Buch Bibliothek Wissen - Eine BiblioBiographie

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Buch Bibliothek Wissen - Eine BiblioBiographie
Bibliotheken sind Garanten
des freien Zugangs zu Information
Jubiläum des Deutschen Bibliotheksverbandes
in Baden-Württemberg am 1. Februar 2013
Andreas Sentker: Buch Bibliothek Wissen – Eine BiblioBiographie
Festvortrag, gehalten am 1. Februar 2013 im Landtag von Baden-Württemberg
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
als mich die ehrenvolle Einladung erreichte, heute zu Ihnen sprechen zu dürfen,
habe ich mich angesichts der vielen Büchermenschen in diesem Saal gefragt, warum die Wahl gerade auf mich gefallen ist, einen Zeitungsmann.
Ich ahne natürlich: Uns eint die Arbeit mit Wörtern, die Liebe zum Wort – noch
vor allem zum gedruckten Wort.
Dieses Wort ist Lust, dieses Wort ist Macht, dieses Wort kann Bollwerk sein: Lust
an Lektüre und Erkenntnis, Macht des gewonnenen Wissens, Bollwerk im Kampf
gegen Ideologie und Unvernunft. An dieser Lust, dieser Macht, dem Schutz dieses
Bollwerks, das gehört zum Kern einer demokratischen Gesellschaft, sollen möglichst viele Menschen teilhaben können.
Unsere Institutionen, Ihre und meine, haben ein gemeinsames Ziel: die Demokratisierung des Wissens. Zugang, Partizipation, Integration: Das sind die Stichworte,
die für Sie und mich als Individuen, für die Institution Zeitung, für die Institution
Bibliothek lebenslange Herausforderungen sind.
Ich möchte die Zeitungsredaktion an diesem Vormittag für eine halbe Stunde weit
hinter mir lassen, aus der Rolle des Journalisten in die Rolle des Lesers schlüpfen. Ich möchte Sie bitten, mich an drei Orte zu begleiten, drei Stationen meiner
BiblioBiografie.
Aus einer kleinen Stadt in Niedersachsen – wie es viele in Deutschland gibt –
führt diese Reise hierher, nach Baden-Württemberg und an die amerikanische
Ostküste.
Es ist eine Bildungsbiografie, wie Sie viele Menschen an meiner Stelle beschreiben könnten. Ich habe meine Reifeprüfung bestanden, ich habe eine Universität
besucht, ich habe einen Beruf gewählt.
Es geht nicht um mich. Es geht um Sie, die Bibliotheken. Denn Sie haben mich –
wie Ihre mehr als 200 Millionen Besucher jedes Jahr – mein Leben lang begleitet,
und Sie tun es noch.
10.361 Bibliotheken zählt die Deutsche Bibliotheksstatistik, die große Mehrheit,
9550, sind öffentliche Bibliotheken. Mehr als 476 Millionen Medien zählt die Statistik. Noch stellen Bücher den größten Teil.
11 Millionen Deutsche sind als regelmäßige Leser registriert, die fleißigsten (gezählt in jährlichen Besuchen je Einwohner) leben in Hamburg (2,61), die faulsten
Leser im Saarland (0,54).
330000 Veranstaltungen haben Menschen 2011 in die Bibliotheken gelockt, 472
Millionen Bücher, Videos, CDs oder elektronische Medien haben sie entliehen.
Und hier beginnt meine Bibliotheksgeschichte.
472 Millionen Entleihungen! Mir als Schüler waren nur fünf erlaubt. Fünf Bücher,
dann war Schluss. Das war die Regel, in den siebziger Jahren in meiner Stadtbücherei.
Und diese Regel war ein Problem: Denn ich las schnell, sehr schnell. Ich las ganze
Nächte. Fünf Bücher, das reichte nicht einmal eine Woche weit.
Ich ersann Gegenstrategien: Ich muss gestehen, es gab Wochen, in denen stellte
ich die Bücher vor der Ausleihe zunächst nach Dicke zusammen. Hatte ich genügend Mehrhundertseiter unterm Arm, entschied erst vor dem Gang an den Ausleihtresen der Inhalt. Manchmal kam ich in einer Woche zweimal. Seit ich Niedersachsen verlassen habe, muss die Zahl der Bibliotheksbesuche pro Einwohner
spürbar gesunken sein, sie liegt heute bei gefühlt unterdurchschnittlichen 1,6 – pro
Jahr.
Ich entwickelte eine Vorliebe für lange Texte. Zu den Lieblingsautoren meiner
Kindheit zählte der gebürtige Stuttgarter Alfred Weidenmann. Der lieferte zuverlässig mehr als 300 Seiten Lesestoff pro Band.
„Gepäckschein 666“ und „Die 50 vom Abendblatt“ spielten in Hamburg – ich
zweifle aber daran, ob die Lektüre meinen biografischen Weg in die Hansestadt
wirklich beeinflusst hat. Auch ahnte ich damals nichts von Weidemanns Vorgeschichte in Hitlerjugend und NSDAP und von seinem zweiten Leben als Fernsehregisseur von Der Kommissar oder Derrick.
Aber der Jugendbuchautor Weidenmann vermochte, junge Leser zu fesseln, auch
wenn die Plots nach der Lektüre des dritten oder vierten Buchs leicht zu durchschauen waren – böse Schurken, junge Helden, ein bisschen späte Wirtschaftswunderrepublik und natürlich zuverlässig ein Happy End – heile Welt.
Ein anderes Kaliber war da Mark Twain. Dicker als die Jungs vom Abendblatt
waren Tom Sawyer und Huckleberry Finn nicht, zusammen brachten sie es auf
etwa 700 Seiten. Aber sie entführten mich in eine fremde Welt am fernen Mississippi. Ich lernte: Bücher können nicht nur Geschichten erzählen, sie öffnen die
Augen für andere Perspektiven auf die Welt – eine Welt mit ersten Brüchen und
Grautönen.
Und dann entdeckte ich ein paar wirklich dicke Bücher. 500 Seiten am Stück! Das
neue Universum hieß die Reihe. Ich startete mit Band 92, dessen Buchdeckel
1975 ein bis dato völlig unbekanntes Fluggerät zierte:
das Space-Shuttle. 1975 war das Jahr des letzten Apollo-Flugs, das Ende einer
Ära. Nun wollten die Amerikaner mit dieser seltsamen Mischung aus Flugzeug
und Rakete ins All fliegen – und vor allem mit ihm von dort zurückkehren. Konnte das gut gehen?
Im neuen Universum eröffnete sich ein ganzer Kosmos aktueller Forschung. Und
eine Folge heikler Fragen.
Gleich auf Seite 8: „Wie gefährlich sind Kernkraftwerke wirklich?“ Untertitel:
„Eine heißumstrittene Frage – leidenschaftslos beleuchtet“.
Seite 50: „Wenn das Erbgut manipuliert wird“. Seite 68: „Wettervorsorge statt
Wettervorhersage – nicht gegen das Klima bauen.“
Was Sie vielleicht ahnen: Diese frühe Lektüre, die Lust am Fragen, an der Logik,
am Konstruieren und Erfinden, am Weltretten sie hat mich nachhaltig geprägt.
Was Sie leicht errechnen können: Wenn Volumen ein Kriterium ist, die Dichte
des Stoffs, die Herausforderung der Ideen, verliert die Kinder- und Jugendbuchabteilung für Lesesüchtige schon bald ihren Reiz. Ich schielte über den Gang hinüber, zu den Erwachsenen. Da standen die wirklich dicken Bücher. Die waren eigentlich verboten.
Aber warum eigentlich? Ich klemmte mir die Blechtrommel unter den Arm und
marschierte in Richtung Tresen. Den hochgezogenen Augenbrauen der Bibliothekarin begegnete ich bei solchen „Fremdleihen“ stets mit einer gemurmelten Ausrede: Is’ für die Schule ...
Für die Schule aber lieferte die Stadtbücherei ganz anderes Futter – und einen
neuen Konflikt. Sollte ich eines der fünf auszuleihenden Bücher der Vorbereitung
des neuen Referats opfern? Ich habe es oft getan: Mit dem Stoff aus der Bibliothek – das Zeitalter von Google war noch in weiter Ferne – konnte man punkten.
Heute gibt es Google. Und es gibt diesen Konflikt nicht mehr. Ich habe vor wenigen Tagen angerufen, in der Stadtbibliothek Nordhorn. Ich darf vorbeikommen
und so viele Bücher ausleihen, wie ich tragen kann.
Es ist eine klassische Stadtbücherei. 1873 wurde sie gegründet. Heute besitzt sie
95.000 Bücher und Medien. 120.000 Besucher und 600.000 Ausleihen verzeichnet
sie pro Jahr. Rechnen Sie schnell mal nach:
Dem durchschnittlichen Leser scheinen fünf Bücher zu reichen.
Die Bibliothek hat sich drastisch gewandelt. Sie hat sich neuen Medien geöffnet.
Schon als Schüler konnte ich dort Schallplatten anhören. Heute gibt es DVDs,
Musik-CDs und Hörbücher. Die Leser können sich E-Book-Reader ausleihen und
virtuelle Bücher lesen. Zusammen mit der Volkshochschule nimmt die Bibliothek
ihren Nutzern in Einführungskursen mögliche Hemmungen vor der Technik. Die
so genannte OnLeihe boomt.
Gefährdet die virtuelle Lektüre nicht den Ort Bibliothek? Nordhorn beweist das
Gegenteil. Die Besucherzahlen steigen. Das liegt am vielfältigen Engagement der
Bibliothekarinnen und Bibliothekare. An den Autoren-Lesungen, am gut ausgestatteten Zeitungs- und Zeitschriftenbereich, an den Zugängen zum Internet, am
intensiven Leseförderprogramm für Schulkinder.
Sie hat viele öffentliche Aufgaben, die Stadtbibliothek. Sie verschafft freien Zugang zu Informationen. Sie hilft bei der Integration von Migranten.
Sie lässt junge und alte Leser einander begegnen. Sie eröffnet Teilhabe an gesellschaftlichen Debatten.
Vom Büchereigutschein zur Geburt über Fortbildungen für Lesepatinnen bis zur
Unterstützung bei der Buchrecherche für eine Facharbeit werden Kinder und Jugendliche in der Entwicklung ihrer Lesekompetenz unterstützt. 50% der Nordhorner Kitas, 50% der Grundschulen werden bereits mit Bücherkisten versorgt, die
Nachfrage steigt. 100% der 3. Klassen nehmen an der Leseregatta teil, einem vom
Nordhorner Schulamt gemeinsam mit der Bibliothek initiierten Vorlesewettbewerb.
In der offenen Leseförderung liefern die Koch- und Bäckerauszubildenden der
Stadt Fingerfood zum Buchevent. „Lecker lesen“ heißt das Format, das neuen
Zielgruppen den Nährwert regelmäßiger Lektüre vermitteln will.
Denn natürlich kümmern sich Bibliotheken nicht nur um die Lesekompetenz von
Kindern.
Die Eurokrise macht Deutschland zum Zuwanderungsland für gut ausgebildete
Spanier, Italiener oder Griechen. Bibliotheken können beim Spracherwerb und bei
der Integration helfen.
Die junge alte Generation von heute geht in einen mehr und mehr aktiven Ruhestand. Bibliotheken begleiten die sogenannten Best Ager bei ihrer Lebens- und
Freizeitgestaltung.
Gute Bibliotheken sind heute gut vernetzt. Sie kooperieren mit Kindergärten und
Schulen, mit der städtischen Musikschule, der örtlichen Kunstschule, der Familienbildungsstätte, mit Museen und Galerien.
Die Bibliothek ist ein echter Treffpunkt, sie macht sie sichtbar und erlebbar – die
Demokratisierung des Wissens.
Der Stadtbibliothek Nordhorn scheint das besonders gut zu gelingen. Sie zählt
heute in Städten zwischen 50000 und 100000 Einwohner zu den fünf besten Bibliotheken Deutschlands. Im bundesweiten Bibliotheksvergleich BIX hat sie sich in
allen vier Kategorien – Angebot, Nutzung, Effizienz und Entwicklung – Gold geholt.
Ich habe Nordhorn schon vor vielen Jahren verlassen. Ich habe den Niedergang
der einstigen Textilhochburg mit mehr als 10.000 Angestellten in drei großen
Textilunternehmen noch leibhaftig erlebt. Nordhorns Wiederauferstehung als
Dienstleistungsstadt mit heute 54.000 Einwohnern habe ich aus der Ferne beobachtet. Denn mich zog es nach der Schule nach Tübingen.
Mein Studium beginnt am von Carlo Schmid, Eduard Spranger und Carl-Friedrich
von Weizsäcker gegründeten Leibniz-Kolleg.
Das Kolleg war 1948 auf Betreiben der französischen Militärregierung eröffnet
worden, um der Nachkriegsgeneration ein neues demokratisches und historisches
Verständnis zu vermitteln – und den Notabiturienten der letzten Kriegsjahre das
nötige Handwerkszeug für das Studium.
Handwerkszeug fürs Studium, das vermittelt das Kolleg auch heute noch, dazu
Einblicke in unterschiedlichste Fachkulturen sowie den Mut, die Grenzen zwischen ihnen zu überschreiten.
Das Gebäude des Leibniz-Kollegs liegt – das wird in meinen ersten Wochen dort
von Bedeutung sein – gleich hinter dem Hauptgebäude der Universitätsbibliothek.
Denn von nun an werde ich hier zum Dauergast.
Das Kolleg schickt mich zum Recherchieren, Exzerpieren und Zitieren – wissenschaftliches Handwerk lernen. Ich wühle mich durch hunderte Schubladen mit
hunderttausenden Karteikarten, kritzele kryptische Codes auf Ausleihzettel – und
stehe am Ende wieder vor einem Tresen.
Es gibt keine Ausleihbeschränkungen. Ich darf mit vollen Armen gehen. Nur mit
ein paar Lieblingsbüchern im Gepäck bin ich ins Kolleg gekommen und habe dort
bald einen beeindruckenden Handapparat aufgebaut – das erklärt auch, warum ich
die kurze Distanz bald schätzen lerne.
Und ich leihe nicht nur das aus, was mich fachlich interessiert. Die Universitätsbibliothek erweist sich für mich im besten Sinne als Universalbibliothek. Sie versorgt mich mit entlegenstem Fachwissen und großer Literatur. Die Fülle ihres Angebots, der Charme ihres Selbstbewusstseins aus Tradition nimmt mich gefangen.
1477 wird die Universität Tübingen begründet, 1499 ist die erste Ausleihe bezeugt: „ex publica bibliotheca“. 1534 wird bei einem Brand des sogenannten Sapienzhauses der gesamte Bestand vernichtet.
Natürlich wächst er wieder. Lange Zeit durch Zustiftungen oder den Ankauf von
Büchersammlungen verstorbener Tübinger Gelehrte. Systematisch werden Neuerscheinungen erst später angekauft.
Der wachsende Bestand bedarf der Ordnung. Und beim Ordnen, einer ihrer vornehmsten Aufgaben, hat die Universitätsbibliothek Tübingen es noch im Nachhinein vermocht, mein Weltbild zu erschüttern.
Bis 1960 werden die Neuerwerbungen 11 Hauptgruppen zugeordnet, vom Buchstaben A für Philosophie über E (Staatswissenschaften) und I (Medizin) bis L für
Württembergica. In der Vorbereitung auf meine heutige Rede entdecke ich unter
B – Mathematik und Naturwissenschaften – nach Be, Bf, Bg – Physik, Chemie
Biologie – die Untergruppe Bl. Magie!
Ja waren die denn von allen guten Geistern verlassen? Ist die Aufklärung an Tübingen spurlos vorbei gegangen? Brutzelten vor einem halben Jahrhundert in der
Schlossküche noch die Alchemisten?
Ich bin nicht nachtragend. Die alte Systematik ist längst durch eine moderne abgelöst. Bl mag als Mahnung dienen. Es ist nicht leicht, die Welt im Buchregal zu
ordnen.
Und ich selbst wäre der letzte, der sich über Grenzüberschreitungen beschweren
dürfte. Ich bin schließlich – vom Kolleg geprägt – zum Wanderer zwischen zwei
Welten, zwei Kulturen geworden.
Oben auf dem Berg, auf der Morgenstelle, studierte ich Biologie, sezierte Frösche
und vergrub mich in aktuellen Fachzeitschriften. Unten im Tal, an der Wilhelmstraße, studierte ich Rhetorik, schwang Reden, die ich für große hielt – und las dicke, alte Bücher.
Kurz vor der Abschlussprüfung zog es mich dann ganz ins Tal zurück. Ich entdeckte den großen Lesesaal als Lernort.
Lernort? Nein, er ist mehr als das. Er ist ein Biotop, bevölkert von den exotischsten Lebewesen. Scheue Geistesgrößen verschanzten sich hinter riesigen Stapeln,
die sie morgen für morgen mühsam zu einem Schutzwall aufschichteten. Ich hatte
manchmal den Verdacht, auch sie suchten ihre Bücher nach Dicke aus.
Es gab die Jurastudentinnen in der unvermeidlich weißen Bluse mit der unvermeidlich rot eingebundenen Gesetzessammlung unterm Arm. Es gab den komischen Vogel, der sich beim Lesen immer wieder an die flache Stirn schlug. Das
Gerücht ging, er sei schon vor Jahren an der komplexen Fragestellung seiner Dissertation gescheitert, kämpfe aber noch immer verzweifelt gegen diese Einsicht.
Ich glaube, er gehörte zum Inventar des Lesesaals und vermutlich sitzt er heute
noch dort.
So unterschiedlich wir waren, das Forschen und Lesen ließ fachliche und soziale
Unterschiede verschwinden. Hier saßen lauter in Gedanken umschlungene Paare:
Leser und ihre Lektüre. Seit meinen Tagen und Wochen als eines von ihnen weiß
ich: Konzentration ist ansteckend.
Das Biotop hat sich verändert – und tut es noch. Immer wieder muss die Universitätsbibliothek anbauen, neuen Platz schaffen, nicht nur für Bücher, aber auch für
sie. 1776 gab es 15000 Bände für 294 Studierende, 51 Bände für jeden. Heute sind
es 3,7 Millionen Bände für 24.500 Studierende, 150 Medien pro Kopf.
Die Herausforderung besteht aber längst nicht nur in der immer schneller wachsenden Menge des Wissens. Vor allem unser Umgang mit ihm wandelt sich drastisch.
Open Access lautet ein zentraler Begriff der Debatte, der vor allem bei den Naturwissenschaftlern auf dem Berg, der Tübinger Morgenstelle, das Schreiben und
Lesen wissenschaftlicher Literatur verändern wird.
Nicht mehr das Abonnement einer Fachzeitschrift kostet Geld, sondern die Publikation einer Forschungsarbeit in derselben. Mit staatlichen Mitteln erworbenes
wissenschaftliches Wissen soll künftig für jeden Staatsbürger frei verfügbar sein –
noch ein Ansatz zur Demokratisierung des Wissens.
Aber was bedeutet diese Umkehrung des klassischen Publikationsmodells? Für
die Forscher, für die Forschungseinrichtungen, für die Verlage, für die Bibliotheken?
Dazu drei Beobachtungen aus der Debatte, die ich nicht nur als Wissenschaftsjournalist intensiv verfolge:
Zunächst: Open Access kommt nicht in irgendeiner fernen Zukunft, es ist da. Und
es gibt keinen Weg zurück. Die amerikanischen National Institutes of Health, der
britische Wellcome Trust, der Wissenschaftsrat, die Hochschulrektorenkonferenz,
die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, der Deutsche Bibliotheksverband: Sie alle sprechen mit einer Stimme – für den offenen
Zugang.
Und diese Stimme wird von der Politik gehört. Von den ausnahmsweise europäisch vorbildlichen Empfehlungen und Beschlüssen der britischen Regierung bis
zur EU-Forschungsstrategie Horizon 2020 – egal auf welcher staatlichen oder metastaatlichen Ebene Forschung gefördert wird: die Förderer bestehen auf dem öffentlichen Zugang zu öffentlich finanzierter Erkenntnis.
Zweitens: Auch künftig wird sich beim wissenschaftlichen Schreiben und Lesen
die Philosophie (Buchstabe A) von der Medizin (Buchstabe I) unterscheiden. Es
gab vor Open Access unterschiedliche Publikationskulturen, es wird sie mit Open
Access geben.
Physiker publizieren anders als Archäologen, Archäologen anders als Germanisten, Germanisten anders als Ingenieurwissenschaftler – und das ist auch gut so.
Drittens: Auf 10 Milliarden Dollar jährlich wird der globale Markt wissenschaftlicher Information geschätzt. 10 Milliarden Dollar für Fachzeitschriften, Digitalabos und Datenbankzugänge.
Dieser Markt wird mit Open Access nicht kleiner werden, er wird nur anders aufgeteilt. Und Open Access wird dabei zunächst einmal nicht billiger, sondern teurer
für den Wissenschaftsbetrieb. Denn Open Access wird zusätzlich zu bestehenden
Publikationsstrategien wachsen, bevor es diese in einzelnen Bereichen ablösen
kann. Und besonders teuer wird es zunächst für besonders forschungsstarke Einrichtungen werden.
Für die Bibliotheken stellt dieser Wandel Herausforderung und Chance zugleich
dar. Die Bibliothek wird immer seltener eine Insel des Wissens sein, an deren stillem Strand Leser wie ich damals im Lesesaal ihre Konzentration sammeln. Sie
wird zum „integrierten Partner für Forschung, Lehre und Innovation“ – so haben
es die Direktorinnen und Direktoren der Universitäts- und Landesbibliotheken
Baden-Württemberg in einem Diskussionspapier aus dem Dezember 2011 genannt.
Einen radikalen Ansatz hat dabei schon früh die dritte Bibliothek verfolgt, zu der
ich Sie heute mitnehmen möchte. Open Access, den offenen Zugang zu Wissen,
diesen demokratischen Wert, denkt man an der amerikanischen Ostküste noch
deutlich weiter.
Die Geschichte dieser Bibliothek ist geprägt von einer Tragödie, der von Harry
Elkins Widener.
Der junge Geschäftsmann aus Philadelphia ist leidenschaftlicher Büchersammler.
Erstausgaben von Charles Dickens, Robert Louis Stevenson, William Makepeace
Thackerey – er kann sie sich leisten.
Harry ist der Spross einer nach heutigen Maßstäben milliardenschweren Familie,
in der ökonomischer Erfolg und bibliomanische Sammelwut offenbar miteinander
vererbt werden. Schon sein Großvater kauft, was er an wertvollen Folianten und
Erstausgaben kriegen kann, unter anderem eine Gutenberg-Bibel.
Harry hat kein spezielles Sammelgebiet, aber durchaus so etwas wie eine Philosophie des Sammelns: „Ganz unabhängig davon, wie wichtig ein Buch oder Manuskript ist, ich will nur die, die mich wirklich interessieren“, schreibt er am 6. Mai
1910 an seinen New Yorker Buchhändler Luther Livingstone.
Am 10. April 1912 – Harry ist mit seiner Mutter Eleonor und seinem Vater George nach England gereist, um neue Bücher zu kaufen – geht Familie Widener an
Bord eines Schiffes, dass sie nach New York zurückbringen soll.
Es ist die Jungfernfahrt der Titanic. Am 14. April sinkt das Schiff. Mutter Eleonor
überlebt. Rettungsboot Nr. 4 bringt sie in Sicherheit. Vater und Sohn bleiben an
Bord und sterben beim Untergang des Luxusliners.
Schon bald spricht sich herum, wem Harry Elkins Widener seine Bibliothek vererben will: der Universität Harvard, an der er 1907 seinen Abschluss gemacht hat.
Seine Mutter, so schreibt er in seinem Testament, solle die Sammlung der Universität übergeben, wenn sie den Eindruck habe, dort würden die Bestände angemessen untergebracht und gepflegt.
Eleonor Elkins Widener braucht nicht lange für ein Urteil. Im August 1914, vier
Monate nach dem Tod ihres Sohnes, ist die Harvard University im Besitz eines
wertvollen Buchbestandes und eines noch wertvolleren Versprechens – doch dazu
später.
Ein anderes wertvolles Versprechen, ein Stipendium der ZEIT-Stiftung, macht es
mir 2009 möglich, ein halbes Jahr als Gastwissenschaftler an der Harvard University zu verbringen, am Center for European Studies.
Forschende Gäste der Harvard University erhalten eine eigene, sehr intensive
Führung durch die Bibliothek, schließlich haben sie wenig Zeit, sich zwischen den
kilometerlangen Regalen zurecht zu finden.
Wer das Hauptgebäude der Bibliothek, die sogenannte Widener Library, durch ein
beeindruckendes Säulenportal betritt, läuft auf einen holzgetäfelten Raum zu, der
meist verschlossen ist. Hier ist Harrys Büchersammlung untergebracht.
Uns visiting fellows öffnet die Bibliothekarin die Tür. Regale füllen den Raum bis
an die hohe Decke, hinter Glas stehen die Folianten. Auch Großvaters GutenbergBibel, von Harrys Geschwistern 1944 zugestiftet, ist hier ausgestellt. Ein wenig
staubig wirkt das Ensemble, wie aus der Zeit gefallen. Nur auf dem Schreibtisch
steht, einem Wunsch von Harrys Mutter entsprechend, ein Strauß frischer Blumen.
Den stellt die Universität täglich bereit. Schließlich war es dem damaligen Harvard Präsidenten Abbott Lawrence Lowell gelungen, Harrys Mutter zu überzeugen, nicht nur das Erbe des Sohnes zu übergeben, sondern um die Kollektion herum eine neue Universitätsbibliothek zu bauen.
Das Vermächtnis hat aber einen Haken. Rein äußerlich darf sich an der Widener
Library nichts verändern, sonst geht das Gebäude an die Stadt Cambridge über –
eine große Herausforderung für eine Institution, die sich stetig wandeln muss. Eine Herausforderung vor allem für die Architekten des letzten Umbaus, der 2004
für 97 Millionen US-Dollar abgeschlossen wurde. Sie erschlossen Nebengebäude
mit unterirdischen Gängen oder führten Fußgängerbrücken durch ehemalige Fenster in neue Archive.
Zwei Gerüchte halten sich allerdings hartnäckig um das Vermächtnis der Wideners, beide sind falsch: Nein, es muss nicht bei jedem Mittagessen in jeder Harvard-Kantine Eiscreme serviert werden, Harrys Lieblingsnachspeise. Und nein,
um in Harvard aufgenommen zu werden, müssen die Studenten noch immer nicht
nachweisen, dass sie schwimmen können.
Die Bibliothek der Harvard University ist mit 16,8 Millionen Titeln heute die
größte Universitätsbibliothek der Welt. Die Widener Library eines der größten
Gebäude, das je um Bücher herum gebaut wurde. Größe ist auch Verpflichtung.
Für die Widener Library so sehr, dass in den Augen einiger Bibliothekare einen
Deal mit dem Teufel gemacht hat.
Ich habe Harvard Yard oft durch ein kleines Seitentor, das Dexter-Gate, betreten.
„Enter to Grow in Wisdom“, steht darüber, wenn man eintritt. Verlässt man den
Campus, liest man „Depart to serve better thy country and thy kind“ – Geh, um
dem Land und der Menschheit zu dienen.
Direkt gegenüber befindet sich eine der großen Buchhandlungen von Cambridge:
der Harvard Book Store – 1932 gegründet, für amerikanische Verhältnisse eine
Traditionsbuchhandlung.
Eines Tages stoße ich mitten im Laden auf eine große Maschine, die offenbar über
Nacht aufgestellt worden ist. Sie erinnert an eine Kreuzung aus Laserdrucker und
Roboter und genau das ist sie.
An einem Bildschirm kann sich der Kunde ein Buch aussuchen. Auf Knopfdruck
beginnt die Maschine zu arbeiten, spuckt Blatt um Blatt bedrucktes Papier aus.
Robotergreifer übernehmen den Stapel, streichen Leim auf eine seiner Flanken
und kleben einen Umschlag um das Bündel. Voila: ein Buch.
Ein günstiges Buch: Der Kunde zahlt Druckkosten, Papier und Leim. Viele Inhalte sind frei, gemeinfrei – sie stammen direkt aus dem großen Gebäude gegenüber.
Als erste Universitätsbibliothek der Welt hat Harvard ein Abkommen mit Google
geschlossen. „Das Harvard Google Projekt vereint die Möglichkeiten des Internets
mit der Tiefe des Wissens in Harvards Bibliotheken“, schreibt der damalige Direktor Sidney Verba.
Aber warum dieser Deal mit dem von vielen beargwöhnten Datenkranken
Google? „Chancengleichheit“, sagt Verba, der sich – bevor er oberster Bibliothekar wurde – als Politikwissenschaftler intensiv mit dem Thema Gleichheit befasst
hat.
„Höhere Bildung ist einer der größten Treiber dieser Chancengleichheit. Aber
nicht überall gibt es die gleichen Voraussetzungen. Einige Schulen sind besser
ausgestattet als andere, einige Colleges reicher als andere.“
Verba gibt sich zudem keinen Illusionen hin, wenn er über das Informationsverhalten der jungen Schüler und Studenten nachdenkt: „Die meisten Lehrer wissen
genau, dass ihre Schüler glauben, alles Wissen sei im Internet verfügbar. Das ist
natürlich völlig falsch. Wir wollen das Internet nutzen, um die jungen Leute, die
dort nach Wissen suchen, in die Welt der Bücher zu entführen.“
Verbas Trick: Google scannt nicht nur gemeinfreie Werke, sondern auch solche,
die urheberrechtlich geschützt sind. Der Inhalt ist im Netz nicht vollständig abrufbar. Aber eine Volltextsuche und kleine Textausschnitte offenbaren, ob ein Buch
für die Arbeit eines Schülers oder Studenten von Interesse ist. Dann soll Google
den Suchenden in die nächste Bibliothek führen – oder zum Buchhändler.
Nicht nur Harvard hat Google erlaubt, die wertvollen Buchbestände zu scannen
und im Netz zugänglich zu machen. Mit Oxford, Stanford, Princeton oder der
Bayerischen Staatsbibliothek hat Google ähnliche Verträge geschlossen.
Harvard will auf lange Sicht alle Bücher jedermann zugänglich machen, bei denen
das urheberrechtlich möglich ist – „Bibliotheken, Bücher, Chancengleichheit“ –
mit diesem Motto hat Verba seine Stellungnahme zur Kooperation mit Google
überschrieben.
Helen Shenton, die aktuelle Direktorin der Universitätsbibliothek, skizziert die
künftigen Herausforderungen an ihre Institution so: „Manche nennen die Strategie
‚digital plus’ – digital und mehr, ich habe auch schon die umgekehrte Bezeichnung ‚paper plus’ – Papier und mehr – gehört.
Es läuft beides aufs Gleiche hinaus: ‚library plus’ – Bibliothek und mehr.
Collecting and Connecting, Sammeln und Verbinden, sind Shentons Schlagwörter
für die Zukunftsstrategie.
Die Bedeutung der Bibliothek und ihre Kompetenzen bleiben die gleichen wie zuvor: Sichten, sammeln, ordnen.
Die Mechanismen der Auswertung, Suche und Verbreitung ändern sich radikal –
und das in Zeiten, in denen selbst eine weltweite Eliteeinrichtung wie die Harvard
University Library die Folgen der Finanzkrise zu spüren bekommt.
Wissenschaftliche Bibliotheken müssen sich den neuen Arbeitsgewohnheiten in
der Wissenschaft stellen: virtuelle Forschungsumgebungen, digitale Forschungsbibliotheken, soziale Netzwerke – Ziel muss es sein, die Forschenden dort mit Informationen zu versorgen, wo sie gerade arbeiten.
In der wachsenden Partnerschaft zwischen Internet und Bibliothek muss sich auch
das Netz selbst weiter entwickeln.
Neue Technologien, neues Datenmanagement, die Erforschung neuer Suchparadigmen, der Traum vom semantischen Netz, das unsere Fragen versteht – an der
Harvard University erkunden Bibliothekare gemeinsam mit Hirnforschern und
Computerspezialisten im Harvard Library Innovation Lab, wie wir übermorgen
lernen und arbeiten werden.
Meine Prognose: Auch wenn ich in zwanzig Jahren den Harvard Yard betreten
werde, werde ich dort ein Haus voller Papier vorfinden. Auch dann werden die
Studenten noch auf den Uferwiesen des Charles River in ihren Büchern blättern.
Aber es werden sich mehr und mehr elektronische und virtuelle Wege in die Bibliothek eröffnen. Die Suche wird noch einfacher, das Ergebnis noch schneller verfügbar sein.
Inhalte lassen sich auch in weltweit verstreuten Arbeitsgruppen teilen und diskutieren, zwischen chinesischen und amerikanischen Hochschulen, zwischen deutschen Universitäten und Labors in Südafrika.
Kontexte werden erkennbar, experimentelle Daten verfügbar. Datenbanken werden mit sozialen Netzwerken interagieren. Und bei all dem wird der Bibliothekar
ohne Zweifel auch weiterhin gefragt sein: als Ordner, als Lotse, als Partner.
Bibliotheken müssen keine Angst haben, sich im virtuellen Raum zu verlieren. Sie
werden gebraucht. Als Orte der Begegnung, als Orte des Lernens, als Orte des
Forschens. Sie werden gebraucht weil sie in unserer Gesellschaft ein wesentliche
Aufgabe haben: die Demokratisierung des Wissens.
Wie unterschiedlich sie diese Aufgabe erfüllen, vor welchen Herausforderungen
sie stehen, hat meine kleine BiblioBiografie andeutungsweise gezeigt, von der
Stadtbibliothek in Nordhorn zur Widener Library in Cambridge.
Bibliotheken bieten nicht nur der Demokratie und ihrer Zukunft ein Haus, sondern
auch vielen ihrer Leser ein Zuhause, eines, in das man immer wieder gern zurückkehrt.
Mein intellektuelles Zuhause steht nicht weit von hier, in Tübingen. Es wird ein
Zuhause bleiben, auch wenn ich in irgendeiner Zukunft per Datenbrille von Hamburg aus in den Beständen der Bibliothek suchen kann – und dann die Rede zum
75. Jubiläum vielleicht direkt auf meine Netzhaut projiziert wird – diese stand
noch auf Papier.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit