Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat?

Transcription

Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat?
Michael N. Ebertz1
Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat?
Herausforderungen von Professionalität und Konfessionalität
I.
Zu den eigentümlichsten Beobachtungen der letzten 50 Jahre zählt die Tatsache einer
(seit den 1960er und 1970er Jahren registrierbaren) gewaltigen Stellen-Expansion der
verbandlichen Caritas in Deutschland, und zwar trotz einer Jahrzehnte währenden
Kirchenkrise. Inzwischen ist das gesamte Netzwerk der verbandlichen Caritas in
Deutschland auf mehr als 500 000 Hauptamtliche expandiert, und ‚die Caritas‘ ist dabei
zum größten nicht-staatlichen Arbeitgeber, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz
Europa geworden. Diese Expansion geht ja in den letzten Jahrzehnten keineswegs mit
einer gesellschaftlichen Aufwertung von Kirche und christlicher Konfession einher,
sondern hängt - gegenläufig zu Prozessen der gesellschaftlichen Entkonfessionalisierung
und Entkirchlichung2 – mit der enormen Expansion des Sozialstaats zusammen. Dessen
Sozialleistungsumfang hat sich seit 1970 (von 84,2 Mrd.; 1990: 338,3) auf heute (2009)
754,0 Mrd. € verneunfacht, und daran hat die verbandliche Caritas wie alle anderen
Wohlfahrtsverbände - bis zum Ende der 1980er Jahre über das sozialrechtlich garantierte
Subsidiaritätsprinzip - partizipiert. Die Expansion der verbandlichen Caritas ist nicht
zuletzt
Ausdruck
einer
Steuerung
kirchlichen
Organisationsgeschehens
durch
sozialstaatliche Interessen und damit Ergebnis von Produkt- und Branchenkonjunkturen,
die – angesichts gleichzeitig massiv rückläufiger kirchenbezogener Religiosität - kaum auf
die religiöse Motivation der Kirchenmitglieder zurück zu führen ist; es sei denn man
unterstellt, die Kirchenmitglieder gehen zwar sonntags nicht mehr in die Kirche, sondern
engagieren sich werktags bei der Caritas. Während die Zahl der Hauptamtlichen bei der
verbandlichen Caritas wuchs, ging der Anteil der Ordensleute unter ihnen (auf ca. 1%)
zurück, ebenso der Anteil der Ehrenamtlichen unter den Helfenden, die Zahl der
Priesteramtskandidaten,
Kirchenmitgliedern
und
der
der
Anteil
Anteil
der
der
Gottesdienstbesucher
Kirchenmitglieder
an
den
unter
Einwohnern
den
in
Deutschland selbst, der heute auf katholischer Seite nicht einmal mehr ein Drittel (31%)
ausmacht. Die Austrittszahlen des hinter uns liegenden Jahres dürften den 1992
erreichten Spitzenwert übersteigen und auf katholischer Seite zum ersten Mal in der
Zählungsgeschichte die Zahl der Austritte auf der evangelischen Seite überspringen; und
auch in qualitativer Hinsicht zeichnet sich eine Verschiebung der Ausgetretenen ab – es
sind nicht mehr nur die unter 40jährigen gut ausgebildeten und vergleichsweise
Prof. für Soziologie, Sozialpolitik, Freie Wohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit an
der Katholischen Hochschule Freiburg ([email protected])
2
S. Michael N. Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt. Zum Wandel der Sozialgestalt von
Kirche, Frankfurt 1998, bes. 25ff, 69ff.
1
1
einkommensstarken Männer, die im letzten Jahr ihre Bindung an unsere Kirche gekappt
haben.
II.
Bereits die genannte Expansion der verbandlichen Caritas trotz anhaltender und
komplexer – und sich inzwischen zuspitzender - Kirchenkrise3 lässt ja die Frage
entstehen, ob die damit zum Ausdruck kommende Verflechtung mit dem Sozialstaat den
kirchlichen Wohlfahrtsverband
nicht unter eine fremde Logik, in die Logik der
Wohlfahrtspolitik, und damit zumindest in das Risiko zwingt, den Eigensinn von ‚Caritas‘
zu verletzen, ja auf Dauer zu gefährden. Ist, wo ‚Caritas‘ drauf steht, nur noch
‚Wohlfahrt‘ drin? „Haben wir nicht zu oft“, fragte einmal Bischof Franz Kamphaus, „nur
deswegen etwas gebaut oder Stellen eingerichtet, weil es Zuschüsse dafür gibt?“4
kommt nicht von ungefähr, dass sich seit den 1980er Jahren die
Es
Fragen nach dem
‚Proprium‘ – nach den Besonderheiten und Eigentümlichkeiten - von organisierter Caritas
und Diakonie mehren.5 Auch in empirischen Fallstudien in konfessionellen Einrichtungen
wurde wörtlich festgestellt, „dass die vor Ort Verantwortlichen häufig ... keinen
besonderen Wert auf eine konfessionelle Orientierung legen“.6
Erinnern wir uns: Spätestens seit den 1980er Jahren sah sich der Sozialstaat mit
grundsätzlichen Anfragen an seine Funktionalität und Legitimität konfrontiert und geriet
3
Vgl. Michael N. Ebertz, Kirchenkrise – Sendungskrise. In: Impulse für die Pastoral.
Sonderausgabe 2010, 18-24. – Ders., Quo vadis Kirche? Wie kann die katholische Kirche
wieder glaubwürdig werden? Vortrag auf dem Studiennachmittag für Religionslehrkräfte
am 13. Juni 2010. Herausgegeben vom Bischöflichen Generalvikariat Hildesheim.
Hildesheim 2010. – Kirchenkrise: Zur Lage der Kirche in Deutschland. In: unitas.
Zeitschrift des Verbandes der wissenschaftlichen katholischen Studentenvereine UNITAS
150/2010, 258-262.
4
Franz Kamphaus, „Die Wahrheit in Liebe tun“. Zum Stellenwert der Caritas in der
Gemeinde, in: Handbuch der Caritasarbeit, Paderborn 1986, 513-526, hier 519f.
5
Vgl. Kamphaus, a. a. O., 515f, 521; Dieter Emeis, Was ist ein christliches
Krankenhaus?, in: Stimmen der Zeit 196/1978, 117-126; Basina M. Kloos, Führen statt
verwalten – Erwartungen aus der Sicht des Krankenhausträgers, in: Krankenhaus
Umschau 58/1989, 802-804; Heinrich Pompey, Das Profil der Caritas und die Identität
ihrer Mitarbeiter/-innen, in: Deutscher Caritasverband (Hg.), caritas ’93: Jahrbuch des
Deutschen Caritasverbandes, Freiburg 1992, 11-26; Rolf Zerfaß, Das Proprium der
Caritas als Herausforderung an die Träger, in: ebd., 27-40; Johannes Busch, Leitung
verantworten, in: Gerhard Röckle (Hg.), Diakonische Kirche, Neukirchen-Vluyn 1996, 86105; Hejo Manderscheid, Modernisierung kirchlicher Caritas. Wohin geht der Weg heute?,
in: Werner Krämer/Karl Gabriel/ Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild für
kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck, Münster 2000,
154-185; Thomas Schmidt, Qualitätskriterien auf dem Prüfstand. Zur Spiritualität
kirchlicher Krankenhäuser, in: Krankendienst 78/2005, H. 5, 97-101.
6
Roland Rausch, Das Selbstverständnis freigemeinnütziger Krankenhäuser und
gesellschaftliche Erwartungen. Ergebnisse einer Studie, in: Siegfried Eichhorn/Heinz
Lampert (Hg.), Ziele und Aufgaben der freigemeinnützigen Krankenhäuser, Gerlingen
1988, 87-133, hier 104f.
2
unter
Veränderungsdruck.7
Voraussetzungen
zu
Der
beruhen
Wohlfahrtsstaat
-
etwa
was
schien
die
nicht
Ordnung
nur
der
auf
veralteten
Geschlechter,
die
Geburtenhäufigkeit, die demographische Entwicklung und die Stabilität der Familie und
des Arbeitsmarktes angeht. Der Wohlfahrtsstaat schien zunehmend seine eigenen
Probleme zu erzeugen. Er zeigte ungeplante Folgen, die seine eigenen Voraussetzungen
untergraben. Statt soziale Probleme zu lösen, wurde er selbst zum Problem. So standen
seit den 1980er Jahren in je unterschiedlicher
Ausprägung und Intensität alle
europäischen Länder vor der Herausforderung, „ihre bisherigen wohlfahrtsstaatlichen
Arrangements reformieren, umbauen und neu erfinden zu müssen“.8 Bis heute hat
Wohlfahrtspolitik seitdem “immer weniger den politischen Kampf um die Verbesserung
der Lebenslage bestimmter benachteiligter Personengruppen“ zum Thema, sondern in ihr
geht es um das “Einwirken des Staates auf die bereits etablierten sozialpolitischen
Einrichtungen im Sinne einer bestimmten Steuerungsintention, z.B. der Kostenersparnis
oder der besseren Koordination zwischen verschiedenen Einrichtungen“.9 Diese so
genannte „Sozialpolitik zweiter Ordnung“, welche die „Sozialpolitik erster Ordnung“
überlagerte
und
schließlich
ablöste,
hat
auch
in
Deutschland
zu
Schüben
der
marktorientierten Entstaatlichung und dabei zu einer veränderten Form staatlicher
Politiksteuerung, auch und gerade der Wohlfahrtsverbände und damit eben auch der
verbandlichen Caritas als dem größten Wohlfahrtsverband geführt.10
Die „Sozialpolitik zweiter Ordnung“ hat nicht zuletzt auch zu einer politisch initiierten
Überlagerung des rechtlich verankerten Subsidiaritätsprinzips durch die Einführung von
Wirtschaftlichkeits-
bzw.
Wettbewerbsprinzipien
geführt.11
Die
Wohlfahrtsverbände
einschließlich der verbandlichen Caritas wurden damit gewissermaßen von der Heimat
aus Staatsnähe in die Fremde des Marktes verwiesen. Der Trend geht damit vom Status
Vgl. statt vieler: Fritz Boll/Hubertus Junge (Hg.), Der Sozialstaat in der Krise, Freiburg
1984.
8
Karl Gabriel, Vorwort, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 46/2005, 7-13,
hier 7.
7
9
Franz-Xaver Kaufmann, Art. Sozialpolitik, in: Lexikon der Wirtschaftsethik,
Freiburg/Basel/Wien 1993, 998-1005, hier: 1000; s. zu den politischen Hintergründen
auch Michael N. Ebertz, Soziale Arbeit unter Ökonomisierungsdruck, in: Caritas 98
(1997), 105-111.
10
Vgl. Werner Schönig/Raphael L´Hoest (Hg.): Sozialstaat wohin? Umbau, Abbau oder
Ausbau der Sozialen Sicherung, Darmstadt 1996; Horst Baier, Gesundheit als
Lebensqualität. Folgen für Staat, Markt und Medizin, Osnabrück 1997.
11
S. auch Thomas Klie/Utz Kramer (Hg.), Soziale Pflegeversicherung, Baden-Baden 1998;
Ulrich A. Birk u. a., Bundessozialhilfegesetz, Baden-Baden 1998; Reinhard Wiesner (Hg.),
SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe, München 2000. Während durch das
Pflegeversicherungsgesetz und durch die BSHG-Novelle freigemeinnützige mit
privatgewerblichen Leistungsanbietern gleichgestellt und günstige Preis-LeistungsVerhältnisse zum entscheidenden Kriterium eines Vertragsabschlusses erhoben wurden,
setzt hierfür das SGB VIII (KJHG) auf Qualitäts(entwicklungs)vereinbarungen.
3
zum
Kontrakt:
“Nicht
mehr
der
rechtliche
Status
und
die
entsprechende
ordnungspolitische Privilegierung einer Organisation (ist) entscheidend, sondern die
Frage, ob zwischen dem zuständigen öffentlichen Träger und dem jeweiligen freien
Leistungsanbieter eine Vereinbarung über Inhalt, Umfang und Qualität von Leistungen
sowie die zu erstattenden Kosten geschlossen wurde“.12 Damit wurde eine Verschiebung,
eine Tendenz zur Entflechtung der Staat-Verbände-Relation, die für die Phase einer
Sozialpolitik
erster
Wohlfahrtspflege
Ordnung
typisch
war,
d.h.
eine
Deprivilegierung
der
Freien
eingeleitet.13 Auch durch die wachsende europäische Integration
werden die deutschen Wohlfahrtsverbände in eine neue Fremdheit gestoßen.14
Die Zwischenstellung zwischen Staat und Markt, in die nun auch die verbandliche Caritas
geraten war, zwingt die caritativen Einrichtungen, sich nach mehreren Seiten hin zu
orientieren und zu legitimieren: nach der Seite der sozialstaatlichen Rahmenbedingungen
und der Politik, derzeit zunehmend auch nach der Seite der Wirtschaft, sowie nach der
Seite der kirchlichen Institution mit ihrer theologischen Programmatik und ihren eigenen
arbeitsrechtlichen Anforderungen. Professionelles Wirtschaften freilich ist rationales
Wirtschaften, und „rationale Wirtschaft ist“, wie schon Max Weber nüchtern pointierte,
„sachlicher Betrieb. Orientiert ist sie an Geldpreisen, die im Interessenkampf der
Menschen untereinander auf dem Markt entstehen ... Geld ist das Abstrakteste und
‚Unpersönlichste‘, was es im Menschenleben gibt“. Und Max Weber weiter: Je stärker das
professionelle Wirtschaftsleben seinen „immanenten Eigengesetzlichkeiten“ folgt, desto
„brüderlichkeitsfeindlicher“,
desto
„unzugänglicher“
wird
es
„jeglicher
denkbaren
Beziehung zu einer religiösen Brüderlichkeitsethik“, als deren Hochform Weber das Ideal
der Caritas – „der Liebe zum Leidenden als solchen, der Nächstenliebe, Menschenliebe
Holger Backhaus-Maul, Wohlfahrtsverbände als korporative Akteure, in: Aus Politik und
Zeitgeschichte B 26-27 (2000), 22-30, hier: 29.
13
Anhänger der Theorie des Neokorporatismus tendieren dazu, diese Transformation auf
das Schlagwort ´vom Neokorporatismus zum Postkorporatismus´ zu bringen; so etwa
Stefan Pabst, Interessenvermittlung im Wandel. Wohlfahrtsverbände und Staat im
Postkorporatismus, in: Arbeitskreis Nonprofit-Organisationen, Nonprofit-Organisationen
im Wandel. Ende der Besonderheiten oder Besonderheiten ohne Ende?, Frankfurt 1998,
177-197, was freilich problematisch ist, wenn man glaubt erkennen zu können, dass „für
die bestehenden Wohlfahrtsverbändestrukturen [...] die Grundvoraussetzungen für ein
neokorporatistisch geprägtes Verhandlungs- und Austauschsystem selbst in Ansätzen
kaum festzustellen sind“, so Berthold Broll, Steuerung kirchlicher Wohlfahrtspflege durch
die verfassten Kirchen, Gütersloh 1999, 371, s. auch 74ff.
14
So fällt etwa in Schweden „das weitgehende Fehlen religiös-caritativer Organisationen
auf. Man wird daher aus schwedischer Perspektive wenig Verständnis für das ‚deutsche
Modell‘ erwarten dürfen“; und „sollte die Rolle von Trägern der freien Wohlfahrtspflege
Gegenstand von Auseinandersetzungen auf der europäischen Ebene werden, so scheint
die Position Frankreichs schwer voraussehbar. Einerseits wurde deren Bedeutung in
jüngster Zeit entdeckt, andererseits ist nicht auszuschließen, dass die große Bedeutung
kirchlicher Verbände in Deutschland den Widerstand laizistischer Kreise gegen ein
kirchliches Engagement im Bereich der sozialen Dienste aktiviert“, so Kaufmann,
Wohlfahrtspflege, 61, 65.
12
4
und schließlich: der Feindesliebe“ - wertet.15 Und mit der illusionslosen Sprache Max
Webers lässt sich ergänzen: Auch „alle Politik muss ... nur um so brüderlichkeitsfremder
gelten, je ‚sachlicher‘ und ‚berechnender‘ ... sie ist“, auch als „Sozialpolitik“, sofern sie
„unvermeidlich stets wieder an der sachlichen Pragmatik des Staatsräson: an dem ...
Selbstzweck
der
Erhaltung
Gewaltenteilung“ orientiert ist.
(oder
16
Umgestaltung)
der
inneren
und
äußeren
So stellt sich heute die Frage – nun weitaus verschärfter
– neu, ob der kirchliche Wohlfahrtsverband nicht unter eine weitere fremde Logik, in die
Logik der Wohlfahrtsproduktion, und damit in das Risiko gerät, den Eigensinn von
‚Caritas‘ zu verletzen, ja auf Dauer zu gefährden. Muss im Zuge der Ökonomisierung und
neuen staatlichen Steuerung der Wohlfahrtsverbände die theologische und geistliche
Prägekraft
der
kirchlichen
Wohlfahrtsverbände
zurückgehen?
Zehrt
die
Brüderlichkeitsfeindschaft der Mächte der Ökonomie und der Politik die Substanz der
Caritas auf? Auf evangelisch-theologischer Seite ist in zugespitzter Weise im Blick auf das
Diakonische Werk gesagt worden, indem dieses seine Dienste im Auftrag staatlicher
Stellen leiste, sei es grundsätzlich nicht mehr an denjenigen orientiert, denen keiner hilft
und die deswegen der barmherzigen Liebe Gottes und in deren Beantwortung des
‚Dienstes
am
Nächsten‘
bedürften.
Die
quasi-verstaatlichten
kirchlichen
Wohlfahrtsverbände leisteten dieser Deutung zufolge keine Diakonie und wirkten damit
auch nicht am Selbstvollzug der Kirche mit.17 Andererseits gelten die kirchlichen
Wohlfahrtsverbände gesellschaftlich immer noch als die für viele Menschen akzeptierteste
Ausdrucksform der Kirchen. „Während Kult und Konfession“, so schreibt der Franziskaner
Udo Schmälzle, „… scheinbar an Bedeutung verlieren und religiöse Praxis immer mehr zur
Privatsache wird, sind die caritativen Dienstleistungen der Kirchen weiterhin gefragt.
Christinnen und Christen, denen Liturgie und sakramentale Praxis fremd geworden sind,
erkennen an Diakonie und Caritas, dass die Kirchen noch zu etwas nützlich sind“.18 Selbst
von profanen Forschern über die Wohlfahrtsverbände wird angesichts ihrer Konkurrenz
mit privatwirtschaftlich agierenden Einrichtungen und angesichts des öffentlichen Drucks
auf die Kosten der von ihnen erbrachten Leistungen die Frage gestellt, „was von dem
besonderen
Anliegen
der
freien
Wohlfahrtspflege
übrig
bleibt,
wenn
eigene
Dienstleistungsstrukturen betriebswirtschaftlich durchmodernisiert werden“ und „ob
eigene inhaltliche Wertorientierungen unten den Bedingungen von Professionalisierung
Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, Tübingen 1947,
543ff.
16
Ebd., 547f.
17
Steffen Fließa, Arme habt ihr Allezeit! Ein Plädoyer für eine armutsorientierte Diakonie,
Göttingen 2003.
18
Udo Schmälzle, Muss die Kirche einen ‚Sozialbauch‘ abspecken? Überlegungen zum
Stellenwert der Diakonie im gegenwärtigen Selbstvollzug der Kirche, in: rhs –
Religionsunterricht an höheren Schulen 41/1998, 7-12, hier 7.
15
5
und Qualitätsmanagement überhaupt noch gefragt sind“.19 In einem Forschungsprojekt
„Vom
Wohlfahrtssektor
zur
Sozialwirtschaft“
wurde
erstmalig
erhoben,
welche
Konsequenzen mit der neuen Situation verbunden sind. Da heißt es, dass die
Maßnahmen der neuen sozialstaatlichen Steuerung darauf zielten, „durch Wettbewerb
und
Ökonomisierung
Leistungsreserven
bei
den
Leistungserbringern
(Anbietern)
freizusetzen und die Kosten der sozialen Dienstleistungserbringung insgesamt zu
senken.“ Und die Autoren schreiben weiter, dass das „zentrale Problem dieser
Modernisierung“
nun
Strukturveränderungen
darin
nur
die
bestehe,
„dass
Voraussetzungen
die
für
jeweils
die
nächste
geschaffenen
Runde
der
Modernisierung darstellen und dass damit ein Prozess in Gang gesetzt ist, der
schlichtweg keine Zielbestimmung mehr erhält“.20 Unter dem Preisdruck differenzierten
die Wohlfahrtsverbände ihr Leistungsspektrum aus, dispensierten sich von den eigenen
Identitätsmerkmalen als Solidaritätsstifter und als Anwalt der Interessen derer, die ihre
Interessen nicht selbst vertreten könnten. Diese advokatorische Interessenvertretung
werde zunehmend ebenso an die Verbandsspitze delegiert wie das Ausflaggen der
Werteorientierung
und
die
Integration
verschiedener
Geschäftsfelder
und
Leistungsbereiche, wenn diese nicht ausgegründet werden, um aus dem für die
Wohlfahrtsverbände geltenden Tarifvertragssystem auszubrechen, die Personalkosten zu
senken und die auferlegten Regelsätze beachten zu können.21
III.
Fragt man sich angesichts dieser Problemskizze, wie die verbandliche Caritas solchen
Prozessen entgegensteuern könnte, um ihre eigene Identität nicht nur als Dienstleister,
sondern auch als Sozialanwalt und Solidaritätsstifter sicher zustellen, und zwar nicht
nur als Wohlfahrtsproduzent, sondern auch und primär als ‚Caritas‘, dann wird man
zunächst zumindest andeuten müssen, um was es bei diesem christlichen Ethos
eigentlich geht. Es hat, wie Ernst Troeltsch einmal formulierte,22 einen „metaphysisch
begründetet,
durch
keinen
Naturalismus
und
keinen
Pessimismus
zerstörbaren
Persönlichkeits- und Individualitätsgedanken“, der „durch Willens- und Wesenseinigung
mit Gott“ erst entsteht und darin seinen Halt hat und ohne diesen Halt sich verflüchtigt.
Dieses christliche Ethos ist getragen von dem Gedanken „einer allen zugewandten und
alle in sich vereinigenden göttlichen Liebe“, die niemanden – selbst den Nicht-Christen
Thomas Olk, Gegenwart gestalten, um Zukunft zu gewinnen! – Verbandspolitische
Strategien für die freie Wohlfahrtspflege, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit
50/1999, 123-130, hier 123.
20
Heinz-Jürgen Dahme u.a., Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände
unterwegs in die Sozialwirtschaft, Berlin 2005.
21
Vgl. Heinz-Jürgen Dahme u.a., Soziale Dienste im Spannungsfeld von Sozialwirtschaft
und Sozialpolitik, in: Soziale Arbeit 53/2004, 362-368, bes. 366.
22
Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1911,
978f.
19
6
und Nicht-Gläubigen - ausschließt und mit der Unvollkommenheit der Welt rechnet.
Dieses christliche Ethos stellt zugleich „allem sozialen Leben und Streben ein Ziel vor
Augen, das über allen Relativitäten des irdischen Lebens hinausliegt“, wobei es in diesem
Gedanken des Gottesreiches „über die Welt erhebt, ohne die Welt zu verneinen“.
Zur Wahrnehmung ihrer sozialanwaltlichen Interessenvertretungsfunktion und ihres
politischen
Einflusses
gegenüber
den
zunehmend
utilitaristisch
begründeten
Auslesepraktiken, gegen das sich das christliche Ethos richtet, wird sich die verbandliche
Caritas
in
Zukunft
stärker
zivilgesellschaftlich
verankern
müssen.
Politischer
Einflussnahme setzt voraus, die wahlpolitischen Interessen der Politiker durch ein
zivilgesellschaftlich
glaubhaft
formatiertes
Drohpotential
aktivieren
zu
können.
Organisierte Caritas muss zur sozialen Bewegung werden. Dies würde heißen, die
Selbstorganisation und Selbstkontrolle durch persönliche demokratische Vereins- und
Projektmitgliedschaft zu fördern, die Solidarität und Partizipation auch im öffentlichen
Raum erlebbar macht. Dieses demokratische Element hatte bereits Lorenz Werthmann
immer wieder herausgestellt, wenn er den Caritasverband als „eine freie Vereinigung von
Caritasfreunden und –vertretern“ propagierte. Angesichts einer wachsenden Schere
zwischen (steigenden) Zahlen von
Hauptamtlichen einerseits und (fallenden) Zahlen
persönlicher Mitglieder, aber auch ehrenamtlich Engagierter andererseits darf die
organisierte Caritas die Erosion dieser demokratischen und ihre Eigenständigkeit
sichernden Dynamik nicht fördern, sondern muss diese im Gegenteil neu erfinden.
Im Blick auf seine Identität als Solidaritätsstifter hätte ein Caritasverband zunächst
immer solche Entscheidungen über die Erbringung von Dienstleistungen zu vermeiden,
die
gegen
die
Weisheiten
der
katholischen
Soziallehre,
also
etwa
gegen
das
Solidaritätsprinzip und auch das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. Umgekehrt müsste es
immer um die subsidiäre Unterstützung primärer Solidaritäten gehen, zumal diese nicht
selten kostengünstiger sind. Es gibt durchaus Caritasverbände, die z. B. ihre Beteiligung
beim ‚Essen auf Rädern’ verweigern und statt dessen - in Kooperation mit Gastwirten,
also Akteuren des Marktes - Projekte gemeinsamen Mittagessens in Stadtteilen initiieren,
womit die soziale Dimension des Essens wieder gewonnen, essen wieder zur Geselligkeit
wurde, wobei man auch jemandem direkt sagen kann, ob es geschmeckt hat oder nicht wo essen aber auch zur Gelegenheit wurde, sich noch auf andere Weise füreinander
unentgeltlich nützlich zu machen, also Solidarität zu schöpfen. Es gibt Caritasverbände,
die alleinerziehende Mütter nicht von ihren Kindern trennen, sondern diese primäre
Solidarität ebenso zusammenhalten wie sie die kollegiale Solidarität unter diesen Müttern
auf der Basis der Ähnlichkeit ihrer Lebenslage stärken, indem sie für diese Mütter mit
7
ihren Kindern Wohnraum zur Verfügung stellen – Solidarität also im Sinne eines „Wir für
uns“ gestärkt und geschöpft werden kann.
Nach innen steht die verbandliche Caritas vor der Herausforderung, wie es ihr unter den
komplexen Strukturbedingungen der modernen Sozial- und Gesundheitspolitik und
-ökonomie, aber auch des eigensinnigen professionellen Eigenverständnisses der Sozialund Gesundheitsberufe gelingen kann, die religiöse Programmatik und die professionellen
wie administrativen Erwartungen in den Einrichtungen der verbandlichen Caritas zu
vermitteln.23 Die verbandliche Caritas wird nur nach außen für Caritas Zeugnis abgeben
können, wenn sie diese auch nach innen lebt und die Konfession zur Caritas mit der
Profession der modernen Arbeitswelt zu vermitteln versteht.
Sucht man, Schwierigkeiten, aber auch Möglichkeiten einer solchen Vermittlungsleistung
zu eruieren, lassen sich m. E. folgende Dimensionen unterscheiden:
1. Die Dimension der strukturellen Einbettung. Dementsprechend wird die
religiös-theologische Programmatik dadurch vermittelt und die Einrichtungen mit
ihren
beruflichen
und
professionellen
Handlungsabläufen
sind
dadurch
als
caritative bzw. diakonische ausweisbar, als sie z.B. finanziert oder mitfinanziert
werden aus Kirchensteuern sowie
kircheneigenes
Spenden und Almosen von Kirchgängern,
Arbeitssonderrecht gilt, Zusammenarbeit mit Kirchengemeinden
erfolgt24 oder kirchliche Räume (mit entsprechend frommem Wandschmuck) und
kirchliches Personal (z. B. Ehrenamtlichen), kirchlicher Ämter (z. B. Diakone) und
funktionaler Dienste der verfassten Kirche zum Einsatz kommen. Akzentuiert
diese Dimension insbesondere Objektivationen, binnenkirchliche Koppelungen,
sozusagen Äußerlichkeiten, setzt eine zweite Dimension gewissermaßen einen
umgekehrten Akzent. Ich nenne sie:
2. Die Dimension der individuellen Motivation. Sie hat nämlich genau eine
Interiorisierung, wenn nicht Intimisierung zum Charakteristikum. Die Vermittlung
der Logik des Sozial- und Gesundheitssystems mit der religiösen Programmatik
wird von den Organisationsstrukturen abgelöst und zur persönlichen Attitüde,
wenn
nicht
zur
Privatsache
des
Personals
erklärt.
Helfendes
Handeln
in
organisierter Diakonie und Caritas sei demgemäß auch nicht als christliches
Handeln ausweisbar, weil es auf professioneller Ebene keinen Unterschied zu
caritativem
bzw. diakonischem
Handeln gäbe.
Deshalb
ist
das
christliche
Vgl. Volkhard Krech, Religiöse Programmatik und diakonisches Handeln, in: Karl
Gabriel (Hg.), Herausforderungen kirchlicher Wohlfahrtsverbände, Berlin 2001, 91-105.
24
S. in diesem Zusammenhang auch das Impulspapier des DCV „Rolle und Beitrag der
verbandlichen Caritas in den pastoralen Räumen“ vom 22.12. 2008.
23
8
Spezifikum
kein Spezifikum
der
personalen Dienstleistung
selbst,
sondern
verinnerlicht und privatisiert und wird allenfalls auf Anfrage expliziert. Es dürfte
den Normalfall darstellen, setzt freilich eine durch christliche Überzeugungen
geprägte private Lebensführung zumindest bei Teilen des Personals voraus, die
teilweise auch Gegenstand der Grundordnung des kirchlichen Dienstes ist. 25 Die
Grundordnung
des
kirchlichen
Kirchenleitung
sucht
Arbeitsorganisationen
Dienstes
deshalb
zu
eine
sichern,
als
hohe
indem
Instrument
Flexibilität
sie
die
der
der
religiöse
verfassten
kirchlichen
Fixierung
von
Organisationsleistungen und Organisationsstrukturen vermeidet und statt dessen
religiöse
Minimalbestimmungen
Arbeitsorganisation
vornimmt.
Als
der
Mitgliedsrolle
Formalisierungen
der
der
Kirche
als
diakonischen
bzw.
caritativen Leistungsrollen sind diese Paragraphen freilich auch formal und können
letztlich
den ‚Geist’,
aus
dem heraus
die
Hilfe
geschieht,
nicht
wirklich
kontrollieren. Deshalb muss die konkrete Praxis häufig gewissermaßen mit
‚Geistkonsensfiktionen’ einerseits und mit Blindheitsverabredungen andererseits
auskommen. Zugleich kann auf dieser Dimension der individuellen Motivation die
religiöse Programmatik flexibel mit nicht-religiösen Methoden und Konzepten der
sozialen Berufe und Professionen verknüpft werden. Das katholische Konzept des
„Zeugnisses ohne Worte“ (nach Evangelii Nuntiandi 1975) verschafft einer solchen
Dimension sogar theologische Dignität. Benedikt XVI. hat in seiner ersten
Enzyklika („Deus caritas est“) auch an dieses Konzept, wenn auch ohne expliziten
Verweis auf jene Enzyklika Pauls VI., erinnert (Nr. 31c): „Wer im Namen der
Kirche karitativ wirkt, wird niemals dem anderen den Glauben der Kirche
aufzudrängen
versuchen.
Er weiß, dass
die
Liebe
in ihrer Reinheit und
Absichtslosigkeit das beste Zeugnis für den Gott ist, dem wir glauben und der uns
zur Liebe treibt. Der Christ weiß, wann es Zeit ist, von Gott zu reden, und wann es
recht ist, von ihm zu schweigen und nur einfach die Liebe reden zu lassen. Er
weiß, dass Gott Liebe ist (vgl. 1 Joh 4, 8) und gerade dann gegenwärtig wird,
wenn nichts als Liebe getan wird (...) Aufgabe der karitativen Organisationen der
Kirche ist es, dieses Bewusstsein in ihren Vertretern zu kräftigen, so dass sie
durch ihr Tun wie durch ihr Reden, ihr Schweigen, ihr Beispiel glaubwürdige
Zeugen Christi werden“. Auffällig ist aber an diesem letzten Zitat: Die Dimension
der individuellen Motivation wird vom derzeitigen Papst offensichtlich nicht als
ausschließliches Identitätszeichen der Vermittlung von Konfessionalität und
Professionalität
präferiert.
Vielmehr
wird
implizit
auf
eine
weitere
Vermittlungsdimension Bezug genommen, auf:
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Erklärung der deutschen Bischöfe
zum kirchlichen Dienst – Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher
Arbeitsverhältnisse, 9. Auflage, Bonn 2003.
25
9
3. Die Dimension der symbolischen Integration. Dementsprechend soll der
christliche
Anspruch
sich
auch materialisieren,
indem
er
–
zumindest
in
bestimmten Situationen der sozialen Dienstleistungserbringung - verbalisiert wird
und als integraler Teil eines theologischen Deutungssystems legitimiert (und
verteidigt) sowie in seinem Eigensinn auch gegenüber anderen Deutungen
unterschieden wird. Dieser Dimension liegt die Vorstellung einer Ganzheitlichkeit
der menschlichen Existenz zu Grunde, die ohne besondere Beachtung der
religiösen Dimension – der Dimension des Heils - verfehlt werden würde. So
macht Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika auf den eschatologischen
Horizont des christlichen Liebesgebotes aufmerksam, wodurch „die Liebe zum
Maßstab
für
den
endgültigen
Menschenlebens wird“ und
Entscheid
über
Wert
oder
Unwert
eines
„Gottes- und Nächstenliebe verschmelzen: Im
Geringsten begegnen wir Jesus selbst, und in Jesus begegnen wir Gott“ (Nr. 15).
Er erinnert damit (Nr. 25a; ) auch an ein Spezifikum der göttlichen Liebe, „die das
ganzheitliche Wohl des Menschen anstrebt: seine Evangelisierung durch das Wort
und die Sakramente - ein in seinen geschichtlichen Verwirklichungen oftmals
heroisches
Unterfangen
-
und
seine
Förderung
und
Entwicklung
in
den
verschiedenen Bereichen menschlichen Lebens und Wirkens“ (Nr. 19); „die den
Menschen nicht nur materielle Hilfe, sondern auch die seelische Stärkung und
Heilung bringt, die oft noch nötiger ist als die materielle Unterstützung. Die
Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen,
verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der
Mensch lebe ‚nur von Brot’ (Mt 4, 4; vgl. Dtn 8, 3) — eine Überzeugung, die den
Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt“ (Nr. 28).
Insofern ist „der Liebesdienst für die Kirche nicht eine Art Wohlfahrtsaktivität, die
man auch anderen überlassen könnte, sondern er gehört zu ihrem Wesen, ist
unverzichtbarer Wesensausdruck ihrer selbst“ (Nr. 25a; vgl. 31). Eine weitere
idealtypisch unterscheidbare Dimension, welche die religiöse Programmatik mit
der beruflich-professionellen Praxis zu vermitteln sucht, nenne ich:
4. Die Dimension der interaktiven Gestaltung. Sie räumt der christlichen
Motivation wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Beziehungsebene im
Vollzug des Hilfehandelns, also auf der Dienstleistungsebene ein.26 So hält eine
Studie über ein christliches Krankenhaus als Fazit bezüglich der Frage nach den
Spielräumen von Träger und Leitung, um die spezifischen diakonischen Ziele zu
erfüllen, fest, dass „die Qualität der Arbeit weithin von der menschlichen
Vgl. Karl-Fritz Daiber, Diakonie und Identität. Studien zur diakonischen Praxis in der
Volkskirche, Hannover 1988, 146ff.
26
10
Zuwendung und dem Gespräch mit den Patienten abhängt, das heißt von
Arbeitsinhalten, die der diakonische Auftrag umfasst“.27
Dieses Verständnis des Hilfehandelns, das sich in „personaler Nächstenschaft“
verwirklicht, was auch viele Hilfesuchende erwarten, die eine konfessionelle
Einrichtung aufsuchen, vollzieht sich auf dem Hintergrund der Unterscheidung von
‚Nähe
statt
Anonymität’,
‚Mensch
statt
Nummer’,
‚Bruder/Schwester
statt
Patient/Klient’. Auch Benedikt XVI. schreibt in seiner bereits zitierten Enzyklika
(Deus caritas est, Nr. 42): „Wer zu Gott geht, geht nicht weg von den Menschen,
sondern wird ihnen erst wirklich nahe“. Aber wird damit nicht implizit dem nichtchristlichen Hilfehandeln die Fähigkeit abgesprochen, personale Zuwendung zu
praktizieren? Auf die ‚Fraternité’ hat der Christ kein Monopol mehr. 28 Besteht in
der Logik dieser Dimension zudem nicht das Risiko, professionelle Distanz
aufzugeben, die professionelle Sachlichkeit zu entgrenzen und die jeweiligen
Kompetenzen zu überschreiten?29 Freilich unterscheidet sich diese Dimension von
jener an zweiter Stelle genannten Vermittlungsdimension, indem es diakonisches
und caritatives Hilfehandeln aus der Privatisierung zieht und nicht ausschließlich in
der individuellen Motivation belässt. Eine fünfte Vermittlungsdimension ist damit
noch nicht genannt, ich nenne sie
5. Die Dimension der religiös angeleiteten Methodik Eine solche von religiösen
Vorstellungen angeleitete beratende, therapeutische und pflegerische Praxis ist z.
B. in anthroposophischen Einrichtungen zu beobachten.30 Eine interessante Frage
ist, ob die christliche Religion über vergleichbare direkte Anschlussmöglichkeiten
und analoge Übersetzungsmöglichkeiten zur etwa beratenden, therapeutischen
und pflegerischen Praxis verfügt, um spezifische Methoden zu entwickeln. Der
Hamburger Arzt Georg Schiffner, Vorsitzender des bundesweit tätigen Verbandes
‚Christen im Gesundheitswesen’ beschäftigt sich seit Jahren mit der „Entwicklung
einer christlichen Heilkunde, „die Kirche und Gesundheitswesen wieder stärker
miteinander in Verbindung“ zu bringen versucht.31 Eine - wie ich meine
zukunftsträchtige Vermittlungsdimension - nenne ich
Gerta Scharffenorth/A. M. Klaus Müller (Hg.), Patienten-Orientierung als Aufgabe.
Kritische Analyse der Krankhaussituation und notwendige Neuorientierung, Heidelberg
1990, 408.
28
Vgl. Hartmann Tyrell, Die christliche Brüderlichkeit. Semantische Kontinuitäten und
Diskontinuitäten, in: Karl Gabriel/Aois Herlth/Klaus Peter Strohmeier (Hg.), Modernität
und Solidarität. Für Franz-Xaver Kaufmann, Freiburg 1997, 189-212.
29
Vgl. Hans-Georg Ziebertz, Sozialarbeit und Diakonie, Weinheim 1993, 53.
30
Vgl. Krech, Programmatik, 103f.
31
BAVC info Ausgabe 2/2009.
27
11
6. Die Dimension der kommunitären caritativen Kultur. Dieser Dimension
entsprechend, wird die theologische Programmatik als Sensorium dafür gesehen,
Rat und Hilfe durch die rechtlich und rechnerisch wie fachlich markierten
Systemgrenzen nicht reduzieren und blockieren zu lassen, und zugleich als
Potential dafür, eine ‚kommunitäre‘ wie kommunikative
- wertorientierte -
Organisationskultur zur Entfaltung zu bringen, auch um der allseits beobachtbaren
Privatisierung des Christlich-Religiösen auch und gerade innerhalb unserer
christlichen Einrichtungen entgegenzuwirken und die Wertorientierung nicht allein
auf die Motivationsebene der helfend Handelnden zu reduzieren. Zentral ist hier
nicht die herrschaftliche Kontrolle des ‚dienstgemeinschaftlichen‘ Anspruchs des
kirchlichen Arbeitsrechts, was nur dazu führte, dass engagierte Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter „gegenüber solchem Durchgriff von oben sich selbst abschotten
und sich resignierend in ‚innere Kündigung’ zurückziehen.“ 32 In der organisierten
Caritas gefährden die Kirchlichkeitskriterien „die Mitarbeiter in ihrer beruflichen
und menschlichen Existenz, wenn sie dagegen verstoßen. Also wird das Thema
Kirchlichkeit gemieden wie kein anderes Thema. Außer in frommen Reden,
Ansprachen und Vorworten wird fast nicht darüber gesprochen. Einwirkliches
Durchdringen der Einrichtung oder des Verbandes mit dieser spezifischen
Spiritualität findet nicht statt“.33 Die Spannung zwischen konfessionellen und
professionellen Rationalitätskriterien wäre nach der hier gemeinten Dimension
„allenfalls zu vermitteln durch eine innere Führung, welche den Anspruch auf
Dienstgemeinschaft nicht nach der Logik der Organisationsgesellschaft unter
Kontrolle bringt, sondern sich dafür öffnet, durch Kommunikation Vertrauen zu
schenken“; denn „Mitarbeiter, von denen Engagement, Sensibilität und Solidarität
gefordert wird, sind anders zu führen als Arbeitnehmer, die nur in funktionalen
Routinen zu kontrollieren sind. Wo jedoch die Leitung sich reduziert auf die
Kontrolle von Regeln und Routinen, wird es ihr kaum gelingen, mittragendes und
mitdenkendes Engagement zu akzeptieren und zu akzeptieren“.34 Zentral für diese
Dimension einer kommunitären Kultur ist letztlich das Prinzip der personalen
Ganzheitlichkeit, der Einheit von Gottes-, Selbst- und Nächstenliebe 35 und der
Eckart Pankoke, Subsidiäre Solidarität und freies Engagement. Zur ‚anderen’
Modernität
der
Wohlfahrtsverbände,
in:
Thomas
Rauschenbach/Christoph
Sachße/Thomas Olk (Hg.), Von der Wertgemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen,
Frankfurt 1995, 54-83, hier 65.
33
Hejo Manderscheid, Modernisierung kirchlicher Caritas. Wohin geht der Weg heute?, in:
Werner Krämer/Karl Gabriel/Norbert Zöller (Hg.), Neoliberalismus als Leitbild für
kirchliche Innovationsprozesse? Arbeitgeberin Kirche unter Marktdruck, Münster 2000,
154-185, hier 167; Thomas Schmidt, Qualitätskriterien auf dem Prüfstand. Zur
Spiritualität kirchlicher Krankenhäuser, in: Krankendienst 2005, H. 5, 97-101.
34
Pankoke, Solidarität, 65f.
35
Vgl. Heinrich Weber, Das Wesen der Caritas, Freiburg 1938, bes. 46ff.
32
12
wechselseitigen Erschließung, Durchdringung und Befruchtung von Verkündigung,
Diakonie und Liturgie. Entscheidend ist deshalb, ob caritative bzw. diakonische
Einrichtungen Strukturen vorhalten, die es erlauben, die organisierte Caritas als
kommunitäre Angelegenheit zu reflektieren und zu erschließen, ohne dabei den
professionellen Anspruch aufzugeben. Freilich wäre es zu bedenken, den Begriff
der Dienstgemeinschaft auf das Arbeitsrecht zu beschränken und ihn der Sache nicht dem Begriff nach – ins Zentrum der Arbeit der Reflexion und Entwicklung
einer
christlichen
Organisationskultur
zu
stellen.
Den
Begriff
der
Dienstgemeinschaft selbst würde ich hierfür schon wegen seiner offensichtlichen
nationalsozialistischen Herkunft emeritieren.
7. Die Dimension der christlichen Weisheit. Schätze christlicher Weisheit liegen
nicht nur in der katholischen Soziallehre verborgen, sondern auch in anderen
Überlieferungen, etwa in der Benediktregel. Wie viele Mönchschriften erwähnt
auch die Benediktsregel den Pförtner (des Klosters). Sie verlangt für ihn nicht nur
ein
reifes
Lebensalter,
sondern
auch
andere
menschliche
und
geistliche
Qualitäten. Er soll nicht draußen „herumschweifen“ und in der Lage sein, „Rede
und Antwort zu stehen“. Der Pförtner soll stets anzutreffen sein und: „Aus
Gottesfurcht gebe er in aller Freundlichkeit Antwort und mit Eile, da die Liebe ihn
drängen muss“,36 den Fremden nicht so lange warten zu lassen (da er Christus
selbst ist). Das zuletzt genannte Beispiel sollte freilich nur dafür stehen, dem
‚Grenzverkehr’ (z.B. Erstkontakt, Begrüßung von Klienten, Kunden und Personal;
aber auch Entlassung, Abschied) in caritativen Einrichtungen empirisch hohe
Aufmerksamkeit und seiner organisationskulturellen Gestaltung Priorität zu geben.
Von
hier
aus
lässt
sich
die
Entwicklung
einer
diakonisch-caritativen
Organisationskultur aufrollen und z. B. in weiteren Schritten vom ‚äußeren’
Grenzverkehr
ein
‚innerer’
Grenzverkehr
(z.
B.
zwischen
verschiedenen
Abteilungen und Hierarchieebenen) unterscheiden.
Eine verbandliche Caritas, deren personelle, interaktive,
organisationskulturelle und
gesellschaftspolitische Verfassung bis auf periphere Differenzierungen „nichts anderes
widerspiegelt als die Gesellschaft, wie sie überall anzutreffen ist, wäre kein Gewinn,
weder für die praktische Bezeugung des Christentums in der Gesellschaft, noch für die
gesellschaftspolitische Glaubwürdigkeit von Christen“ – und es ist zu vermuten, dass eine
solche ‚Caritas‘ eher der „Selbstsäkularisierung des Christentums Vorschub leisten
Die Benediktsregel, übersetzt und erklärt von Georg Holzherr, Zürich, Einsiedeln, Köln
1982, 311.
36
2
13
würde“.37 Zukünftiges Leitthema der Caritas auf verschiedenen Ebenen und der
Caritaswissenschaft wird deshalb die Thematik der kreativen Vermittlung und Gestaltung
der katholisch-christlichen Programmatik sein, wozu auch Eros – eine Leidenschaft der
Caritas - nötig ist, an die Papst Benedikt XVI. in seiner ersten Enzyklika „Deus caritas
est“ erinnerte, weil Gott „ein Liebender mit der ganzen Leidenschaft wirklicher Liebe“ und
insofern auch ein erotischer Gott ist: „Er liebt, und diese seine Liebe kann man durchaus
als Eros bezeichnen, der freilich zugleich ganz Agape ist“ und „mit der Agape verschmilzt“
(Nr. 10).38 Es muss der verbandlichen Caritas letztlich auch darum gehen, die Einheit von
Gottes- und Nächstenliebe zu sichern, die in dem Ausdruck Wohlfahrt nicht zur Geltung
kommt – Wohlfahrt, die ja auch auf Kosten der Auslese andere denkbar ist. Tatsächlich
braucht die Welt „keine Verdoppelung der Hoffnungslosigkeit durch Religion; sie braucht
und sucht ... das Gegengewicht, die Sprengkraft gelebter Hoffnung. Und was wir ihr
schulden, ist dies: das Defizit an anschaulich gelebter Hoffnung auszugleichen“.39 Die
verbandliche Caritas schuldet der Welt nicht Wohlfahrt, sondern Caritas, und zur Caritas
soll sie die Welt mit ganzer Leidenschaft – mit ‚Eros‘ - animieren.
David Seeber, Caritas in Staat und Gesellschaft, in: DCV (Hg.), Not sehen und handeln.
Caritas, Freiburg 1996, 187-199, hier 195.
38
Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 171, herausgegeben vom Sekretariat
der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2006.
39
Synodenbeschluss „Unsere Hoffnung“, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der
Bundesrepublik Deutschland, Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976, 101.
37
14