Leseprobe - Drache, Einhorn, Basilisk
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Leseprobe - Drache, Einhorn, Basilisk
JANINA DROSTEL Einhorn, Drache, Basilisk Fabelhafte Fabelwesen THORBECKE Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2007 by Jan Thorbecke Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern www.thorbecke.de · [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Werk unter Verwendung mechanischer, elektronischer und anderer Systeme in irgendeiner Weise zu verarbeiten und zu verbreiten. Insbesondere vorbehalten sind die Rechte der Vervielfältigung – auch von Teilen des Werkes – auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der tontechnischen Wiedergabe, des Vortrags, der Funk- und Fernsehsendung, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, der Übersetzung und der literarischen oder anderweitigen Bearbeitung. Gestaltung Burkhard Finken Finken & Bumiller, Stuttgart Gesamtherstellung Jan Thorbecke Verlag, Ostfildern Printed in Germany ISBN 978-3-7995-0188-0 INHALT – Alice und andere Fabelwesen oder Eine Einführung · · · < 7 > Basilisk · · · < 9 > Drache · · · < 17 > Einhorn · · · < 33 > Fee und Elfe · · · < 50 > Greif · · · < 63 > Harpyie · · · < 74 > Kentaur · · · < 80 > Meerjungfrau, Nixe und Sirene · · · < 86 > Pegasus · · · < 105 > Phönix · · · < 115 > Riese · · · < 124 > Sphinx · · · < 133 > Werwolf · · · < 141 > Zwerg · · · < 152 > Literatur · · · < 162 > Danksagung · · · < 166 > Bildnachweis · · · < 166 > ALICE UND ANDERE FA B E LW E S E N oder EINE EINFÜHRUNG – I n diesem Augenblick schlenderte das Einhorn herzu, die Hände in den Hosentaschen. „Diesmal war ich der bessere?“ sprach er zum König und warf ihm nur im Vorübergehen einen kurzen Blick zu. „Ein wenig – ein wenig“, erwiderte der König ziemlich unruhig. „Du hättest ihn nicht mit dem Horn durchbohren dürfen, nicht wahr.“ „Es tat ihm nicht weh“, sprach das Einhorn achtlos und wollte weitergehen, als sein Blick zufällig auf Alice fiel: Er wandte sich augenblicklich herum und stand eine Zeit lang vor ihr und betrachtete sie mit einer Miene des größten Abscheus. „Was – ist – das?“ sprach er endlich. „Das ist ein Kind!“ gab Haarse bereitwillig Auskunft, indem er vor Alice hintrat, um sie vorzustellen, und beide Hände in Angelsächsischer Gebärde vor ihr ausbreitete. „Wir haben es gerade heute entdeckt: in voller Lebensgröße und doppelt so natürlich!“ „Ich habe sie immer für Monster aus der Fabel gehalten!“ sprach das Einhorn. „Ist es lebendig?“ „Es kann sprechen“, sagte Haarse feierlich. Das Einhorn sah Alice verträumt an und sprach: „Sprich, Kind.“ Alice verzog ihren Mund unwillkürlich zu einem Lächeln, als sie anfing: „Wissen Sie, daß ich auch immer geglaubt habe, Einhörner seien Fabeltiere! Ich habe nie zuvor ein lebendiges gesehen!“ „Also, da wir einander nun gesehen haben“, sprach das Einhorn, „wenn du an mich glaubst, glaub’ ich an dich. Ist das ein guter Tausch?“ L E W I S C A R RO L ( 1 8 3 2 – 1 8 9 8 ) , Durch den Spiegel und was Alice dort fand (Über- setzung von Günther Flemming) Fabelwesen, n. creatura fabulae, geschöpf der fabel – so lautet der betreffende Eintrag im „Grimmschen Wörterbuch“. Wie Alice’ Gespräch mit dem Einhorn nennt er im Grunde alles Wesentliche, das es über Fabelwesen zu wissen gibt: Es sind Geschöpfe, die nicht in Wirklichkeit, sondern nur in Geschichten und Legenden existieren oder, um mit Rilke zu sprechen, einfach Tiere, die es nicht gibt. ¬ So weit, so gut. Als aufgeklärte, rationale Menschen könnten wir das Thema nun abhaken und uns zufrieden lächelnd über unsere ungebildeten Vorfahren amüsieren, die doch tatsächlich an das Vorhandensein dieser Wesen glaubten. Warum also ein Buch über diese Irrtümer der Geschichte schreiben? ¬ Vielleicht deshalb, weil der Glaube an Fabelwesen etwas ganz allgemein Menschliches ist, denn das Vertrauen in das Vorhandensein übermächtiger 7· ALICE UND ANDERE FABELWESEN Wesen oder fremdartiger Geschöpfe lässt sich im Grunde überall auf der Welt feststellen. Es zeigt, dass es offenbar einer tiefen menschlichen Sehnsucht entspricht, an etwas zu glauben, das über das unmittelbar Sichtbare hinausgeht. ¬ Vielleicht auch, weil unsere Vorfahren längst nicht so ungebildet waren, wie wir das aus unserer vermeintlich überlegenen Perspektive gerne hätten. Vielmehr spiegelt die Debatte über die Existenz oder Nicht-Existenz von Fabelwesen in der Vergangenheit auch immer den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft wider. Die Autoren der Bestiarien – der Tierbücher des Mittelalters – diskutieren die Frage, ob es die Tiere wirklich gibt, die sie nicht aus eigener Anschauung kennen – denn wie Alice und das Einhorn glaubt man meist nur das, was man selbst gesehen hat. Wie heutige Wissenschaftler berufen sie sich auf ihnen verlässlich erscheinende Quellen, große Gelehrte oder Augenzeugenberichte. Sie interpretieren ihre Informationen auf die ihnen am wahrscheinlichsten vorkommende Weise. Denn schließlich lag es nach damaligem Kenntnisstand durchaus nahe, Knochen und Fossilien von Sauriern und Mammuts den Drachen und Riesen zuzuschreiben, von denen die antike Mythologie, die großen Gelehrten und – als wichtigste Instanz des christlichen Mittelalters – sogar die Bibel selbst berichten. ¬ Immer wieder spielt auch bei den Wissenschaftlern ein Quäntchen Sehnsucht nacht dem Fantastischen mit. Wie sonst sollte es sich erklären, dass viele Bestiarien Tiere aufnehmen, von denen ihre Verfasser eigentlich überzeugt sind, dass sie nicht existieren, oder dass noch 1852 der Forscher Johann Wilhelm von Müller fest daran glaubt, dass es Einhörner gebe und ihre Entdeckung nur noch eine Frage der Zeit sei? ¬ Diese Sehnsucht nach etwas, das über das alltägliche Leben hinausgeht, nach einer Traumwelt, in der fremdartige Lebewesen leben, ist etwas, das sich im Grunde seit der Antike nur wenig geändert hat und Online-Rollenspielen heute eine stetig wachsende Fangemeinde beschert. Viele Fabelwesen blicken bereits auf eine jahrtausendelange Geschichte zurück, in deren Verlauf ihr Aussehen und Wesen changieren. In den Grundzügen aber sind Dantes Harpyien diejenigen, die bereits Odysseus plagten, und ist das Einhorn bei Hildegard von Bingen dasjenige, das uns auch im Zeichentrickfilm „Das letzte Einhorn“ entgegentritt. Diese Zeitlosigkeit der Fabelwesen, die die mittelalterlichen Epen, die romantische Lyrik ebenso wie den Film und die moderne fantastische Literatur bevölkern – sei es Tolkiens „Der Herr der Ringe“ oder „Harry Potter –, ist es, die dafür sorgt, dass uns die Fabelwesen in der einen oder anderen Gestalt sicherlich auch in Zukunft begleiten werden. 8· ALICE UND ANDERE FABELWESEN DRACHE Der Drache ist das schönste und das schlimmste aller lebenden Dinge. Nach KO N R A D VO N M E G E N B E RG ( 1 4 . J A H R H U N D E R T ) , Buch der Natur «» Szenenbild: Eine gefesselte Jungfrau steht an einem Pfahl und wartet auf das Erscheinen der furchterregenden Bestie, der sie geopfert werden soll. Auftritt: Ein klauenbewehrtes und feuerspeiendes Ungeheuer mit Schuppen und Flügeln nähert sich unaufhaltsam der Jungfrau und droht, sie zu verschlingen. Erneuter Auftritt: Im letzten Moment trifft der Held zu Pferd ein. Mit Schwert und Schild kämpft er gegen den übermächtigen Drachen – und siegt. Es folgen (nicht notwendigerweise in dieser Reihenfolge): Dank und Hand der Jungfrau, Verleihung eines Königreichs, Erwerb des Drachenhortes. ¬ So oder ähnlich kann man sich seit der Antike eine klassische Drachenkampfszene vorstellen – die Befreiung der schönen Prinzessin Andromeda aus den Fängen eines Meeresdrachen durch den griechischen Sagenhelden Perseus zum Beispiel folgt bereits genau diesem Drehbuch. In den meisten Heldengeschichten erfüllt der Drache vor allem die Funktion, sich erschlagen zu lassen und so dem Helden zu Ansehen und Ehre zu verhelfen. Dennoch sind Drachen weit mehr als Schrecken aller Jungfrauen oder goldgierige Hort„besitzer“, geht ihre Symbolik und Funktion in Mythologie und Lyrik doch weit tiefer. ¬ Die Vorstellung von Drachen reicht womöglich bis in die Anfänge der Menschheitsgeschichte zurück. Erste bildliche Darstellungen stammen jedenfalls bereits aus dem 4. Jahrtausend vor Christus. Aufgrund der Ähnlichkeit der Drachen mit einigen Saurierarten wurde angenommen, es handle sich um eine Art „kollektiver Ur-Erinnerung“ an diese, obwohl Menschen und Saurier nachweislich nicht gleichzeitig die Erde bevölkerten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass in vielen Zeiten und Kulturen Saurierfossilien gefunden wurden, die die Vorstellung von Drachen entstehen ließen. Bis ins 18. Jahrhundert hinein schrieb man die Fossilien jedenfalls Drachen zu. ¬ Literarisch lässt sich der Drache bereits im „Weltschöpfungslied“, einem babylonischen Epos aus dem 2. Jahrtausend vor Christus, nachweisen. 17 · DRACHE