DIE TOP 30 BIS 30

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DIE TOP 30 BIS 30
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magazin für journalisten
#09/2015
EURO 10,–
mediummagazin.de
EURO 10,– · Postfach 1152, 83381 Freilassing · ISSN 0178-8558 · Y9072 E · Foto: Philipp Theuer
DIE TOP
30 BIS 30
Nachwuchstalente 2015:
Was junge Journalisten wie
Simon Grothe bewegt und
was sie bewegen.
Plus
Werkstatt „Wie Wörter wirken“
24 Seiten „München intern“
Inhalt #09/2015
IMPRESSUM
TOP 30
BIS 30
TITEL
Die „medium magazin“-Auswahl der JournalismusTalente 2015 mit Lena Alt über David Gebhard (s. l.) bis
Lina Timm: Was sie motiviert, wer sie fördert, was sie
vorhaben.
medium magazin
Unabhängige Zeitschrift für Journalisten
30. Jg., Nr. 09/2015
Gegründet von Sebastian Turner
Jens Twiehaus, Katy Walther, Annette Milz
Seite 18
Chefredakteurin
Annette Milz (V.i.S.d.P., Frankfurt/Main)
Was ist eigentlich aus den Top 30 der Jahrgänge seit
2006 geworden? Wir haben nachgefragt und ganz
erstaunliche Karrieren entdeckt.
Redaktion
Katy Walther (FfM), Daniel Bouhs, Dr.
Anne Haeming, Daniel Kastner, Thomas
Strothjohann, Jens Twiehaus (Berlin),
Senta Krasser (Köln), Carolin Neumann
(Hamburg), Ulrike Langer (Seattle)
Anzeigen- und Medienberatung
Sonja Koutny (Leitung)
Tel. +43/6225/27 00-37
E-Mail: [email protected]
Stephan Köstlinger
Tel. +43/6225/27 00-31
E-Mail: stephan.koestlinger@oberauer.
com
RUBRIKEN
6
BERUF UND MEDIEN
Journalisten helfen Journalisten. 30
Schwerpunktthema Flüchtlinge. Beispiele aus Sachsen: Der Druck auf die
Redaktionen / Interview mit MDRChefredakteur Stefan Raue /
Medienforscher Wolfgang Schweiger zur
Kommentarflut / Die „Fluchtpunkte“ der
„Westfalenpost“ / Birte Vogel und ihr
Portal wie-kann-ich-helfen.info.
Sven Heitkamp, Annette Milz, Katy Walther
38 Eins und Eins = Eins. Sechs Modelle an
Gemeinschaftsredaktionen: Wie sie
arbeiten, was sie unterscheidet.
Senta Krasser
42
Bibelfest in die Zukunft. Wie die „Mittelbayerische Zeitung“ die Transformation in
ein multimediales Medienhaus angeht. Annette Walter
Carl Wilhelm Macke
7
Digitale Perlen. Drei Startups.
8
Hintergrund: Das European Centre for
Press and Media Freedom. Torben Brinkema
9
Frisch geforscht. Wichtige Studien für
Medienmacher. Ulrike Langer
Redaktion
Im Uhrig 31, 60433 Frankfurt am Main
Tel. 069/95 29 79-44, Fax -45
E-Mail: [email protected]
www.mediummagazin.de
#twitter@mediummagazin
www.facebook.com/mediummagazin
10
Regionales Schaufenster. Interessante
Medienprojekte mit Nachahmungswert.
Katy Walther, Inge Seibel
14
Junge Perspektiven. Was uns auffiel. Carolin Neumann, Jens Twiehaus, Carline Mohr
Verlag und Medieninhaber
Johann Oberauer GmbH
Postanschrift: Postfach 11 52,
83381 Freilassing
Zentrale: Fliederweg 4,
A-5301 Salzburg-Eugendorf
Tel. +43/6225/27 00-0, Fax -11
54
Kiosk. Markt für Freie, u. a. „National
Geographic Traveler“, „Schall“, „Silva“. Bernd Stössel
80
PR-Personalien. Die (Seiten-)Wechsel in
der Branche. Katy Walther
46
Stellenanzeigen/Anzeigenverwaltung
Birgit Baumgartinger (Leitung)
Tel. +43/6225/27 00-43, E-Mail:
[email protected]
84
Die Hunger-Kolumne. Die Unternehmen
rüsten auf – und bleiben dennoch blind. Anton Hunger
Für die gute Sache. Journalismus und
Gemeinnützigkeit klappt in Deutschland
bislang nur über Umwege.
Daniel Bouhs
48 Heute mal anders. TV-Nachrichten für die
Generation Youtube: Wie funktioniert
„Heute+“, was plant das ZDF? Ein Blick
hinter die Kulissen.
Daniel Bouhs
52
App am Arm. Lohnt überhaupt die Mühe
der App-Entwicklung für die AppleWatch?
Ulrike Langer
Produktion
Daniela Schneider (Leitung), Martina
Hutya, Sabrina Weindl
Abo- und Vertriebshotline
Tel. +43/6225/27 00-41, Fax -44
E-Mail: [email protected]
Druck
Druckerei Roser, Salzburg
04
Julian Heck
85
Standpunkt. Riskante Kritik-Vergessenheit. Wolfgang Storz
86
Personalien. Köpfe und Karrieren.
Jens Twiehaus
89
Aufgestiehlt. Sprachspitzen von
90
Terminal. Fragebogen: Paul-Josef Raue
Udo Stiehl
MEDIUM MAGAZIN #09/2015
FOTOS: WOLFGANG BORRS, THOMAS KIEROK
Autoren
Torben Brinkema, Julian Heck, Marco
Eisenack, Sven Heitkamp, Anton
Hunger, Thilo Komma-Pöllath, Norbert
Küpper, Peter Linden, Carl Wilhelm
Macke, Carline Mohr, Carin Pawlak,
Thomas Schuler, Inge Seibel, Stephan
Seiler, Udo Stiehl, Verena Stöckigt,
Wolfgang Storz, Bernd Stössel, Annette
Walter, Benedikt Warmbrunn
Daniel Kastner
Seite 26
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Bewegend mit der Ironie
Das Problem
Lesetipps
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2
4
5-8
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14
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28.08.15
14:15
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BIRTE VOGEL hat das
Portal wie-kann-ichhelfen.info gegründet:
„Angesichts der
zunehmenden Gewalt von
Rechtsextremen – wie
könnte ich da in diesem
Land mit seiner
Geschichte
schweigen?“
Seite 36
für journalisten
MEDIUM
MAGAZIN
1
Der Österreichische
26.08.15
11:34
Die Extras in dieser Ausgabe: 24 Seiten über die Medienstadt
München und als Beilage die 16-seitige Journalisten-Werkstatt „Wie
Wörter wirken“, Teil 1 unserer Trilogie „Gesamtkunstwerk Text“.
Wenn die Werkstatt fehlt: Extrabestellungen via vertrieb@
mediummagazin.de oder am besten gleich ein „medium
magazin“-Abo, in dem die Werkstätten enthalten sind.
PATRICK BAUER bekennt
sich im Gespräch mit
Stephan Seiler zu seiner
Schreibblockade und
holt eine Entschuldigung
bei Benjamin Lebert
nach. Der 12. Teil
unserer Serie
über große
Reporter.
Seite 50
K L E I N G E D RU C K T ES
Das Alter
S P E C I A L C O R P O R AT E P U B L I S H I N G
5 8
„Schreibblockade ist mein Grundzustand.“
Patrick Bauer, Ex-„Neon“-Chef und Autor
des „SZ-Magazins“, erklärt, warum und
wie er seine Texte schreibt. Teil 12 unserer
Serie: Was macht große Reporter aus? Stephan Seiler
PRAXIS
6 7
Die Storys der anderen. Streichen Sie
Corporate Publishing, ab jetzt heißt das
Content Marketing. Dazu gehört, dass
Firmen nun vor allem auf journalistisches
Geschichtenerzählen setzen. 64 Fünf Storys zeigen, mit welchen Konzepten sich Marken verkaufen. 66 „Ohne Held geht nichts.“ Problem,
Lösung, Happy End: Nach diesem Rezept
kann jedes Unternehmen StorytellingKampagnen backen, erklärt Veit Etzold.
Verifiziere und sprich darüber! Verifikation von Social-Media-Inhalten muss
nicht aufwendig sein, vorausgesetzt,
man kennt die richtigen Tools. Annette Walter, Verena Stöckigt
7 4
Layouttipp. „Der Tag“, FAZ. Norbert Küpper
7 5
Lesetipps. Bernd Stößel
7 6
Techniktipp. Twittertools für Medien­
macher.
Thomas Strothjohann
7 8
Junge Werkstatt. „Je suis reste Charlie.“
Thomas Strothjohann
82
62
Macht’s wie Kündiger! Bürgernähe, ein
bunter Wahlkampf und Social Media sind
heute die Ingredienzien erfolgreicher
Bürgermeisterwahlkämpfe. Ein Beispiel
aus dem hessischen Kelkheim. Katy Walther
Anne Haeming
EXTRAS
16 Seiten Journalisten-Werkstatt
„Wie Wörter wirken“ von Peter Linden
Aus dem Inhalt: Gesamtkunstwerk Text /
Wörter und ihre Bedeutung / Unwörter /
Tautologie und Redundanz / Ironie.
24 Seiten München intern Lagebericht / Ulrich Chaussy & der BR / Der
Krach bei der SZ / Münchner Boulevard /
Der Gentle-Mann Redondo-Vega / Sportszene & Medienmacht FC Bayern / MedienPromis über München / Szenetreffs.
geht uns alle an. Diese Erfahrung
machte auch das Redaktionsengelchen in seinem ersten
Studentenpraktikum – bei einer
Tageszeitung. Der erste Auftrag:
Ein Recherchegespräch mit einem
83-Jährigen, der sich über Kauders flapsige Worte „homogene
Altherrenriege in den Ortsvereinen“ aufregte. Heraus kamen
Zitate wie „Dann sollte man
Ältere doch gleich um ihren
Austritt bitten“ oder „Senioren
wollen genauso wahrgenommen
und miteinbezogen werden wie
alle anderen auch – nicht mehr
und nicht weniger“. Recht hat
der Mann. Politikvereine brauchen
einen ordentlichen GenerationenMix.
Das gilt aber ebenso für Redaktionen. Deshalb sei unseren
hochgeschätzten älteren Lesern
und Leserinnen zugerufen: Wir
vergessen Euch nicht, auch wenn
diese Ausgabe mit den „Top 30
bis 30“ vom Nachwuchs dominiert
wird. Wir planen nämlich unsere
traditionelle Zukunftsausgabe in
diesem Jahr (Nr. 11 im November)
zum Schwerpunktthema „Alter
im Journalismus“ – und wir
versprechen Ihnen: Das wird
spannend! Sie sollten sich das
nicht entgehen lassen (Das gilt
auch für die Jungen: Ihr werdet,
so Gott will, auch älter!). Mit einem
Vollabo für nur 62,– steuerlich
absetzbare Euro im Jahr verpassen Sie garantiert keine Ausgabe
(übrigens auch nicht die zweite
Folge unserer Werkstatt-Trilogie
„Gesamtkunstwerk Text“ zum
Thema: „Wie Sätze wirken“, die
im Abo inbegriffen ist). Eine Mail
an vertrieb@medium­maga­zin.
de oder über newsroom.de/shop
genügt.
PS: Wir bieten zwar auch Studentenabos, aber keine Seniorenabos. Das Alter, seufz, hat nun
mal seinen Preis. Annette Milz
MEDIUM
05
[Praxis]
P
VERIFIZIERE
UND SPRICH DARÜBER!
Ob beim Kuratieren oder Retweeten – Verifikation von Social-Media-Inhalten muss
nicht aufwendig sein, vorausgesetzt, man kennt die richtigen Tools.
Bu
BU
Eliot Higgins von Bellingcat ist zurzeit einer
der international wichtigsten Verifikations­
experten. Siehe auch Interview Seite 72.
Sie wollten von Amsterdam nach Kuala Lumpur, aber sie kamen nie an: 298 Menschen
starben bei einem der schlimmsten Flugzeug­
unglücke der vergangenen Jahre, als am 17. Juli
2014 ein Flugzeug über der umkämpften
Ostukraine abstürzte. Mit einer Buk M1-Rakete wurde es vorsätzlich abgeschossen. Doch
wer war verantwortlich? Russland und die
Ukraine schoben sich gegenseitig die Schuld
zu.
Bis Russland wenige Tage nach dem Unglück
einen Coup aus dem Hut zauberte: Bei einer
Pressekonferenz präsentierte das Verteidigungsministerium Satellitenfotos, die beweisen sollten, dass ukrainische Militärs das
Flugzeug abgeschossen hätten. Russland
wollte die Schuld der Ukraine etwa mit dem
Verschwinden eines Buk-Luftabwehrsystems
und der Präsenz einer ukrainischen Luftverteidigungseinheit beweisen, die auf den Aufnahmen angeblich zu sehen waren.
Doch die Investigativplattform Bellingcat
veröffentlichte im Mai 2015 einen Bericht,
dass die Fotos falsch datiert worden seien und
bereits im Juni 2014 aufgenommen wurden
und somit in einem größeren zeitlichen Abstand zum Absturz als von Russland behauptet. Das Bellingcat-Team führte mehrere
Gründe an, warum die Aufnahmen nicht an
dem von Russland genannten Zeitpunkt entstanden sein könnten. Etwa, indem sie die
Vegetation auf den russischen Bildern mit der
auf Satellitenbildern von Digital Globe verglichen. Den Beweis der ukrainischen Schuld
am Absturz sah Bellingcat damit als eindeutig
widerlegt an. Dennoch wurde der Bericht der
Investigativplattform angegriffen (mehr dazu
im Interview mit Gründer Eliot Higgins).
Seitdem ist Bellingcat um den 36-jährigen
Briten Higgins weltbekannt. Als Webseite
von und für investigative Bürgerjournalisten
bezeichnet sich das Kollektiv selbst, zu dem
etwa 20 Autoren, ein Investigativrechercheteam mit zehn Mitarbeitern aus Deutschland,
Holland, Finnland, USA, Russland und weiteren Ländern sowie ein Expertennetzwerk
zählen. Zu letzterem gehören laut Higgins
„Hunderte von Spezialisten“, darunter auch
„sehr erfahrene Waffenexperten“ in Syrien.
Auch das Recherchekollektiv Correctiv berief sich für ein umfangreiches Dossier zur
Aufklärung der Hintergründe des MH17Abschusses (https://mh17.correctiv.org/,
http://tinyurl.com/spiegel-mh17, in KoopeMEDIUM MAGAZIN
67
Praxis. Verifikation I
„Verifikation ist ein
Indizienprozess, man führt
einen Prozess gegen das Bild.“
Michael Wegener, Leiter des ARD-Content-Centers
ration mit Spiegel Online und „Algemeen
Dagblad“) auf Fotos von Bellingcat. Correctiv.org führte selbst eine Verifikation von
Fotos durch, indem die Mitarbeiter Material aus dem Internet bzw. anderen ausgewiesenen Quellen mit selbstfotografierten Aufnahmen in der Ukraine verglichen und teilweise vor Ort überprüften. So wurden etwa
Wege des Raketentransporters bzw. Teile des
dafür notwendigen Buk-Systems bzw. von
Panzerspuren nachvollzogen, etwa durch
Snizhne, eine ukrainische Stadt, in deren
Nähe der Abschussort der Rakete vermutet
wurde.
In Breaking-News-Situationen und in
Kriegsregionen fehlen deutschen Medien
mitunter Augenzeugen und Experten. „Als
2011 der Syrienkrieg ausbrach, hatte unser
Korrespondent vor Ort keine Einreisegenehmigung. In einer solchen Situation wird Material aus sozialen Netzwerken selbstverständlich wichtig“, sagt Michael Wegener, Leiter
des ARD-Content-Centers. Die Einheit, die
unter anderem für „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ Bild- und Videomaterial in klassischen Quellen sowie sozialen Netzwerken
recherchiert, befasst sich seit einigen Jahren
mit der Verifikation. Die redaktionelle Prüfung von User Generated Content steht bei
den Arbeitsabläufen an erster Stelle.
„Die ersten Fragen, die wir uns stellen, sind:
Wer ist auf dem Bildmaterial zu sehen? Welche Sprache wird gesprochen? Geben Stra-
ßenschilder, Autokennzeichen oder Werbetafeln Hinweise auf den Ort? Im zweiten
Schritt überprüfen wir die Vertrauenswürdigkeit der Quelle. Hat die Person viele Follower oder Facebook-Freunde? Ein relativ
neuer Account gibt Anlass zur Skepsis“, erklärt Wegener.
Als Nächstes kontaktiert das ARD-ContentCenter die Quelle, um zu klären, mit welchem
Gerät an welchem Ort zu welcher Zeit das
Video oder das Foto aufgenommen wurden
– und nicht zuletzt, um die Erlaubnis zur
Verwendung des Materials einzuholen. „In
Syrien ist ein direkter Kontakt oftmals nicht
möglich. Dann arbeiten wir mit Aggregatorplattformen wie zum Beispiel Ugarit News
oder dem Shaam News Network zusammen.“
Mit technischen Verfahren und OnlineInstrumenten wie Googles umgekehrter Bildersuche, den Abgleich mit öffentlichen
Fotodatenbanken wie panoramio.com, Wettersuchmaschinen und Sonnenstanddiensten
wie WolframAlpha und SunCalc überprüfen
die Redakteure die Plausibilität der Urheberaussagen.
„Verifikation ist ein Indizienprozess, man
führt einen Prozess gegen das Bild“, beschreibt Wegener den Kern seiner Arbeit.
„Aber die Indizien, die man mit technischer
Verifikation erlangt, haben nicht die gleiche
Bedeutung wie der Abgleich mit dem eigenen
Expertennetzwerk. Nur mit Hilfe der VorOrt-Experten kann man Indizien in Beweise
Dieses Foto einer Gasexplosion in Ludwigshafen kaufte dpa von einem Twitterer – nachdem Urheberschaft und Recht
geklärt werden konnten. Eine Ausnahme, da die Verifizierung für die Agentur meist sehr aufwendig ist.
Quelle: dpa
68
verwandeln. Deine Verifikationsergebnisse
sind letztendlich immer nur so gut wie die
Qualität deines Netzwerks.“
Viele der Nachrichtensammel- und Verifikationsprozesse seien dieselben, die Journalisten offline machen würden, betont Jenni
Sargent, Chefin von Eyewitness Media Hub.
Ihr Unternehmen will die Produktion, Entdeckung, Verifizierung und Publikation von
Augenzeugen-Content, wie sie es nennen,
unterstützen. „Ein Journalist muss offline
mindestens zwei Quellen finden. Das sollte
online und natürlich auch auf Social Media
gelten.“
Retweeten und Kuratieren – mit
umgekehrter Bildersuche
Auch wenn das Expertennetzwerk ein entscheidender Erfolgsfaktor im Verifikationsprozess ist, sollten Journalisten und Redakteure, die keinen Zugriff auf ein solches
haben, vor dem V-Wort nicht zurückschrecken. Ob bei einem schlichten Retweet oder
dem Kuratieren von Social-Media-Inhalten
in Breaking-News-Situationen: Ein Foto
durch die umgekehrte Bildersuche von Google zu jagen, kostet kaum Zeit und ist als Basisverifikation äußerst effektiv. Schnell ist
ersichtlich, ob das getwitterte Bild eines
fortgespülten Autos tatsächlich das aktuelle
Hochwasser in Passau dokumentiert oder
Überschwemmungen in Dresden 2002 zeigt.
Um Details zum Attentäter von Sousse herauszufinden, nennt Sargent ein weiteres
Beispiel. „Auf Instagram stand nur sein Benutzername.“ Sie führte für sein Profilfoto
eine umgekehrte Bildersuche durch. Und
fand so seinen Facebook-Account mit Namen,
Herkunft und Beruf.
Sueddeutsche.de leistet sich keine professionelle Verifikationseinheit. „Die Verifikation ist Aufgabe des jeweiligen Autors. Ob
analog oder digital, liegt die Verantwortung
beim Schreiber. Jeder muss die Fähigkeit besitzen, mit einfachen Mitteln festzustellen,
ob eine Geschichte Tatsache ist oder ein
Hoax“, sagt Christopher Pramstaller, Redakteur für Suchmaschinen- und Social-MediaOptimierung bei sz.de. Ein Problem sieht er
im „medialen Herdentrieb“. „Die Bericht­
erstattung durch zahlreiche Medien wird als
Verifikation missverstanden.“ So geschehen
im Fall des Germanwings-Piloten, als von der
„Kronen Zeitung“ über TF1 bis hin zum „Heute Journal“ und „Tagesthemen“ alle das Profilfoto des unschuldigen Andreas G. zeigten.
MEDIUM MAGAZIN #09/2015
P
„Manche Vorfälle würden ohne
Augenzeugen-Footage gar nicht
gefeaturet werden.“
Jenni Sargent, Chefin von Eyewitness Media Hub
Grund war die Namensähnlichkeit mit dem
tatsächlichen Piloten Andreas L.
Bei „Spiegel“ und Spiegel Online ist die Einbettung von Elementen aus Social-MediaKanälen in die Berichterstattung Alltagsgeschäft. Als Beispiel nennt Torsten Beeck
Tweets von Politikern oder Youtube-Videos.
„Die klare Zuordnung zu einem verifizierten
Absender hat dabei höchste Priorität“, betont
der Leiter des Bereichs Social Media. Ob die
Person hinter einem Tweet oder Post real und
authentisch ist, prüfen sowohl Redakteure
als auch Dokumentationsjournalisten, erläutert Almut Cieschinger aus der Dokumentation. Dafür werden laut Cieschinger mehrere Fragen geprüft: „Wie lange gibt es zum
Beispiel den Twitter/Facebook-Account, die
Internetseite schon und welche Tweets oder
Posts wurden von dort bislang abgesetzt?
Sind diese Einträge zeitlich und inhaltlich
konsistent und passen sie zur Person?“ Zudem
wird kontrolliert, ob die Bilder an dem angegebenen Ort gemacht wurden. Nach dieser
ersten Recherche bleibe aber immer noch ein
Restrisiko bestehen, so Cieschinger. Um auf
Nummer sicher zu gehen, versucht man daher, mit der betreffenden Person in Kontakt
zu treten.
Den direkten Kontakt suchte auch dpa, als
die Agentur nach einer Gasexplosion im Oktober 2014 in Ludwigshafen ein Foto auf Twitter ausfindig gemacht hatte, weil kein eigenes
Bild zur Verfügung stand. Dpa vereinbarte
mit dem Urheber, dass er der Agentur das
Recht zur Nutzung überträgt. „Bilder aus
diesen Quellen nutzen wir nur sehr selten“,
sagt Peer Grimm, Leiter der Fotoredaktion,
auch wenn das Monitoring sozialer Netzwerke nach User Generated Content zur täglichen
Routine gehört. Als Grund für die geringe
Nutzung extern produzierten Bildmaterials
nennt er, „dass es sehr, sehr aufwendig ist,
Rechte für Bilder zu klären und Bilder zu verifizieren“. Wenn Fotos aus diesen Quellen
genutzt werden, dann in erster Linie für
Nachrichten aus Deutschland.
User Generated Content wird mit einer
Checkliste verifiziert, die allerdings ein strikt
redaktionsinternes Papier ist und nicht nach
außen gegeben wird. „Die Programme nennen wir ungern. Je genauer wir sagen, welche
Möglichkeiten der Prüfung es gibt oder wie
man ein Bild aufbereiten kann, desto mehr
Angriffsfläche geben wir Menschen, die nicht
so positiv denken wie wir“, erläutert Grimm
diese Zurückhaltung. >>>
INFO
Mit diesen kostenlosen
Online-Tools verifiziert
man am besten
1. Google Images / TinEye
Durch den Foto-Upload in der umgekehrten
Google-Bildersuche, Eingabe der Bild-URL
oder durch einen Rechtsklick mit der Maus
auf das Foto (im Chrome-Browser öffnet
sich ein Pop-up, dort „In Google nach
diesem Bild suchen“ auswählen) zeigt
Google Webseiten an, auf denen das Foto
integriert ist. Das gibt erste Hinweise auf
Urheber, Veröffentlichungsdatum und
Kontext. Ein ergänzendes Werkzeug für die
umgekehrte Bildersuche ist tineye.com
(praktisch: es gibt eine Android-TinEyeApp). Google Images und tineye.com sind
Standardtools für eine Basisverifikation.
2. Jeffrey’s Exif Viewer
Der Image Meta Data Viewer liest die
Hintergrundinformationen einer Bilddatei
aus. So können Fragen zum Entstehungsort
und Kameramodell geklärt werden. Decken
sich die Metadaten mit den Angaben des
Urhebers? (http://regex.info/exif.cgi)
3. Youtube Data Viewer von Amnesty
International
Liegen mehrere Kopien eines Videos vor,
kann der Youtube Data Viewer bei der
Ermittlung der Originalversion helfen. Er
zeigt nicht nur die konkrete Upload-Uhrzeit
an – ein wichtiger Faktor, wenn es um die
Verifikation von User Generated Content
aus Kriegsgebieten geht –, sondern er
extrahiert gleichzeitig die Thumbnails des
Clips, die man anschließend durch eine
integrierte umgekehrte Bildersuche laufen
lassen kann.
4. Google Maps/Streetview bzw. PhotoSharing-Plattform panoramio.com
Sie sind bei der Recherche und Verifikation
von Orten verlässliche Werkzeuge. Sie
beantworten Fragen wie „Ist das tatsächlich
die Hügelkette bei Homs?“ durch den
Abgleich des zu überprüfenden Materials
mit Fotos, die Hobby- und Profifotografen
oder Touristen auf panoramio.com
hochgeladen haben.
5. Yomapic
Ein echtes Powertool für die Recherche von
Social Media Content. Mit diesem Dienst lassen
sich geografische Suchen für geogetaggte Posts
auf Instagram und vk.com, der russischen
Variante von Facebook, durchführen. Nach
Eingabe eines Ortes bzw. einer Adresse zeigt
yomapic.com sämtliche Instagram-Postings
an. Man kann den Radius erweitern und die
Suchergebnisse zeitlich einschränken.
6. foller.me
Das Analyse-Dashboard foller.me ist perfekt
für eine schnelle Überprüfung von TwitterAccounts. Einfach einen beliebigen Accountnamen ins Suchfeld eingeben und sich die
häufigsten Hashtags, Erwähnungen und
Topics anzeigen lassen. Twitterern mit einer
geringen Anzahl an Followern und Erwähnungen sowie brandneuen Twitteraccounts
sollte man skeptisch begegnen.
7. Storyful MultiSearch
Mit der Open Source Chrome Browser
Extension Storyful MultiSearch kann man
mehrere Social-Media-Plattformen gleichzeitig durchsuchen. Nach Eingabe des
Suchbegriffs öffnen sich Tabs, die die
aktuellsten Postings zum Thema oder der
gesuchten Person auf Twitter, Tumblr,
Youtube und Instagram anzeigen.
8. Bio is changed
Wann und in welcher Form hat ein Twitterer
seine 160-Zeichen-Biografie geändert?
Einfach bioischanged.com/xxx mit dem
jeweiligen Twitter-Handle in die Browserzeile
tippen und schon zeigt der Dienst die
Änderungen der Profilfotos und Bios an.
LINKTIPPS
Wer noch tiefer ins Thema einsteigen will:
https://africacheck.org/latest-reports
Die Africa-Check-Berichte beantworten Fragen
wie: „Leben in Südafrika tatsächlich fünf
Millionen Einwanderer – wie es ,New York Times‘,
Reuters und andere Medien kürzlich schrieben?“
http://verificationhandbook.com
Verifikationshandbuch zusammengestellt von
Journalisten der BBC, Storyful, ABC, Digital First
Media und weiteren Spezialisten (gratis)
https://twitter.com/StickysNotes/lists/
verification-heads
Twitter-Liste mit allen im Artikel zitierten sowie
weiteren Verifikationsexperten
MEDIUM MAGAZIN
69
Praxis. Verifikation I
„Africa Check hat sich zum Ziel
gesetzt, die Genauigkeit öffentlicher
Debatten zu verbessern.“
Anim van Wyk, Africa Check
Wie im Fall der Gasexplosion spielt Augenzeugen-Content also mittlerweile auch für
lokale Ereignisse eine wichtige Rolle. „Manche Vorfälle würden ohne AugenzeugenFootage gar nicht gefeaturet werden“, sagt
Jenni Sargent von Eyewitness Media Hub. Für
enorm wichtig hält sie dabei die konsequente Beachtung ethischer Standards. Denn oft
könnten Augenzeugen, die zustimmen, dass
ihr Material verwendet wird, die Folgen der
Verbreitung nicht absehen. Nach den Anschlägen von Paris auf das Satiremagazin
„Charlie Hebdo“ sei das etwa der Fall gewesen, erläutert Sargent. „Manche sagten danach, sie wünschten, sie hätten nichts weitergegeben, oder äußerten Bedauern, dass
ihr Name immer damit verbunden sein wird
oder sie von Journalisten bombardiert worden seien.“
Eyewitness betreibt auch Publikumsforschung. Eine der jüngsten Studien ergab, dass
Zuschauer verwackeltes oder unscharfes
Amateurmaterial sogar für authentischer
halten. Allerdings variiere die Relevanz je
nach Medium. Für Fernsehsender mit
24-Stunden-Berichterstattung sei dieser
Content ideal, um Lücken zu füllen. „Auch
für Online spielt jedes Bild, das die Story illustrieren kann, eine lebhafte Rolle“, glaubt
Sargent. Zeitungen würden dagegen stärker
auf professionelle Fotografie wegen der besseren Qualität setzen. Zudem hätten Printpublikationen mehr Zeit, um ein passendes
Bild zu finden. Da sei es fast schon eine kleine Sensation, so Sargent, dass die „New York
Times“ im Dezember 2014 eine Titelseite
voller Instagram-Fotos druckte.
Der Journalist als Filter
Als das Weltwirtschaftsforum Mitglieder seines Global Agenda Councils nach der drängendsten Herausforderung fragte, der sich
die Welt 2014 stellen müsse, landete die
schnelle Verbreitung von Online-Fehlinformationen unter den Top Ten. „Das Debunking
wird mühsamer“, bestätigt Jenni Sargent und
verweist auf die Geschwindigkeit durch Teilungen in sozialen Netzwerken: „Man sieht,
wie schnell sich News fortbewegen können.
Das gerät außer Kontrolle.“ Ein „debunken“
in Echtzeit ist schwierig.
Besonders in Krisengebieten, in denen Social Media Content zu Propagandazwecken
eingesetzt wird, müssen Journalisten eine
Filterfunktion übernehmen und Fakt von
Fiktion trennen – und das schnell.
Einen wichtigen Beitrag liefert africa­check.
org. Die erste Fact-Checking-Website des
afrikanischen Kontinents hat sich das Ziel
gesetzt, „die Genauigkeit öffentlicher Debatten zu verbessern“, erklärt Anim van Wyk.
Als ausführende Redakteurin arbeitet sie
zusammen mit einem kleinen Team aus klassischen Journalisten, einem afrikanischen
Literaturwissenschaftler, einem SoftwareProgrammierer, einem Experten für internationale Beziehungen sowie einem breiten
Freelance-Netzwerk an der Entlarvung von
Falschmeldungen und Fälschungen. Gegründet und gefördert wird Africa Check von der
AFP Foun­dation. Zur spektakulärsten Enthüllung der Non-Profit-Organisation gehörte ein verstörendes Foto, das sich 2014 viral
verbreitete. Darauf zu sehen: verkohlte Leichen – sorgfältig aufgereiht. Das Bild zirku-
lierte mit der Behauptung „Boko Haram
verbrennen 375 Christen“ durch die TwitterTimelines und Facebook-Chroniken.
Africa Check konnte nachweisen, dass das
Bild die Opfer einer Öltankerexplosion in der
Demokratischen Republik Kongo vier Jahre
zuvor zeigte. „Die Originalquelle konnten wir
nicht ausfindig machen“, beschreibt Anim
van Wyk den Verifikationsprozess. „Aber wir
fanden ein ähnliches Foto von Reuters, das
aufgereihte Leichen unter Decken zeigte. Wir
untersuchten das Gebäude, das im Hintergrund zu sehen war – genau wie die Uniformen und Kleidung der Menschen. Wir glichen
es mit dem Boko-Haram-Foto ab und es zeigte dasselbe verblichene Wellblechdach und
die gleichen Soldatenuniformen der Helfer.
Da war klar, dass es sich um ein im falschen
Kontext verbreitetes Foto handelte.“
Im englischsprachigen Raum ist Verifikation inzwischen Teil des journalistischen Zeitgeists. Unternehmen wie Buzzfeed, Gawker
oder die Washington Post haben das Potenzial von Verifikation und Debunking als Themengeber erkannt. In ihrer Kolumne „What
was fake on the Internet this week?“ trennt
die „Washington Post“ Fakt von Fiktion. In
Europa nimmt Metro Schweden mit dem
„Viralgranskaren“ die Echtheit viraler Inhalte unter die Lupe. Selbst das Boulevardportal
Gawker – mit fragwürdigem journalistischem
Ethos – nimmt sich des Themas an und sammelt auf antiviral.gawker.com gefälschte
Viral-Fotos.
Das gewissenhafte Fact-Checking ist in vielen deutschen Redaktionen Standard, das
Berichten darüber allerdings nicht. Dabei
hätte der transparente Umgang mit „Debunking“ durchaus Potenzial, mit dem Leitmedien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk
auf die Vorwürfe reagieren könnten, in denen
sie als „Lügen- und Systempresse“ geschmäht
werden. Als vertrauensbildende Maßnahme
sozusagen.
ANNETTE WALTER
ist freie Journalistin für den Bayerischen
Rundfunk, Zeit Online, „Missy Magazine“
und „Interview Magazine“.
DAS ORIGINAL: Die Opfer des Öltankerunglücks im
Kongo sind vor einem Gebäude mit charakteristischem Wellblechdach aufgebahrt. Quelle: Reuters
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DIE FÄLSCHUNG: Dasselbe Dach ist auf dem Propagandafoto von Boko Haram zu sehen, das sich 2014 in
den sozialen Netzwerken verbreitete. Africa Check fand
heraus, dass die Aufnahme im falschen Zusammenhang
verbreitet wurde. Hinweis: Teile des Bildes wurden von
Afrika-Check unkenntlich gemacht. Das virale Foto
zeigte die verbrannten Leichen ohne Verpixelung. Quelle: Twitter und Facebook, zur Verfügung gestellt
von africacheck.org
twitter.com/joniejanes
VERENA STÖCKIGT
ist freie Journalistin und Social-MediaBeraterin beim Bayerischen Rundfunk.
twitter.com/stickysnotes
MEDIUM MAGAZIN #09/2015
Praxis. Verifikation II
INTERVIEW: ANNETTE WALTER, VERENA STÖCKIGT
„Ich habe einen Anti-Fanclub“
Eliot Higgins von Bellingcat ist momentan einer der wichtigsten Verifikationsexperten
weltweit. Im Interview spricht er über Drohungen gegen seine Person, warum er
seinen Mitarbeitern nichts zahlen kann und Deutschland bei der Verifikation noch
Nachholbedarf hat.
Welchen simplen Verifikationsprozess sollte jeder Journalist beherrschen?
Eliot Higgins: Eindeutig die umgekehrte
Bildersuche von Google. Damit lässt sich
herausfinden, ob ein Bild alt oder neu ist.
Können Sie ein aktuelles Medien-Beispiel
nennen für eine unzureichende Verifikation?
Die australischen Nachrichten haben
kürzlich ein Video gezeigt, von dem sie
behaupteten, dass es ein brandneues Video
zum MH17-Fall ist. Dann stellte sich heraus,
dass die BBC einen Teil des Videos bereits
ein Jahr zuvor publiziert hatte.
Deutsche Medien berichten selten über Verifikationsprozesse. Wissen Sie warum?
Das liegt vor allem an der Sprachbarriere. Die meisten Menschen, die Verifikationsprozesse durchführen, sprechen
Englisch. Deshalb hat es sich vor allem in
der englischsprachigen NGO- und
Journalistenszene verbreitet.
Welches Verifikationstool empfehlen Sie?
Yomapic. Mit diesem Online-Instrument
kann man geografische Suchen für
geogetaggte Posts durchführen – auf
Instagram und vk.com, der russischen
Variante von Facebook. Auf einer Landkarte zieht man einen Kreis um ein bestimmtes Gebiet und es zeigt alle InstagramFotos an. Das ist interessant, wenn man
einen Ort wie das vom IS besetzte syrische
Rakka nimmt. Man sieht dann ausländische Kämpfer, die Instagram-Selfies
posten. Mit Yomapic kann man in diese
individuellen Accounts klicken und sich
sämtliche Fotos inklusive Geotags anzeigen
lassen. Es ist eine Weltkarte mit eingezeichneten Punkten, wo sie überall waren.
Du kannst sehen, wie sie aus ihrem
ZUR PERSON
Eliot Higgins. Der 36-jährige Brite aus Leicester, der
mit seiner Plattform Bellingcat den Journalismus
weltweit aufmischt, hat sich mal selbst als
Autodidakt bezeichnet. Ein Medienstudium brach
er ab, dann arbeitete er als Verwaltungsbeamter
bei der Non-Profit-Organisation Refugee Support.
Als er arbeitslos wurde, fing er 2012 an, unter dem
Pseudonym Brown Moses zu bloggen. Er machte
sich einen Namen mit Enthüllungen über den
Syrien-Krieg, etwa, dass Assads Regime Streubomben eingesetzt habe. Im Juli 2014 gründete er
die Investigativplattform Bellingcat, die Russland
vorwarf, im Zusammenhang mit dem MH17-Absturz Fotos manipuliert zu haben. Die Analyse
wurde von verschiedenen Seiten angegriffen.
Kritiker monierten unter anderem, dass eines der
Tools, die Error Level Analysis, keine 100-prozentig
sauberen Ergebnisse liefere. Higgins schreibt für
verschiedene Publikationen, lehrt in Workshops
und ist Berater für diverse Projekte.
https://www.bellingcat.com
https://twitter.com/eliothiggins
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Heimatland in die Türkei und dann in den
Irak gereist sind, weil sie geogetaggte Fotos
posten. Ein Journalist, der das regelmäßig
checkt, kann so interessante Geschichten
finden. Wir haben schon eine Frau aus
Guyana (Südamerika) gefunden, die zum
Islam konvertierte, in die Türkei und dann
nach Rakka reiste. Wir haben sie getrackt,
indem wir Yomapic verwendeten, um ihre
Instagram-Fotos anzuschauen.
Ihr MH17-Report zur Fälschung der
Satellitenbilder erntete auch Kritik. Sie
erweckt den Anschein, eine korrekte
Verifikation mit technischen Verfahren
wie dem Error Level Analyzer ist nur von
Experten zu meistern …
Unsere Arbeit für den MH17-Report
wurde falsch interpretiert. Nach einem
Blick auf die Satellitenbilder der russischen Regierung war klar, dass sie falsch
datiert waren. Es gab viele Probleme mit
diesen Bildern. Der Error Level Analyzer
legte nahe, dass sie verändert wurden.
Von großer Bedeutung war auch der
Kontext der Bilder. Wir haben Satellitenbilder der Locations des Anbieters Digital
Globe gekauft und zwar vom selben Tag,
ungefähr eine halbe Stunde später als die
Bilder, die das russische Verteidigungsministerium präsentierte. Es gab erhebliche
Diskrepanzen. In den russischen Bildern
gab es einen Bereich der Vegetation,
Grasstücke, das fehlte im Bild vom 17. Juli
und in früheren und späteren Aufnahmen. Der Vergleich mit den Satellitenaufnahmen zeigte uns, dass die Bilder des
russischen Verteidigungsministeriums
vom MH17-Vorfall gefälscht waren.
Haben Sie das Gefühl, dass die BellingcatDossiers speziell in Onlinemedien verkürzt
oder übertrieben wiedergegeben werden?
Ja. Ein gutes Beispiel ist unsere Recherche zu dem Ort, an dem James Foley vom
IS hingerichtet wurde. Ich war sehr
vorsichtig und wies in Interviews deutlich
darauf hin, dass es höchstwahrscheinlich
der Ort sei, basierend auf den verfügbaren
Informationen. In den Zeitungen stand
später, das ist definitiv der Ort, an dem
James Foley hingerichtet wurde.
Haben Sie eine Lösung für dieses Problem?
Ich glaube nicht. Zumindest nicht, wenn
sich die Medien nicht komplett veränMEDIUM MAGAZIN #09/2015
Mit Hilfe forensischer Software stellte
Bellingcat in einer Untersuchung die
These auf, dass die Fotos des russischen
Verteidigungsministeriums zum
MH17-Absturz gefälscht seien.
dern. Onlinemedien wie Daily Mail
Online veröffentlichen alles – solange es
ihnen 10.000 Klicks bringt. Sie sind
abhängig von Werbeeinnahmen und
geben ihren Berichten deshalb so schlagkräftige Überschriften wie möglich.
Wie ging es los mit Bellingcat?
Ich hatte bereits mein Blog und stellte
irgendwann fest, dass immer mehr
Menschen wie ich mit Open-Source-Tools
arbeiten, aber nicht wahrgenommen
werden. Ich wollte also alles auf einer
Internetseite zusammenführen. Mein Ziel
war und ist, mehr Menschen dazu zu
bringen, sich mit Open-Source-Recherche und Verifikation zu befassen.
Wie finanziert sich Bellingcat?
Im Moment gibt es keine richtige Finanzierung. Das ist ein Problem. Ich kann kein
Geld bezahlen. Dafür versuche ich, meinem
medium_magazin.pdf
21.08.2015
13:35:55 etwa, dass
Team
auf andere1Weise
zu helfen,
sie Aufträge bei Fachveranstaltungen oder
Universitäten bekommen.
Es ist wirklich schwer, jemanden zu
finden, der für Inhalte im Internet zahlen
will. Es gibt eben diese Mentalität, das
habe ich doch einfach so im Netz gefunden, wieso soll ich dafür zahlen? Im
Moment verdiene ich mein Geld mit
Workshops und Präsentationen.
Wäre es eine Lösung, wenn Sie an ein Medienhaus wie den Guardian andocken?
Es gab dazu Diskussionen, aber ich bin
nicht wirklich interessiert. Ich bin
unsicher, ob man die Art meiner Recherchen in einem Newsroom realisieren
kann. Meines Erachtens kann das nur als
eine Art NGO-Non-Profit-Journalismus
funktionieren. Es ist eben wirklich
nerdige Arbeit, die Besessenheit erfordert.
Werden Sie wegen Ihrer Arbeit bedroht?
P
Nein, so viele Drohungen gibt es nicht.
Okay, es gibt Leute, die meinen Kopf auf
den Körper von James Foley bei seiner
Exekution photoshoppen. Das ist im
Moment das krasseste. Und eine Person,
die mir seit einem Jahr Beschimpfungen
via Twitter schickt. Es gibt immer
obsessive Menschen, die finden, dass du
die schrecklichste Person auf der Welt
bist. Ich habe einen Anti-Fanclub.
Wieso beteiligen sich an Bellingcat so wenige Frauen?
Ich versuche wirklich, weibliche
Mitstreiter zu finden. Ein paar Mitarbeiterinnen benutzen Pseudonyme. Mein Team
und ich werden oft beschimpft. Wenn du
als Frau online bist und auch noch gut
aussiehst, ist es am schlimmsten. Die
Leute sind schrecklich zu Frauen, die im
Netz publizieren. Aber für künftige
Projekte hoffe ich, dass wir einen 50/50Mix haben.
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