PDF herunterladen

Transcription

PDF herunterladen
JAN W EIL ER
M EIN LE BEN AL S M EN SCH
FOL GE 23
That’s why they call it the blues
W
as macht eigentlich der Blues? Ich meine nicht die
Musikrichtung, sondern den Tanz. Dieser Fummeltanz. Gibt es
den eigentlich noch? In meiner Jugend war das der Höhepunkt
jeder rauschenden Kellerparty. Der Plattenaufleger wurde –
meist von einem Mädchen – gebeten, nun einmal was „ganz
Schönes“ zu spielen, Lichter wurden mit darüber geworfenen
Halstüchern gedimmt und dann ging’s los. Die Musik,
irgendwas langsames, schreckliches, bot den Rahmen für recht
tölpelhafte Versuche, nach Martini Bianco und Benetton-Parfüm riechenden Mädchen
irgendwie den Büstenhalter aufzupfriemeln. Von Tanz konnte dabei kaum die Rede sein.
Mädchen und Jungen umarmten sich und drehten sich dann ganz langsam. Rechter Fuß.
Linker Fuß. Furchtbar langsam. So langsam, dass die Schuhe auf dem Boden scharrten. Die
Paare sahen aus wie Kaiserpinguin-Ehepaare und drohten, jederzeit umzufallen. In der Regel
wollten die Jungs mehr als die Mädchen und die Niederlage war im Bluestanz eingebaut.
Meistens kam es zu nicht mehr als dem Beschnuppern der Haare und des Nackens eines
hübschen Mädchens. Das war zwar auch herrlich und erzeugte Erektionen, die man durch
sofortiges Hinsetzen nach Beendigung des Tanzes verbarg, aber selten wurde mehr daraus.
Eigentlich nie.
Der Film „La Boum“ zeigt exemplarisch, wie das geht mit dem Blues. Dazu spielt der
Superhit „Reality“ von Richard Sanderson. Weitere bewährte Songs stammten von Spandau
Ballet („True“), Phil Collins („Against all odds - Take a look at me now“) und von Cat Stevens
(„Morning has broken“ und so ziemlich jeder andere Song). Es war in jeder Hinsicht
entsetzlich, sowohl unter sexuellen, als auch unter ästhetisch-künstlerischen
Gesichtspunkten. Heute sind die Zeiten nicht besser. Das sieht man an unserer Regierung, die
seit zwei Jahren einen verzweifelten Stehblues aufführt und wohl insgeheim darauf hofft,
dass endlich jemand die Kellertür aufreißt und ruft: „So, die Party ist zu Ende. Ihr geht jetzt
bitte alle nach Hause. Und lüften nicht vergessen.“
Unsere Regierungsparteien SPD und CDU/CSU umklammern sich, wenn auch nicht in
Liebe, so doch in einer gewissen Geilheit, nämlich jener der politischen Zielerfüllung. Gerade
erst war in Anne Wills Sendung exemplarisch zu beobachten, wie der ausgesprochen
ambitionierte Kurt Beck den BH von Jürgen Rüttgers zu öffnen versuchte. Im übertragenen
Sinne natürlich. Es ging in Wahrheit zum Glück nicht um Sex, sondern um Mindestlöhne.
Das ist was ganz anderes. SPD-Becks Wiegeschritt, sein Drängen und sein Sehnen wurden
aber von CDU-Rüttgers nicht erwidert. Und so stolperten sie als unharmonisches Paar durch
die Talkshow. Das war nicht schön anzusehen. Aus diesem Tanz wird keine Liebe werden, bei
den Ministerpräsidenten nicht und bei ihren Parteien erst recht nicht. Kaum zu glauben, dass
die schon seit zwei Jahren miteinander unentwegt tanzen.
Aber weg von diesen unfeinen Bildern. Zurück zu „La Boum.“ Der kam vor einiger Zeit im
Fernsehen. Als die Szene kam, in der nicht nur getanzt, sondern auch geknutscht wurde,
schrie Carla: „Iiiih, das ist ja ekelhaft.“ Sie ist neun Jahre alt und die Vorstellung, von einem
Jungen geküsst zu werden, findet sie so ungeheuerlich wie Jürgen Rüttgers den Mindestlohn.
Carla hielt sich ein Kissen vors Gesicht und schaute alle paar Sekunden nach, ob noch
geküsst wurde. Das würde sie, schwor sie mir, nie machen. Niemals! Nichts sei fieser als die
Vorstellung, von einem Zehnjährigen abgeleckt zu werde, da könne sie sehr gut drauf
verzichten.
„Ich schwöre Dir, in spätestens fünf Jahren siehst Du das anders,“ sprach ich herab vom
Thron meiner unendlichen Weisheit.
„Niemals.“
„Doch, sicher. Uhhh, da ist dieser wunderbare 15jährige mit den Pickeln. Den findest Du so
cool. Und dann wird geknutscht. Wirst schon sehen.“
„Nein! Und wenn er mich angrabscht, knall ich ihm eine!“
Irgendwie war ich nach diesem Gespräch sehr beruhigt. •
20. SEPTEMBER 2007