Jäger- und Sammlergesellschaften im Wandel der Zeit
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Jäger- und Sammlergesellschaften im Wandel der Zeit
Jäger- und Sammlergesellschaften im Wandel der Zeit — Mbuti und Inuit im Vergleich Semesterarbeit zum Thema Umweltschutz und Entwicklung Lukas Boller ([email protected]) Dominik Schmid ([email protected]) Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung............................................................................................................................4 1.1 Allgemeine Einführung.................................................................................................4 1.2 Hypothesen...................................................................................................................5 2 Mbuti ..................................................................................................................................6 2.1 Einleitung .....................................................................................................................6 2.2 Traditionelle Lebensweise ............................................................................................7 2.2.1 Soziale Organisation ..............................................................................................7 2.2.2 Formen des Nahrungserwerbes ..............................................................................8 2.2.3 Weltsicht................................................................................................................9 2.2.4 Die Mbuti im Marktgeschehen .............................................................................10 2.2.5 Umweltauswirkungen ..........................................................................................11 2.3 Veränderungen ...........................................................................................................12 2.3.1 Veränderte Lebensweise, soziale Auswirkungen und Gefahren für die Mbuti.......12 2.3.2 Ökologische Folgen .............................................................................................14 2.3.3 Die Rolle des Staates ...........................................................................................15 3 Inuit ..................................................................................................................................18 3.1 Einleitung ...................................................................................................................18 3.2 Traditionelle Lebensweise ..........................................................................................19 3.2.1 Soziale Organisation ............................................................................................20 3.2.2 Formen des Nahrungserwerbes ............................................................................21 3.2.3 Weltsicht..............................................................................................................23 3.2.4 Kultur des Teilens................................................................................................24 3.2.5 Umweltauswirkungen ..........................................................................................25 3.3 Veränderungen ...........................................................................................................25 3.3.1 Veränderte Lebensweise, soziale Auswirkungen und Gefahren für die Inuit.........25 3.3.2 Ökologische Folgen .............................................................................................28 4 Diskussion.........................................................................................................................30 4.1 Hypothesen.................................................................................................................30 4.2 Methoden im Umgang mit indigenen Völkern ............................................................32 4.3 Zukunftaussichten.......................................................................................................35 4.3.1 Mbuti...................................................................................................................35 4.3.2 Inuit .....................................................................................................................36 5 Literatur ............................................................................................................................38 2 3 1 Einleitung 1.1 Allgemeine Einführung Inspiriert von der Vorlesung „Naturbeziehungen in aussereuropäischen Gesellschaften“ (gehalten von Tobias Haller) entschieden wir uns für eine Semesterarbeit, die versucht, ethnologische und naturwissenschaftliche Aspekte miteinander zu verknüpfen. Der Schutz von Jäger- und Sammlergesellschaften und die von ihnen bewohnten Ökosysteme stehen dabei im Vordergrund. Jäger- und Sammlergesellschaften prägen seit Jahrtausenden die Menschheitsgeschichte und stellen eine einfache und ursprüngliche Form des menschlichen Zusammenlebens dar. Deren Lebensweise konzentriert sich auf eine Subsistenzwirtschaft, also auf die Nutzung von natürlichen Ressourcen in einem Ausmass, welches gerade den Eigenbedarf deckt. Diese Witrschaftsweise zeichnet sich dadurch aus, zu den Ressourcen hin zugehen und nicht zu warten, bis die Ressourcen in einem Areal übernutzt sind (Haller 2003).Einige dieser Kulturen konnten ihre traditionelle Lebensweise bis in die heutige Zeit erhalten. Nur in eher schlecht zugänglichen oder unwirtlichen Gegenden, die erst vor relativ kurzer Zeit mit der westlichen Zivilisation konfrontiert wurden, war dies möglich, falls sie nicht in unwirtliche Regionen verdrängt wurden. Sie werden jedoch immer mehr bedroht durch die weltweite Ausbreitung der industriellen Marktwirtschaft und deren Folgen (Globalisierung, Mobilität, Tourismus usw.). Durch die Erschliessung der Gegenden, in denen diese Wildbeutergruppen leben, werden sie gezwungen, sich immer mehr mit der Aussenwelt auseinander zu setzen und dadurch geraten ihre traditionellen Lebensweisen in Gefahr. Damit verbunden ist häufig eine Bedrohung ihrer natürlichen Umwelt, die sie bisher in einer mehr oder weniger nachhaltigen, ressourcenschonenden Weise genutzt haben. Viele Gebiete, in denen Wildbeuter heute noch leben, sind bedroht durch intensivierten Abbau von Ressourcen wie Erdöl, Bodenschätzen oder Tropenhölzern, der ohne Rücksicht auf Menschen und Ökosysteme stattfindet. Wildbeuterkulturen verschwanden schon immer durch Entwicklung zu anderen Kulturformen oder durch Kontakt mit anderen Völkern und Kulturen, indem sie erobert wurden oder eine Kulturverschmelzung stattfand. Seit der Kolonialzeit wurden aber sehr viele dieser indigenen Gruppen fast oder ganz ausgerottet. Es entstanden künstliche Gebilde von Kolonien, die nichts mit der ethnischen Verteilung der entsprechenden Gegenden gemein hatten. Seither durchziehen neue Grenzen Kontinente wie Afrika, Asien oder Südamerika, die sich nicht mit den Grenzen der vorkolonialen Zeit decken. Dabei wurden einige Völker und Kulturen auf verschiedene Kolonien aufgeteilt oder in anderen Fällen Stämme unterschiedlicher Religionen und Lebensweisen miteinander derselben Verwaltung unterstellt. Seit der Unabhängigkeit der Kolonien haben sich einige dieser neu entstandenen Staaten zu Industrieländern entwickelt (USA, Kanada, Australien usw.), die meisten davon gehören heute jedoch zu den ärmsten Ländern der Welt (Somalia, Bangladesh, Bolivien usw.) und haben als multiethnische Staaten 4 immer noch mit den Folgen dieser kolonialen Grenzziehungen zu kämpfen (z.B. Bürgerkriege unter verfeindeten Völkergruppen). 1.2 Hypothesen In Industrieländern sowie in Entwicklungsländern sind heute noch Wildbeutergruppen zu finden, die ihren traditionellen Lebensstil noch mehr oder weniger pflegen. Diese Staaten haben unterschiedliche Möglichkeiten und Interessen, ihre indigenen Völker zu schützen. Unsere erste Hypothese lautet, dass Jäger und Sammler in ihrer natürlichen Umwelt in Industrieländern einen besseren Schutz geniessen und von diesen Staaten mehr dafür getan wird, die Möglichkeit einer traditionellen Lebensweise aufrechtzuerhalten. Im Gegensatz dazu stehen Entwicklungsländer, welche häufig von kriegerischen Konflikten heimgesucht werden und wo der Staat meist instabil, machtlos oder desinteressiert ist. Solange keine einigermassen politisch stabilen Verhältnisse herrschen und die Grundversorgung der Bevölkerung nicht gewährleistet ist, werden Themen wie der Schutz von indigenen Völkern weit nach unten geschoben auf der Prioritätenliste einer Regierung. Wir nehmen an, dass Wildbeutergruppen in solchen Ländern keinen staatlichen Schutz geniessen und auch nur wenige Rechte (Landbesitzrechte, Nutzungsrechte von Ressourcen, politische Rechte usw.) besitzen. Die zweite Hypothese betrifft die Änderungen der Auswirkungen auf die Umwelt. Wildbeuter leben einigermassen harmonisch mit ihrer Umwelt und bewirtschaften diese in der Regel nachhaltiger als höher entwickelte Kulturen. Durch den Verlust ihrer Lebensweise ändert sich aber auch der Druck auf ihre Umwelt. In den allermeisten Fällen verschlechtert sich dabei die Situation für die Ökosysteme. Wir meinen, dass in Industrieländern durch einen verbesserten Schutz der indigenen Völker auch indirekt eine Art Umweltschutz betrieben werden kann, indem für diese Völker die Gelegenheit besteht, weiterhin ihren traditionellen nachhaltigen Lebensstil zu pflegen. In Entwicklungsländern hingegen besteht diese Möglichkeit kaum. Um diese Hypothesen zu überprüfen, wählten wir je einen typischen Vertreter der Wildbeuterkultur in einer Industrienation und in einem Entwicklungsland: - die Inuit in Kanada - und die Mbuti-Pygmäen in der Demokratischen Republik Kongo. Anhand von Literaturstudien untersuchten wir die oben beschriebenen Hypothesen. Unsere erste Hypothese, dass Jäger- und Sammlerkulturen in Industrienationen einen besseren Schutz geniessen als in Entwicklungsländer wurde bestätigt. Nach unserer zweiten Hypothese soll ein Schutz der indigenen Bevölkerung zu einem indirekten Umweltschutz beitragen. Diese Aussage muss verworfen werden, da nur ein umfassender Schutz der Natur unter Berücksichtigung der indigenen Kultur zum Ziel führt. 5 2 Mbuti »When we are the children of the forest, what need have we to be afraid of it? We are only afraid of that which is outside the forest.« (Turnbull 1961, S. 72) Dieses Zitat zeigt die enge Verbundenheit der Mbuti mit ihrem Lebensraum, dem tropischen Regenwald Zentralafrikas. Es drückt aber auch ihre Unsicherheit gegenüber der Welt ausserhalb des Waldes aus. 2.1 Einleitung Die Mbuti sind kleinwüchsige Menschen und gelten als prototypische Vertreter von afrikanischen Wildbeutern. Sie leben im Ituri-Regenwald im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo (ehemals Zaïre). Der tropische Regenwald dient als Quelle für Ressourcen, von denen die Mbuti abhängig sind. Sie können den grössten Teil der Güter und Nahrung, die sie zum Leben benötigen, dem Wald entziehen und sind durch diese Abhängigkeit auch spirituell stark mit ihm verbunden. Fig. 1: Die Pygmäengruppen Zentralafrikas (Karte nach Bahuchet 1985. Aus Bollig, M. und Bünnagel, D. 1992) Die Wildbeuter Zentralafrikas werden unter dem Urwaldromantik verheissenden Begriff »Pygmäen« zusammengefasst. Er ist abgeleitet vom griechischen Wort »pygmaios«, was soviel bedeutet wie »faustgross« oder im übertragenen Sinne »zwergwüchsig«. Für die 6 kongolesischen Pygmäen selbst hat der Begriff »Pygmäe« eine eher abwertende Bedeutung, sie bezeichnen sich selbst als »Mbuti«. Bis heute konnte sich die exotische Vorstellung von angeblich auf Steinzeitniveau lebenden, friedlichen kleinen Waldmenschen halten. Nach diesem Mythos leben sie im Einklang mit einer Umwelt, die einen ständigen Überfluss an Nahrung produziert, in ihren Ritualen widerspiegeln sich die Geheimnisse des afrikanischen Kontinentes und ihre Kultur ist für den „europäischen Forscher“ ein Fenster in die frühe Phase der Menschheitsentwicklung. Diese beschönigenden Annahmen treffen insbesondere auf die heutige Lebensweise der Mbuti aber nur teilweise zu. 2.2 Traditionelle Lebensweise An dieser Stelle wird die ursprüngliche Lebensweise der Mbuti und ihre Auswirkung auf die Umwelt beschrieben. Es soll der Zustand beschrieben werden, bevor die Europäer die Gegend kolonialisierten und bevor der Ituri-Regenwald in einen Staat integriert wurde. Wir stützen uns hier vor allem auf Studien, die Mitte des 20. Jahrhunderts von Colin Turnbull erhoben wurden und denen eine gewisse Subjektivität anhaftet. Es stellt sich natürlich die Frage, wie ursprünglich die vorgefundene Situation noch war, da während der belgischen Kolonialherrschaft bereits ein gewisser Einfluss auf die Mbuti ausgeübt wurde. 2.2.1 Soziale Organisation Die kleinste soziale und wirtschaftliche Einheit der Mbuti-Gesellschaft ist das Lager. Die Lager setzen sich meistens aus patrilinear verwandten Personen zusammen und umfassen bis zu 100 Leute. Zwei Typen von Lagern lassen sich unterscheiden. Zum einen wird ein Basislager bewohnt, das in unmittelbarer Nähe einer Bauernsiedlung am Waldrand liegt. Die Basislager ermöglichen den Mbuti einen kontinuierlichen Handel mit den dort sesshaften Bantu-Bauern. Zum anderen werden verschiedene Jagdlager im Waldesinnern errichtet, die als Ausgangspunkt für die tägliche Jagd auf Wildtiere dienen. Dies sind auch die Orte, an die sich die Mbuti zurückziehen, wenn es ihnen im Basislager zu hektisch wird oder sie ungestört sein möchten. Ein solches Lager besteht aus Zweighütten mit Blätterdach, die meist kreisförmig angeordnet sind und jeweils von einer Familie oder einem Familienteil bewohnt werden. Das tägliche Miteinander ist geprägt von Kooperation und gegenseitiger Abhängigkeit. Die bereits im Kindesalter erlernte Übernahme von Verantwortung, ökonomischen und sozialen Aufgaben resultiert im Erwachsenenalter in einer Gesellschaft, die sich durch Egalität und Hierarchielosigkeit auszeichnet. Statusdenken und das Streben nach Privatbesitz spielen eine untergeordnete Rolle und kommen innerhalb des Subsistenzgefüges kaum zur Entfaltung. Im Gegensatz zu den Ackerbau betreibenden Ethnien gibt es bei den Mbuti keine traditionellen Führer, die von den anderen Gehorsam verlangen oder Abgaben einfordern können. Die Ältesten verfügen zwar über eine gewisse Autorität, können und wollen sich aber nicht gegen 7 die Meinungen der übrigen Mitglieder der Gruppe durchsetzen. Sie fungieren als Schlichter und Vermittler bei Konflikten und leiten wichtige Rituale. Ein etwas höheres Ansehen geniessen auch die erfolgreichen Jäger. Ihren Meinungen wird am ehesten Beachtung geschenkt, wenn es darum geht wichtige Entscheidungen zu treffen, die die Jagd und damit die ganze Gruppe betreffen. Letztlich werden alle Entscheidungen im gemeinsamen Konsens getroffen und dabei hat jede(r) die gleiche Stimme, Frauen wie Männer. Die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung ist Sache der Gemeinschaft, da auch in private Streitereien die ganze Gruppe einbezogen wird. Einzige Autorität für die Mbuti ist der Wald, der gleichzeitig Gesetz und Richter verkörpert. 2.2.2 Formen des Nahrungserwerbes Traditionell jagten die Mbuti nur mit Pfeil und Bogen. In den letzten Jahrhunderten wurde zusätzlich die Methode der Netzjagd von den Bantu-Bauern übernommen und gewinnt seither immer mehr an Bedeutung. Die Jagdethik schreibt vor, nicht mehr Tiere zu töten, als unbedingt notwendig ist für die Nahrungsversorgung. Das Töten von Tieren aus reiner Tötungslust oder um einen höheren Status zu erreichen wird als schweres Vergehen betrachtet. Um die Entweihung des Waldes durch die Jagd und das Töten zu mindern, entfachen Kinder oder Jugendliche vor jeder Jagd ein Feuer, meist in der Nähe des Lagers. Auf diese Art wird dem Wald entsprechender Respekt entgegengebracht (Turnbull 1961). Die Bogenjäger besitzen keine festen Jagdterritorien und streifen in kleinen Gruppen in einem grösseren Jagdgebiet umher. Gejagt wird normalerweise einzeln durch die Männer, häufig in Begleitung eines Jagdhundes. Verschieden Pfeile kommen dabei zum Einsatz. Pfeile mit einer Metallspitze werden verwendet um verschiedene Antilopenarten und andere am Boden lebende (Säuge-)Tiere zu erlegen. Um Affen und Vögel zu töten, werden Pfeile ohne Metallspitze mit verschiedenen Pfeilgiften präpariert. Speere kommen nur zum Einsatz, wenn Grosswild gejagt wird wie Büffel oder Elefanten, was ein seltenes Ereignis darstellt. Bei den Netzjägern wird in Gruppen gejagt. Etwa 10 bis 30 Netze werden zu einem Halbkreis zusammengeknüpft, in denen sich die Beutetiere verfangen sollen. Zu diesem Zweck treiben vor allem Frauen und Kinder die aufgeschreckten Tiere in die Netze hinein, die dann von den bereitstehenden Männern mit Speeren und Keulen getötet werden. Auch hier stellen die nachtaktiven Waldantilopen die wichtigste Fleischnahrungsquelle dar. Die Jagdbeute gehört prinzipiell dem Besitzer des Netzes, er ist aber auch verpflichtet, das Fleisch grosszügig nach gewissen unverbindlichen Regeln zu verteilen. Zuerst bekommt der Jäger, der am Morgen das Feuer entfacht hat, den ihm zustehenden Anteil, danach der Jäger, der dem Besitzer des Netzes geholfen hat, die darin gefangenen Tiere zu töten. Auch der Jäger, der mit einem geliehenen Netz erfolgreich war, erhält einen bestimmten Teil der Jagdbeute. Zuletzt werden leer ausgegangene Jäger von Verwandten und Freunden mit Fleisch beschenkt. Um ständige Ungleichheiten bei der Verteilung der Jagdbeute zu vermeiden, wird die Position der Netze im Halbkreis ständig gewechselt. Die Netze im Zentrum des Halbkreises weisen einen höheren Fangerfolg auf, als die Netze an den Flanken. Zwischen Netzauf- und -abbau und 8 während den Wanderungen zu einem anderen Jagdgebiet sammeln vorwiegend die Frauen Pilze, Insektenlarven und Knollen- und Wildfrüchte. Das Sammeln spielt aber bei den Netzjägern im Gegensatz zu den Bogenjägern eine untergeordnete Rolle. Der Anteil der Arbeitsleistung der Frauen ist sehr hoch. Gerade bei den Netzjägern sind sie unverzichtbarer Bestandteil der Jagd, dies erklärt wahrscheinlich das fast gleichberechtigte Ansehen der Frau in der Mbuti-Gesellschaft. Zwischen April und Juni nimmt das Sammeln von Honig einen Grossteil der Zeit in Anspruch. Diese kalorienreiche Nahrung ist sehr wichtig, stellt der Wald doch wenig Vergleichbares in genügender Menge bereit. Die Honigsaison hat einen wichtigen Einfluss auf die soziale Struktur der Mbuti, in dieser Zeit schliessen sich die Bogenjäger zu grösseren Gemeinschaften zusammen, während die Netzjäger sich in Untergruppen aufteilen. Halten sich die Mbuti in den Basislagern in der Nähe der Bauerndörfer auf, wo es ihnen nicht möglich ist, ausreichend Nahrung zu jagen, tauschen sie mit den Bantu-Bauern Wildfleisch, welches aus den Jagdlagern mitgebracht wurde, gegen Feldfrüchte und andere nützliche Gegenstände, die vom Wald nicht bereitgestellt werden. Auf diese Weise können die Mbuti ihren Speisezettel um Nahrungsmitteltypen ergänzen, an denen es im Wald mangelt, vor allem kohlenhydratreiche Speise (siehe auch 2.2.4). 2.2.3 Weltsicht Auch wenn der Anschein bestehen mag, die Mbuti seien eine gesetzlose und ungeregelte Kultur, haben sie gewisse Regelwerke (Istitutionen) geschaffen, die eine Verordnung über Nutzung und Verteilung der Regenwaldressourcen darstellen (Haller 2003). So gibt es nach der religiösen Auffassung der Mbuti keinen Zusammenhang zwischen erhöhtem Jagddruck und der Abnahme der Tierbestände (v.a. der Waldantilopenarten); für sie ist das eine Frage nach dem Zustand des Waldes: Ist er glücklich, wird er ihnen auch Jagdglück bescheren. Die Intensivierung der Jagd führt zu einer Abnahme der Beutetierbestände, also muss der Wald nicht zufrieden sein, das realisieren die Mbuti zwar, verlockend sind auch die Angebote der Händler, so dass der traditionellen Weltsicht nicht mehr so viel Beachtung geschenkt wird wie früher. Das hat zur Folge, dass die Jagdgruppen immer tiefer in den Regenwald vordringen, an Orte die noch intakte Tierbestände aufweisen und welche Turnbull (1983) als »no man’s land« bezeichnete. Diese Orte galten bisher als Tabu und durften nicht betreten werden. Aus der Sicht der Mbuti ist es nötig, dem Wald dort einen ungestörten und vom lärmigen Menschen befreiten Platz zu bieten. Westliche Untersuchungen zeigten, dass es sich bei diesen Gebieten um Rückzugs- und Regenerationsgebiete der Beutetiere handelt, da hier eine relativ ungestörte Jungenaufzucht der Jagdbeutetiere möglich ist. Werden solche Gebiete bejagt, führt das zu einer substantiellen Abnahme der Wild-Populationen. Die Mbuti betreiben keinen Ahnenkult, für sie gibt es nur ein Diesseits und kein Leben nach dem Tod. Der Wald verkörpert ihr Leben, ihren Gott, ihre Religion. Ein Pygmäe drückte es einmal so aus: 9 »Der Wald ist Vater und Mutter für uns...; er gibt uns alles, was wir brauchen, Nahrung, Kleidung, Schutz, Wärme und Zuneigung. Gewöhnlich geht alles gut, weil der Wald gut zu seinen Kindern ist; wenn aber etwas missglückt, muss das einen Grund haben... Dann hat der Wald geschlafen und konnte nicht für seine Kinder sorgen. Und dann wecken wir ihn, indem wir zu ihm singen; wir singen, damit er glücklich erwachen soll. Dadurch wird wieder alles gut und richtig werden.« (Turnbull 1963, S.101-102 ) Eine längere Abwesenheit der Mbuti vom Wald wird als sehr negativ betrachtet, da sie dann nicht mehr für ihren Wald sorgen können und er „einschläft“, was ein schlechtes Omen darstellt, wie aus obigem Zitat zu entnehmen ist. Es ist ein Unterschied, ob es an Gutem mangelt oder ob Böses da ist. Denn in einem Fall wird man versuchen, das Gute wieder herbeizuholen oder zu stärken, während man im anderen Fall eher dazu neigen wird, das Böse zu bekämpfen (Duerr 1984). Die Vorstellung der Mbuti von der Welt, in der sie leben, ist eine durchaus positive im Sinne von Duerr. Auf der anderen Seite ist die Welt ausserhalb des Waldes beherrscht von negativer Magie und Hexerei, sie betrifft die Mbuti aber nur in den Dörfern der Bantu-Bauern, da sie im Waldesinnern wirkungslos ist. Wird man vom Unglück verfolgt, bleibt das Jagdglück aus oder bei schwerer Krankheit und Tod, wird ein Molimo-Fest ins Leben gerufen um den Wald zu wecken und ihn mit Gesang, Musik und Tanz zu erfreuen, damit alles wieder in Ordnung kommt. Es ist der symbolische Triumph des Lebens über den Tod. Ein solches Molimo-Fest kann über mehrere Wochen andauern mit allabendlichem Gesang um das Molimo-Feuer und mit dem Spielen und Herumtragen der Molimo-Trompete, einem Instrument, das ein wichtiger Bestanteil des Molimo-Rituales bildet. Lärm und Unruhe wird als negativ angesehen und soll vermieden werden, es missfällt dem Wald. Ein lautes Lager sei ein hungriges Lager, sagt ein Sprichwort der Mbuti. Das Jagdglück verlasse sie und sie müssen den Wald wieder fröhlich stimmen, um wieder Erfolg zu haben auf der Jagd. Bei Streit im Lager endet dieser häufig damit, dass den Streitenden vorgeworfen wird, sie seien zu laut und brächten Unglück über das Lager, weil sie den Wald erschreckten mit ihrem Lärm. 2.2.4 Die Mbuti im Marktgeschehen In älteren Studien über die Pygmäen in Zentralafrika wird das Hauptaugenmerk auf ihre Anpassung an das Leben im tropischen Regenwald als Jäger und Sammler gerichtet und etwas romantisch verzerrt dargestellt. Das Überleben der Mbuti ausschliesslich über das Jagen und Sammeln ist aber sehr arbeitsaufwändig und anstrengend. Erst in jüngeren Studien wird dem Handel mit den Ackerbau betreibenden Dorfbewohnern mehr Beachtung geschenkt. Es gibt sogar eine Hypothese (Bailey und Peacock 1988), die besagt, dass ein Leben ausschliesslich aufgrund des Nahrungsangebotes des Regenwaldes nicht möglich sei und dass die Pygmäen erst durch den kontinuierlichen Austausch mit den Ackerbauern in den Urwald 10 vordringen und so ihre Existenz garantierten konnten. Dafür spricht, dass die Pygmäen des zentralafrikanischen Beckens heute die Sprache der umgebenden bantu- und sudasprachigen Ackerbauern sprechen und keine eigene Pygmäensprache bekannt ist. Unbestritten sind die schon lange währenden Kontakte zwischen Ackerbauern und Pygmäen, die bereits 2000 bis 3000 Jahre bestehen. Einige Technologien (Netzjagd), Ressourcen (Eisen für Pfeile und Speere) und Nahrungsmittel (Kulturpflanzen) wurden von den Mbuti übernommen und veränderten entsprechend ihre Lebensweise. Traditionell tauschen die Mbuti Wildfleisch und andere Waldprodukte gegen landwirtschaftliche Erzeugnisse (u.a. Tabak und Getreide), Salz, Stoffe und Eisen. Jede Mbutifamilie hat einen Austauschpartner in einem Dorf, mit dem sie den Handel besonders pflegen. Ein Mbutimann ist durch eine Art Blutsbrüderschaft mit einem Ackerbauern verbunden. Diese Verbindung geht später auf ihre Söhne über und wird neu bekräftigt durch ein Ritual. Die Mbuti helfen teilweise auf den Feldern der Bauern und werden dafür mit Nahrungsmitteln belohnt. Zudem tritt ein Ackerbauer für „seinen“ Mbuti bei Rechtsstreitigkeiten im Dorf ein und verkauft dessen Produkte in Kommission auf den regionalen Märkten. Von den Mbuti erwarten die Dorfbewohner, dass sie sich an Initiationsritualen beteiligen und an anderen religiösen Handlungen teilnehmen. Die Mbuti tun dies aber nur dem Anschein nach (denn von der Welt der Bauern halten sie nicht viel, die ist ihnen zu stark von Hexerei geprägt und viel zu laut), um die Bauern nicht zu ärgern. Haben die Mbuti mit ihrem „Patron“ ernsthafte Streitigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten, suchen sie sich einfach einen anderen Bauern als Partner. Die traditionellen Handelsbeziehungen sind komplex und mögen für unser Verständnis manchmal etwas willkürlich erscheinen. Das hängt damit zusammen, dass der Handel für die Bauern eine wichtige Rolle spielt, da ihnen ein Gefühl der Macht über die Pygmäen gegeben wird durch deren unterwürfiges Verhalten. Diese spielen diese Rolle nur im Wissen darum, dass sie die Bauern jederzeit stehen lassen und in die Ruhe des Waldes zurückkehren können. 2.2.5 Umweltauswirkungen Im zentralafrikanischen Urwald des Zaïre-Beckens ist noch grossflächig dichter tropischer Regenwald vorzufinden, in dessen Innern noch viele seltene und vom Aussterben bedrohte Tierarten leben, wie Gorillas, Schimpansen, Okapis usw. Da die zentralafrikanischen Regenwälder vermutlich zu den ältesten tropischen Regenwäldern dieses Planeten zählen, beheimaten sie eine riesige Artenvielfalt. Die Mbuti, die einen Teil dieser Waldfläche als ihren Lebensraum beanspruchen, sind körperlich an diese Umwelt angepasst. Sie führen ein nomadisches Leben und wechseln regelmässig ihr Lager. Dieses Verhalten hält den Druck auf die Umwelt durch die Lagerplätze relativ klein und ephemer. Der Handel mit den Bauern, welcher proteinreiche Nahrung (Wildfleisch) gegen Nahrung mit hohem Kohlehydratanteil (Getreide usw.) tauscht, ist ökologisch sehr effizient. Diese Form der Koexistenz verschiedener Völker erlaubt eine 11 bessere Ausnützung der Ressourcen und des Raumes, weil nicht um dieselben Ressourcen gekämpft werden muss. Nach einer Studie von Itchikawa (1996) verwenden die Mbuti ungefähr 500 Pflanzenarten als Nahrung, Medizin, Materialien für Werkzeug-, Waffen- und Hüttenbau, als Pfeilgifte oder für Rituale. Hinzu kommen Hunderte von Pflanzen, die indirekt genutzt werden als Nektarquelle für Honigbienen oder Nahrungspflanzen für Jagdbeute. Die direkten Einwirkungen auf das Regenwaldökosystem durch die Wirtschaftsweise der Mbuti sind relativ klein. Sie umfassen primär folgende drei Aspekte: Rodungen, das Honigsammeln und die Jagd bzw. das Leben in Jagdlagern. Um das Basislager herum wird eine kleine Fläche (bis zu 400m2) gerodet, um dort Cassava und andere Feldfrüchte anzubauen. Auch das Honigsammeln beeinflusst die Waldvegetation, indem in seltenen Fällen ein Baum, an dem ein Bienenstock hängt, mit Hilfe einer Axt gefällt wird. Dabei handelt es sich vorwiegend um schnell nachwachsende Bäume, was den Schaden zusätzlich minimiert. Ein weiterer Aspekt bildet die Jagd, insbesondere der Aufbau von Jagdlagern. Ein verlassenes Lager wird schnell überwachsen von Pionierpflanzen, gefolgt von Bäumen, die viel Licht benötigen. Itchikawa stellte fest, dass in solchen Sekundärwaldstücken die Dichte an Nahrungsbäumen für Bienen und Beutetiere signifikant höher ist als auf vergleichbaren von Primärwald bedeckten Flächen. Das Überleben der Mbuti hängt interessanterweise zu einem Grossteil von Pflanzen ab, die im Sekundärwald besser gedeihen. Somit schaffen sich die Mbuti durch ihr Wirtschaften bessere Voraussetzungen für ihr Überleben im Regenwald. Dies zeigt aber auch, dass der Wald nicht als „Urwald“ und somit als völlig unberührt betrachtet werden kann. Vielmehr zeichnet er sich durch eine vom Menschen geschaffene Mosaikstruktur von Primär- und Sekundärwald aus. 2.3 Veränderungen So unzugänglich der Ituri-Regenwald auch war, wurden die Mbuti doch zunehmend von der Zeit eingeholt und müssen sich heute immer mehr mit den Realitäten der Globalisierung auseinandersetzen. In den letzten 50 bis 60 Jahren wurden die kleinwüchsigen Waldbewohner mit so vielen neuen Dingen und Situationen konfrontiert wie noch nie zuvor. In diesem Abschnitt versuchen wir darzustellen, wie die Mbuti dieser schweren Herausforderung begegnen. Die Veränderungen der Lebensweise werden beschrieben, deren soziale Auswirkungen auf die Mbuti-Gesellschaft und ableitbare ökologische Folgen für das Ökosystem Regenwald. In einem weiteren Unterkapitel wird die Rolle des Staates im Zusammenhang mit den Veränderungen genauer betrachtet und die Auswirkungen auf die Mbuti und ihre Umwelt beschrieben. 2.3.1 Veränderte Lebensweise, soziale Auswirkungen und Gefahren für die Mbuti 12 Zwischen 1920 und 1940 baute die belgische Koloniemacht schmale Strassen ins Iturigebiet, um die Ausdehnung der europäischen Plantagenwirtschaft, vorwiegend Baumwollplantagen, zu garantieren. Dies führte zu Veränderungen im Zusammenleben zwischen den Mbuti und den Bantu-Bauern. Der Anbau von Baumwolle brachte mehr Arbeit für die Bantu-Bauern mit sich, und die Mbuti boten ihre Arbeitskraft gegen Nahrung an. Schon bald nach der Errichtung der ersten Plantagen begannen die Mbuti, deren Arbeiter mit Wildfleisch zu versorgen. Durch die immer bessere Erschliessung des Gebietes wanderten in den frühen 60er Jahren zahlreiche Nande aus den überbevölkerten Grenzgebieten in die Dörfer der Bantu-Bauern ein und spezialisierten sich relativ schnell auf den Fleischhandel mit den Mbuti. Dabei übergingen sie die traditionellen Patrons in den Dörfern und gingen selbst in den Urwald um einzelne Jagdgruppen aufzusuchen. Die erlegten Tiere wurden von den Nande-Händlern in grösseren Städten der Umgebung weiterverkauft. Dieser Fleischhandel führte zur Intensivierung der Jagd, vor allem der Netzjagd, da die Nachfrage nach Wildfleisch stark anstieg. Erstaunlicherweise halten die Mbuti aber bis heute an ihren traditionellen Jagdtechniken fest und benutzen nur in seltenen Fällen Gewehre. Der verstärkte Handel wurde vorübergehend unterbrochen durch die Simba-Rebellion (1964), nach der die Ruhe für ein paar Jahre in den Wald zurückkehrte. Danach nahmen die Händler in noch grösserer Zahl und noch verbissener ihr Geschäft mit dem Wildfleischhandel wieder auf. Anfänglich reagierten die Mbuti kaum auf die erhöhte Nachfrage der Nande nach Wildfleisch, da aus ihrer Sicht kein Bedarf bestand, mit ihnen zu handeln; der Handel mit den Bantu stellte den Mbuti bereits alle notwendigen Güter bereit. Erst als die Nande in die Jagdcamps vordrangen, die Mbuti nicht mehr in die Dörfer wandern mussten und somit länger in Wald bleiben konnten, liessen sie sich auf den neuen Handel ein. Als Alternative zu den Produkten der Bantu boten die Nande-Händler nebst Cassavamehl auch Reis an. Durch die intensivierte Jagd begannen erfolgreiche Jäger, sich über das bewährte Verteilungssystem hinwegzusetzen und Statusdenken konnte sich etablieren, ein Nährboden für Konflikte und Spannungen innerhalb der Gruppen. Die Familienverbände, deren Zusammenleben bisher auf den Prinzipien der Gleichheit, Kooperation und Gemeinschaft beruhten, sind in Veränderung hin zu Konkurrenz und Individualismus begriffen. Um mehr Beute zu machen, müssen grössere Jagdgebiete durchstreift werden, was zu vermehrten Streitereien mit anderen Gruppen führt. Die zunehmende Präsenz von Händlern in Jagdlagern stört die Mbuti in ihrer Ruhe im Wald, die von ihnen so hoch geschätzt wird. Bisher verstanden sie es aber geschickt, die Kontrolle über die Jagd zu behalten: sie entscheiden, ob und wann gejagt wird, und wissen das kommerzielle Preissystem zu ihren Gunsten auszunutzen. Vielfach verlangen sie Nahrung auf Kredit, den sie jedoch viel später oder gar nicht begleichen, wohl wissend, dass die fremden Händler den Wald früher später wieder verlassen werden. Aus politischen und ökonomischen Gründen wurden die engen Pfade ins Iturigebiet in den letzten 30 Jahren verbreitert und zu grossen Strassen ausgebaut. Auch neue Strassen wurden laufend angelegt und machen seither das Iturigebiet zugänglicher. Immer mehr Leute aus den überbevölkerten Grenzgebieten lassen sich seither in den Bantu-Dörfern nieder. Um ihre Existenz zu gewährleisten und die zusätzlich benötigte Ackerbaufläche zu erhalten, muss immer mehr Wald gerodet werden. Die Mbuti werden durch das Bevölkerungswachstum 13 immer stärker mit der Welt außerhalb des Waldes konfrontiert. Ihre Strategie des Ignorierens von Geschehnissen in den Dörfern und des Rückzugs in den Wald wird immer schwieriger. Sie werden zusehends gezwungen, sich mit ihrer veränderten Umwelt auseinander zu setzen. Strassen haben neben den direkten Auswirkungen vor allem viele indirekte Folgen. Breitere, befestigte Strassen verbessern den Transport mit Lastwagen und anderen motorisierten Fahrzeugen. Von diesen neuen Möglichkeiten profitiert die Holzindustrie, die nun entlegenere Waldgebiete erreichen und das gefällte Holz schneller und bequemer aus dem Wald schaffen kann. Auch Wildfleisch lässt sich auf Lastwagen viel schneller in die Städte transportieren, was die Nachfrage zusätzlich erhöht. Wie oben erwähnt fördern Strassen die Immigration und wirken wie Flüsse, die den Ituriwald mit vielen Elementen (auch negativen) der Welt ausserhalb des Waldes überfluten. Die steigende Nachfrage bei Tropenholz führt zu einem erhöhten Druck auf die zentralafrikanischen Regenwälder. Verstärkend wirkt der Umstand, dass die tropischen Regenwälder im asiatischen Raum und in Westafrika bereits grösstenteils abgeholzt wurden und sich die Holzkonzerne nun umso rücksichtsloser auf die zentralafrikanischen Waldbestände stürzen. Pygmäen werden dank ihren detaillierten Kenntnissen der Tier- und Pflanzenwelt des Regenwaldes von den Holzindustrien angeworben. Sie lassen sich von den Waldmenschen gezielt die kommerziell nutzbaren Bäume zeigen. Vor allem bei den BakaPygmäen in Kamerun ist dies häufig. Bei den Mbuti ist dies bisher nur in geringem Masse anzutreffen. Pygmäen, die sich von den Holzindustrien anstellen lassen, gefährden das traditionelle Familien- und Clangefüge, weil durch ihre Abwesenheit die kollektive Jagd nicht mehr richtig funktionieren kann. Statusdenken kann sich ebenfalls weiterentwickeln, verursacht durch das Geld, das sie als Taglöhner erhalten. Geld wird immer wichtiger in der Welt der Mbuti. Sie werden zunehmend mit einer ökonomischen Welt konfrontiert, wobei der Handel mit Wildfleisch und anderen Waldprodukten, wie Pilzen, Kolanüssen oder Honig, diese Entwicklung weiter ankurbelt. Waren gegen Geld zu tauschen ist vor allem aus der Sicht der Händler vorteilhaft, da sie keine schweren Tauschgüter mehr in den Wald schleppen müssen. Zudem lassen sich bei Bezahlung mit Bargeld auch besser Fixpreise vereinbaren. Die Akzeptanz des Geldes nimmt nur langsam zu, denn der Besitz von Geld fördert die Destabilisierung der Familienbande, es wird nicht geteilt mit Verwandten und Freunden und rasch ausgegeben. Verhält sich ein Jäger jedoch zu anmassend und versucht, seinen Status durch gekaufte Dinge zu erhöhen, so wird er meist mit Ächtung durch die ganze Gruppe bestraft. Erst allmählich wird dem Geld überhaupt ein Wert zugemessen, es gilt immer noch als relativ wertloses Gut, da es als nutzlos im Alltag angesehen wird. Dieses Verhalten der Gruppe und deren Wertvorstellung verhinderte bisher eine Etablierung von Geld in der Mbuti-Gesellschaft. Ihre Auffassung von Ökonomie weicht sehr stark ab von einer westlichen Vorstellung über Handel, Geld und Preise, was zur Folge hat, dass sich solches Gedankengut nur langsam bei diesem Volk durchsetzen konnte. Seit sie aber auch Steuern entrichten müssen, sind sie gezwungen, den Umgang mit Geld zu erlernen. 2.3.2 Ökologische Folgen 14 Die ökologischen Folgen des Holzschlags sind katastrophal für ein Ökosystem wie den Regenwald. Nach einem Kahlschlag wird die dünne Humusschicht mit den wenigen sich darin befindenden Nährstoffe rasch durch Regen fortgewaschen, und zurück bleibt ein nährstoffarmer, nackter Boden, auf dem sich der Regenwald nur extrem langsam wieder regenerieren kann, und das auch nur, falls er dabei nicht gestört wird. Breite Strassen zerschneiden den Regenwald in immer kleiner werdende Teilstücke, welche wie Barrieren wirken, die Wanderungen und Ausbreitung von Tieren und Pflanzen stark einschränken. Die wachsende Bevölkerung beansprucht zudem mehr Platz für ihre Siedlungen und isoliert die Waldstücke zusätzlich. Die Folge davon ist die schrittweise abnehmende Biodiversität des Ökosystems Regenwald, (»Ökosystemverfall«, Quammen 1998) angefangen mit dem lokalen Aussterben von Tierarten, die sehr viel Raum beanspruchen oder besonders empfindlich auf Störungen reagieren. Auf die globalen und langfristigen Folgen der Zerstörung der tropischen Regenwälder wird hier nicht weiter eingegangen. Werden grosse Waldflächen gerodet, kann eine Versteppung einsetzen, ausgelöst durch das Fehlen des ausgleichenden Feuchtigkeitshaushalts der Bäume, und eine neu zusammengesetzte Vegetation entsteht, die der Savanne gleicht. Auch kann es zu einer lokalen Klimaveränderung führen, weil die Sonne den nun ungeschützten Boden austrocknet und die Wärmestrahlung vom Boden reflektiert wird und nicht mehr vom Wald aufgenommen werden kann. Das bis anhin ausgeglichene Klima tendiert, sich zu einer periodischen Abfolge von Regen- und Trockenzeiten zu entwickeln, am ausgeprägtesten ist dies im zentralen Iturigebiet feststellbar, welches bisher nur kleine saisonale Schwankungen aufwies. Diese Veränderungen sind auch für die Menschen in den Dörfern spürbar. Der schattige Schutz des Waldes fehlt, was zu höheren Temperaturen führt, und in Trockenzeiten wird die Luft zusätzlich durch aufgewirbelten Staub verunreinigt. 2.3.3 Die Rolle des Staates Im vergangenen Jahrhundert wechselte der politische Rahmen, in dem die Mbuti eingebunden waren einige Male. Aus der belgischen Kolonialherrschaft entwickelte sich innerhalb von elf Jahren der unabhängige Staat Zaïre und schliesslich die heutige demokratische Republik Kongo. Eine grosse Zahl unterschiedlicher Ethnien und Religionen leben in diesem Vielvölkerstaat, der von einer grossen kulturellen und sprachlichen Diversität geprägt ist. Dieser Umstand war immer wieder Nährboden für Aufstände und Bürgerkriege. Die Mbuti waren von all den Kriegswirren bis vor kurzem nur am Rande betroffen, da sie ein Leben in der Abgeschiedenheit des tropischen Regenwaldes führten. Doch der jüngste Konflikt in der Provinz Ituri hat nun auch sie getroffen, weil ihr Lebensraum mittlerweile viel zugänglicher ist, als das früher der Fall war (siehe auch 4.3.1). Eine Gemeinsamkeit all dieser Staatsformen war ein geringes Interesse an den Mbuti und beschränkte politische Möglichkeiten der jeweiligen Regierung. Die Unzugänglichkeit ihres Lebensraumes, die grosse Entfernung zur 15 Hauptstadt und die Eigenart der Mbuti trugen ihr Teil dazu bei, so dass sie von der Politik nur schwach tangiert wurden. Der erste spürbare politische Einfluss während der Kolonialzeit war der Strassenbau mit seinen Folgen und die Förderung der Baumwollplantagen im Iturigebiet. Die zunehmende Nachfrage nach Wildfleisch und Arbeitskräften lockte die Mbuti immer häufiger aus dem Wald und konfrontierte sie stärker mit der Welt ausserhalb des Waldes. Die Mbuti und andere Pygmäenvölker gelten bei anderen Afrikanern als naiv, manipulierbar und minderwertig. Sie werden ausserhalb des Waldes, abgesehen von ihren Patrons, abschätzig behandelt und manchmal sogar mit Tieren gleichgesetzt. Unter der zaïrischen Herrschaft von Mobutu wurden allen Pygmäen im damaligen Zaïre erstmals rechtlich gleichgestellt mit allen anderen Bewohnern des Landes. Sie gehörten von nun an auch zu den so genannten »citoyens«, wie die Regierung fortan alle zaïrischen Einwohner bezeichnete. Konkrete Konsequenzen hatte diese Proklamation aber keine für die Pygmäen, es handelte sich dabei mehr um eine formelle Sache und änderte nichts an ihrem Status in der afrikanischen Gesellschaft. Unter Mobutu wurde im Iturigebiet ein Nationalpark errichtet, der in erster Linie dazu benutzt wurde, Tiere aus dem zentralafrikanischen Regenwald zu fangen und an ausländische Zoos zu verkaufen, der Schutzgedanke spielte hierbei eine untergeordnete Rolle. Das betreffende Gebiet wurde zwar als Nationalpark bezeichnet, war aber nicht mehr als eine Tierfangstation. Der Nationalpark umfasste unter anderem Gebiete der Mbuti und es wurde versucht, ihnen das Jagen darin zu untersagen. Dieser Versuch Kontrolle über die Mbuti auszuüben misslang jedoch völlig mangels Geld, Personal und Kontrollmöglichkeiten. Als die Parkverwaltung danach versuchte, die Jagd und den Wildfleischhandel nur noch unter ihrer Überwachung zu tolerieren, dauerte es ebenfalls nicht lange, bis sich alles wieder zum Alten entwickelt hatte ohne Einmischung des Staates. Turnbull (1983) berichtet von Fällen, in denen der Jagderfolg der Mbuti in gewissen Gebieten des Parks stark abnahm. Vermutlich haben die grossangelegten Suchaktionen nach potenziellen Zootieren der Parkbehörde die Beutetiere der Mbuti stark aufgeschreckt und in andere Gebiete vertrieben. Das Einfangen von Tieren wurde später eingestellt. R. Stein (1988) weiss von der Absicht der damaligen zaïrischen Regierung, den Tourismus im Gebiet der Tierfangstation wieder anzukurbeln. Wie aber die heutige Situation in Bezug auf den Tourismus aussieht, ist uns nicht bekannt. Der wohl grösste politische Eingriff ins Leben der Mbuti mit fatalen Folgen fand ebenfalls unter der Herrschaft von Mobutu statt. Mit seiner »émancipations des pygmées« wollte er die Pygmäen direkter am politischen Prozess teilhaben lassen, indem er Ansiedlungsprojekte lancierte. Die Mbuti wurden in Dörfern entlang den grossen Strassen angesiedelt und sollten von nun an ähnlich wie die Bantu-Bauern sesshaft leben und ihre eigenen Felder bestellen. Dafür wurden von der Provinzverwaltung Waldflächen gerodet, um Platz für die neuen Mbuti-Dörfer zu gewinnen. Die Aufbauarbeiten wurden zu einem grossen Teil von den Mbuti selbst verrichtet unter der Überwachung der Verwaltung. Während dieser Zeit wurden die Mbuti mit Esswaren und Kleidung versorgt, und es wurden ihnen sowohl das nötige Werkzeug als auch die Baumaterialien bereitgestellt. Manchmal offerierte man ihnen auch Geld mit der Absicht, dadurch noch mehr Mbuti aus dem Wald herauslocken zu können. Von 16 Regierungsseite versprach man sich, die noch im Wald lebenden Mbuti neidisch zu machen über den Komfort in den neuen Siedlungen. Statusdenken und materialistisches Selbstinteresse wurden dadurch stark gefördert und brachten die traditionelle Lebensweise in Gefahr. Eine neue Problematik wurde durch die Ansiedlungsprojekte eingeführt: Die Mbuti standen plötzlich in direkter Konkurrenz zu den Bantu-Bauern, und Neid kam auf über die einseitige Unterstützung durch den Staat, von dem sich die Bauern hintergangen fühlten. Sie bezeichneten die Mbuti danach nur noch als Pygmäen, und die Beziehungen zwischen den zwei Völkern verschlechterten sich. Nur kurz nach der Fertigstellung der Häuser häufte sich die Nachricht von Krankheit und Tod. In Berichten von Turnbull (1983) wird geschildert, dass die Häuser von den Mbuti schnell verlassen wurden und dass sie ihre traditionellen Blätterhütten daneben aufgebaut hätten. Sie waren schlicht überfordert mit den Eigenheiten der Sesshaftigkeit. Sie wussten nicht, wie man mit Abfällen und Exkrementen umging und wie man ein hygienisches Leben an einem Ort über längere Zeit führen konnte. Im Wald als Nomaden mussten sie sich mit solchen Problemen nicht auseinandersetzen. Es herrschten desolate Zustände, die Trinkwasserspeicher waren verschmutzt und bildeten ideale Brutstätten für Malaria. Auch die Umstellung von sehr proteinreicher Nahrung auf viel mehr Kohlenhydrate forderte ihren Tribut. Die neuen Siedlungen entpuppten sich als richtige Todesfallen für die Mbuti, sie waren nicht an ein Leben ausserhalb des Waldes angepasst. Sie wurden von Krankheiten befallen, gegen die sie nicht resistent waren, eingeschleppt von Lastwagen und deren Fracht. Hinzu kam, dass die Mbuti direktes Sonnenlicht und trockene Luft schlecht ertragen. Viele Mbuti starben auch an den Folgen von Geschlechtskrankheiten, die sich sehr schnell unter ihnen verbreiteten. Unter anderem durch Colin Turnbulls Intervention konnten die Ansiedlungsprojekte gestoppt werden, und es wurde mit der zaïrischen Regierung ein Kompromiss ausgehandelt, der besagt, dass die Entwicklung des Ituri-Gebietes ohne Gefährdung der lokalen Bevölkerung stattfinden soll. Eines der zentralen Probleme der Mbuti bildet die zunehmende Abholzung im Iturigebiet. Die zaïrische Administration hatte beschlossen den Holzschlag bis ins Jahr 2000 zu verfünfzehnfachen. Ob das Nachfolgeregime der heutigen demokratischen Republik Kongo an diesen Plänen festhält ist nicht sicher. Ohne Wald werden auch die Mbuti wahrscheinlich rasch verschwinden. Moke, ein alter Mbuti, fasste kurz zusammen, was der Wald für sie bedeutet bzw. was passieren wird, wenn der Wald verschwindet: »The forest is our home; when we leave the forest, or when the forest dies, we shall die. We are the people of the forest.« (Turnbull 1961, S.234) Mit anderen Worten, ohne den Regenwald, ihren Lebensraum, können und wollen die Mbuti nicht existieren. 17 3 Inuit »Older people sometimes teach how to build an igloo in the culture course at school. We have learned about hunting and land skills but we don’t really know how to do it. We could if we wanted to go out on our own and keep practising. In the late eighteen-hundreds the youth did everything their parents said to do, not now. We’re in the nineties right! And we want to go crazy and wild!« (Oakes und Riewe 1997) Dieses Zitat zeigt die Einstellung vieler junger kanadischer Inuit gegenüber der traditionellen Lebensweise auf. Trotzdem gibt es noch Junge, die ein echtes Interesse an dem damit verbundenen Wissen haben und sich dieses auch aneignen wollen. Viele Inuit interessieren sich erst später in ihrem Leben für die Jagd und andere Elemente der traditionellen Lebensweise. 3.1 Einleitung Fig. 2: Verbreitung der Inuit in Kanada (Quelle: 2001 Census of Canada. Produced by the Geography Division, Statistics Canada, 2002) 18 Die Bezeichnung »Eskimo«, die oft verwendet wird für die Ureinwohner der zirkumpolaren Welt, kommt von den Algonquin-Indianern und heisst „er isst es roh“. Bei dieser Namensgebung bezogen sich die Algonquin-Indianer zweifellos auf die ökologische Anpassung der Inuit, Fleisch in der Regel roh zu essen. Die »Eskimos« ziehen aber die Bezeichnung »Inuit« vor, was übersetzt „die Menschen“ heisst. Diese Bezeichnung hat sich bisher vor allem in Kanada auch bei der restlichen Bevölkerung ziemlich durchgesetzt. In dieser Arbeit konzentrieren wir uns auf die kanadischen Inuit, ohne sie jedoch aus dem internationalen Kontext zu reissen. Die ca. 45'000 kanadischen Inuit leben grösstenteils in Nunavut (dieses Territorium wurde 1999 offiziell gegründet und war vorher Teil der Northwest Territories) und im nördlichen Québec (siehe Fig. 2). Sie wurden in verschiedene Gruppen klassifiziert, die kulturelle Unterschiede sowie geographische Verteilung abbilden. Es sind dies von West nach Ost die Mackenzie- oder Inuvialuit-, Copper-, Netsilik-, Iglulik-, Baffinland- und Labrador- oder Ungava-Inuit. Des Weiteren wird grob unterschieden zwischen Gruppen, die sich primär von Meerestieren ernähren, und solchen, die vor allem Jagd auf Landtiere machen. Die Inuit bewegen sich in einer der unwirtlichsten Gegenden der Welt, was gewisse ökologische Anpassungen zur Folge hat. So hat sich unter anderem fast überall ein System der Verteilung von Jagdbeute unter Familienmitgliedern und anderen der Gruppe durchgesetzt. Trotzdem gab es auch vor der Ankunft der europäischen Siedler immer wieder Hungerzeiten, während denen einzelne Inuit oder sogar ganze Gruppen wegen temporär unverfügbarer Nahrung verhungerten oder zur Migration gezwungen waren. Normalerweise sind die Inuit aber mit einer relativ reichen Auswahl an Beutetieren gesegnet und durch die stetige, jahreszeitlich den Tieren angepassten Jagd kann für ausreichend Nahrung gesorgt werden. Da aber das Klima schon grundsätzlich recht harsch ist im Winterhalbjahr, sorgen Schwankungen wie die kleine Eiszeit (17. Jahrhundert) für Veränderungen im Vorkommen der Beute, was die Inuit zu Anpassungen zwingt. 3.2 Traditionelle Lebensweise Hier wird dargelegt, wie die Inuit gelebt haben, bevor europäische Siedler die entlegenen Gebiete im kanadischen Norden besuchten und sich dort niederliessen. Dabei beziehen wir uns auf diverse Quellen, welche Berichte von Missionaren, Händlern und Abenteurern untersuchen und interpretieren, sowie Studien der Ethnologen Burch, Cox, Forest, Wenzel und Matthiasson. Da gewisse Inuitgruppen in schwer zugänglichen Regionen leben und die meisten auch lange bis ins 20. Jahrhundert hinein Subsistenzjagd betrieben, kann relativ gut auf die ursprüngliche Lebensweise geschlossen werden. 19 3.2.1 Soziale Organisation Die kleinste soziale und wirtschaftliche Einheit bei den Inuit ist die Kernfamilie. Im Verlauf des Jahres, vor allem verbunden mit der saisonalen Jagdbeute, bilden sich Gruppierungen und lösen sich wieder auf. Verschiedene Nahrungstiere bedingen unterschiedliche Jagd- und Fangmethoden, bei welchen es jeweils eine optimale Jagdgruppengrösse gibt. Andere Faktoren, welche zur Bildung von grösseren Gruppen führen, sind gesellschaftliche und mit dem System des Nahrungsteilens verbunden. Die grössten Gruppen werden aber kaum 40 Personen überschreiten. Dabei haben die Inuit weder ein eigentliches formell politisches System noch eine Stammesorganisation. Wie bei den Mbuti wird bei ihnen allerdings auch vieles über Institutionen geregelt. Sie verfügen nicht über festgelegte Territorien, über welche Besitzansprüche geltend gemacht werden. Die Gruppen, die sich bilden, sind auch nicht immer dieselben, meist aber durch patrilineare Verwandtschaft bedingt. Es gibt weder soziale Stratifikation noch automatisch vererbte Führungsansprüche. Wie jede echte Jäger- und Sammlergesellschaft sind die Inuit nicht sesshaft, wobei sie auch nicht ganz in diese Kategorie passen, wie weiter unten (3.2.2) näher erläutert wird. Standortwechsel hängen von der Verfügbarkeit von Beutetieren ab. Handel zwischen verschiedenen Gruppen kommt zwar vor, ist aber wegen der grossen Distanzen zwischen den Gruppen eher selten. Am ehesten findet man solche Beziehungen zwischen südlich lebenden Inuit und angrenzenden Indianerstämmen. Zusammentreffen von verschiedenen Inuitgruppen untereinander und mit Indianern sind aber nicht immer friedlich, manchmal gibt es kriegerische Auseinandersetzungen trotz fehlenden Territorialitätsdenkens bei den Inuit. Wie bei den Mbuti ist Kooperation eine entscheidende Komponente in der sozialen Ordnung der Inuit. Die gegenseitige Abhängigkeit ist ebenfalls relativ stark, allerdings werden die grösseren Verbände z. B. nicht immer zwingend aus denselben Kernfamilien zusammengesetzt. Individuen und Familien können sich frei von einer Gruppe zu einer anderen bewegen, falls sie von der neuen Gruppe akzeptiert werden. Innerhalb der Gruppe gibt es zwar einen Anführer, diese Person hat allerdings sehr wenig echte Autorität und praktisch keine Macht (im Sinn von Zwang). Die am weitesten verbreitete Bezeichnung für den Anführer ist »isumataq« in Inuktitut (Gruppe von Inuitdialekten welche in der zentralen und östlichen kanadischen Arktis gesprochen werden), was übersetzt soviel heisst, wie „der, welcher denkt“. Diese Position wird meist von einem der älteren Männer eingenommen, der in der Regel auch sehr gut platziert ist innerhalb des Verwandtschaftsnetzes, und sie wird nicht automatisch vererbt. Der ideale Anführer ist ein weiser Entscheidungsträger, ein guter Jäger und eine Vorbild bezüglich der Werte der Inuit. Er wird gefragt, wo die Männer jagen sollen, oder kann entscheiden, wann die Gruppe sich wieder aufzulösen hat. Trotz oder gerade wegen seiner Fähigkeiten als Jäger teilt er seine Beute und Jagdutensilien, weil dies auch eine Möglichkeit ist, ein Bekenntnis zu grundlegenden kulturellen Werten zu zeigen. Den Hinweisen und Anweisungen des »isumataq« wird meist Folge geleistet, falls diese vernünftig sind, auch wenn sie nicht verbindlich sind. 20 Eine weitere besondere Rolle kommt dem »angakuk« (Schamanen) zu, wobei es nicht unüblich ist, dass eine Frau diese Position innehält. Matthiasson (1986) vertritt die Ansicht, dass die »angakuk« besonders kreative Mitglieder der Inuit-Gesellschaft sind, die in einer anderen Kultur z. B. Philosophen oder Künstler wären. Sie üben beträchtlichen Einfluss auf die anderen Gruppenmitglieder aus durch ihre Tätigkeit als Heiler. Dabei sind sie auch nicht abgeneigt, ihr Publikum mit Tricks zu beeindrucken; die öffentlichen Auftritte wie Heilungen sind oft auch sehr theatralisch und unterhaltsam und stärken die Verbindlichkeit des allgemeinen Glaubens und von wichtigen Werten. Während einer Heilung fragt der Schamane den Patienten zuerst über verschiedene mögliche Tabubrüche aus, von denen er weiss, dass der Patient sie nicht begangen hat, was der Funktion einer Aufzählung von Gesetzen nahe kommt. Wenn schliesslich das Vergehen des Patienten genannt wird, erklärt sich dieser für schuldig und der Schamane sucht nach einem Heilmittel, beispielsweise temporärer sexueller Abstinenz. Der »angakuk« kann jedoch niemanden zwingen, seinen Anweisungen zu folgen, welche im Idealfall zur Genesung führen sollten. 3.2.2 Formen des Nahrungserwerbes Als die ersten Europäer auf Inuit stossen, leben diese vor allem an der Küste, und ihre Technologie ist auf die Ausbeutung mariner Ressourcen ausgerichtet. Sie jagen und fangen alles, von Fischen bis zu grossen Säugern wie Walrossen und Walen. Während bei vielen Jäger- und Sammlerkulturen die Frauen das Sammeln von Wildpflanzen übernehmen und damit den grössten Teil der Nahrung beisteuern, ist dies bei den Inuit gar nicht erst denkbar: Die den kurzen Sommer durch sammelbaren pflanzlichen Ressourcen sind bestenfalls eine kleine Bereicherung der Diät, in der Menge jedoch bedeutungslos. Die Inuit jagen in der Regel nur soviel, wie sie benötigen bzw. verwenden und lagern können. Dies ist eine Konsequenz ihrer nomadischen Lebensweise und bedingt, dass jede gute Jagdmöglichkeit wahrgenommen wird. Töten aus reiner Tötungslust ist wie bei den Mbuti ein wichtiges Tabu. Ebenso sollen Tiere, welche nur verletzt werden, solange gejagt werden, bis sie erlegt sind. Dies ist eine Notwendigkeit, andernfalls würde der Geist des Tieres beleidigt und die weitere bzw. zukünftige Jagd dadurch erschwert. Die Karibu, die grössere Wanderbewegungen unternehmen im Verlauf des Jahres, würden beispielsweise im darauf folgenden Jahr nicht mehr dieselben Orte aufsuchen, welche sich als gute Jagdgebiete für die Inuit herausgestellt haben. Damit lässt sich auch erklären, wieso heute Sportfischer (die Fische nach dem Einfangen wieder freilassen) bei gewissen Inuit nicht gerne gesehen sind. Diese Problematik ist wohl in Alaska gravierender als in Kanada, wo die Fisch- und Jagdrechte in traditionellen Inuit-Gebieten heute anders geregelt sind als in den Vereinigten Staaten. Mit der Jagd sind besonders viele Tabus verbunden, da die Inuit immer darauf bedacht sind, die Geister der Mitwelt nicht zu beleidigen oder sonstwie zu verärgern. Für nicht eingeweihte Beobachter aus anderen Kulturen, besonders der europäischen, ist es schwierig, nachzuvollziehen, wieso die Inuit sich selber (mit Hilfe von Institutionen wie Ächtung und 21 Ausschluss) solche Limitierungen auferlegen, die auf den ersten Blick die Jagd und damit das nackte Überleben einschränken. Bei genauer Betrachtung stellt man jedoch fest, dass diese Regeln zwar auch eingehalten werden (Beziehungen zur belebten und unbelebten Natur machen einen sehr wichtigen Teil der Weltsicht der Inuit aus), sie jedoch in der Regel die Jagd nicht behindern, im Gegenteil, sie schärfen wahrscheinlich die Wahrnehmung (eine entscheidende Eigenschaft bei der Jagd) und fördern eine nachhaltige Ressourcennutzung. Gefischt wird das ganze Jahr hindurch, eine Form des Nahrungserwerbs, an der alle teilnehmen können. Im Winter werden Löcher ins Eis gebohrt und im Herbst verwendet man Risse im Eis zum Fischen. Die am weitesten verbreitete Technik ist der dreizackige Fischspeer; Fanghaken mit oder ohne Köder werden manchmal auch verwendet. Für viele Küstenbewohner, ursprünglich die überwältigende Mehrheit der Inuit, ist die Jagd auf »natsiq« (Robben) am wichtigsten, weil diese die zuverlässigste Nahrungsressource bilden und das ganze Jahr durch verfügbar sind. Die Clyde Inuit z. B. haben nur erschwerten Zugang zu anderen Tieren, so dass »natsiq« den Hauptanteil ihrer Nahrung ausmachen. Sie stellen ihre Lager als Folge meist unweit von grösseren Robbenvorkommen auf. Die Robbenjagd hängt weniger vom geschickten Umgang mit Waffen und aufwändigem Suchen ab als von Ausdauer und Geduld. Obwohl die Robben scheinbar überall vorkommen und auch meist in grosser Anzahl vorgefunden werden, gibt es im Winter oft wochenlang keine günstigen Witterungsverhältnisse, welche die Jagd zulassen. Gutes Wetter ist jedoch noch kein Garant für eine erfolgreiche Jagd: Oft warten die Jäger stundenlang vergeblich an den Atemlöchern der Robben. Auch im Sommer halten Nebel und hoher Seegang die Inuit häufig davon ab, zu ihrer Nahrung zu kommen. Die Waljagd versorgt die Inuit mit Nahrung (getrocknetes Walfleisch), Hundefutter, Öl als Brennstoff für Lampen (welche nicht nur als Lichtquelle verwendet werden, sondern meist die einzige Wärmequelle im Iglu darstellen neben der eigenen Körperwärme) und zum Kochen. Daneben liefert sie auch Sehnen für Nähfaden und Leder. Zum Walfang fahren die Männer in einem grossen Kajak, »umiak« genannt, welches Platz für mehrere Personen bietet. Die Jagd auf dem Land stellen wir hier am Beispiel des Karibus dar. Die Karibujagd findet in den Sommermonaten statt, wobei die primäre Jagd erst Ende Sommer betrieben wird, da das Fleisch im Frühsommer mager ist und das Fell von schlechter Qualität. Im August hingegen haben die Karibus Fett angesammelt und das Fell eignet sich jetzt für die Innenfütterung von Kleidern. Im Landesinnern gibt es Stämme, die den Karibuherden das ganze Jahr über folgen auf ihren Migrationsrouten. Allerdings findet man diese Lebensweise eher bei südlichen Nachbarn der Inuit wie den Dene-Indianern. Für Inuit, welche näher bei der Küste leben, ist das Karibufleisch eine willkommene Alternative im Sommer. Verschiedene Jagdmethoden werden eingesetzt: Bei der Treibjagd kanalisieren die Frauen und Kinder die Karibus durch Reihen von Steinmännchen den Männern zu, die mit Bogen und Lanzen ausgerüstet sind. Karibus von Kajaks aus an Furten zu jagen ist eine weitere Methode. Als zusätzliche Nahrungsquelle werden gelegentlich Vögel, Eisbären, Wölfe, Moschusochsen usw. gejagt. Diese können aber nicht als essenzielle Ressourcen bezeichnet werde. 22 Das Teilen der Beute mit Verwandten und anderen Mitglieder der Gruppe ist eine sehr wichtige Überlebensstrategie in der Kultur der Inuit. Langdorn (1984) schreibt über die Subsistenz der Inuit in Alaska, dass through capturing, processing, distributing, celebrating and consuming naturally occurring fish and animal populations that subsistence societies define the nutritional, physical health, economic, social, cultural, and religious components of their way of life. In einem lebensfeindlichen Klima wie dem subarktischen Winter gibt es zu viele unvorsehbare Variabeln, um einem individuellen Jäger die Existenz zu garantieren. Die einzelnen Individuen haben einen unterschiedlichen Wissensstand, wobei auch exzellente Fertigkeiten einem Jäger keine Beute garantieren können. Innerhalb der Gruppe gilt das Prinzip der generellen Reziprozität, wobei jeder das Recht hat, Fleisch von einem erfolgreichen Jäger zu nehmen. Der Jäger stellt keine Ansprüche an die beschenkten Personen, falls er selbst (und damit seine Familie) einmal Nahrung braucht, erhält er diese mit derselben Selbstverständlichkeit von anderen Jägern. Da die Beutetiere sich nach Ansicht der Inuit selbst opfern als Schenkung an die Menschen, ist es eine grosse Sünde, wenn das Fleisch dann nicht auch unter den Menschen geteilt wird. Die Methode des Aufteilens der Beute variiert regional, in der Baffin-Region z. B. verteilen die Ältesten oder Lagerführer das Fleisch an alle, wobei sie auch die Nachbarlager berücksichtigen, falls diese zu wenig erjagt haben. Bei bestimmten Beutetieren, wie der Ringelrobbe werden bestimmte Teile vor allem von Männern und andere Teile von den Frauen gegessen. Das Fell und/oder andere Teile behält normalerweise der Jäger. Vor allem rare Beute (Karibu bei den Gruppen auf Baffin Island) wird immer mit Nachbarlagern geteilt. Für die Inuit bilden die persönlichen Beziehungen untereinander die Basis einer sicheren, erfolgreichen Existenz, viel mehr als ihre individuellen Fertigkeiten und spezielle Ausrüstung. Das Ziel des Lebensunterhaltes bei den Inuit ist weder individuelle Autarkie noch Akkumulation von Reichtum, sondern ein kontinuierlicher Fluss von Gütern und Dienstleistungen. 3.2.3 Weltsicht Die Religion der Inuit wird oft als animistisch bezeichnet. Ihre Welt ist voll von Geistern und damit verbundenen Tabus. Sie müssen ständig darauf bedacht sein, die Geister nicht zu beleidigen. Die daraus resultierenden Institutionen helfen auch dabei, mit ihren Ressourcen schonend umzugehen. Die Menschen haben eine Seele, Tiere haben bestimmte spirituelle Eigenschaften und sogar gewisse Orte haben spirituelle Attribute. Die Geister der Natur sind den Menschen ähnlich, sie haben Emotionen und Intelligenz. Wird ein Tier getötet, folgen genau festgelegte Rituale um den Geistern zu gefallen, welche später in einer neuen Form zurückkehren werden, um 23 dann aufs Neue gejagt zu werden. Wie schon früher erwähnt erscheinen die Tabus und Rituale der Inuit rund um die Jagd vom Blickpunkt so genannt westlicher Kultur aus paradox. Wenn man dies jedoch von einem funktionalistischen Standpunkt betrachtet, muss man feststellen, dass die Inuit dadurch ein Gefühl der Kontrolle über ihre Welt erhalten. Die übernatürliche Welt beschränkt sich nicht auf Geister in Tieren und an Orten, es gibt auch grössere und machtvollere Geister, die unbedeutendere Geister dominieren und die Objekte, an welche sie gebunden sind, besitzen. Schliesslich gibt es noch »inua« (Bewohner), oft weibliche Geister, welche die Kräfte der Natur organisieren und verantwortlich sind für alles Leben. Geschichten über die »inua« sind in Mythen eingebettet und werden von einer Generation zur nächsten mündlich weitergegeben. Solche Mythen erzählen oft vom Ursprung der Tiere und Inuit. Das in ethnologischer Literatur am meisten vertretene dieser Wesen wird im Sedna-Mythos beschrieben, welcher in unterschiedlicher Form von Grönland bis Alaska vorkommt. Sedna ist die Mutter des Meeres oder die Mutter der Meerestiere und wohnt auf dem Meeresgrund. Daneben gibt es die Landmutter, welche dem Land und allem, was darauf wächst, Form gab. Sie gibt den Jägern und deren Familien Landtiere wie Karibu und Moschusochsen. Die Karibus haben mancherorts eine eigene Mutter, die Karibumutter. Es gibt aber auch männliche »inua«. Der wichtigste davon ist der Mondmann, welcher ebenfalls von Grönland bis Alaska vorkommt und der Beschützer der Tiere ist. Er schickt den respektvollen Jägern ihre Beute zu. Die beiden grossen weiblichen »inua« sind zwar primär für die Tiere verantwortlich, der Mondmann muss jedoch sicherstellen, dass die Tiere durch Reinkarnation wieder in Erscheinung treten. Die spirituelle Welt der Inuit ist sehr reich an verschiedenen Geistwesen und die regionalen Unterschiede sind zum Teil auch beträchtlich (Merkur 1991). Organisierte rituelle Aktivitäten spielen bei den Inuit eine eher untergeordnete Rolle und beschränken sich fast nur auf die Seance (spiritistische Sitzung) der Schamanen. Individuelles Einhalten der Rituale, welche den Geistern Respekt zollen, ist allerdings zwingend, will man schlechte Jagd, Krankheit und andere Unglücke vermeiden. 3.2.4 Kultur des Teilens Das System des Teilens ist eine Voraussetzung für das Überleben im hohen Norden. Dabei beschränkt sich dies nicht nur auf Nahrung. Praktiken wie Partnertausch und Weitergabe von Jagdgeräten, Werkzeugen und spezialisiertem Wissen sind weit verbreitet. Teilen hat nicht nur die Funktion der Risikoverteilung, sondern dient auch dazu, Freundschaften aufzubauen und zu unterhalten. Ein mehr oder weniger grosses Netzwerk von Verwandten und Freunden bzw. befreundeten Gruppen bildet ein Auffangnetz für harte Zeiten und schlechte Jagd. Generelle Reziprozität ist weit verbreitet und verhindert auch die Akkumulation von persönlichem Reichtum, der allgemein verpönt ist oder aus praktischen Gründen (Einschränkung der Mobilität) keine Option darstellt. 24 3.2.5 Umweltauswirkungen Das gängige Bild des »Eskimos« enthält viele falsche Vorstellungen, auch wenn sich dies in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten etwas geändert hat. So werden auch die Umweltauswirkungen, vor allem die Konsequenzen der Jagd für Tierpopulationen etwas verzerrt wahrgenommen. Entgegen der weitläufigen Meinung kommt es bei den Inuit immer wieder zu Ressourcenübernutzung, und dies nicht erst seit der Zeit des intensivierten Kontakts mit den europäischen Siedlern (Creery 1993; Burch 1986; Cox 1973). Es gibt auch in der Vor-Kontaktzeit immer wieder Hungersnöte, die nicht nur durch Schwankungen des Klimas (z. B. kleine Eiszeit) und variables Vorkommen von Nahrungstieren verursacht werden. Lokal bzw. regional werden bestimmte Tiere manchmal übernutzt und zwingen die Inuit zu migrieren oder sich Alternativen zu suchen. In der Regel verhindert ihr Wertesystem und Glaube eine Übernutzung allerdings, wie weiter oben schon dargelegt. Die Auswirkungen auf die Vegetation sind ebenfalls nicht vernachlässigbar, obwohl die Diät der Inuit sehr wenig pflanzliche Nahrung enthält. Die Vegetation im Gebiet der nördlichen Stämme ist sehr karg und wächst wegen den extrem kurzen Vegetationsperioden nur sehr langsam. So werden gesuchte Pflanzen wie Moose (Brennmaterial) schneller abgeerntet, als sie nachwachsen können, was wiederum Auswirkungen auf bestimmte Tierpopulationen hat. 3.3 Veränderungen Wie die Mbuti lebten die Inuit in einer für lange Zeit schwer zugänglichen Umwelt. Vereinzeltes Zusammentreffen mit Europäern gab es zwar in den letzten 1000 Jahren, nachhaltige Einflüsse sind jedoch erst in den letzen 150 bis 200 Jahren zu verzeichnen. Während dieser Zeit wird die Lebensweise der Inuit allerdings substanziell verändert. In diesem Abschnitt versuchen wir, die Einflüsse von aussen und deren Auswirkungen auf die Kultur und Lebensweise sowie die Konsequenzen für die Natur im kanadischen Norden zu skizzieren. Dabei wollen wir auch die Rolle der kanadischen Regierung sowie der Administration der betroffenen Provinzen und Territorien aufzeigen. 3.3.1 Veränderte Lebensweise, soziale Auswirkungen und Gefahren für die Inuit In der Zeit vor dem 19. Jahrhundert werden die Inuit vor allem von Forschern und Pelzhändlern aufgesucht. Diese beeinflussen die Lebensweise der Inuit vorerst nur marginal. Den ersten prägenden Einfluss hinterlassen schottische und amerikanische Walfänger, welche ihre Aktivität in der Arktis in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufnehmen. Da viele von ihnen den Winter dort verbringen, haben gewisse Gruppen von Inuit zum ersten Mal längere Zeit Kontakt mit europäischer Kultur. Viele dieser Walfänger hinterlassen auch Nachwuchs. Inuitmänner werden als Führer und Jäger angestellt und helfen beim Zerlegen von Kadavern. Schiffsärzte bieten den Inuit medizinische Hilfe an und Kapitäne laden sie auf ihr Schiff ein, 25 um damit an Gottesdiensten und christlichen Festen teilnehmen zu können. Der Walfang ist in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts am intensivsten, nimmt danach jedoch ab, weil Alternativen zu den vom Wal gewonnenen Produkten gefunden werden, glücklicherweise noch bevor die Walpopulation irreversibel dezimiert ist. Die Kultur der Inuit ist zu diesem Zeitpunkt allerdings unwiederbringlich beeinflusst, da der Kontakt mit der europäischen Kultur schon auf einer relativ intimen Ebene stattgefunden hat und die Inuit sich bereits zu sehr an europäische Handelsgüter gewöhnt haben. Nach den Walfängern, die in der Regel nicht blieben, etablieren sich drei Gruppen von permanenteren Eindringlingen, genannt die »arktische Troika«: Händler, Missionare und die Royal Canadian Mounted Police (RCMP). Kurz zuvor hat der noch sehr junge kanadische Nationalstaat seinen Anspruch auf die arktischen Gebiete geltend gemacht und die dort lebenden Inuit dadurch zu kanadischen Bürgern ernannt. Die Händler, zuerst vor allem unabhängige, welche meist Respekt vor den Inuit und ihrer Lebensweise haben, errichten ihre Handelsposten an Orten, die gut zugänglich sind mit Versorgungsschiffen. Mit der Zeit wird der Druck der monopolistischen Hudson Bay Company (HBC) so gross, dass die unabhängigen Händler durch die HBC verdrängt werden. Die Inuit adaptierten neue technologische Produkte immer relativ schnell, falls diese nützlich schienen oder eine gute Alternative zu ihnen bekannten Technologien darstellten. Deshalb geht es auch nicht sehr lange, bis sie eine Abhängigkeit von den Händlern entwickelt haben, welche sie mit Gewehren, Munition, Kerosin zum Kochen, Zucker, Tee und Material für Kleidung und Zelte versorgen. Diese Produkte werden gegen Fuchs- und Robbenfelle getauscht. Eine folgenreiche Konsequenz dieser Handelstätigkeit ist die vermehrte Konzentration der Inuit in der Nähe von Handelsposten, dadurch jedoch oft nicht nahe an den besten Jagdgründen, sondern bei günstigen Anlegeplätzen für die Frachtschiffe. Nach den Händlern kommen die Missionare, und nehmen einen tiefen Einschnitt in das traditionelle Weltbild der Inuit vor, wobei die Inuit das Christentum oft ohne grossen Widerstand akzeptieren. Die schamanistischen Tätigkeiten werden oft neben den christlichen ausgeübt, da sich die beiden Glaubensansätze in vielen Aspekten nicht ausschliessen. Als Resultat praktizieren viele Inuit eine synkretistische Mischung aus Animismus und Christentum. Schliesslich errichtet die RCMP Polizeiposten in vielen Siedlungen, um die kanadische Gesetzgebung durchzusetzen. Sie finden sehr wenig Kriminalität vor. Viele Beamte bieten medizinische Hilfe an, viel mehr, als sie für Recht und Ordnung sorgen müssen. Des Weiteren führen sie Statistiken für die Bundesregierung. Mit der »arktischen Troika« kommt ganzjähriger und langfristiger Kontakt und damit tauchen auch Krankheiten wie Tuberkulose und Masern auf, gegen welche die Inuit keine natürliche Immunität besitzen und die somit häufig tödlich verlaufen. In der Zeit vor 1950 mischt sich die Regierung nicht ein in die traditionelle Lebensweise der Inuit, solange diese nicht gegen die kanadische Gesetzgebung verstösst. So leben viele noch als Vollzeitjäger, wobei einige schon als Schnitzer ein zusätzliches Einkommen zum Haushalt beisteuern. Allerdings ist in den Zwanziger- und Dreissigerjahren die Lage für viele alles andere als rosig: Fallende Pelzpreise, Epidemien und Hungersperioden setzen den Inuit schwer zu. Anfang der 26 Fünfziger wird die kanadische Regierung teilweise durch öffentlichen Druck zu Massnahmen bewegt. Neue Technologien zur Erschliessung von Ressourcen im Norden und die im Anschluss an den Krieg steigende Nachfrage erwecken ebenfalls immer grösseres Interesse an diesen entlegenen Gebieten. Um den teilweise erbärmlichen Zuständen in den Lagern entgegenzuwirken versucht man, die Inuit zum Wegziehen von ihrem Land und zur Aufgabe ihrer Lebensweise zu bewegen. Schulen werden aufgebaut, Siedlungen erweitert, die medizinische Versorgung verbessert und allgemein wird die Präsenz der Regierung erhöht. Der Norden wird allerdings als ungeeignet angesehen, Lebensraum für eine wachsende Inuitbevölkerung zu bieten. Die Strategie der Regierung ist, sie in die südliche kanadische Kultur zu integrieren. Dies zeigt sich auch in der Schulbildung, wo grösstenteils einsprachig Inuktitut sprechende Kinder von nur englisch sprechenden Lehrern nach einem eins zu eins vom Süden übernommenen Lehrplan unterrichtet werden. Nicht nur ist der Lernstoff für die meisten Kinder langweilig und irrelevant, sie werden auch für lange Perioden von ihren Familien getrennt, um in internatähnlichen Institutionen zu leben. Die Bildung durch die Eltern und Grosseltern bzw. ihr Wissen wird ersetzt durch Lernstoff, der in der Arktis von sehr begrenztem Nutzen ist. Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von moderner Technologie wie Schneemobilen und Motorbooten, und viele ziehen vom Land in grössere Siedlungen um. Anfang der Siebzigerjahre erwacht ein neues Selbstbewusstsein unter den Inuit und viele besinnen sich auf die traditionellen Werte und die ursprüngliche Lebensweise: Schulen werden reformiert und verschiedene Versuche gestartet, mit der kanadischen Regierung Landnutzungs- bzw. Besitzrechte auszuhandeln. Die Idee von politischer Autonomie kommt auf den Plan und wird schliesslich Anfang der Neunzigerjahre dank Ausdauer und Verhandlungsgeschick von Seiten der Inuit erreicht. Seit 1999 ist Nunavut ein offizielles kanadisches Territorium mit weitgehender politischer Macht in Händen der Inuit. Heute leben nur wenige Inuit noch vollständig von der Jagd. Das traditionelle Wissen, welches damit verbunden ist, geht allmählich verloren. In einer zunehmend monetarisierten, kommerzialisierten und technologisierten Welt wird es zwar immer schwieriger, einzig von der Jagd zu leben, verschiedene Untersuchungen ergaben aber, dass das Geld, welches in die Jagd gesteckt wird, einen weit besseren Ertrag abwirft in Bezug auf den Nährwert als das für importierte Nahrung ausgegebene. Ein wichtiger Faktor, der es vielen Inuit verunmöglicht, weiterhin Subsistenzjagd zu betreiben, ist der Preis der heute unabdingbar gewordenen Technologien. Wer einer Erwerbsarbeit nachgeht, kann sich zwar moderne Jagdausrüstung leisten, hat aber zu wenig Zeit, um noch zu jagen. Wer anderereseits keine Arbeit hat, dem fehlt das Geld für die Ausrüstung. Zwar gibt es noch eine funktionierende Austauschkultur bei manchen Kernfamilien, so dass ein Vollzeitbeschäftigter Geräte kaufen kann für andere, arbeitslose Familienmitglieder. Die hohe Arbeitslosigkeit bringt aber auch etliche Familien hervor, in denen niemand genügend Einkommen generiert, was dazu führt, dass die soziale Stratifikation noch weiter beschleunigt wird. Die Inuitkultur wird zwar weiterhin gepflegt, vieles ist aber trotzdem verloren gegangen. Die Jahrzehnte um die Mitte des 20. Jahrhunderts haben teilweise auch tiefe Narben hinterlassen: Viele alte Schamanen geben sich heute noch nicht offen als solche zu erkennen, zu sehr hat 27 die Christianisierung ihre Werte und Vorstellungen in den Untergrund gedrängt. Vielen der Generation, welche damals eine verfehlte Schulbildung durchgemacht hat, macht dies heute noch zu schaffen, zumal der Missbrauch an den Inuitkindern durch Geistliche und Lehrer damals nicht selten war. Die Regierung und Kirchen tun sich heute immer noch schwer mit diesem Kapitel ihrer Geschichte. Trotz dem langwierigen Start besteht viel Hoffnung im Hinblick auf die kürzlich erlangte Autonomie. Ob sich Nunavut zu einem ökonomisch, ökologisch und sozial gut funktionierenden Gebilde entwickelt, wird sich zeigen. 3.3.2 Ökologische Folgen Der Einsatz von neuen Jagdtechniken und –hilfsmitteln hat meist wenig negative ökologische Folgen, solange gewissen Tabus und traditionellen Jagdmustern Folge geleistet wird. Mitte der Siebzigerjahre wurde von Greenpeace und diversen Tierschutzorganisationen eine breite Kampagne in Europa lanciert, die gegen die kommerzielle Robbenjagd mobilisierte. Diese resultierte Anfang der Achtziger in einem generellen Importverbot für Robbenfelle in die EWG (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft). Dessen ökonomische Auswirkungen auf die Inuitpopulation wurden von den Initianten und zuständigen europäischen Ämtern wahrscheinlich nicht in Betracht gezogen. Viele Inuit hatten es dank dem Fellhandel geschafft, eine Quelle für Nahrung und Geld zu schaffen, welche es ihnen gestattete, die Jagd weiterhin vollzeitig zu betreiben. Wie Wenzel (1991) aufzeigt, erhöhte die kommerzielle Robbenjagd durch die Inuit den Druck auf die Ressource nur in einem kleinen Mass. Die Tierschützer verwendeten in ihrer Kampagne starke graphische und emotionale Elemente (Bilder von Jungtieren, blutbedecktes Eis usw.) und wussten auch, die Medien einzuspannen, was eine sachliche Diskussion verunmöglichte. Die kommerzielle Robbenjagd wurde zwar schon gegen Ende der Siebziger stark eingeschränkt und ausserdem war der Markt zu diesem Zeitpunkt wegen stark gefallener Preise für die Inuit nicht mehr sehr einträglich, manchen Tierschützern ging dies jedoch nicht weit genug und sie nahmen ab Anfang 80-er Jahren die Subsistenzjagd der Inuit genauso ins Visier wie die kommerzielle Jagd. Auch wenn die Inuit Felle verkauften, das Fleisch der Robben wurde ebenfalls verwendet, so dass diese Form der Jagd, welche die Tierbestände nicht gefährdete, unserer Meinung nach in einer Ökobilanz unter dem Strich weit besser ausfällt, als der Import von Nahrungsmitteln aus dem Süden. Allgemein gibt es heute auch lokale Übernutzungen von bestimmten Ressourcen, diese sind jedoch wahrscheinlich hauptsächlich auf die Konzentrierung der Inuit in grösseren Siedlungen zurückzuführen, was den Nutzungsdruck in der umgebenden Region massiv erhöht. Die Transportkosten sind durch heutige Technologien relativ hoch für die Inuit. Traditionelle Transportformen (Hundschlitten, Kajaks usw.) findet man zwar noch vereinzelt vor, sie sind jedoch auch mit Aufwand (Aufzucht und Nahrungsversorgung) und Limitierungen (Geschwindigkeit und Reichweite) verbunden. 28 Auf politischer Ebene wurden mit dem Territorium Nunavut auch Umweltbehörden geschaffen, welche die umweltpolitische Entwicklung leiten sollen. Diese erarbeiteten bisher zahlreiche Richtlinien, Verfahren und Vorschläge zur Entwicklung der jungen Autonomie. Seit einigen Jahrzehnten werden auch im hohen Norden von Kanada Bodenschätze abgebaut. Durch ständigen technologischen Fortschritt wurden immer mehr Gebiete einer Gewinn bringenden Ausbeutung zugänglich gemacht und somit ökonomisch interessant. So gibt es in der Slave-Region (Nunavut und NWT) reiche Vorkommen an Diamanten, Gold und unedlen Metallen. Die Minen an sich machen sind nur zum Teil für die Umweltauswirkungen verantwortlich: Die Infrastruktur, welche zum Betrieb einer Mine erforderlich ist, hat oft weit reichendere Folgen für die Umwelt. Ein ernsthaftes Umwelt- und für die Inuit vor allem auch ein Gesundheitsproblem stellen die meist von ausserhalb der Arktis stammenden toxischen Stoffe dar, welche sich in der Biomasse akkumulieren und schliesslich von den an der Spitze der Nahrungspyramide stehenden Inuit konsumiert werden. Die aus den verschiedenen menschlichen Tätigkeiten resultierenden kumulativen Effekte sind noch ungenügend erforscht, es kann aber angenommen werden, dass diese zu irreversiblen Veränderungen der arktischen Ökosysteme führen werden. 29 4 Diskussion 4.1 Hypothesen Unsere erste Hypothese, dass Jäger- und Sammlergesellschaften in Industrieländern einen besseren Schutz geniessen als in Entwicklungsländern können wir klar bejahen. Allerdings müssen auch in einer Industrienation gewisse gesellschaftsethische Voraussetzungen erfüllt sein, um unserer Hypothese Gültigkeit zu verleihen. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der kanadischen Administration und den Inuit liefert hierzu ein anschauliches Beispiel. Nach einem halben Jahrhundert der Vernachlässigung befasste sich das offizielle Kanada ab Anfang der 1950er Jahre erstmals ernsthaft mit den Inuit und implementierte vorerst eine Politik der Assimilation. Die Inuit sollten »kanadisiert« werden. Trotz dramatischen Verbesserungen der gesundheitlichen Situation und der sozialen Sicherheit konnte von einem eigentlichen Schutz nicht die Rede sein. Vielmehr wurde den Inuit eine andere, im Kontext ihrer damaligen Umwelt völlig unbrauchbare Lebensweise aufgedrängt und ihre Traditionen wurden teilweise aktiv unterdrückt. Diese Politik war in Kanada zu der Zeit kein Einzelfall, man erinnere sich nur an das Verhältnis des grösstenteils anglophonen Kanadas mit der frankophonen Minderheit in Québec und anderswo, welches zu gegebender Zeit sogar fast zu einer Separation Québecs vom restlichen Kanada geführt hat. Durch eine lange Serie von legalen Prozessen und Verhandlungen um Nutzungs- und Besitzrechte und auch aufgrund tiefgreifender gesellschaftlicher Wandlungen in den 60er und 70er Jahren entwickelte sich der Umgang der Verwaltung mit den Inuit auf den Punkt hin, wo man von einem eigentlichen Schutz der Menschen und ihrer Kultur sprechen kann. Dies hat auch mit der Ausweitung des Verständnisses bzw. Wissens über ihre Kultur und Lebensweise zu tun. Auch hat Kanada als demokratisches Land ein gewisses Interesse an seiner indigenen Bevölkerung als »Schutzgut« entwickelt (Status der Indigenität). Durch die Schaffung von Nunavut Ende des 20. Jahrhundert erreichten die Inuit sogar, was vielen indigenen Völkern vorenthalten bleibt: Weit reichende politische Autonomie. Sie besitzen dieselben Grundrechte wie alle anderen KanadierInnen, und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in Realität. Ausserdem geniessen sie in Nunavut und in Teilen anderer Provinzen und Territorien einen Sonderstatus in Bezug auf Nutzungsrechte. Auch die Tatsache, dass es in Teilen Nordkanadas kommerziell interessante Vorkommen von Bodenschätzen existieren, rüttelt nicht an den grundsätzlich Rechten der Inuit, teilweise wurde ihnen sogar weitgehende Besitzrechte über solche Gebiete zugesprochen. Trotzdem muss den am Abbau beteilgten Firmen oft noch auf die Finger geschaut werden, da diese selber oft kein Interesse an indigenen Völkern haben und nur gewisse Auflagen erfüllen müssen. Im Gegensatz zu Kanada kann im Kongo heute keineswegs von einem Schutz der Mbuti gesprochen werden. Trotz diverser offizieller Erklärungen und Initiativen in der Vergangenheit genossen sie nie auch nur annähernd soviel Schutz durch die Regierung, wie die Inuit. Durch wechselnde Regimes und Kriegswirren erschüttert, schafft die Demokratische Republik Kongo keinesfalls günstige Voraussetzungen zur Garantierung allgemeiner 30 Menschenrechte, geschweige denn eine spezielle Behandlung einzelner ethnischer Gruppen. Die Bedrohung durch den Abbau von Ressourcen (Holz, Lebensraum usw.) ist hier sehr real und die damit verbundenen Interessen sind denen des Schutzes der Mbuti und deren Lebensraum diametral entgegengesetzt. Wie in vielen Entwicklungsländern haben Geschäftsinteressen auch hier Vorrang vor dem Schutz von Menschen und Lebensräumen. Der Staat hat kein Interesse daran, solange es keinen Druck von aussen gibt, was in diesem Fall nicht oder nur ungenügend der Fall ist. Das Fehlen von Sensibilität gegenüber Anliegen von Minderheiten ist hier bestimmt auch auf mangelndes Verständnis der Kultur der Mbuti sowie der Bedeutung ihres Überlebens zurückzuführen. Immer, wenn den Mbuti gesetzlich dieselben Rechte zugesichert wurden, war die Diskrepanz zwischen Gesetzgebung und ihrer Durchsetzung besonders gross. Sie werden heute noch immer von vielen als minderwertig betrachtet und entsprechend behandelt, was neben der akuten Bedrohung ihres Lebensraums eigentlich nach drastischen Massnahmen verlangt. Der Vergleich der rechtlichen Situation beider Bevölkerungsgruppen zeigt grosse Unterschiede auf. In Anbetracht der wahrscheinlichen Ursachen dafür liegen sie unserer Meinung nach primär in den politischen Strukturen der zwei Länder, welche wiederum mit deren Entwicklungsstand korreliert. Kanada kann und muss es sich leisten, seinen indigenen Bevölkerungsgruppen volle Rechte und angemessenen Schutz zu garantieren. Die schon lange andauernde politische Stabilität sehen wir als notwendige Voraussetzung dafür. Die Demokratische Republik Kongo erfüllt eben diese Rahmenbedingung nicht, ausserdem ist der ökonomische Druck zu hoch, um eine ganze Region umfassend unter Schutz zu stellen, was im Fall der Mbuti notwendig. Unsere zweite Hypothese müssen wir eher verwerfen. Die Gründe hierfür liegen vor allem in der Vielschichtigkeit der Problematik. Der Schutz der Umwelt ist nicht automatisch gegeben, wenn der Schutz von indigenen Völkern gewährleistet wird. Wir sind der Meinung, dass es hierfür einen viel umfassenderen Schutz beziehungsweise viel tiefergreifende Massnahmen braucht. Im heutigen ökonomischen und gesellschaftlichen Kontext Kanadas ist es sehr schwierig für eine Inuitfamilie, noch der Jagd nachzugehen, wie weiter oben erläutert wurde. Der ökonomische Zwang, welcher durch die Finanzierung der veränderten Lebensweise bzw. Jagdmethoden entstanden ist, fördert eine nicht nachhaltige Nutzung von Ressourcen wie Bodenschätze oder Tiere. Gegen die neuen Technologien in der Jagd an sich ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Von den Inuit heute zu verlangen, mit ihren traditionellen Geräten zu jagen wäre unrealistisch, alleine schon, weil heute die meisten Inuit in Siedlungen leben, die teilweise weitab der traditionellen Jagdgebiete liegen. Diese Siedlungen wurden nicht zuletzt angelegt, um sie zu einer sesshaften Lebensweise zu bewegen. Wenn der wirtschaftliche Druck vermindert wird, ist eine umweltfreundliche und verantwortliche Nutzung viel eher möglich. Es ist klar, dass dies in einem Industrieland politisch einfacher machbar ist und die Durchsetzung von Massnahmen besser gewährleistet ist als in einem Entwicklungsland, wo die Ausführung ohne Hilfe und/oder Druck von aussen nicht garantiert werden kann. Im kongolesischen Kontext müssen wir die zweite Hypothese klar verwerfen, da hier ohne effektiven Schutz des Ökosystems jegliche Massnahmen zur Rettung der Mbuti nutzlos sind. 31 Da ihr Lebensraum stark von aussen bedroht ist und ihre ganze Kultur auf diesem aufbaut, ist dessen Schutz eine notwendige Voraussetzung für ihre Bewahrung und die dadurch mögliche nachhaltige Nutzung des Waldes im Sinne des Umweltschutzes. Wichtige Unterschiede zwischen Kanada und dem Kongo stellen der Bevölkerungsdruck von aussen sowie die Grösse der Ökosysteme dar. Wo die Inuit immer noch Möglichkeiten zum Ausweichen haben, ist dies für die Mbuti mittlerweile fast unmöglich, ohne in die für den Tierbestand so wichtigen Rückzugsgebiete vorzudringen, in welchen bis anhin nicht gejagt werden durfte (siehe auch 2.2.3). Des Weiteren sind die Wälder der Mbuti umgeben von überbevölkerten Gebieten, was für die kanadische Arktis nicht gilt. Trotzdem kann die Arktis auch nur eine beschränkte Bevölkerungsanzahl ernähren. Es reicht also in beiden Fällen nicht, einfach die Volksgruppen unter Schutz zu stellen, ausser man schützt auch das Territorium, auf dem sie leben. Eine umfassendere Strategie ist vonnöten, um ein längerfristiges Überleben der beiden Kulturen zu sichern und somit eine umweltschonende Nutzung der betroffenen Ökosysteme zu ermöglichen. 4.2 Methoden im Umgang mit indigenen Völkern Subsistenzwirtschaft, wie sie bei Jäger- und Sammlerkulturen anzutreffen ist, hat einen relativ geringen Einfluss auf ihre natürliche Umwelt. Der Bedarf an Gütern und Ressourcen ist sehr klein, was sehr geringe Energie-und Stoffflüsse zur Folge hat. Wildbeuterische Kulturen sind noch stark geprägt von einer engen Verbundenheit mit ihrer natürlichen Umwelt, dadurch aber auch ihren zeitlichen Schwankungen unterworfen. Eine »Entkoppelung« von Natur und menschlicher Gesellschaft, wie sie in westlichen Zivilisationen auftritt, war bis Mitte des 20. Jahrhunderts bei Jäger- und Sammlerkulturen nur ansatzweise zu finden. Die meisten dieser Kulturen sind heute jedoch in Auflösung begriffen und drohen von der westlichen Kultur und ihren ökonomischen Werten verschluckt zu werden. Obwohl die Subsistenzwirtschaft als relativ nachhaltig bezeichnet werden kann, übt sie einen nicht vernachlässigbaren Einfluss auf ihre natürliche Umwelt aus. Dieser kann sich auf verschiedene Weise mehr oder weniger auffällig äussern. Die Aborigines in Australien beispielsweise entfachten gezielt Feuer, welche zum Teil grosse Flächen an Buschvegetation vernichteten. Nach dem Feuer boten ihnen die abgebrannten Gebiete einen Jagdvorteil, da sie überschaubarer und ärmer an Verstecken geworden waren. Dieser kurzeitige Nachteil für das australische BuschÖkosystem wurde durch die Aschedüngung grösstenteils aufgewogen. Mit Hilfe von solch gezielt entfachten Feuern konnten der Pflanzenwuchs durch wieder verfügbar gewordene Nährstoffe angekurbelt und die Artenzusammensetzung durch neue Konkurrenzbedingungen verändert werden. Heute ist dieses dynamische Gleichgewicht gestört, da die Aborigines ihr Leben im Busch aufgeben mussten. Auch das oben erwähnte Beispiel der durch die Mbuti verursachten Veränderung der Pflanzenzusammensetzung durch lokale Rodungen zeigt, dass ein gewisses Mass an Störung eine durchaus positive Wirkung auf ein bestimmtes Ökosystem haben kann (erhöhte Biodiversität, neue temporäre Habitate usw.). 32 Ist eine Subsistenzwirtschaft betreibende Kultur in einer von aussen erzwungenen wirtschaftlichen Entwicklung begriffen, die zur Aufgabe des sorgsamen Umgangs mit ihren Ressourcen führt, spricht man von »Ökozid« (Bodley 1983). Ein Ökozid findet statt, wenn eine bestimmte Kultur durch Veränderung ihre nachhaltige Lebensweise zugunsten einer nicht-ressourcenschonenden Wirtschaftsweise opfern muss und sich somit gezwungenermassen an der Zerstörung ihrer eigenen Umwelt beteiligt. Veränderungen dieser Art können auf verschiedene Weise zustande kommen: - staatliche Verordnungen (Steuern, Sesshaftigkeitsprojekte usw.) Druck auf Ressourcen (Holz, Bodenschätze, Öl usw.) Umweltveränderungen (Rodungen, Umweltverschmutzung usw.) neue Technologien (Jagdtechniken, Anbautechniken in der Landwirtschaft usw.) unstabile politische Verhältnisse (Krieg usw.) ökonomische Zwänge (Geldwirtschaft, Statusdenken, Luxusgüter usw.) Ein Ökozid in diesem Sinne findet bei den Mbuti und den Inuit zum Teil statt, da die Zerstörung ihrer Lebensräume erfolgt jedoch hauptsächlich von aussen. Dies trifft in erster Linie für die Mbuti zu, die „nur“ die Tierbestände durch intensivierten Fleischhandel dezimieren. Bei den Inuit ist die Situation etwas komplexer. Bis vor kurzem war die Umweltzerstörung in Nordkanada ebenfalls vor allem äusseren Einwirkungen zuzuschreiben. Durch die neue rechtliche Situation in Nunavut sind die Inuit aber von nun an (wieder) selbst verantwortlich für ihren Lebensraum und ein Ökozid kann trotz verbesserten rechtlichen Umständen an Intensität zunehmen. Schwierigkeiten ergeben sich bei der Absicht natürliche Lebensräume zusammen mit ihren menschlichen Bewohnern zu schützen. Der einseitige Schutz des Ökosystems oder der alleinige Schutz der traditionellen Kultur der Bewohner führt gleichermassen nicht zum Ziel. Wird nur ein bestimmtes Ökosystem allein unter Schutz gestellt, ohne ihren Bewohnern weiterhin ihre traditionelle Bewirtschaftungsweise zu ermöglichen, gehen Werte verloren, die bisher einen respektvollen Umgang mit ihrer Umwelt ermöglicht haben. Zwangsläufig führt das neben dem Untergang einer Kultur zusätzlich zu einem erhöhten Druck auf das entsprechende Ökosystem, weil ihre traditionellen Bewohner nun ebenfalls damit beginnen verstärkt Raubbau an der Natur zu betreiben. Von Seiten der Behörden würde dies eine völlige Isolation der Schutzgebiete unter Ausschluss der indigenen Völker verlangen, ein Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt ist. Erhält hingegen nur das indigene Volk das Recht, weiterhin ihrer traditionellen Lebensweise nachzugehen, ohne dass dabei ihre Umwelt geschützt wird, ist es den Wildbeutern in den meisten Fällen gar nicht mehr möglich so zu leben, denn die Intaktheit ihrer Umwelt ist die entscheidende Voraussetzung für ihren Lebensstil. Längerfristig sind somit das Ökosystem und die Kultur ihrer menschlichen Bewohner vom Untergang bedroht. Die einzige Option Kultur und Ökosystem zu erhalten besteht, darin beides kombiniert zu schützen. Die Frage, wie das nun umgesetzt werden kann, ist aber nicht so einfach und abschliessend zu beantworten. 33 Seit den 70-er Jahren des 20. Jahrhunderts entstand eine Vielzahl von staatlichen und NichtRegierungs-Organisationen mit dem Ziel indigene Völker zu unterstützen. Dabei können sie nach Bodley (1983) in drei Kategorien eingeteilt werden aufgrund ihrer Vorgehensweise: - Konservativ-humanitär: mit einem missionarischen Hintergrund Liberal-politisch: die Selbstbestimmung steht im Vordergrund Kultur- und umweltbewahrend: berücksichtigt die ökologische Komponente Stüben (1988) hat den Kultur- und umweltbewahrenden Weg in drei weitere Unterkategorien aufgeteilt. Wir möchten diese Ansätze hier kurz umreissen. - - - Der konservierende Weg: Bildung von Biosphären-Reservate bei akut von Zerstörung bedrohten Kulturen, „Dept-forNature Swap“ Der revitalisierende Weg: Orientierung am Ideal anarchischer Gesellschaften und der regionalen Ökosysteme vor der Zerstörung unter Berücksichtigung der Ergebnisse aus der angewandten Ökologie Der kritisch-aktionistische Weg: Aktionistischer Aspekt wichtig, zurückdrängen der wirtschaftlichen und zivilatorischen Entwicklungen, Rückführung in ökosoziale Verhältnisse Unserer Meinung nach dienen diese theoretischen Ansätze durchaus als Basis für die Umsetzung von Schutzprojekten. Im konkreten Fall müssen wahrscheinlich mehrere dieser Ansätze miteinander kombiniert und den lokalen kulturellen und ökologischen Gegebenheiten angepasst werden. Folgende Punkte sind unserer Meinung nach zentral. Einerseits sollte dem betroffenen indigenen Volk das Selbstbestimmungsrecht jederzeit gewährt und nicht über seine Köpfe hinweg entschieden werden. Das indigene Volk soll aktiv an einem solchen Schutzprojekt mitgestalten und ihre Vorstellungen einbringen können. Andererseits sollte darauf geachtet werden, dass die Natur und der Mensch nicht gegeneinander ausgespielt werden und die Prioritätenwahl des Schutzgutes (Mensch, Ökosystem) vorsichtig vollzogen wird. In manchen Fällen kann es durchaus sinnvoll sein, der bedrohten Kultur einen höheren Stellenwert einzuräumen als dem Ökosystem oder umgekehrt. Beispiele, die aber geben zu Hoffnung Anlass, wie der jüngste Erfolg von Greenpeace im Amazonasgebiet zeigt (Greenpeace 2003), sind bisher leider nur wenige vorhanden. In diesem Fall wurden den Deni-Indianern nach zähem Ringen endlich die offiziellen Besitzrechte des von ihnen genutzten Regenwaldes zugesprochen. Dieser Waldbereich steht nun unter Schutz und erlaubt den Indianern weiterhin ihren traditionellen Lebensstil zu pflegen. Die oben aufgelisteten Ideen stehen aber meist im Widerspruch zu wirtschaftlichen und politischen Interessen der meisten Regierungen, denn solche Schutzmassnahmen kosten Geld, verhindern den Zugang zu gewissen Ressourcen (Bodenschätze usw.) und verlangen eine Kontrolle, um 34 Missachtungen der Schutzbestimmungen zu verhindern. Es fragt sich, ob sich diese Ideen auf dem internationalen Parkett trotzdem durchsetzen können, bevor es zu spät ist. 4.3 Zukunftaussichten In diesem Abschnitt möchten wir einen Ausblick in die Zukunft der Mbuti und der Inuit wagen. Es handelt sich hierbei um unsere persönliche Einschätzung und um Annahmen. 4.3.1 Mbuti Für die Mbuti stellt sich die Zukunft als düstere Ungewissheit dar, Ungewissheit darüber, ob ihre Kultur überhaupt noch weiter Bestand haben wird. Die jüngsten Entwicklungen lassen den Schluss zu, dass den Mbuti der Verlust ihrer kultureller Identität und ihrer natürlichen Lebensgrundlage droht. Hinweise auf Veränderungen in der materiellen Kultur und der Jagdethik vermehren sich. Musik, Tanz und Gesang, ihre positive Lebenseinstellung und ihre unbekümmerte Art in der Gegenwart zu leben scheinen fast verschwunden zu sein. Für die nahe Zukunft ist mit einem rapiden Anstieg in der Bevölkerungsdichte im Iturigebiet zu rechnen, da die benachbarten Distrikte eine hohe Zuwachsrate aufweisen und viele landlose Siedler in den Wald drängen. Hinzu kommt der jüngste bewaffnete Konflikt in dieser Region, unter dem die Mbuti zusätzlich zu leiden haben. Der Zuwanderungsstrom in den Wald hinein wurde wahrscheinlich durch die Kriegswirren noch verstärkt. Viel ist noch nicht bekannt über die Auswirkungen auf die Mbuti, aber gewissen journalistischen Quellen nach fanden Übergriffe auf die Mbuti statt mit Vergewaltigungen und Tötungen, die von versprengten bewaffneten Gruppen verübt wurden und denen die Mbuti schutzlos ausgeliefert waren (Krammer 2003). Wie sich die Situation zum heutigen Zeitpunkt darstellt, ist jedoch weitgehend unklar. In der Vergangenheit hatten die Mbuti immer die Gelegenheit sich vor äusseren Bedrohungen (Sklavenjäger, Siedler usw.) ins Waldesinnere zurückzuziehen, diese Möglichkeit verringert sich aber zusehends. Anpassung ist die einzige Option, die noch bleibt. Ihre Anpassungsstrategien reichen von gescheiterten Versuchen des Übergangs zu Sesshaftigkeit und zur produzierenden Wirtschaftsweise, über die Zusammenarbeit mit Holzfirmen und Fleischhändlern, bis hin zu dem Versuch ein Leben in der Stadt zu führen. Neben einer Marginalisierung dieser Stadt-Mbuti lässt sich auch eine starke Zunahme von Alkoholismus und Krankheiten unter ihnen beobachten (Hart 1986). Auch Schulbildung und Ackerbau, von Seiten der Entwicklungshilfe als Möglichkeiten propagiert, den Mbuti zu relativer Unabhängigkeit zu verhelfen, weisen negative Folgen auf: Den Schulkindern bleibt keine Zeit den Eltern über die weiten Distanzen in den Wald zu folgen und sich dabei die notwendigen Kenntnisse über Flora und Fauna anzueignen. Eine Entwurzelung der Kinder von der Kultur ihrer Vorfahren findet statt, was unweigerlich den Niedergang ihrer kulturellen Eigenständigkeit zur Folge hat. 35 Die zunehmende Vernichtung des Regenwaldes ist mit Sicherheit die grösste Gefahr für die Mbuti-Kultur. Was Bahuchet (1985) als Bedingungen für das Überleben der Aka-Pygmäen in Kongo Brazzaville vorausgesetzt hat, gilt ebenso für die Mbuti: 1. Die moralischen und spirituellen Werte müssen beibehalten werden. 2. Der Regenwald muss als Ganzes bestehen bleiben. Nur innerhalb eines intakten Ökosystems haben die traditionellen Werte noch Bedeutung. Ein Mbuti sagte einmal zu Turnbull (1983, S.127): „Du wirst sehen, warum wir „Waldvolk“ genannt werden… wenn der Wald stirbt, werden auch wir sterben.“ Wenn wir uns gegen eine Abholzung des Regenwald wenden, dann nicht um einen menschlichen Zoo zu erhalten, sondern um den in ihm lebenden indigenen Völkern ein langfristiges und selbstbestimmtes Überleben in diesem durchaus sensiblen Ökosystem zu ermöglichen (Bollig 1992). Eine Chance dies umzusetzen besteht vielleicht darin, das oben angesprochene »no man’s land« in ein Schutzprojekt einzubeziehen (siehe auch 2.2.3). Solche Gebiete können als Rückzugs- und Regenerationsgebiete für Beutetiere interpretiert werden, eine Art Naturreservat, dem eine ökologische und eine soziale/religiöse Komponente zugeordnet werden kann. Einerseits wird unberührter Primärregenwald sich selbst überlassen, ohne menschlichen Einfluss. Andererseits kann die religiöse Vorstellung der Mbuti respektiert und aufrechterhalten werden. Ernsthafte Bestrebungen, ein solches Schutzprojekt sinnvoll umsetzten, sind uns aber nicht bekannt. 4.3.2 Inuit Die Zukunftsperspektive der Inuit in Kanada sieht im Vergleich zu den Mbuti gut aus, auch wenn dies nicht über die bestehenden und drohenden Probleme hinwegtäuschen soll. Die Autonomie, welche die Gründung von Nunavut und die Einigung auf regionale Landnutzungs- und Besitzrechte mit sich brachte, auferlegt den Inuit auch eine grosse Verantwortung ihrer Kultur und ihrem Lebensraum gegenüber. Allgemein sind die sozialen und gesundheitlichen Verhältnisse in den vorwiegend indigenen Siedlungen nicht so prekär, wie in manchen Indianerreservaten südlich der kanadischen Grenze. Dies ist nicht zuletzt auf die mancherorts strikten Alkohol- und Drogenverbote zurückzuführen. Trotzdem verursachen hohe Arbeitslosigkeit sowie kultureller Zwiespalt und Identifikationsprobleme in vielen Fällen die typischen Probleme einer Gesellschaft ohne Perspektiven: Alkoholismus, Drogenabhängigkeit und damit verbundene Kleinkriminalität, Suizid und Gewalt in Familie und unter zerstrittenen Individuen, welche nicht selten tödlich enden. Aber auch unbeabsichtigte Unfälle sind deutlich häufiger anzutreffen als im nationalen Durchschnitt (NIICHRO 1997). 36 Was die Inuit unserer Meinung nach nun benötigen, ist eine Perspektive, die ihr kulturelles Erbe genauso einbindet wie Möglichkeiten, selbstständig ein Auskommen zu bestreiten. Klar ist, dass es hierfür vorläufig Mittel aus der Staatskasse braucht, allerdings sollte mit der Zeit auch diese Abhängigkeit minimiert und zum Verschwinden gebracht werden. Dringend notwenig und mancherorts auch schon ansatzweise bis gut implementiert sind alternative Bildungsmethoden, welche den Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen die Werkzeuge in die Hand geben für eine gesellschaftliche Entwicklung in die angedeutete Richtung. Die Limitierungen des arktischen Systems in Bezug auf ökonomische Entwicklung sind uns bewusst, deshalb gehen wir davon aus, dass eine Umorientierung zur Erreichung der beschriebenen Ziele lange Zeit dauern wird und dass es ausserdem in diesem Teil der Welt eher alternative Ansätze braucht und die in den Industrienationen verbreitete wirtschaftliche Logik hier nicht umsetzbar ist, ohne grosse Opfer bei den Inuit zu fordern und Raubbau an der Natur zu begehen. 37 5 Literatur Bahuchet, S. 1985. Les pygmée Aka et la forêt centrafricaine. Paris Bailey, R. C. und N. R. Peacock. 1988. Efe Pygmies of Northeast Zaïre: Subsistence Strategies in the Ituri Forest. Oxford Bisonette, J.A. und P.R. Krausman. 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