieses seine Dienste im Auftrag staatlicher Stellen leiste, sei es grundsätzlich nicht mehr an denjenigen orientiert, denen keiner hilft und die deswegen der barmherzigen Liebe Gottes und in deren Beantwortung des ‚Dienstes am Nächsten‘ bedürften. Die quasi-verstaatlichten kirchlichen Wohlfahrtsverbände leisteten dieser Deutung zufolge keine Diakonie und wirkten damit auch nicht am Selbstvollzug der Kirche mit.17 Andererseits gelten die kirchlichen Wohlfahrtsverbände gesellschaftlich immer noch als die für viele Menschen akzeptierteste Ausdrucksform der Kirchen. „Während Kult und Konfession“, so schreibt der Franziskaner Udo Schmälzle, „… scheinbar an Bedeutung verlieren und religiöse Praxis immer mehr zur Privatsache wird, sind die caritativen Dienstleistungen der Kirchen weiterhin gefragt. Christinnen und Christen, denen Liturgie und sakramentale Praxis fremd geworden sind, erkennen an Diakonie und Caritas, dass die Kirchen noch zu etwas nützlich sind“.18 Selbst von profanen Forschern über die Wohlfahrtsverbände wird angesichts ihrer Konkurrenz mit privatwirtschaftlich agierenden Einrichtungen und angesichts des öffentlichen Drucks auf die Kosten der von ihnen erbrachten Leistungen die Frage gestellt, „was von dem besonderen Anliegen der freien Wohlfahrtspflege übrig bleibt, wenn eigene Dienstleistungsstrukturen betriebswirtschaftlich durchmodernisiert werden“ und „ob eigene inhaltliche Wertorientierungen unten den Bedingungen von Professionalisierung Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, Tübingen 1947, 543ff. 16 Ebd., 547f. 17 Steffen Fließa, Arme habt ihr Allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie, Göttingen 2003. 18 Udo Schmälzle, Muss die Kirche einen ‚Sozialbauch‘ abspecken? Überlegungen zum Stellenwert der Diakonie im gegenwärtigen Selbstvollzug der Kirche, in: rhs – Religionsunterricht an höheren Schulen 41/1998, 7-12, hier 7. 15 5 und Qualitätsmanagement überhaupt noch gefragt sind“.19 In einem Forschungsprojekt „Vom Wohlfahrtssektor zur Sozialwirtschaft“ wurde erstmalig erhoben, welche Konsequenzen mit der neuen Situation verbunden sind. Da heißt es, dass die Maßnahmen der neuen sozialstaatlichen Steuerung darauf zielten, „durch Wettbewerb und Ökonomisierung Leistungsreserven bei den Leistungserbringern (Anbietern) freizusetzen und die Kosten der sozialen Dienstleistungserbringung insgesamt zu senken.“ Und die Autoren schreiben weiter, dass das „zentrale Problem dieser Modernisierung“ nun Strukturveränderungen darin nur die bestehe, „dass Voraussetzungen die für jeweils die nächste geschaffenen Runde der Modernisierung darstellen und dass damit ein Prozess in Gang gesetzt ist, der schlichtweg keine Zielbestimmung mehr erhält“.20 Unter dem Preisdruck differenzierten die Wohlfahrtsverbände ihr Leistungsspektrum aus, dispensierten sich von den eigenen Identitätsmerkmalen als Solidaritätsstifter und als Anwalt der Interessen derer, die ihre Interessen nicht selbst vertreten könnten. Diese advokatorische Interessenvertretung werde zunehmend ebenso an die Verbandsspitze delegiert wie das Ausflaggen der Werteorientierung und die Integration verschiedener Geschäftsfelder und Leistungsbereiche, wenn diese nicht ausgegründet werden, um aus dem für die Wohlfahrtsverbände geltenden Tarifvertragssystem auszubrechen, die Personalkosten zu senken und die auferlegten Regelsätze beachten zu können.21 III. Fragt man sich angesichts dieser Problemskizze, wie die verbandliche Caritas solchen Prozessen entgegensteuern könnte, um ihre eigene Identität nicht nur als Dienstleister, sondern auch als Sozialanwalt und Solidaritätsstifter sicher zustellen, und zwar nicht nur als Wohlfahrtsproduzent, sondern auch und primär als ‚Caritas‘, dann wird man zunächst zumindest andeuten müssen, um was es bei diesem christlichen Ethos eigentlich geht. Es hat, wie Ernst Troeltsch einmal formulierte,22 einen „metaphysisch begründetet, durch keinen Naturalismus und keinen Pessimismus zerstörbaren Persönlichkeits- und Individualitätsgedanken“, der „durch Willens- und Wesenseinigung mit Gott“ erst entsteht und darin seinen Halt hat und ohne diesen Halt sich verflüchtigt. Dieses christliche Ethos ist getragen von dem Gedanken „einer allen zugewandten und alle in sich vereinigenden göttlichen Liebe“, die niemanden – selbst den Nicht-Christen Thomas Olk, Gegenwart gestalten, um Zukunft zu gewinnen! – Verbandspolitische Strategien für die freie Wohlfahrtspflege, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit 50/1999, 123-130, hier 123. 20 Heinz-Jürgen Dahme u.a., Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft, Berlin 2005. 21 Vgl. Heinz-Jürgen Dahme u.a., Soziale Dienste im Spannungsfeld von Sozialwirtschaft und Sozialpolitik, in: Soziale Arbeit 53/2004, 362-368, bes. 366. 22 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1911, 978f. 19 6 und Nicht-Gläubigen - ausschließt und mit der Unvollkommenheit der Welt rechnet. Dieses christliche Ethos stellt zugleich „allem sozialen Leben und Streben ein Ziel vor Augen, das über allen Relativitäten des irdischen Lebens hinausliegt“, wobei es in diesem Gedanken des Gottesreiches „über die Welt erhebt, ohne die Welt zu verneinen“. Zur Wahrnehmung ihrer sozialanwaltlichen Interessenvertretungsfunktion und ihres politischen Einflusses gegenüber den zunehmend utilitaristisch begründeten Auslesepraktiken, gegen das sich das christliche Ethos richtet, wird sich die verbandliche Caritas in Zukunft stärker zivilgesellschaftlich verankern müssen. Politischer Einflussnahme setzt voraus, die wahlpolitischen Interessen der Politiker durch ein zivilgesellschaftlich glaubhaft formatiertes Drohpotential aktivieren zu können. Organisierte Caritas muss zur sozialen Bewegung werden. Dies würde heißen, die Selbstorganisation und Selbstkontrolle durch persönliche demokratische Vereins- und Projektmitgliedschaft zu fördern, die Solidarität und Partizipation auch im öffentlichen Raum erlebbar macht. Dieses demokratische Element hatte bereits Lorenz Werthmann immer wieder herausgestellt, wenn er den Caritasverband als „eine freie Vereinigung von Caritasfreunden und –vertretern“ propagierte. Angesichts einer wachsenden Schere zwischen (steigenden) Zahlen von Hauptamtlichen einerseits und (fallenden) Zahlen persönlicher Mitglieder, aber auch ehrenamtlich Engagierter andererseits darf die organisierte Caritas die Erosion dieser demokratischen und ihre Eigenständigkeit sichernden Dynamik nicht fördern, sondern muss diese im Gegenteil neu erfinden. Im Blick auf seine Identität als Solidaritätsstifter hätte ein Caritasverband zunächst immer solche Entscheidungen über die Erbringung von Dienstleistungen zu vermeiden, die gegen die Weisheiten der katholischen Soziallehre, also etwa gegen das Solidaritätsprinzip und auch das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Umgekehrt müsste es immer um die subsidiäre Unterstützung primärer Solidaritäten gehen, zumal diese nicht selten kostengünstiger sind. Es gibt durchaus Caritasverbände, die z. B. ihre Beteiligung beim ‚Essen auf Rädern’ verweigern und statt dessen - in Kooperation mit Gastwirten, also Akteuren des Marktes - Projekte gemeinsamen Mittagessens in Stadtteilen initiieren, womit die soziale Dimension des Essens wieder gewonnen, essen wieder zur Geselligkeit wurde, wobei man auch jemandem direkt sagen kann, ob es geschmeckt hat oder nicht wo essen aber auch zur Gelegenheit wurde, sich noch auf andere Weise füreinander unentgeltlich nützlich zu machen, also Solidarität zu schöpfen. Es gibt Caritasverbände, die alleinerziehende Mütter nicht von ihren Kindern trennen, sondern diese primäre Solidarität ebenso zusammenhalten wie sie die kollegiale Solidarität unter diesen Müttern auf der Basis der Ähnlichkeit ihrer Lebenslage stärken, indem sie für diese Mütter mit 7 ihren Kindern Wohnraum zur Verfügung stellen – Solidarität also im Sinne eines „Wir für uns“ gestärkt und geschöpft werden kann. Nach innen steht die verbandliche Caritas vor der Herausforderung, wie es ihr unter den komplexen Strukturbedingungen der modernen Sozial- und Gesundheitspolitik und -ökonomie, aber auch des eigensinnigen professionellen Eigenverständnisses der Sozialund Gesundheitsberufe gelingen kann, die religiöse Programmatik und die professionellen wie administrativen Erwartungen in den Einrichtungen der verbandlichen Caritas zu vermitteln.23 Die verbandliche Caritas wird nur nach außen für Caritas Zeugnis abgeben können, wenn sie diese auch nach innen lebt und die Konfession zur Caritas mit der Profession der modernen Arbeitswelt zu vermitteln versteht. Sucht man, Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten einer solchen Vermittlungsleistung zu eruieren, lassen sich m. E. folgende Dimensionen unterscheiden: 1. Die Dimension der strukturellen Einbettung. Dementsprechend wird die religiös-theologische Programmatik dadurch vermittelt und die Einrichtungen mit ihren beruflichen und professionellen Handlungsabläufen sind dadurch als caritative bzw. diakonische ausweisbar, als sie z.B. finanziert oder mitfinanziert werden aus Kirchensteuern sowie kircheneigenes Spenden und Almosen von Kirchgängern, Arbeitssonderrecht gilt, Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden erfolgt24 oder kirchliche Räume (mit entsprechend frommem Wandschmuck) und kirchliches Personal (z. B. Ehrenamtlichen), kirchlicher Ämter (z. B. Diakone) und funktionaler Dienste der verfassten Kirche zum Einsatz kommen. Akzentuiert diese Dimension insbesondere Objektivationen, binnenkirchliche Koppelungen, sozusagen Äußerlichkeiten, setzt eine zweite Dimension gewissermaßen einen umgekehrten Akzent. Ich nenne sie: 2. Die Dimension der individuellen Motivation. Sie hat nämlich genau eine Interiorisierung, wenn nicht Intimisierung zum Charakteristikum. Die Vermittlung der Logik des Sozial- und Gesundheitssystems mit der religiösen Programmatik wird von den Organisationsstrukturen abgelöst und zur persönlichen Attitüde, wenn nicht zur Privatsache des Personals erklärt. Helfendes Handeln in organisierter Diakonie und Caritas sei demgemäß auch nicht als christliches Handeln ausweisbar, weil es auf professioneller Ebene keinen Unterschied zu caritativem bzw. diakonischem Handeln gäbe. Deshalb ist das christliche Vgl. Volkhard Krech, Religiöse Programmatik und diakonisches Handeln, in: Karl Gabriel (Hg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände, Berlin 2001, 91-105. 24 S. in diesem Zusammenhang auch das Impulspapier des DCV „Rolle und Beitrag der verbandlichen Caritas in den pastoralen Räumen“ vom 22.12. 2008. 23 8 Spezifikum kein Spezifikum der personalen Dienstleistung selbst, sondern verinnerlicht und privatisiert und wird allenfalls auf Anfrage expliziert. Es dürfte den Normalfall darstellen, setzt freilich eine durch christliche Überzeugungen geprägte private Lebensführung zumindest bei Teilen des Personals voraus, die teilweise auch Gegenstand der Grundordnung des kirchlichen Dienstes ist. 25 Die Grundordnung des kirchlichen Kirchenleitung sucht Arbeitsorganisationen Dienstes deshalb zu eine sichern, als hohe indem Instrument Flexibilität sie die der der religiöse verfassten kirchlichen Fixierung von Organisationsleistungen und Organisationsstrukturen vermeidet und statt dessen religiöse Minimalbestimmungen Arbeitsorganisation vornimmt. Als der Mitgliedsrolle Formalisierungen der der Kirche als diakonischen bzw. caritativen Leistungsrollen sind diese Paragraphen freilich auch formal und können letztlich den ‚Geist’, aus dem heraus die Hilfe geschieht, nicht wirklich kontrollieren. Deshalb muss die konkrete Praxis häufig gewissermaßen mit ‚Geistkonsensfiktionen’ einerseits und mit Blindheitsverabredungen andererseits auskommen. Zugleich kann auf dieser Dimension der individuellen Motivation die religiöse Programmatik flexibel mit nicht-religiösen Methoden und Konzepten der sozialen Berufe und Professionen verknüpft werden. Das katholische Konzept des „Zeugnisses ohne Worte“ (nach Evangelii Nuntiandi 1975) verschafft einer solchen Dimension sogar theologische Dignität. Benedikt XVI. hat in seiner ersten Enzyklika („Deus caritas est“) auch an dieses Konzept, wenn auch ohne expliziten Verweis auf jene Enzyklika Pauls VI., erinnert (Nr. 31c): „Wer im Namen der Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kirche aufzudrängen versuchen. Er weiß, dass die Liebe in ihrer Reinheit und Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns zur Liebe treibt. Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen. Er weiß, dass Gott Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8) und gerade dann gegenwärtig wird, wenn nichts als Liebe getan wird (...) Aufgabe der karitativen Organisationen der Kirche ist es, dieses Bewusstsein in ihren Vertretern zu kräftigen, so dass sie durch ihr Tun wie durch ihr Reden, ihr Schweigen, ihr Beispiel glaubwürdige Zeugen Christi werden“. Auffällig ist aber an diesem letzten Zitat: Die Dimension der individuellen Motivation wird vom derzeitigen Papst offensichtlich nicht als ausschließliches Identitätszeichen der Vermittlung von Konfessionalität und Professionalität präferiert. Vielmehr wird implizit auf eine weitere Vermittlungsdimension Bezug genommen, auf: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Erklärung der deutschen Bischöfe zum kirchlichen Dienst – Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse, 9. Auflage, Bonn 2003. 25 9 3. Die Dimension der symbolischen Integration. Dementsprechend soll der christliche Anspruch sich auch materialisieren, indem er – zumindest in bestimmten Situationen der sozialen Dienstleistungserbringung - verbalisiert wird und als integraler Teil eines theologischen Deutungssystems legitimiert (und verteidigt) sowie in seinem Eigensinn auch gegenüber anderen Deutungen unterschieden wird. Dieser Dimension liegt die Vorstellung einer Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz zu Grunde, die ohne besondere Beachtung der religiösen Dimension – der Dimension des Heils - verfehlt werden würde. So macht Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika auf den eschatologischen Horizont des christlichen Liebesgebotes aufmerksam, wodurch „die Liebe zum Maßstab für den endgültigen Menschenlebens wird“ und Entscheid über Wert oder Unwert eines „Gottes- und Nächstenliebe verschmelzen: Im Geringsten begegnen wir Jesus selbst, und in Jesus begegnen wir Gott“ (Nr. 15). Er erinnert damit (Nr. 25a; ) auch an ein Spezifikum der göttlichen Liebe, „die das ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort und die Sakramente - ein in seinen geschichtlichen Verwirklichungen oftmals heroisches Unterfangen - und seine Förderung und Entwicklung in den verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens und Wirkens“ (Nr. 19); „die den Menschen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und Heilung bringt, die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung. Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe ‚nur von Brot’ (Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3) — eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt“ (Nr. 28). Insofern ist „der Liebesdienst für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (Nr. 25a; vgl. 31). Eine weitere idealtypisch unterscheidbare Dimension, welche die religiöse Programmatik mit der beruflich-professionellen Praxis zu vermitteln sucht, nenne ich: 4. Die Dimension der interaktiven Gestaltung. Sie räumt der christlichen Motivation wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Beziehungsebene im Vollzug des Hilfehandelns, also auf der Dienstleistungsebene ein.26 So hält eine Studie über ein christliches Krankenhaus als Fazit bezüglich der Frage nach den Spielräumen von Träger und Leitung, um die spezifischen diakonischen Ziele zu erfüllen, fest, dass „die Qualität der Arbeit weithin von der menschlichen Vgl. Karl-Fritz Daiber, Diakonie und Identität. Studien zur diakonischen Praxis in der Volkskirche, Hannover 1988, 146ff. 26 10 Zuwendung und dem Gespräch mit den Patienten abhängt, das heißt von Arbeitsinhalten, die der diakonische Auftrag umfasst“.27 Dieses Verständnis des Hilfehandelns, das sich in „personaler Nächstenschaft“ verwirklicht, was auch viele Hilfesuchende erwarten, die eine konfessionelle Einrichtung aufsuchen, vollzieht sich auf dem Hintergrund der Unterscheidung von ‚Nähe statt Anonymität’, ‚Mensch statt Nummer’, ‚Bruder/Schwester statt Patient/Klient’. Auch Benedikt XVI. schreibt in seiner bereits zitierten Enzyklika (Deus caritas est, Nr. 42): „Wer zu Gott geht, geht nicht weg von den Menschen, sondern wird ihnen erst wirklich nahe“. Aber wird damit nicht implizit dem nichtchristlichen Hilfehandeln die Fähigkeit abgesprochen, personale Zuwendung zu praktizieren? Auf die ‚Fraternité’ hat der Christ kein Monopol mehr. 28 Besteht in der Logik dieser Dimension zudem nicht das Risiko, professionelle Distanz aufzugeben, die professionelle Sachlichkeit zu entgrenzen und die jeweiligen Kompetenzen zu überschreiten?29 Freilich unterscheidet sich diese Dimension von jener an zweiter Stelle genannten Vermittlungsdimension, indem es diakonisches und caritatives Hilfehandeln aus der Privatisierung zieht und nicht ausschließlich in der individuellen Motivation belässt. Eine fünfte Vermittlungsdimension ist damit noch nicht genannt, ich nenne sie 5. Die Dimension der religiös angeleiteten Methodik Eine solche von religiösen Vorstellungen angeleitete beratende, therapeutische und pflegerische Praxis ist z. B. in anthroposophischen Einrichtungen zu beobachten.30 Eine interessante Frage ist, ob die christliche Religion über vergleichbare direkte Anschlussmöglichkeiten und analoge Übersetzungsmöglichkeiten zur etwa beratenden, therapeutischen und pflegerischen Praxis verfügt, um spezifische Methoden zu entwickeln. Der Hamburger Arzt Georg Schiffner, Vorsitzender des bundesweit tätigen Verbandes ‚Christen im Gesundheitswesen’ beschäftigt sich seit Jahren mit der „Entwicklung einer christlichen Heilkunde, „die Kirche und Gesundheitswesen wieder stärker miteinander in Verbindung“ zu bringen versucht.31 Eine - wie ich meine zukunftsträchtige Vermittlungsdimension - nenne ich Gerta Scharffenorth/A. M. Klaus Müller (Hg.), Patienten-Orientierung als Aufgabe. Kritische Analyse der Krankhaussituation und notwendige Neuorientierung, Heidelberg 1990, 408. 28 Vgl. Hartmann Tyrell, Die christliche Brüderlichkeit. Semantische Kontinuitäten und Diskontinuitäten, in: Karl Gabriel/Aois Herlth/Klaus Peter Strohmeier (Hg.), Modernität und Solidarität. Für Franz-Xaver Kaufmann, Freiburg 1997, 189-212. 29 Vgl. Hans-Georg Ziebertz, Sozialarbeit und Diakonie, Weinheim 1993, 53. 30 Vgl. Krech, Programmatik, 103f. 31 BAVC info Ausgabe 2/2009. 27 11 6. Die Dimension der kommunitären caritativen Kultur. Dieser Dimension entsprechend, wird die theologische Programmatik als Sensorium dafür gesehen, Rat und Hilfe durch die rechtlich und rechnerisch wie fachlich markierten Systemgrenzen nicht reduzieren und blockieren zu lassen, und zugleich als Potential dafür, eine ‚kommunitäre‘ wie kommunikative - wertorientierte - Organisationskultur zur Entfaltung zu bringen, auch um der allseits beobachtbaren Privatisierung des Christlich-Religiösen auch und gerade innerhalb unserer christlichen Einrichtungen entgegenzuwirken und die Wertorientierung nicht allein auf die Motivationsebene der helfend Handelnden zu reduzieren. Zentral ist hier nicht die herrschaftliche Kontrolle des ‚dienstgemeinschaftlichen‘ Anspruchs des kirchlichen Arbeitsrechts, was nur dazu führte, dass engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter „gegenüber solchem Durchgriff von oben sich selbst abschotten und sich resignierend in ‚innere Kündigung’ zurückziehen.“ 32 In der organisierten Caritas gefährden die Kirchlichkeitskriterien „die Mitarbeiter in ihrer beruflichen und menschlichen Existenz, wenn sie dagegen verstoßen. Also wird das Thema Kirchlichkeit gemieden wie kein anderes Thema. Außer in frommen Reden, Ansprachen und Vorworten wird fast nicht darüber gesprochen. Einwirkliches Durchdringen der Einrichtung oder des Verbandes mit dieser spezifischen Spiritualität findet nicht statt“.33 Die Spannung zwischen konfessionellen und professionellen Rationalitätskriterien wäre nach der hier gemeinten Dimension „allenfalls zu vermitteln durch eine innere Führung, welche den Anspruch auf Dienstgemeinschaft nicht nach der Logik der Organisationsgesellschaft unter Kontrolle bringt, sondern sich dafür öffnet, durch Kommunikation Vertrauen zu schenken“; denn „Mitarbeiter, von denen Engagement, Sensibilität und Solidarität gefordert wird, sind anders zu führen als Arbeitnehmer, die nur in funktionalen Routinen zu kontrollieren sind. Wo jedoch die Leitung sich reduziert auf die Kontrolle von Regeln und Routinen, wird es ihr kaum gelingen, mittragendes und mitdenkendes Engagement zu akzeptieren und zu akzeptieren“.34 Zentral für diese Dimension einer kommunitären Kultur ist letztlich das Prinzip der personalen Ganzheitlichkeit, der Einheit von Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe 35 und der Eckart Pankoke, Subsidiäre Solidarität und freies Engagement. Zur ‚anderen’ Modernität der Wohlfahrtsverbände, in: Thomas Rauschenbach/Christoph Sachße/Thomas Olk (Hg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen, Frankfurt 1995, 54-83, hier 65. 33 Hejo Manderscheid, Modernisierung kirchlicher Caritas. Wohin geht der Weg heute?, in: Werner Krämer/Karl Gabriel/Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild für kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck, Münster 2000, 154-185, hier 167; Thomas Schmidt, Qualitätskriterien auf dem Prüfstand. Zur Spiritualität kirchlicher Krankenhäuser, in: Krankendienst 2005, H. 5, 97-101. 34 Pankoke, Solidarität, 65f. 35 Vgl. Heinrich Weber, Das Wesen der Caritas, Freiburg 1938, bes. 46ff. 32 12 wechselseitigen Erschließung, Durchdringung und Befruchtung von Verkündigung, Diakonie und Liturgie. Entscheidend ist deshalb, ob caritative bzw. diakonische Einrichtungen Strukturen vorhalten, die es erlauben, die organisierte Caritas als kommunitäre Angelegenheit zu reflektieren und zu erschließen, ohne dabei den professionellen Anspruch aufzugeben. Freilich wäre es zu bedenken, den Begriff der Dienstgemeinschaft auf das Arbeitsrecht zu beschränken und ihn der Sache nicht dem Begriff nach – ins Zentrum der Arbeit der Reflexion und Entwicklung einer christlichen Organisationskultur zu stellen. Den Begriff der Dienstgemeinschaft selbst würde ich hierfür schon wegen seiner offensichtlichen nationalsozialistischen Herkunft emeritieren. 7. Die Dimension der christlichen Weisheit. Schätze christlicher Weisheit liegen nicht nur in der katholischen Soziallehre verborgen, sondern auch in anderen Überlieferungen, etwa in der Benediktregel. Wie viele Mönchschriften erwähnt auch die Benediktsregel den Pförtner (des Klosters). Sie verlangt für ihn nicht nur ein reifes Lebensalter, sondern auch andere menschliche und geistliche Qualitäten. Er soll nicht draußen „herumschweifen“ und in der Lage sein, „Rede und Antwort zu stehen“. Der Pförtner soll stets anzutreffen sein und: „Aus Gottesfurcht gebe er in aller Freundlichkeit Antwort und mit Eile, da die Liebe ihn drängen muss“,36 den Fremden nicht so lange warten zu lassen (da er Christus selbst ist). Das zuletzt genannte Beispiel sollte freilich nur dafür stehen, dem ‚Grenzverkehr’ (z.B. Erstkontakt, Begrüßung von Klienten, Kunden und Personal; aber auch Entlassung, Abschied) in caritativen Einrichtungen empirisch hohe Aufmerksamkeit und seiner organisationskulturellen Gestaltung Priorität zu geben. Von hier aus lässt sich die Entwicklung einer diakonisch-caritativen Organisationskultur aufrollen und z. B. in weiteren Schritten vom ‚äußeren’ Grenzverkehr ein ‚innerer’ Grenzverkehr (z. B. zwischen verschiedenen Abteilungen und Hierarchieebenen) unterscheiden. Eine verbandliche Caritas, deren personelle, interaktive, organisationskulturelle und gesellschaftspolitische Verfassung bis auf periphere Differenzierungen „nichts anderes widerspiegelt als die Gesellschaft, wie sie überall anzutreffen ist, wäre kein Gewinn, weder für die praktische Bezeugung des Christentums in der Gesellschaft, noch für die gesellschaftspolitische Glaubwürdigkeit von Christen“ – und es ist zu vermuten, dass eine solche ‚Caritas‘ eher der „Selbstsäkularisierung des Christentums Vorschub leisten Die Benediktsregel, übersetzt und erklärt von Georg Holzherr, Zürich, Einsiedeln, Köln 1982, 311. 36 2 13 würde“.37 Zukünftiges Leitthema der Caritas auf verschiedenen Ebenen und der Caritaswissenschaft wird deshalb die Thematik der kreativen Vermittlung und Gestaltung der katholisch-christlichen Programmatik sein, wozu auch Eros – eine Leidenschaft der Caritas - nötig ist, an die Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas est“ erinnerte, weil Gott „ein Liebender mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe“ und insofern auch ein erotischer Gott ist: „Er liebt, und diese seine Liebe kann man durchaus als Eros bezeichnen, der freilich zugleich ganz Agape ist“ und „mit der Agape verschmilzt“ (Nr. 10).38 Es muss der verbandlichen Caritas letztlich auch darum gehen, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe zu sichern, die in dem Ausdruck Wohlfahrt nicht zur Geltung kommt – Wohlfahrt, die ja auch auf Kosten der Auslese andere denkbar ist. Tatsächlich braucht die Welt „keine Verdoppelung der Hoffnungslosigkeit durch Religion; sie braucht und sucht ... das Gegengewicht, die Sprengkraft gelebter Hoffnung. Und was wir ihr schulden, ist dies: das Defizit an anschaulich gelebter Hoffnung auszugleichen“.39 Die verbandliche Caritas schuldet der Welt nicht Wohlfahrt, sondern Caritas, und zur Caritas soll sie die Welt mit ganzer Leidenschaft – mit ‚Eros‘ - animieren. David Seeber, Caritas in Staat und Gesellschaft, in: DCV (Hg.), Not sehen und handeln. Caritas, Freiburg 1996, 187-199, hier 195. 38 Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 171, herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006. 39 Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland, Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976, 101. 37 14