Machtergreifung am 30

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Machtergreifung am 30
Machtergreifung am 30. Januar 1933
Die Presse der Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide
(AZ) informiert
Adolf Hitler hatte nach den beiden Reichstagswahlen im Jahr 1932 eine Regierungsbeteiligung abgelehnt, obwohl seine Partei der
NSDAP am 31. Juli von 608 Mandaten 230 Mandate und am 6. November rückläufig 196 von 584 Mandaten errungen hatte. Das
ergab 42 % der Stimmen. Aus diesem Grunde hatte Hitler auf dem Neujahrsempfang des Diplomatischen Korps in Berlin kein
Forum, den politischen Standpunkt der NSDAP zu manifestieren. Doch richtete er in der Presse eine Neujahrserklärung an die
Parteigenossen. In der Tagesausgabe des 2. Januar druckte die "Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide" Auszüge aus dieser
Ansprache ab. Hitler gab unverhohlen zu, worum es ihm ging:
Ich weiß, dass ich hinter mir die Millionen Fanatiker und Kämpfer der nationalsozialistischen Bewegung besitze, die nicht
gehofft und gelitten haben dafür, dass die stolzeste und größte Erhebung des deutschen Volkes ihre Mission für ein paar
Ministerstühle verkauft. Die größte Aufgabe des kommenden Jahres werde die sein, den nationalsozialistischen Kämpfern,
Mitgliedern und Anhängern in größter Klarheit vor Augen zu führen, dass die NSDAP nicht Selbstzweck, sondern nur ein
Mittel zum Zweck ist.
Nur vier Wochen später, am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg zum Reichskanzler
ernannt. Noch vor der Vereidigung forderte Hitler Neuwahlen, um für seine Partei die Majorität durchzusetzen. Am 1. Februar
wurde der Reichstag aufgelöst. Der einsetzende Wahlkampf ist gekennzeichnet durch das Zusammenwirken aller rechtsradikalen
und rechtslastigen Gruppierungen und Parteien der Nationalen Front. Dazu gehörte allen voran die Partei der Deutschnationalen
Volkspartei mit ihrem Führer Alfred Hugenberg, der mit dem Reichsführer des Stahlhelm Franz Seldte den Wahlblock Liste 5,
Kampffront Schwarz-Weiß-Rot formierte.
Alarmierend wirkt der Rechtsruck der konservativen Deutsch Hannoverschen Partei. In der Allgemeinen Zeitung vom 4. /5. März
1933 am Vorabend der Wahlen zum Reichstag und zum Preußischen Landtag schaltet diese Partei das Inserat, mit dem diese in
Niedersachsen vor allem in ländlichen Regionen existierende Partei ihr politisches Credo ablegte: Die Anhänger der Partei denken
fast durchweg deutschnational. Deshalb Deutsch-Hannoveraner, wähle Schwarz - Weiß - Rot Liste 5.
1.
Die Wahlen im März 1933
Reichstags- und Landtagswahlen (Preußisch): 5. März 1933
Kommunal- und Landtagswahlen (Provinzial): 12. März 1933
In den sechs Wochen der Wahlpropaganda zu den Märzwahlen 1933 entfaltete die Partei der NSDAP mit ihren
Kampforganisationen der SA und der SS - nun nicht mehr durch staatliche Gewalt gezügelt - einen ungehemmten Straßenterror
einhergehend mit der totalen Oberwachung der Öffentlichkeit.
In Uelzen wurde der Wahlkampf geprägt durch ein Sonderaufgebot von Hilfspolizisten, deren Organisation vom Minister des
Inneren in Berlin per Erlaß vom 22.2.1933 verfügt wurde. Diese Einsatztruppe rekrutierte sich aus den Reihen der SA und des
militanten Frontkämpferbundes des Stahlhelms. Begründet wurde diese Maßnahme mit den zunehmenden Ausschreitungen
linksradikaler insbesondere kommunistischer Elemente.
In den Tagen unmittelbar vor den Wahlen waren in Uelzen einem Bericht des Polizeihauptwachtmeisters Hermann Fehlhaber
zufolge eine Gruppe von 50 Hilfspolizeibeamten im Einsatz, die sich aus 25 SS-Mitgliedern und 25 Stahlhelmem zusammensetzte.
Diese Truppe tat Patrouillendienst auf den Straßen, vor den Wahllokalen und in allen öffentlichen Einrichtungen, vor allem in den
Städtischen Werke und auf der Reichsbahn.
Im Wahlkampf bediente sich Hitler der wirksamen Auftritte und Einsätze der Organisation des Stahlhelms: in der Allgemeinen
Zeitung vom 6. Februar 1933 steht eine ganze Seite unter der Parole
Gewaltiger Aufmarsch der nationalen Front in Uelzen - ein imposanter Zug von Nationalsozialisten und Stahlhelmen
bewegt sich durch die Straßen der Stadt. Vorbeimarsch vor der Führung am Kriegerdenkmal.
Das vorrangige Argument des Wahlkampfes war die von Hitler heraufbeschworene Gefahr des Bolschewismus von links. Der von
den Nationalsozialisten inszenierte Brand des Reichstagsgebäudes am 27. Februar nur wenige Tage vor den Wahlen und die dann
verstärkt einsetzende Verfolgung der Mitglieder der Kommunistischen Partei hatte die von den Nazis gewünschten Folgen auf den
Wahlausgang. Von den 100 Mandaten, welche die Kommunisten zur Wahl des 7. Reichstag am 6. November 1932 errangen,
blieben am 5. März nur noch 81 in ihrer Hand. Die Sozialdemokraten kamen wieder auf 120 Mandate und büßten nur einen Sitz
ein. Auch die Stimmenabgabe der Uelzener Wähler für die Wahl des Bürgervorsteherkollegiums im Rathaus am 12. März 1933
lag im Trend.
Ouelle
Allgemeine Zeitung der Lüneburger Heide (AZ):
3 1. Januar / g. Februar / 6. , 13. , 29. März / 1. /2. April 1933
Stadtarchiv Uelzen;
II. Fach 57: Stadtverwaltung
Lfde. Nr. 17: Protokolle aus den Sondersitzungen
des Bürgervorsteherkollegiums 1931 bis 1933
II.
Verfolgung und Verhaftungen
Überwachung und Verhaftungen der Mitglieder der SPD und der KPD
Mit dem Wahlvorgang, zu dem die Kandidatenlisten und Stimmzettel vorlagen und öffentlich aushingen, waren die Mitglieder und
Funktionäre der SPD und der KPD auch offiziell bekannt und für die NSDAP greifbar geworden. Die Märzwahlen 1933 hatten der
Partei der NSDAP überall eine breite Mehrheit und gemeinsam mit den Deutschnationalen überall auch die absolute Mehrheit
eingebracht. Die neuen Machthaber hatten ihr Ziel erreicht.
In Uelzen errang die NSDAP 12 Mandate im Rathaus, die SPD nur noch sechs Mandate, die konservative Partei
(Interessengruppe) Gesunde Wirtschaft 6 Mandate, die KPD blieb draußen. Offensichtlich war die Partei der NSDAP in der
Region Sammelbecken aller rechtslastigen Kräfte, denn die Deutschnationale Volkspartei, mit deren Hilfe die NSDAP im
Reichstag aber erst 340 von 647 Mandaten erhielt, hatte auf der Wahlliste Uelzen keine Position.
Nach den Wahlen setzte die Welle der Verfolgung und Verhaftung ein. Unter dem Eindruck des Wahlkampfes und der
vorherrschenden öffentlichen Stimmungslage legten noch vor der Eröffnung des Bürgervorsteherkollegiums am 28. März durch
Bürgermeister Johann Maria Farina zwei in das Kollegium gewählte Abgeordnete der SPD ihr Mandat nieder. Es waren der
Postassistent Wilhelm Sperling und der Buchdrucker Ernst Vogel. Für diese beiden Kandidaten rückten nach die Hausfrau Meta
Balschau und der Zimmermann Hermann Fahlke nach. Zur Einführung der neuen Bürgervorsteher war der Sitzungssaal im Rathaus
auf der Seite der Mandatsträger der NSDAP, die in Uniform erschienen waren, mit den Farben SchwarzWeiß-Rot und der
Hakenkreuzfahne geschmückt.
Der Wortführer des Bürgervorsteherkollegiums Handlungsgehilfe Paul Nagorski, Mitglied der NSDAP, ergriff das Wort: Wir
können heute den Kampfaufnehmen gegen die SPD und KPD mit dem letzten Ziel der Vernichtung dieser Organisationen. Noch
flackern hier und da die Brandfackeln auf Damit begann in Uelzen die Entwicklung des Einparteienstaates:
1.
2.
Ausschaltung aller politischen Kräfte außerhalb der NSDAP
Gleichschaltung aller Institutionen des öffentlichen Lebens
Auf der Grundlage des Polizeiverwaltungsgesetzes vom 1. Juli 1933 wurden die Mandatsträger der SPD und der KPD von den
Parlamentssitzungen ausgeschlossen. Schon am 26. Juni sandte Bürgermeister Farina diese Verfügung an die vier
SPD-Ratsmitglieder: Josef Kein, Meta Balschau, Hermann Fahlke und an Emil Seidenschnur, der seit dem 31. Mai im
Konzentrationslager Moringen war. Bürokratisch konsequent wurde dem Gewerkschaftssekretär diese Verfügung durch den
Bürgermeister Farina dorthin geschickt.
a.
Emil Seidenschnur
Gewerkschaftssekretär in Uelzen
Lebenslauf bis 1933
Geb.
25. Februar 1896 in Harburg
Eltern
Emil Ernst und Caroline Seidenschnur, geb. Grote
Der Vater Emil Ernst Seidenschnur, geb. 19. März 1872, trat 1889 der
Gewerkschaft bei und war von 1905 bis 1933 Sekretär des Verbandes der
Fabrikarbeiter Harburg. Seidenschnur war von 1919 bis 1933
Stadtverordneter der SPD, Bürgervorsteher und ehrenamtlicher Senator. Seit 1945 wirkte er aktiv am Wiederaufbau der
SPD in Hamburg-Harburg mit.
Emil Seidenschnur machte den 8-stufigen Volksschulabschluss, war von Jugend an in der sozialistischen Arbeiter-Jugend
organisiert, absolvierte die 4-jährige Lehrzeit als Schriftund Maschinensetzer beim Harburger Volksblatt und spezialisierte seine
allgemeine Ausbildung in einem 4-wöchigen Kursus auf der Linotype-Setzmaschinenschule in Berlin. Vor seiner Einberufung
arbeitete er als Maschinensetzer in Berlin, Hamburg und Frankfurt/ M. und war dann seit 1916 als Pionier an der Westfront
eingesetzt. Nach 1918 ging Emil Seidenschnur als zünftiger Buchdrucker und gesuchter Facharbeiter für 4 Jahre auf der großen
Sommerwanderungen nach Weimar, München, Innsbruck, Salzburg, Klagenfurt, Wien, Bregenz, Friedrichshafen und Chur in
Graubünden. Am Ende dieser Wendejahre kehrte er nach Harburg zurück, wo er in Stellung ging und in die Rechtsauskunftsstelle
des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes eingesetzt wurde. Es folgte der einjährige Besuch der Staatlichen Fachschule
für Wirtschaft und Verwaltung in Berlin. Daraufhin wurde Emil Seidenschnur 1929 bis 1933 Gewerkschaftssekretär in Uelzen, wo
er 1931 Wilma Böttcher aus Ebstorf heiratete. Zwei Söhne Friedel und Helmuth wurden geboren.
Am 31. Mai 1933 wurde Emil Seidenschnur in das Konzentrationslager Moringen gebracht, aus dem er am 15. September 1933
freigelassen wurde. Darnach war er in Harburg bis Anfang 1939 im ganzen 3 1/2 Jahre arbeitslos, die übrige Zeit immer nur
aushilfsweise bei drei Firmen angestellt, bei den Harburger Anzeigen und Nachrichten, Friedrich Priess-Buchdruckerei Harburg
und der Stem'schen Buchdruckerei Lüneburg.
Am 25. Februar 1939 wurde er als Maschinensetzer von den Harburger Anzeigen und Nachrichten übernommen, wo er bis zum
27. Februar1943 blieb. Im ersten Kriegsjahr aber war Emil Seidenschnur als Pionier zum Militärdienst eingezogen und nahm an
den Vormärschen in Polen und Frankreich teil.
Vom 1. März 1943 bis zum 30. Juni 1945 war er beim Hamburger Tageblatt (Nazi-Zeitung) als Linotype-Maschinensetzer tätig,
weigerte sich aber trotz aller Schikanen Mitglieder der Partei der NSDAP zu werden.
Die zweite Verhaftung erfolgte am 21. Juli 1944. Die Haft im KZ Fuhlsbüttel dauerte bis zum 9. August 1944.
Nach dem Krieg wurde Emil Seidenschnur im August 1945 als Sachbearbeiter bei der Stadtverwaltung/ Wohnungsabteilung für
die Sonderabteilung zur Betreuung der KZ-Häftlinge, der Requisitionsgeschädigten und der Kinderreichen eingesetzt. Im Frühjahr
1948 wurde ihm die Leitung der Wohnungsabteilung Süderelbe bei der Stadtverwaltung Harburg zugewiesen.
Die Familie Seidenschnur wohnte nun im Eissendorfer Grenzweg 84 in Harburg. Am 9. Mai 1950 wurden ihm von der
Wiedergutmachungsstelle der Hansestadt Hamburg als Entschädigung für die fünf Monate Haft 750.-DM zugesprochen.
Im September 1964 wurde dem nun 70jährigen Sozialdemokraten für 50 Jahre Mitgliedschaft der Gewerkschaft Druck und Papier
von der Landesorganisation Hamburg der SPD die Ehrenurkunde verliehen.
Emil Seidenschnur starb am 17. Februar 1970 in Hamburg.
Der Vorgang seiner Verhaftung am 20. Mai war dramatisch und lief in aller Öffentlichkeit ab. Im Gewerkschaftshaus am
Hammersteinplatz, im sogenannten Volksheim, fand am 20. Mai eine öffentliche Versammlung der NSBO, der
Nationalsozialistischen Betriebsorganisation statt, zu der alle Funktionäre des ADGB, des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes und allen voran der Gewerkschaftssekretär Emil Seidenschnur eingeladen waren. Einleitend sprach der
Wortführer des Bürgervorsteherkollegiums Paul Nagorski über Sinn und Zweck der Gewerkschaften, um damit zu der
bevorstehenden Zerschlagung der Ortsgruppen der Gewerkschaften überzuleiten. Am 2. Mai waren im ganzen Reich die
Gewerkschaftshäuser und -Büros von SA-Männern besetzt und geplündert worden.
Davon blieb auch das Büro der Gewerkschaft in Uelzen nicht verschont.
Aus dem Gerichtsgefängnis in Uelzen schrieb Seidenschnur am 27. Mai einen Brief an Bürgermeister Farina, um sich zu
rechtfertigen und zu retten. In diesem Schreiben schildert er den Vorgang folgendermaßen:
Am Tage des 2. Mai sind uns oben im Gewerkschaftssekretariat Plakate des Deutschen Baugewerksbundes, des
Gesamtverbandes und des Holzarbeiterverbandes abgerissen, Von den Briefkästen des Allgemeinen Deutschen
Gewerkschaftsbundes und der Baugenossenschaft Volksheim die Anschriften. Diese Plakate sind dann verbrannt. Wer es
getan hat, kann ich nicht sagen. Von dem Fenster des Sekretariats aus - ich saß oben als Gefangener - konnte ich das
sehen. Das ärgerte mich!
Damit machte Seidenschnur seinen Widerstand und seine Position gegen das Vorgehen der SA-Männer unmissverständlich
deutlich. Nachdem er den letzten Satz gesprochen hatte, entzog Nagorski ihm das Wort und löste die Versammlung auf, in der sich
Unruhe unter den etwa 70 versammelten SPD-Funktionären breit gemacht hatte. Nach und nach verließen alle den
Versammlungsraum, als schon der Polizei-Hauptwachtmeister Friedrich Becker erschien, den Nagorski herbeitelefoniert hatte und
Emil Seidenschnur verhaftete. Auf seine Frage, wer denn seine Verhaftung angeordnet hatte, antwortete Becker erregt "Halten Sie
den Mund!" Also ging er mit dem Wachtmeister zur Protokollaufnahme in das Rathaus. Darnach wurde Seidenschnur in das
Gerichtsgefängnis gebracht.
Es war Paul Nagorski, der die Verhaftung des Gewerkschaftssekretärs betrieben hatte: Seidenschnur ist ein so großer Hetzer, dass
ich schon in meiner Eigenschaft als Bürgervorsteher-Worthalter ganz heftige Auftritte im Stadtparlament mit Seidenschnur hatte
und ihn damals verwarnte, Frieden in Uelzen zu halten, da die Sache nicht gut für ihn auslaufen könnte. Es hat sich auf der
Versammlung am 20. Mai im Gewerkschaftshaus tatsächlich gezeigt, dass die Leute sehr erregt waren, nachdem Seifenschnur nur
kurze Zeit gesprochen hatte. Ich rief die Polizei an, die in kurzer Zeit zur Stelle war, Ich fühle mich nun verpflichtet zu sagen,
dass Seidenschnur reif für das Konzentrationslager ist.
(Aus dem Polizeibericht vom 20. Mai 1933)
b.
Lebenslinien der Mitglieder der SPD und der KPD
Im Mai 1933 begann die systematische Überwachung der Mitglieder der SPD Ortsgruppe Uelzen. Am 11. Mai wurden Walter
Kloos und Adolf Meyer im Rathaus von Polizeimeister Friedrich Nortmeier verhört. Und am 24. Juni kam eine telefonische
Verfügung vom Regierungspräsidenten Matthaei im Rathaus Uelzen an, dass für die Nicht-Inhaftierten führenden
SPD-Funktionäre eine tägliche Meldepflicht anzuordnen ist. Am 27. Juni legte Bürgermeister Farina eine Liste mit fünf Namen
vor.
Der Eisenbahnschlosser Josef Kern, der als Bürgervorsteher von den Ratssitzungen seit dem 1. Juli ausgeschlossen war, sollte das
nächste Opfer des Worthaltenden Bürgervorstehers Paul Nagorski sein. Am 30. Juni schlug er zu. In einem an den Bürgermeister
Farina gerichteten Brief stellte er den Antrag, Josef Kern in Schutzhaft nehmen zu lassen, da er im Geheimen noch viel schlimmere
Hetze betreibt und bewusst gegen den von der Reichsregierung proklamierten Arbeitsfrieden arbeitet. Der konkrete Bezug war
folgender Hergang: Josef Kein hatte sich am 27. Juni auf der Polizeiwache im Rathaus eingefunden, wo er sich in das
Meldebuch eintragen sollte. Er konnte seine Meinung und Emotion nicht einbehalten und sagte: Wir sind doch keine Verbrecher,
das hätte doch nicht nötig getan, dass man sich täglich bei der Polizei melden muss.
Bei der Gelegenheit brach es aus ihm heraus, was ihm auf der Seele lag, dass die Verhaftung Seidenschnurs ein großes Unrecht ist.
Am 8. Juli stellte Nagorski beim Landrat Siegfried von Campe in Oldenstadt den Antrag, Josef Kein auf einige Zeit ins
Konzentrationslager zu überführen und da das Gerichtsgefängnis zur Zeit überfüllt ist, soll Kern schon mit dem nächsten
Sammeltransport in das Konzentrationslager für kommunistische Polizeihäftlinge in Moringen überführt werden.
Dieses Schicksal blieb Josef Kein erspart, da er mit Rücksicht auf seinen Gesundheitszustand in Schutzhaft im Gerichtsgefängnis
Uelzen verblieb.
Die Verfolger machten einen Rückzieher: Nach einer Unterredung zwischen Kreisleiter Ernst Brändel, Senator Kurt Just und Paul
Nagorski wurde Josef Kein am 4. September 1933 freigelassen, nachdem er einen Verpflichtungsschein unterschrieben hatte, sich
in Zukunft jeder Teilnahme an hochverräterischen Umtrieben zu enthalten
Am 1. Mai wurden im Gudestorviertel Flugblätter mit kommunistischem Inhalt unter die Leute gebracht: 1. Mai = Kampftag gegen
den Faschismus!
Die Spur war bald gefunden. Es waren sieben Männer, die den Schriftsatz auf einer Schreibmaschine, den Druck und die
Vervielfältigung auf Wachsplatten und danach auch die Verteilung im Stadtgebiet vorgenommen hatten.
Schon am Tag darauf wurden sieben KPD-Funktionäre wegen Verstoßes gegen die Verordnung des Herrn Reichspräsidenten
zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die Regierung der nationalen Erhebung vom 21.3.1933 (RGBL.Nr.24.S.135),
das sogenannte Heimtückegesetz, in Haft genommen. Wie alle Gesetze der Nationalsozialisten war die Auslegung auch dieser
Verordnung ihrem Inhalt nach nicht eindeutig definiert, so dass im Grunde jede Straftat in diesen Zusammenhang gebracht und
verfolgt werden konnte.
Nach der ersten Verhaftungswelle, der nach den Märzwahlen die SPD- und die KPD Funktionäre zum Opfer fielen, waren die
Gefängnisse und Konzentrationslager, deren Ausbau erst danach folgte, überfüllt. Die Machthaber des NS-Regimes nahmen alle in
Schutzhaft, die offen ihren vom Regime abweichenden politischen Standpunkt äußerten. Viele von den Schutzhäftlingen wurden
deshalb zur Jahresmitte wieder auf freien Fuß gesetzt, aber weiter beobachtet. Das Schicksal des Emil Seidenschnur, des
Gewerkschaftssekretärs der Ortsgruppe Uelzen zeigt dies eindringlich, der bis zum Kriegsende in ständig wechselnden
Wohnungen mit seiner Familie das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten überlebte.
In der zweiten Jahreshälfte setzte auf Grund der unausgesetzten Beobachtung und Denunziationen, denen die Sozialdemokraten
und Kommunisten ausgesetzt waren, die zweite Verhaftungswelle ein. Der gefährliche und unheilvolle Treiber in Uelzen war der
wortführende Bürgervorsteher Paul Nagorski, der bis zu seiner Versetzung zur Gauführung in Lüneburg im Oktober 1934 ständig
konspirierte. Opfer wurden auch die KPD-Mitglieder Friedrich Lange, Bauleiter und wohnhaft Alewinstraße 34, Theodor
Fricke, Bautechniker mit Wohnung Schillerstraße 5 und Paul Willborn, Maschinenbauer in der Birkenallee 18.
Am 9. August 1933 wurden Fricke und Lange denunziert:
Ortsgruppenleiter Paul Nagorski bitte darum, dass ein gewisser Fricke und Lange in Schutzhaft genommen werden. Es bestehe
der Verdacht, dass dieselben in letzter Zeit kommunistische Flugblätter verteilt haben sollen.
Noch am selben Abend wurden beide Männer in ihren Wohnungen verhaftet. Das Verhör am folgenden Tag führte
Polizeiwachtmeister Ernst Brunzendorf durch. Verhör und Nachforschungen ergaben folgendes Bild: Fricke stammte aus
Nienburg/Weser, wo er der KPD angehörte. Als er 1932 nach Uelzen kam, trat er seiner Partei der Ortsgruppe Uelzen nicht wieder
bei, hielt aber Kontakt nach Nienburg zu seinen Genossen. Lange bestätigte, dass Fricke kommunistisch eingestellt war und er ihn
immer wieder davon abbringen wollte. Dieser Ausgang des Verhörs brachte Fricke für einen Monat ins Gerichtsgefängnis in
Uelzen, Lange blieb auf freiem Fuß, doch bis Ende Oktober 1933 galt für beide Männer Postsperre. Als Fricke im August 1934
einen Reisepass beantragte, um in die skandinavischen Länder zu reisen, wurde ihm dieser verwehrt. Im "Adressbuch für Stadt und
Kreis Uelzen" 1935 ist der Eintrag zu lesen Fricke, 7heo, Architekt, Brauerstraße30." Im folgenden Adressbuch Uelzen fehlt ein
Eintrag für Theodor Fricke. Einmal in die Schusslinie der NSDAP geraten, gab es keine Freiheit mehr für die Verfolgten.
Paul Willborn
Die Jahre der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft waren für das KPD-Mitglied Paul Willborn ein verzweiflungsvoller
Leidensweg durch die Haftanstalten und Gefängnisse der Nazis, die kein Erbarmen kannten.
Paul Willborn wurde am 3. Juli 1894 in Magdeburg geboren, kam 1927 nach Uelzen und wohnte seit 1932 Birkenallee 18. Dieses
Haus blieb sein und seiner Familie Wohnsitz bis zu seinem Tod am 23. Oktober 1953.
Willborn zog 1931 für den am 17. November 1829 gewählten Schmied Curd Schwätzer, der sich in die Ukraine abgesetzt hatte,
als Bürgervorsteher in das Rathaus ein, wurde aber schon am 9. Juni 1931 wegen Beamtenbeleidigung vor das Schöffengericht
Lüneburg gezogen. Der Grund war trivial, aber gefunden: Während einer Demonstration vor der Stadthalle an der Bahnhofstraße
hatte er dem Polizeiwachtmeister Wilhelm Meyer ins Gesicht gesagt fasst Du mich an, schlage ich Dir in die Schnauze, dass Du
am Boden liegst!" Meyer ging damit vor Gericht und Willborn wurde zu zwei Wochen Haft verurteilt, wegen parteischädigenden
Verhaltens aus der KPD ausgeschlossen und verlor als nun Vorbestrafter sein Mandat im Rathaus.
Seither hatte Willborn sich nicht mehr politisch betätigt, doch war er ein unruhiger Geist, der "in der Stadt als Querulant und
Hetzer bekannt war, der immer in größtem Eifer für die Interessen der KPD gearbeitet hat." So das öffentlich geäußerte Urteil des
Polizeihauptwachtmeisters Hermann Fehlhaber im August 1933.
Nach der willkürlichen, aber in bestimmter Absicht durchgeführten Verhaftung Willboms, die Polizeiwachtmeister Anton Hoppe
am 28. Juli 1933 vorgenommen hatte, wurde Willborn zwar nicht ohne Gerichtsurteil in ein KZ eingeliefert. Es wurde ihm
stattdessen ein Strafprozess gemacht. Die Urteilsbegründung des Oberstaatsanwaltes Kumm in Lüneburg war folgende: Paul
Willborn war Mitglied der KPD und vorbestraft. Auf der Grundlage der Verordnung des Reichspräsidenten vom 19.12.1932 § 5
war er demnach zur Erhaltung des inneren Friedens vorbeugend in Schutzhaft zu nehmen. Die Tatsache, dass er auf dem Weg
durch die Straßen der Stadt zum Gerichtsgefängnis "Rot Front!" gerufen hatte, habe gezeigt, dass er immer noch kommunistisch
eingestellt ist. Damit wurde zusätzlich das Gesetz "Neubildung von Parteien" vom 14. Juli 1933 § 2 für ihn wirksam. Die vier
Monate Gefängnishaft musste Paul Willborn im Gerichtsgefängnis Harburg-Wilhelmsburg absitzen.
Schon im September sandte Bürgermeister Farina in seiner Funktion als Ortspolizeibehörde an den Regierungspräsidenten in
Lüneburg ein Gesuch, dass Willborn nach Verbüßung seiner Strafe wieder in Schutzhaft zu nehmen ist, da er in Uelzen als "ein
großer heimlicher Hetzer bekannt wäre." Mit diesem Urteil lag Farina auf der Linie der nationalsozialistischen Machthaber: Die
aus sogenannten politischen Gründen Inhaftierten wurden nach der Haftverbüßung sofort wieder verhaftet oder in ein
Konzentrationslager gebracht. Dieses Schicksal erlitt auch Paul Willborn, der während der Zeit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft durch die Haftanstalten und Gefängnisse der Nazis geschleift wurde. Am 14. Dezember 1944 wurde Willborn
vom Gerichtsgefängnis Uelzen im Einzeltransport in das Gefängnis Brandenburg-Görden gebracht. Willborn überlebte den
Nazi-Terror und kehrte nach Kriegsende nach Uelzen zu seiner Familie in der Birkenallee 18 zurück. Er lebte noch einige Jahre,
starb aber nach langer schwerer Krankheit am 23. Oktober 1953 in der Veersser Klinik.
Hermann Hasselbring und Josef Wagner
Der Sammeltransport am 31. Mai 1933 brachte acht Männer in das KZ Moringen: Den Gewerkschaftssekretär Emil Seidenschnur
und sieben KPD-Mitglieder der Ortsgruppe Uelzen. Zu ihnen gehörte der Handlungsgehilfe Hermann Hasselbring, der
zusammen mit seinem Vater Heinrich Hasselbring, beide wohnhaft Auf dem Rahlande 5, dieses Schicksal erlitt. Der gesuchte
und gefundene Grund, der zur Verhaftung führte, war das Flugblatt 1. Mai = Kampftag gegen den Faschismus. Es war am 29.
April im Gudesviertel verteilt worden. Die Spur war bald gefunden. Am 30. April legte der an der Aktion beteiligte Karl Lemke
auf der Polizeiwache im Rathaus ein Geständnis ab, mit dem er alle an der Aktion Beteiligten preisgab. Daraufhin wurden alle
Parteigenossen in das Gerichtsgefängnis Uelzen eingewiesen, von wo aus sie mit dem Sammeltransport nach Moringen gebracht
wurden. Das Argument der Verhaftung lieferte das Heimtückegesetz vom 21.3.1933, auf dessen Grundlage die Aktion der
Verteilung des Flugblattes als Hochverrat eingestuft wurde.
Die Schutzhaft endete Anfang Juli. Die nun angesetzte Gerichtsverhandlung fand vor dem Kammergericht in Berlin statt. Das
Urteil vom 7. Dezember 1933 traf die Häftlinge erwartungsgemäß schwer: Der Vater Heinrich Hasselbring wurde zu zwei Jahren
Zuchthaus verurteilt, ebenso Ernst Schmidt, Karl Lemke erhielt 2 Jahre Gefängnis, Emil Hoppe, Theodor Wölper und Hermann
Hasselbring 1 Jahr 6 Monate Gefängnis. Die fünfmonatige Untersuchungshaft in Berlin wurde auf die Strafe angerechnet. Julius
Walter wurde nach der Schutzhaft auf freien Fuß gesetzt.
In Abwesenheit war auch der Maurer Josef Wagner, wohnhaft Tivolistraße 3, zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Er galt als
Drahtzieher der Flugblatt-Aktion und wurde deshalb zu 2 Jahren Zuchthaus verurteilt. Wagner hatte sich der Verhaftung durch
augenblickliche Flucht entzogen, wurde aber am 23. Juni in Breslau festgenommen und saß die 2 Jahre im Zuchthaus ab. Damit
aber war sein Schicksal noch nicht ausgestanden.
Lebenslauf
Josef Wagner wurde am 2 1. Dezember 1892 in Hirschwaldau geboren. Bei Kriegsende wurde er als Sergeant entlassen und trat
den Arbeiter- und Soldatenräten in Uelzen bei, deren Vorsitz er einnahm. Vorübergehend war er auch Vorsitzender der USPD in
Uelzen. Im Herbst 1930 trat er der Roten Hilfe bei und noch im selben Jahr der KPD Ortsgruppe Uelzen. Im August
1931 wurde Wagner im Zusammenhang mit einer Sprengstoffaffäre festgenommen, aber in dem Gerichtsverfahren am 21.
Dezember 1931 freigesprochen.
Wegen dieses Delikts, das für ihn ja mit einem Freispruch schon vor der Machtergreifung geendet hatte, wurde Wagner aber am
15. Juli 1939 erneut verhaftet. Im Verlauf einer zweitägigen staatspolizeilichen Verhörs legte Wagner ein Geständnis ab, in dem er
zugab an der Aktion 1931 beteiligt gewesen zu sein. Zwar endete die gerichtliche Untersuchung am Landgericht Lüneburg mit der
Urteilsverkündung am 22. Januar 1940 für Josef Wagner wiederum mit einem Freispruch, doch vor dem Gericht wurde er von der
Gestapo festgenommen und als politischer Häftling ins KZ eingewiesen. Im Oktober 1942 kam er in das KZ Buchenwald, wo er
bestimmte "Privilegien' genoss, da er als Kapo Jupp (Oberpolier) die bei Bauarbeiten eingesetzten Mithäftlinge bei der schweren
körperlichen Arbeit anleitete. Er war der dritte Träger der Häftlingsnummer 32/38 im KZ Buchenwald. Die Zahl 38 bezog sich auf
seine Unterkunft im Block 38, in dem vor allem politische Häftlinge untergebracht waren. Als Vorarbeiter konnte er mit den
Bewachern der Waffen-SS direkt sprechen und hatte eine gewisse Bewegungsfreiheit.
Der Ohren- und Augenzeuge Gerhard Keiderling, selbst diplomierter Historiker, dessen Vater Walter Keiderling
Hausmeister im Weimarer Schloss war, berichtet aus seiner Jugend folgendes:
Als die Gauleitung der NSDAP in Thüringen im Sommer 1943 verfügte, dass in den Kellergewölben des Schlosses eine
gesicherte "Gaubefehligungsstelle Thüringen" ausgebaut werden sollte, wurden zu diesen Bauarbeiten die Häftlinge des
KZ Buchenwald auf dem Ettersberg eingesetzt. Täglich wurden etwa 50 Häftlinge zum Bahnhof gebracht, die dann bis
zum Schloss den Weg zu Fuß zurücklegen mussten. Dieses Arbeitskommando, das von den bewachenden SS-Männern
dauernd zu hohem Arbeitstempo angetrieben wurde, stand unter der Leitung des Kapo Josef Wagner. Eines Tages war es
ihm gelungen in die Küche der Hausmeisterfamilie zu gelangen. Der Hausmeister Walter Keiderling war 1937
Parteimitglied geworden, weil ihm gedroht wurde in das KZ Buchenwald eingewiesen zu werden, falls er sich einem
Parteieintritt widersetzen würde. Er ließ also Josef Wagner in die Küche, der sich am Herd in einer Pfanne Bratkartoffeln
zubereitete. Von dem Zeitpunkt an kam Wagner wiederholt in die Küche, wo Frau Keiderling ihm gelegentlich ein belegtes
Brot gab. Die Situation war jedes Mal so grotesk wie lebensgefährlich, denn vor der Wohnung liefen die SS-Bewacher mit
den scharfen Hunden auf und ab. Wagner bat dann, in der Küche einen Brief an seine Frau in Uelzen schreiben zu dürfen,
die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Mit dem geschriebenen Brief schickte der alte Keiderling seinen Sohn Gerhard als
Kurier zur Hauptpost am Goetheplatz. Es blieb nicht bei diesem einen Brief. Irgendwann bat Wagner seinen Freund, ihm
ein Wiedersehen mit seiner Frau in seiner Wohnung zu ermöglichen, und eines Tages im Herbst stand Ella Wagner vor
der Tür. Bei dem zweiten Treffen im Frühjahr 1944 brachte sie die Tochter mit. Beide Male übernachteten sie auch bei
der Familie Keiderling.
Walter Keiderling, der damit jedes Mal das Leben seiner Familie aufs Spiel setzte, half noch weiteren Häftlingen. In der
Küche wurde für die Häftlinge Essen zubereitet und der Sohn Gerhard machte den Kurier für die Briefe zum Postamt, wo
er die Briefe, welche die Häftlinge an die Angehörigen schrieben, abgab. In diese Hilfsaktion war der Weimarer
Polizeiwachtmeister Kuno Heinemann, der die Aufsicht über die Arbeitstrupps hatte, eingeweiht. Der Kontakt der Familie
Keiderling zu Jupp Wagner riss auch nicht ab, als das Arbeitskommando in Weimar an anderen Stellen eingesetzt wurde.
In den ersten Tagen der Befreiung im April 1945 kam er dann zur Familie Keiderling ins Schloss und sicherte seinem
Freund Unterstützung zu. Im Entnazifizierungsverfahren erfüllte er sein Versprechen, als er diese Ereignisse, die er
Im November 1945 zu dessen Aufnahme in die Demokratische Partei schilderte. Josef Wagner trat mit dieser Aussage als
Zeuge für Walter Keiderling auf und baff damit seinem Wohltäter.
Im Mai 1945 war Josef Wagner wieder in Uelzen bei seiner Familie. Er brachte sein Haus an der Tivolistraße 3 in Ordnung, da es
in den letzten Kriegstagen fünf Volltreffer am Giebel und an den Hausecken erhalten hatte. Dann eröffnete er ein Baugeschäft, das
gut lief Josef Wagner starb am 2. September 1952 nach langer schwerer Krankheit im 61. Lebensjahr in Uelzen.
Ouelle:
Stadtarchiv Uelzen:
IV. Fach 154: Polizeisachen
Lfde. Nr. 5: Gefängniswesen und Verhängung von Schutzhaft
Auskünfte und Niederschriften::
Familienarchiv Friedel Seidenschnur - Hamburg
Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar
Wolfgang Röll, Leiter Sammlungen Gedenkstätte Buchenwald/ Weimar
Gerhard Keiderling, Kindheit und Jugend in Weimar 1937 - 1955.
Unveröffentlichtes Manuskript. (Zeuthen 2003)
III.
Die Kreisleiter der NSDAP in Uelzen:
Ernst Brändel (1930 bis 1939)
Albert Rodegerdts (1939 bis 1941)
Als die Alliierten im Vormarsch in Berlin und an der Elbe im April 1945 zusammentrafen, entzogen sich die Männer aus dem
Führungskorps der Nationalsozialisten der Verantwortung durch Flucht oder Selbstmord. Dies war allen gemeinsam - von der
Führungsspitze bis zum Kreisleiter. Adolf Hitler erschoss sich am 30. April im Führerbunker der Reichskanzlei in Berlin, Heinrich
Himmler, der sich mit einer Schar Getreuer am 22. Mai in der Nähe von Bad Bramstedt von einer britischen Patrouille
aufgegriffen wurde, kam in das Lager =31 Lüneburg, wo er am folgenden Tag des 23. Mai auf die Zyankalikapsel biss, die er unter
seiner Zunge verborgen hielt.
Der kommissarische Kreisleiter in Uelzen Heinrich Schneider entkam zunächst in Volkssturmuniform unerkannt am 18. April
noch vor dem Einzug der Alliierten, geriet aber am 6. Mai in Internierungshaft. Am 8. Februar 1948 wurde er von der
Spruchkammer Benefeld – Bomlitz zu 3 Jahren und 3 Monaten Gefängnis verurteilt.
Ernst Brändel
Lebenslauf
Geb.
21. September 1883 in Zwickau/ Sachsen
1908 verheiratet mit Meta Braune, keine Kinder
In Haft seit dem 26. Mai 1945
Gest.
12. Oktober 1947 im Internierungslager Sandborstel an Bauchfellentzündung,
Herz und Kreislaufschwäche
Ernst Brändel war das vierte von insgesamt sieben Geschwistern. Schon im Alter von 10
Jahren trug er zum Lebensunterhalt der Familie bei, da der Vater sehr wenig verdiente. Als
Laufbursche trug er für einen Zigarrenhändler nach der Schule Ware aus und musste später bis
zur Schulentlassung der7klassigen Volksschule 2 lang sehr schwer für eine Möbelhandlung
arbeiten. Nach der Schulzeit fing er eine Schlosserlehre an, die er nach einem halben Jahr
aufgab, weil er durch einen Betriebsunfall die rechte Hand und einen Teil des Unterarms
verlor.
Damit war er zu 75 % erwerbsbehindert. Er verließ Zwickau 1911, wo er sich in wechselnden
Berufen durchgeschlagen hatte. Brändel war politisch interessiert, konnte sich aber nach eigener
Aussage nicht zu einem Beitritt in die SPD entschließen, weil ihm der internationale Kurs
dieser Partei nicht gefiel.
In Hannover wurde er Zeitungsakquisiteur beim Hannoverschen Tageblatt. Auch auf der Stelle
blieb er nur bis 1913, weil er auch dort Krach hatte. Wegen seiner Behinderung war er bei
Kriegsbeginn vom Wehrdienst ausgeschlossen und wurde arbeitslos, da das Anzeigenwesen
zum Erliegen kam. Von 1915 bis 1921 war er Schreiber in der Kanzlei der
Reichsbahndirektion Hannover.
Da seine Ehe kinderlos war, wagte er den Absprung in die Politik. 1919 war er einer der
Mitbegründer des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes, dessen Leitung er im Gau
Niedersachsen er übernahm. Schon bald zählte man hier 18 000 Mitglieder. Das politische
Programm dieser Formation war antisemitisch und bekämpfte das Großkapital der Juden.
Der stellvertretende Gauleiter des deutschnational ausgerichteten Schutz- und Trutzbundes
Dr. med. Carl Sinn in Bad Bevensen warb ihn 1924 als Sekretär an und Brändel verlegte
seinen Wohnsitz dorthin und eröffnete einen Zigarrenhandel. Sein Wohnsitz war bis zu seinem Weggang nach Cuxhaven 1939
Uhlestraße 4.
1928 wurde Ernst Brändel Mitglied der NSDAP. Nach eigenen Worten trug dies dazu bei, dass es gelang ihm im Dezember 1933
eine Stelle am Arbeitsamt Uelzen zu bekommen, nachdem er von 1930 bis 1933 arbeitslos gewesen war. Er hatte aber auch die
Fachschule und Verwaltungsakademie in Berlin-Babelsberg mit gutem Erfolg absolviert. Das Diplom berechtigte zum höheren
Verwaltungsdienst. Diese Voraussetzungen ebneten den Weg zum beruflichen Aufstieg, so dass er zum 1. Oktober 1936 die
Leitung eines Arbeitsamtes übernehmen sollte. Gleichzeitig kam aber die Verordnung des Führers von der Trennung des
Parteiamtes vom Staatsamt heraus und aus dem Ehrenamt des Kreisleiters, das Brändel für den Kreis Uelzen seit 1930 innehatte,
wurde ein besoldetes Hauptamt. Der Gauleiter Otto Telschow riet ihm, auf das Staatsamt zu verzichten, obwohl er mit ihm immer
Differenzen hatte. Brändel ging darauf ein, weil er sich nach eigenen Worten zu dem Parteiamt berufen fühlte.
Charakteristik
Bei den politischen Parteien und bei der Entnazizierungskammer wird Brändel als moralisch minderwertig und bezeichnet. Als
Ursache für seine Versetzung im Jahre 1939 wirft man ihm Saufereien, Prügeleien und aufspielerisches Benehmen in der
Öffentlichkeit vor. Er ist der Typ jener Nazis, die in sicherem Gefühl ihrer Macht hemmungslos wurden und ihre Triebe und
Neigungen nicht mehr zügeln konnten. , wie es für ihre dienstliche Stellung in der Öffentlichkeit notwendig gewesen wäre. Auch
war er ein prahlerischer und impulsiver Mensch, welcher auch in Mitgliedswerbung für die NSDAP häufig Drohungen aussprach
und Druck anwendete.
(Zeugenaussage von Josef Henschel, Polizeiwachtmeister in Uelzen im Ermittlungsverfahren gegen Ernst Brändel vor der
Sprachkammer Stade 1947 )
Diese Zeugenaussage nennt die Gründe, die zur zweimaligen Versetzung des Kreisleiters Brändel führten: Im März 1939 wurde er
im Austausch mit Albert Rodegerdts nach Cuxhaven versetzt, im Juni 1941 dann nach Verden / Aller, wo er die Stelle des
Kreisleiters bis zum Kriegsende im April/ Mai 1945 innehatte.
Am 24. April 1945 wurde Ernst Brändel verhaftet und in das Internierungslager Sandborstel eingewiesen. Am 12. Mai 1947
begann das Ermittlungsverfahren gegen ihn vor der Sprachkammer Stade. Ernst Brändel entging einer zu erwartenden Verurteilung
zur Freiheitsstrafe, als er am 12. Oktober 1947 im Internierungslager starb. Die Todesursache war eine 3Bauchfellentzündung bei
gleichzeitiger Herz- und Kreislaufschwäche.
Albert Rodegerdts
Geb.
Lebenslauf
23. September 1898 in Belum/ Land Hadeln (bei Ottendorf)
Verheiratet, 2 Kinder
In Haft vom 17. Mai 1945 bis 7. März1946 in den Internierungslagern Sandborstel und
Westertimke
Zum zweiten Mal in Haft am 1. Mai 1948 im Internierungslager Fallingbostel
Das Urteil des Spruchgerichts Benefeld-Bomlitz vom 25. November 1948 lautete auf
zwei Jahre Gefängnisstrafe
Gest.
11. Februar 1973 in Münster/ Westf.
Albert Rodegerdts legte 1915 an der Oberrealschule in Hannover das Notabitur ab und war dann bis 1919 Soldat. Im selben Jahr
nahm er das Studium der Chemie an der Universität Hamburg auf, gab es aber schon nach dem ersten Semester wieder auf und
kehrte auf den elterlichen Hof zurück, da der ältere Bruder im Krieg gefallen war und er selbst nun als Hoferbe nachrücken sollte.
Doch am 1. April 1933 verpachtete seine noch lebende Mutter den Hof und Albert Rodegerdts wurde Bürgermeister in Otterndorf.
Dieses Amt hatte er bis 1936 inne.
Politische Laufbahn
Am 1. Oktober 1930 war Albert Rodegerdts der Partei der NSDAP Ortsgruppe Neubaus beigetreten und wurde schon1932
Kreisleiter. Als Neubaus und Otterndorf am 1. Oktober 1932 zusammengelegt wurden, war er ehrenamtlicher Kreisleiter auch
dieses neuen Kreises Otterndorf, auf Wunsch des Gauleiters Ost-Hannover Otto Telschow wurde er dann mit dem Gesetz von der
Trennung von Staats- und Parteiämtern am 1. November 1936 hauptamtlicher Kreisleiter. 1937 wurde Otterndorf zusammen mit
Cuxhaven das politische Mittelzentrum und Rodegerdts wurde Kreisleiter von Cuxhaven. 1939 ging er im Austausch mit Ernst
Brändel als Kreisleiter nach Uelzen. Doch hier blieb er nur etwa zwei Jahre, denn im Mai 1941 wurde er als Gauschulungsleiter
Hannover-Ost nach Lüneburg abgerufen, wo er am 1. Juli 1942 zum Gaustabsamtsleiter aufstieg. Dieses hohe Parteiamt hatte er
bis März 1945 inne. Während der letzen Kriegswochen war er Festungskommandant von Cuxhaven bis zum Kriegsende am 7..
Mai 1945.
Infolge der Kriegsverwundung im 1. Weltkrieg, als der linke Oberschenkel amputiert worden war, wurde Rodegerdts
gesundheitlich schwer angeschlagen nach ärztlicher Untersuchung "als lagerunfähig" vorzeitig aus der Internierungshaft entlassen.
Er kehrte nach Belum zu seiner Familie und auf den Hof zurück, dessen Gebäude durch eine Luftmine bis auf das Wohnhaus und
eine kleine Scheune zerstört war. Am 1. Mai 1948 wurde er erneut inhaftiert und in das Lager Fallingbostel eingewiesen.
Am 20. August 1948 wurde die Verhandlung am Spruchgericht Benefeld-Bomlitz gegen ich n eröffnet in deren Verlauf der
Mühlenbesitzer Wilhelm Grefe als Zeuge eine Charakteristik des Angeklagten abgab. Er warf ihm notorische Wortbrüchigkeit,
schwerste Korruption und persönliche Rachelust vor: Rodegerdts duldete keinen Widerspruch. Das Recht war ihm vollständig
nebensächlich. Er war die Verkörperung eines Nationalsozialisten im ganz üblen Sinne.
Am 25. November 1948 wurde das Urteil gesprochen: Der Angeklagte hat dem Politischen Führungskorps der NSDAP angehört
und wusste, dass die Parteiorgane die Hauptträger der Propaganda gegen die Juden waren und hat der Gestapo Meldungen über die
politische Zuverlässigkeit einzelner Auskünfte geliefert. Da der Angeklagte während der Verhandlung einen guten Eindruck
gemacht hatte und zudem als schwer körperbehindert einzustufen war, wurde das Strafmaß von zwei Jahren Gefängnis für
angemessen angesehen.
Nach der teilweisen Verbüßung der Haftstrafe wurde dem Verurteilten bis zum 1. April 1952 eine Bewährungsfrist zugebilligt.
Dem Gnadengesuch des Spruchgerichts Benefeld-Bomlitz vom 10. März 1952, die Reststrafe zu erlassen, wurde entsprochen:
Rodegerdts hat sich dem politischen Leben vollkommen fern gehalten. Obwohl in seiner Wohngemeinde die SPP (Sozialistische
Reichspartei) ziemlich stark vertreten ist, kümmert er sich nicht um das politische Geschehen. Er wird auch von seinen
ehemaligen politischen Gegnern heute als unbedeutend hingestellt. Erleidet an einem gebrechen, welches ihn zu einer
vollkommenen Zurückhaltung zwingt. Sein jetziges verhalten zeigt, dass der Erlass der Strafe im Gnadenweg befürwortet werden
kann.
Quelle
Bundesarchiv Koblenz:
Z 42 Il / 2509: Verhandlungsakte Albert Rodegerdts - Kreisleiter.
Juli bis August 1948
Z 42 VII / 272: Verhandlungsakte Ernst Brändel - Kreisleiter.
Mai bis Oktober 1947
IV.
Die Gemeindeordnung vom 30. Januar 1935
und das Führungskorps
Die neue Gemeindeordnung bedeutete das Ende der freien städtischen Selbstverwaltung. Die Abgeordnetenwahl und die
Verantwortlichkeit des Bürgermeisters gegenüber der Gemeinde hatte bis zu diesem Zeitpunkt in der Selbstverwaltung der Städte
einen Bereich freier verantwortlicher Tätigkeit der Bürger geschaffen, wie er sich auf staatlicher Ebene niemals im gleichen Maße
hat durchsetzen lassen. Nut der neuen Gemeindeordnung aber wurde auch auf kommunaler Ebene das Führerprinzip angewendet:
Der Bürgermeister, Beigeordnete und Ratsherren (Stadtverordnete) wurden von der Partei der NSDAP bzw. von Staats wegen
ernannt.
Die Zahl der Gemeinderäte wurde von 23 auf 9 reduziert. Der Bürgermeister selbst wurde auf Vorschlag des Gauleiters in das Amt
berufen. Damit wurde Johann Maria Farina im Amt bestätigt, das er seit 1913 innehatte.
Am 18. Dezember 1934 wurden die neuen Ratsherren vereidigt, die auf Vorschlag des Gauleiters Otto Telschow von der
kommunalen Aufsichtsbehörde des Landrats in Oldenstadt Siegfried von Campe berufen wurden. Es waren folgende Ratsherren:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
Diplomkaufmann Erwin Schultz
Kaufmann Wilhelm Töbing
Kaufmann Carl Meyer
Töpfermeister Hans Meyer
Rechtsanwalt Hans Dohrendorff
Lokomotivführer Kurt Ollermann
Kaufmann Friedrich Moos
Friseurmeister Alex Fricke
Gastwirt August Thies
Der unter 1 genannte Ratsherr (Stadtrat) war als solcher zugleich der allgemeine Stellvertreter des Bürgermeisters und blieb im
Amt, solange er auch Ortsgruppenleiter der NSDAP war, der unter 2 genannte Stadtrat war immer der Ortsgruppenleiter der
SA/SS. Die übrigen 7 Ratsherren blieben für 6 Jahre im Amt, je zwei von ihnen wurden turnusmäßig alle 2 Jahre ausgewechselt.
Wiederwahl war aber möglich.
Auf der Grundlage der neuen Gemeindeordnung waren die Machtbefugnisse des Bürgermeisters Farina im Rahmen des
Führerprinzips der Kommunalverwaltung unbegrenzt. Er selbst teilte auf die Anfrage des Deutschen Gemeindetages in Hannover
am 24. Dezember 1935 folgende Antwort mit: Der 1. Stadtrat vertritt den Bürgermeister nur bei dessen tatsächlicher
Behinderung bzw. Ortsabwesenheit auf jeweilige besondere mündliche Anordnung des Bürgermeisters. Gleichzeitig bearbeitet
derselbe selbständig ein Verwaltungsdezernat.
Der Fragebogen der städtischen Angestellten, Arbeiter und Beamten 1938
Zur Erfassung der Personalien
Es wurden 127 Fragebogen aus- bzw. abgegeben:
Parteianwärter:
5
Mitglieder der NSDAP:
Mitglieder der SA:
47 (davon zugleich 22 Mitglieder der SA und 2 der SS)
6
Mitglieder der HJ:
5
und weiterer Organisationen:
4
Keine Parteimitgliedschaft/
Organisationen:
60 (davon 25 Frontkämpfer)
Quelle
Stadtarchiv Uelzen:
I. Fach 19: Ba. Nationalsozialistische Organisationen
Lfde. Nr. 1: SA/ NDDAP/ SS
II. Fach 51: Städtische Beamte und Angestellte
Lfde. Nr. 55: Fragebogen über die Personalien der Beamten und Angestellten 1938
II. Fach 47: Stadtverfassung
Lfde. Nr. 12: Die Deutsche Gemeindeordnung 1935
Allgemeine Zeitung (AZ) vom 19. Dezember 1934
V.
Die Justiz
Recht und Rechtsanwendung nationalsozialistischer Willkür
Am 20. Dezember 1934 wurde das Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der
Parteiuniform erlassen. Es löste die am 21. März 1933 erlassene Verordnung zur Abwehr heimtückischer Angriffe gegen die
Regierung der nationalen Erhebung ab. Damit hatten sich die Machthaber die Möglichkeit geschaffen, jede Kritik an der
nationalsozialistischen Regierung mit härtesten Strafen zu verfolgen:
Paragraph 2, Absatz 2 lautet: Den öffentlichen Äußerungen stehen nichtöffentliche böswillige
Äußerungen gleich.
Paragraph 3, Absatz 2 lautet: Wer die Tat in der Absicht begeht,... in der Bevölkerung Angst und Schrecken zu erregen oder dem
deutschen Reich außenpolitische Schwierigkeiten zu bereiten, wird mit Zuchthaus bestraft. In besonders schweren Fällen kann
auf die Todesstrafe erkannt werden.
In der Realität ließ das Heimtückegesetz jede Auslegung offen. Es ermöglichte, selbst die harmloseste Kritik strafrechtlich zu
verfolgen und politische Gegner zu terrorisieren. Der Bespitzelung und Denunziation, der Anzeige aus persönlichen niedrigen
Beweggründen waren damit alle Möglichkeiten gegeben, der Lüge und Verleumdung keine Grenzen mehr gesetzt.
Die Schlinge wurde zugezogen, als die preußische Gestapo am 10. Februar 1936 ein neues Gesetz erhielt, das am 20. September
auf ganz Deutschland ausgedehnt wurde:
Paragraph 1 - Die geheime Staatspolizei hat die Aufgabe, alle staatsgefährlichen Bestrebungen im gesamten Staatsgebiet zu
erforschen und zu bekämpfen, das Ergebnis der Erhebungen zu sammeln und auszuwerten, die Staatsregierung zu unterrichten.
Paragraph 7 - Verfügungen und Angelegenheiten der Geheimen Staatspolizei unterliegen nicht der Nachprüfung durch die
Verwaltungsgerichte.
Das wichtigste Terrormittel zur Erreichung des Zieles war die Schutzhaft: Die Gestapo verhaftete Menschen nach eigenem
Vorgehen, es gab keine rechtliche Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.
Am 17. Juni 1936 wurde der Reichsführer der SS Heinrich Himmler von Adolf Hitler zum Chef der gesamten deutschen Polizei
ernannt. Dadurch wurde die staatliche Polizei dieser nationalsozialistischen Organisation unterstellt und alle leitenden
Dienststellen wurden mit SS-Führern besetzt.
Als Zubringer dieser Organisationen der SS/Gestapo diente der Blockleiter. Im Organisationsbuch für den Blockleiter 1936 stand
folgendes: Die Verbreiter schädigender Gerüchte hat er feststellen zu lassen und sie an die Ortsgruppe der NSDAP zu melden,
damit die zuständige Dienststelle benachrichtigt werden kann. Als Prediger und Verfechter der nationalsozialistischen
Weltanschauung soll der Blockleiter dafür sorgen, dass die Bewohner des Blocks die nationalsozialistischen Veranstaltungen,
Kundgebungen und Feierstunden besuchen.
Ein Block umfasste 40 bis 60 Haushaltungen mit 160 bis 240 Personen. Die nächst höhere Organisation bildeten die Zellen, die
vier bis acht Blocks umfassten und von einem Zellenleiter geführt wurden.
Die Gerichtsgefängnisse dienten bei den Verhaftungen durch die Gestapo als Zwischenstation, als Auffangstelle für die Transporte
und Sammeltransporte in die Konzentrationslager. Volksschädling - Wiederholungstäter - gefährlicher Sittlichkeits-,
Gewohnheitsverbrecher - Sicherheitsverwahrung: Dies waren die alarmierenden Schlagwörter, welche auf die Einlieferung in
ein K7 zielten. Auch wenn der vor das zivile Gericht Gezerrte mit einer Strafe abgeurteilt worden oder gar freigesprochen worden
war, wurde der Angeklagte noch vor dem Richtertribunal von den Gestapoleuten abgeführt. In zahllosen Fällen wurde der aus dem
Gefängnis oder Zuchthaus Haftentlassene auf direktem Wege von der Gestapo in ein Konzentrationslager gebracht.
1934 wurde der Volksgerichtshof institutionalisiert. Von 1942 bis 1945 war Roland Freisler Präsident diese Gerichts, das vom
Führer mit den Worten als besonders vertrauensmäßige Verbundenheit mit den aufbauenden Kräften des Volkes, um dessen
gesunde Rechtsauffassung zur Geltung zu bringen institutionalisiert wurde. Gegen die Entscheidung des Volksgerichtshofes war
kein Rechtsmittel zulässig.
Am 26. April 1942 hielt Hitler auf der Sitzung des Reichstages in der Krolloper seine berüchtigte Rede zur deutschen Justiz. Die
Rede machte in der deutschen Öffentlichkeit wie im Ausland den denkbar schlechtesten Eindruck. Es entstand der Eindruck, dass
Hitler gegen eine innere Opposition ankämpfen musste. Das Gegenteil war der Fall, aber es zeigte sich, dass Hitlers
außenpolitische und militärische Ideen falsch, irreal und geradezu wahnsinnig waren. Der Beschluss des Reichstages war nur
notwendig, um Hitlers maßlosen Machtdurst zu stillen und sein Ziel der absoluten Willkürherrschaft zu befriedigen:
Ebenso erwarte ich, dass die deutsche Justiz versteht, dass nicht die Nation ihretwegen, sondern sie der Nation wegen da
ist, das heißt, dass nicht die Welt zugrunde gehen darf, in der auch Deutschland eingeschlossen ist, damit ein formales
Recht lebt, sondern dass Deutschland leben muss, ganz gleich wie immer auch formale Auffassungen der Justiz dem
widersprechen mögen.
Im Anschluss an die Rede Hitlers brachte Hermann Göring den von Hitler gewünschten und formulierten Beschlussantrag vor,
dem Führer des Großdeutschen Reiches die Befugnisse zum Obersten Gerichtsherrn zu erteilen. Mit dieser Auflösung fortanalen
Rechts und formaler Rechtsprechung war nun jeder Bereich des öffentlichen Lebens der Willkür Adolf Hitlers preisgegeben. Der
Begriff Oberster Gerichtsherr war von ihm bereits in der Reichstagssitzung am 13. Juli 1934 nach der "Röhm-Affäre" geprägt
worden, womit Hitler sich als des deutschen Volkes obersten Gerichtsherren in der Stunde größter Gefahr rechtfertigte. Nun wollte
er zu jeder Stunde Willkürmorde begehen können.
Damit waren aber auch die sogenannten Kriegsgesetze entlarvt, die keine neuen Gesetze waren, sondern die in letzter Konsequenz
umso erbarmungsloser und in aller Grausamkeit durchgeführten bereits bestehenden Gesetze: Heimtücke-Gesetz vom 20.12.1934,
das jede Willkür rechtfertigte, und Reichsbürger-Gesetz vom 15. 9.1935, das auf die Judenverfolgung abzielte. Beide Gesetze
wurden nun zu dem einzigen Ziel angewandt, die Bevölkerung zu terrorisieren und auf den totalen Kriegseinsatz und den Glauben
an den ständig in Aussicht gestellten Endsieg einzuschwören.
a.
Zwei Lebensläufe in der Schusslinie der nationalsozialistischen Gesetze und Verordnungen
Mit welcher Wucht und Erbarmungslosigkeit die Nationalsozialisten und die an die Person des Führers ausgelieferte und von ihm
geprägte Rechtsprechung und Rechtsanwendung in das Leben des einzelnen eingriff, zeigt das Schicksal des jüdischen Mitbürgers
Wilhelm Israel Weiss, der in Uelzen, Oldenstädter Straße 57 wohnte. Weil er Jude war, gab es für ihn kein Entrinnen aus den
Fängen der Nationalsozialisten. Sein Schicksal zeigt, was Nationalsozialismus war, der mit verheerender Wirkung über das
deutsche Volk und in das Leben jedes einzelnen einbrach und ein unentwirrbares Chaos erzeugte, in das sich die Menschen selbst
verstrickten.
Das bewegte Leben des Wilhelm Israel Weiss, das ohne eigenes Verschulden gleich zu Anfang in eine Schieflage geriet, ohne
jedoch dabei in den asozialen Bereich abzurutschen, gab den Verfolgern die Gelegenheit, den Angeklagten in das Licht zu rücken,
ein unstetes Leben ohne Orientierung des Nicht-Sesshaften zu führen. Damit wurde er verdächtig, ein Volksschädling zu sein, der
ständig wechselnde Wohnsitze hatte. Das sollte den Eindruck der Unzuverlässigkeit erzeugen. Von da war es nur noch ein Schritt
zum verfolgten Sittlichkeitsverbrechen und immer wieder wurde in der Anklage und in der Begründung des Gerichtsurteils auf
seine jüdische Herkunft hingewiesen, mit der er in Gegensatz zum Reichsbürger, zu den Nürnberger Rassegesetzen geriet.
1.
Die Lebenslinie des jüdischen Mitbürgers Wilhelm Weiss
Die Gerichtsverhandlung im April 1941 am Landgericht Lüneburg
Am 9. Juli 1941 wurde Wilhelm Weiss von der Strafkammer des Landgerichts Lüneburg verurteilt. Das Urteil lautete auf 8 Jahre
Zuchthaus unter Anrechnung von 3 Monaten Untersuchungshaft, 10 Jahre Ehrverlust, Entmannung, Sicherheitsverwahrung.
Sicherheitsverwahrung aber bedeutete, dass der Weg des Verurteilten am Ende in das Konzentrationslager führen sollte.
Nach Verzicht des Angeklagten sich zu dem Urteil zu äußern, wurde er in das Zuchthaus Celle eingeliefert. Etwa 10 Monate später
am 23. April 1942 erteilte das Reichsjustizministerium in Person des Landgerichtsrates Schmerse dem Vorstand des Zuchthauses
Celle fernmündlich mit, dass der einsitzende Wilhelm Israel Weiss auf Anforderung der Gestapo "herausgegeben werden sollte."
Ordnungsgemäß bestätigte der Vorstand des Zuchthauses Celle dem 1.Staatsanwalt am Landgericht Lüneburg den Vorgang und
Eingriff der SS in die Amtsbefugnisse des Landgerichts und der Juristen. : Der jüdische Strafgefangene Wilhelm Israel Weiss ist
am 24,4.1942 um 9 Uhr von Beamten der Gestapo abgeholt worden.
Am 6. Mai fragte der Vorstand des Zuchthauses Celle beim Oberstaatsanwalt in Lüneburg nach: Am 24.4.1942 ist der
Zuchthausgefangene Wilhelm Israel Weiss dem Konzentrationslager Buchenwald zugeführt. Ist mit einer Rückkehr zu rechnen?
Die Antwort legt Zeugnis ab vom letzten Lebenszeichen des Verurteilten. Am 7. Mai informiert der Generalstaatsanwalt in Celle
das Reichsjustizministerium in Berlin: In der in Hannover erscheinenden "Niedersächsischen Tageszeitung" vom 5.5.1942 befand
sich folgende Notiz: Jüdischer Gewaltverbrecher erschossen: Der Reichsführer der SS und Chef der Polizei (Heinrich Himmler)
teilt mit: Am 24. April 1942 wurde der Gewaltverbrecher Helmuth (gemeint ist Wilhelm)Israel Weiss erschossen.
Wilhelm Weiss wurde also auf dem Transportweg nach Buchenwald erschossen. Das Vorgehen der Gestapo ist aus zahlreichen
Vorgängen bekannt: Sie ließ die Gefangenen laufen, so dass sie unter dem Vorwand des Fluchtversuches erschossen werden
konnten.
Quelle:
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover:
Hann 171 a Lüneburg Acc. 153/82 Nr. 567: Wilhelm Israel Weiss Uelzen
2. Die Lebenslinie der Hausgehilfin Lieschen Engel aus Berlin-Uelzen
Der Haftbefehl am 2. Juni 1944
Die am 25.XI.1939 erlassene Verordnung zum Schutze der Wehrkraft des Deutschen Volkes war von unvorstellbarer
Grausamkeit. Die Frauen, die sich auf Kontakte mit Kriegsgefangenen und zu Zwangsarbeit verpflichteten Männern aus dem
feindlichen Ausland und vor allem aus Polen einließen, erst recht aber die Männer wurden mit schwersten Strafen verfolgt. Sie
wurden hingerichtet und ermordet. Dabei waren diese Kontakte nach menschlichem Ermessen so alltäglich wie natürlich, so dass
deutlich wird, wie tiefgreifend die Rechtsverordnungen und Gesetze der Nationalsozialisten in das Bewusstsein der Bevölkerung
eingedrungen waren und deren Handlungsweise bis zur Denunziation steuerte. Die sogenannten Kriegsgesetze und -verordnungen
boten dem einzelnen die Gelegenheit und Rechtfertigung, den Nachbarn aus persönlichen Gründen und willkürlich zu denunzieren.
Damit ging die Rechnung der Machthaber auf. Die Bevölkerung kontrollierte sich selbst und fixierte sich auf den Kriegsalltag. Es
war ein Teufelskreis, aus dem die Bevölkerung im Terror-Regime der Nationalsozialisten aus eigenem Antrieb nicht herauskam,
sich im Gegenteil immer tiefer verstrickte.
Dieses für die letzte Kriegsphase zahlreich belegte Schicksal erlitt die Hausgehilfin Lieschen Engel aus Berlin, die durch die
Kriegsereignisse im Januar 1944 nach Uelzen kam, wo sie mit 19 Jahren dem Betreiber der Abdeckerei Im Böh Adolf Bernau vom
Arbeitsamt als Hausgehilfin zugewiesen wurde. Dort fing sie mit dem ebenfalls in der Abdeckerei arbeitenden französischen
Kriegsgefangenen Paul Lescour eine Liebesbeziehung an, die den beiden jungen Leuten zum Verhängnis werden sollte.
Am 2. Juni 1944 erließ das Amtsgericht Uelzen den Haftbefehl gegen Lieschen Engel, da sie im Mai 1944 in Uelzen mit einem
französischen Kriegsgefangenen in einer Weise Umgang gepflogen hat, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzt.
Sie verkehrte geschlechtlich mit dem französischen Kriegsgefangenen Paul Lescour. Vergehen gegen § 4 der VO. Zum
Schutze der Wehrkraft des Deutschen Volkes vom 25.Xl. 1939. Sie ist in Haft zu nehmen, weil es nicht erträglich wäre, sie
auf freiem Fuß zu lassen.
Das erste Verhör führte der Kriminalsekretär Ernst Brunzendorf im alten Rathaus durch.
Das Urteil der Strafkammer des Landgerichts Lüneburg vom 26. Juli 1944 lautete auf 18 Monate Zuchthaus, die sie bis zum
Kriegende teilweise im Zuchthaus Celle absaß. Die gesetzlichen Nebenfolgen wurden angewandt. Den Verurteilten wurden die
Ehrenrechte auf zwei Jahre aberkannt.
Erst 18 Jahre später am 6. Juni 1963 wurde das Urteil für die 1944 als strafbar erkannte Handlung auf der Grundlage der VO. vom
3.Vl. 1947 des Kontrollrates der Britischen Zone von der Strafkammer des Landgerichts Lüneburg aufgehoben und die Reststrafe
rechtskräftig erlassen.
Quelle:
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover:
Hann 171 a Lüneburg Acc. 153/82 Nr. 34 1: Lieschen Engel Uelzen
VI.
Nationalsozialismus und Nachkriegsjahre
a.
Der Umgang mit den Opfern des Nationalsozialismus:
Hermann Israel Benjamin
Levy Louis Benjamin gründete 1873 eine Agentur und das Bankgeschäft mit Firmensitz Uelzen, Lüneburger Straße 4. Sein Bruder
Levy Hermann Benjamin eröffnete im selben Jahr eine Färberei im Haus Gudesstraße 28. Während aber das Bankgeschäft bereits
1892 wieder aufgegeben wurde, bestand die Färberei weiter, die 1886 vom Sohn Eduard übernommen wurde und 1905 an den
Nachfolger Hermann Benjamin überging. 1925 erfolgte der Eintrag im Handelsregister Uelzen (HRA 325) Uelzener
Dampffärberei und chemische Waschanstalt, Manufaktur und Modewaren Hermann Benjamin Uelzen.
Die Erweiterung um den Verkauf von Manufaktur, d.h. Bekleidung brachte der Firma nicht den erhofften Aufschwung,
beschleunigte im Gegenteil den wirtschaftlichen Niedergang, so dass Hermann Benjamin, der auch in Harburg, Lüneburg, Celle
und Salzwedel Geschäftsniederlassungen betrieb, am 6. Januar 1932 die Verauktionierung der Lagerrestbestände mit einem
Listenwert von 1. 181.20 RM beim Magistrat Uelzen beantragte. Der Eintrag der Liquidierung der Firma Hermann Benjamin im
Handelsregister erfolgte am 5. Dezember 1932: Die Firma Benjamin in Uelzen ist erloschen.
Am Ende hatte die Belegschaft nur noch aus dem Inhaber Hermann Benjamin selbst und seiner Ehefrau und seinem Sohn Manfred
bestanden, die beiden Mitarbeiter waren längst entlassen worden. Da das Geschäft keinen Gewinn mehr abwarf, lebte die Familie
von dem beigesteuerten Geld der Schwägerin des Inhabers Fräulein Helene Lion, die zwar kein Vermögen, aber regelmäßige
Einkünfte hatte. Nach der Liquidierung der Firma blieb das Haus Gudesstraße 28 weiterhin Wohnsitz der Familie. Schon vor der
Machtergreifung aber bekam sie die Repressalien der NSDAP-Aktionen zu spüren. In einem handschriftlichen Brief an den
Magistrat der Stadt Uelzen vom 9. Juli 1930 beschwerte Hermann Benjamin sich bitterlich über die Ausschreitungen, die ihn
persönlich trafen:
In letzter Zeit ziehen fast jeden Sonntag die Nationalsozialisten unter Vorantritt ihres Führers Harms durch die Straßen
von Uelzen und legen direkt ein gesetzeswidriges Verhalten an den Tag. Als Bürger von Uelzen fühle ich mich beleidigt,
wenn diese Leute an meinem Haus vorbeiziehen und schreien aus Leibeskräften "Nieder mit Juden."
Wenn ein Mann wie Harms als Angestellter des Elt.-Werkes und noch dazu als Bürgervorsteher fungiert (sc. August
Harms, Bohldamm 40, kandidierte zu den Gemeindewahlen am 7. November 1929 für die NSDAP), so stehe ich auf dem
Standpunkt, dass man solchen Mann von den Posten des Elt.-Werkes entfernt und an dessen Stelle einen anständigen
Menschen anstellt.
Vor etwa einem halben Jahr hat obengenannter sich bei der Polizei beschwert, dass ich seine Leute angepöbelt hätte. Ich
habe dieses seitens der Polizei widerlegt und habe ihn auch persönlich zur Rede gestellt, mir die Namen zu nennen. Harms
hat mir diese bis heute nicht sagen können, und betrachte diese Unwahrheit als Herausforderung. Ich bitte diese
Angelegenheit gütigst zu prüfen.
Hochachtend Herm. Benjamin
Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 wurde das Leben der Familie Benjamin in Uelzen eng und enger. Wirtschaftlich
war die Familie am Ende angekommen. Auf dem Haus Gudesstraße 28 lag eine hohe Hypothek, aufgenommen beim Bankhaus
Alten an der Lüneburger Straße. Die Zinslast wurde so drückend, dass 1934 im Jahr der Auswanderung der Familie Benjamin nach
Ramat Gan in Palästina keine Erträge mehr eingingen. Die Hypothekensumme hatte sich bis zum 31. Dezember 1939 auf
37.477.28 RM erhöht, und hatte sich nach Ablauf eines Jahres am 25. Januar 1941 schon auf 51.864.54 RM verzinst. Eine
(Zwangs)Versteigerung war unabwendbar geworden.
Das Bankhaus Alten betrieb, um in dieser Angelegenheit nicht in die Negativzahlen zu geraten, die Zwangsversteigerung der
Immobilie an der Gudesstraße, deren Kaufwert auf 138.000 RM geschätzt wurde. Diese Summe wurde vom Amtsgericht Uelzen
bestätigt.
Die Gläubigerin argumentierte mit der Verordnung vom 15. Januar 1940 zwecks Behandlung feindlichen Vermögens der im
Ausland lebenden Eigentümer. Daraufhin stimmte das Amtsgericht der Zwangsversteigerung zu:
"Die Gläubigerin hat geltend gemacht, dass kein Schutzbedürfnis nach der Verordnung bestehe, weil der Eigentümer des
Grundstücks Jude sei und nach Aufgabe seines auf dem Grundstück betriebenen Färbereigeschäftes (sc. 1930) im Jahre
1934 nach Palästina ausgewandert wäre. Er hat sich auch nicht weiter um den Grundbesitz gekümmert. Die nach der
Machtübernahme verbesserten allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnisse haben keine Verbesserung der Verhältnisse des
Schuldners gebracht. Der Vertreter des Schuldners (Stadtbaurat Victor Schmah) hat diesen Darlegungen nicht
widersprochen."
Uelzen, den 25. Oktober 1940
Das Amtsgericht
Gez. Schulze
Das Ergebnis der am 27. Januar 1941 stattgefundenen Zwangsversteigerung lief darauf hinaus, dass die Immobilie am 21. Juni
1941 auf Grund des Zuschlagsbeschlusses des Amtsgerichts Uelzen im Grundbuch Bd. 75 Blatt 2397 der Bankier Heinrich Alten
als Eigentümer des Bürgerwesens Gudesstraße 28 eingetragen wurde. Der vormalige Eigentümer Hermann Benjamin erhielt
keinen Anteil aus seinem ehemaligen Besitz.
Dieser Vorgang war damit aber noch nicht abgeschlossen. Von seinem Wohnsitz in Ramat-Gan aus machte Hermann Benjamin
nach Kriegsende seine Ansprüche auf Rückerstattung geltend, die jedoch vom Wiedergutmachungssamt bei dem Landgericht
Lüneburg am 1. März 1951 rechtskräftig abgewiesen wurden. Die Sachlage änderte sich allem Anschein nach zu seinen Gunsten,
als das Bundesergänzungsgesetz für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BEG) vom 18.9.1953 rechtskräftig wurde.
In einem Schreiben vom 29. September 1953 schildert Hermann Benjamin die Dringlichkeit seiner gegenwärtigen Lage: Da ich,
wie ich Ihnen schon schrieb, mich in wirtschaftlicher Not befinde und ich sowie meine Frau 73 Jahre alt bin, bitte ich
nochmals den hochlöblichen Magistrat, mir einen Anwalt zu beschaffen, welcher meine Angelegenheit erledigen kann.
Damit aber geriet Benjamin in die Mühlen der Verwaltung. Am 11. Dezember 1953 wurde ihm vom Regierungspräsidium in
Lüneburg ein ausführlicher Fragebogen zugesandt, am 25. Juni 1954 holte der Regierungspräsident bei Stadtdirektor Otto Helbing
Auskünfte über die Vermögensverhältnisse des Hermann Benjamin ein, am 25. Juli 1954 bestätigte das Finanzamt Uelzen die
ungünstigen Verhältnisse. Benjamin hatte sich zur Beschleunigung der Angelegenheit in der Zwischenzeit selbst einen Anwalt
gesucht. Es war Rechtsanwalt Ludwig Eckstein aus Berlin. Der schrieb am 18. Januar 1955 an die Stadtverwaltung Uelzen und bat
um Prüfung der Unterlagen seines Mandanten. Die Antwort folgte auf dem Fuße am 25. Januar 1955: Irgendwelche Unterlagen
über den Bestand der Färberei in der Gudesstraße 28 sind hier nicht vorhanden.
Dann folgte noch ein Brief vom 4. Februar: Wie sich jetzt herausstellt, sind doch noch einige Unterlagen Ihres Mandanten
vorhanden. Es liegen hier noch die sogen. Bauaufsichtsakten vor. Ich würde empfehlen, dass Sie ggf. einen hiesigen
Rechtsanwalt und Notar bevollmächtigen, die Akten beim Stadtbauamt Uelzen/Abteilung Bauaufsicht einzusehen.
Helbing
Stadtdirektor
Damit endet die Korrespondenz. Möglicherweise war der Antragsteller zwischenzeitlich verstorben.
Quelle:
Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover
Hann 172 Uelzen Acc. 22/61 Nr. 12 und 15
Stadtarchiv Uelzen
I Fach 45 b Lfd. Nr. 33: betr.: Entschädigungsangelegenheit Benjamin
b.
Eine beispielhafte Karriere: Kontinuität statt Erneuerung:
Amtsgerichtsrat Dr. Hermann Buhr-Koetke
Geburtstag
Geburtsort
Konfession
Wehrdienst
Banklehre
Jurastudium
1.Juristisches Staatsexamen
2.Juristisches Staatsexamen
Gerichtsassessor
Amtsgerichtsrat
AG Gifhorn
AG Uelzen
Parteikarriere / Militärdienst
Wiedereinstellung als Amtsgerichtsrat
Versetzung in den Ruhestand
Verstorben
06.07.1899
Uelzen
Gottgläubig, eigener Entscheid als
junger Mensch
10.11.1917-15.02.1919
28.09.1939-07.05.1945
15.02.1919-Ostern1921
/
Westholsteinische
Bank
15.02.1921-10.01.1924
24.11.1923 in Kassel
20.07.1928 in Berlin
LG Lüneburg - AG Verden/Aller Hildesheim – Uelzen
01.03.1934
01.03.1934-30.06.1939 als Leiter des
Entschuldungsamtes
01.07.1939
14.12.1924 Mitglied des Stahlhelms
1933 Truppführer der SA
August
1934
Stellvertr.Ortsgruppenführer
im
NS-Rechtsverband
1936 Mitglied der NSDAP
01.04.1944 Hauptmann der Reserve
16.10.1948 AG Osterholz-Scharmbeck
01.04.1949 AG Uelzen / Planstelle auf
Lebenszeit
31.01.1966
26.10.1966 in Bad Homburg
Quelle:
Landgericht Lüneburg/
Personalakte
Dr.
Buhr-Koetke,
Hermann,
AG Uelzen; AZ: 1 B 119.3 Bände
Dr. Hermann Buhr-Koetke war schon 1949 noch vor der Verabschiedung des Gesetzes vom 31.12 1949 zur Amnestie der
NS-Täter, sofern sie sich nicht eindeutig eines Mordes schuldig gemacht hatten, in seine alte Planstelle von 1934 -Niedereingesetzt
worden. Dieses Gesetz wurde durch ein zweites Gesetz vom 17. Juli 1954 erweitert. Beide Gesetzesvorlagen, dazu das am 11. Mai
1951 verabschiedete Ausführungsgesetz waren initiiert von Konrad Adenauer und wurden mit einer alle Parteien übergreifenden
Mehrheit angenommen. Nutznießer war jener Personenkreis, der nach 1945 wegen seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus
aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden war, nun aber in seine alten Rechte wieder eingesetzt wurde. An dieser Stelle sollen
die Worte von Johannes Willms zitiert werden, die der Leitende Redakteur der Süddeutschen Zeitung in seinem Buch Die
deutsche Krankheit schreibt:
Bekanntlich beginnt der Fisch am Kopf zu stinken, und wenn diese Eliten nach 1945 das fatale Beispiel gaben und einfach
so weitermachten, als sei nichts geschehen, und ostentativ so taten, als hätten sie sich nichts zuschulden kommen lassen,
dann konnten es alle so halten: Die Richter, die weiter richteten "im Namen des Volkes," die Globkes, deren
verwaltungstechnischer Sachverstand "wertneutral, wertfrei" war und ja auch unter anderen gesellschaftlichen und
politischen Umständen gebraucht wurde, die Lehrer und Polizisten, die Mitläufer, die gleich sitzenblieben und der
vormalige Reichsnährstand.
Zum Zeitpunkt seiner Wiedereinsetzung in die alte Planstelle am Amtsgericht Uelzen war Dr. Buhr-Koetke 50 Jahre alt und wollte
beruflich weiterkommen. Als die Stelle des Oberamtsrichters in Uelzen neu zu besetzen war, bewarb er sich am 17. Juni 1950,
doch ohne Erfolg. Auch auf die Stelle des Amtsgerichtsdirektor Uelzen bewarb er am 27. November 1958 erfolglos. In seinem
diesbezüglichen Bewerbungsschreiben ist dieser Satz zu lesen: Mir sind Land und Leute und die Verhältnisse des Kreises
Uelzen bekannt, so dass - sollte meine Bewerbung Erfolg haben - nach langer Zeit wieder ein bodenständiger Richter Chef
würde.
Darauf reagierte der Präsident des Landgerichts Lüneburg Dr. Wilhelm Hamelberg am 12. Dezember 1958 mit der Empfehlung:
Die Befähigung des Amtsgerichtsrats Dr. Buhr-Koetke ist befriedigend. Er verfügt über ein gesundes Urteil, über
praktisches Verständnis, wobei seine Urteilsbegründungen knapp und klar sind. Nur die rechtliche Beurteilung gibt
gelegentlich zu Zweifeln Anlass. Dem Richter liegt offenbar die praktische Erledigung der Sachen mehr als die
Beschäftigung mit schwierigen Rechtsfragen. Doch halte ich ihn für die Stelle des Direktors des Amtsgerichts Uelzen für
sehr geeignet. Der Nachfolger für den aus dem Dienst scheidenden Amtsgerichtsdirektor Kurt Becker wurde Dr. Diedrich
Vollmers aus Uelzen.
VII. Das Kriegsende in Uelzen
Das Kriegsende im April/ Mai 1945 war auch das Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, deren Bilanz folgende ist:
Eine Bilanz
Tote/ Zivilbevölkerung und Soldaten
Stand: 1997; alle Daten annähernd
55 bis 62 Millionen
Deutschland
UDSSR
Polen
Jugoslawien
Japan
USA
Großbritannien
Frankreich
Italien
Rumänien
Ungarn
Finnland
5.2 Millionen
27 Millionen
4.5 - 6 Million
1 Million
1.8 Millionen
318 000
386000
810 000
330 000
378 000
420 000
84 000
Juden Europas
Deutsche Juden
6 Millionen
500 000
Deutschland:
Kriegsbeschädigte
Kriegerwitwen
Waisen
Heimatvertriebene
Ostzonen-Flüchtlinge
1.6 Millionen
1.2 Millionen
1.4 Millionen /60 000 Vollwaisen
7.9 Millionen
1 Million
Teilung Deutschlands und Verlust der staatlichen Souveränität:
Sowjetisch verwaltete Ostzone
Dreiteilung der Westzone unter amerikanisch-britisch-französischer Verwaltung
Die Nationalsozialistische Regierung hatte von 1940 bis zum Kriegsende 535 Milliarden RM in die Rüstungsindustrie
investiert, die zum großen Teil durch Bankkredite flüssig wurden, so dass sich die Schuldenlast bei Kriegsende auf 400
Milliarden RM belief.
a.
1.
2.
3.
Drei Luftangriffe auf das Bahnhofsgelände Uelzen
Schadensbilanz
18. April 1944: Der Angriff traf nicht das angepeilte Ziel des Güterbahnhofs. Die Bomben fielen zu früh ab über
Veerssen und trafen auch die Straßenzüge Bohldamm Karlstraße - Grabenstraße - Kuhlaustraße. Auch ein auf dem
Güterbahnhof abgestellter Munitionswagen wurde getroffen.
Bilanz: 3 Tote, 20 Häuser total zerstört und damit 99 Wohnungen, wodurch 275 Menschen obdachlos wurden.
22. Februar 1945: Mittags um 12.20 Uhr überflogen drei Pulks von je 12 Bombern in etwa 500 Metern Höhe das
Bahnhofsgelände. Sie warfen in drei Teppichen 300 bis 400 Sprengbomben ab, die tiefe Krater rissen von 12 bis 17
Metern im Durchmesser und 6 bis 8 Metern Tiefe. Zu dem Zeitpunkt stand ein Wehrmachtstransportzug auf den
Gleisen des Güterbahnhofes. Von den Soldaten, die an der Böschung des Bahngeländes Schutz gesucht hatten, wurden
30 Männer getötet, 36 verwundet und 34 als vermisst gemeldet. Die Straßenzüge der Kuhlaustraße, Grabenstraße
Alewinstraße wurden schwer getroffen. Zwei Tage nach dem Angriff meldete Bürgermeister Farina 50 getötete
Zivilpersonen. Die Reparatur- und Aufräumarbeiten wurden von 500 Häftlingen des Konzentrationslagers
Neuengamme ausgeführt, die auf den Trockenböden der Zuckerfabrik untergebracht waren und von der NSV mit
Essen versorgt wurden.
7. April 1945: Der Luftangriff auf das Bahnhofsgelände richtete geringen Sachschaden an, so dass der Bahnbetrieb
nach 48 Stunden wiederaufgenommen werden konnte. Dem Angriff fielen 20 Menschenleben zum Opfer.
Kreisgebiet Uelzen: 2 668 Wohngebäude beschädigt davon 2 037 geringfügig, 207 schwer, 424 total zerstört
Stadtgebiet Uelzen: 1 382 Gebäude beschädigt durch Bombeneinschlag oder Feuerlegen beim Einzug der
Alliierten am 18. April 1945 in die Innenstadt, davon 417 zu 30 / 100 Prozent, also etwa ein Drittel der
getroffenen Gebäude.
Bei Kriegsende war die Wirtschaftslage der Stadt Uelzen ruiniert. Die Sparkasse Uelzen verzeichnete für Oktober 1945 einen
Bestand von nur noch 89.796.55 RM.
Quelle:
Stadtarchiv Uelzen
Fach IV 178 Lfde Nr. 21: Schadensmeldung Luftangriffe Uelzen 1944/ 45
Die Vorgänge während der letzten Kriegstage in Uelzen:
Heinrich Schneider, kommissarischer Kreisleiter
Einzug der Alliierten
Folgende Männer entschieden in einer beratenden Versammlung am 17. April 1945 über das Schicksal der Stadt Uelzen
beim Einzug der alliierten Truppen: Einzig der Kreisleiter Heinrich Schneider entschied gegen den Widerstand der
übrigen Männer, dass die Stadt bis zur letzen Patrone verteidigt werden sollte:
Johann Maria Farina
Bürgermeister von Uelzen 1913 bis 1946
Hermann Fehlhaber
Polizei-Sergeant in Uelzen seit 1908, Polizeioberwachtmeister seit 1927, September 1945
Versetzung in den Ruhestand
Heinrich Schneider
Kommissarischer Kreisleiter in Uelzen von September 1944 bis Kriegsende 1945
Dr. Carl Düfel
Kommissarischer Landrat von Juli 1944 bis Ende April 1945
Oberst Lüders
Kampfkommandant in Uelzen bis zum Kriegsende
Realität aber war, dass die Männer im Krieg waren und die Stadt keineswegs militärisch aufgerüstet war, so dass eine Verteidigung
gar nicht stattfinden konnte und auch nicht stattfand. Mit dieser Entscheidung gegen eine kampflose Kapitulation war den
britischen Truppen der offensive Einzug in die Stadt in die Hand gelegt.
Lebenslauf
Heinrich Schneider
Geboren
03. Dezember 1894 in Kassel
Volksschulenbesuch in Verden/Aller
Besuch der Präparandenanstalt und des Lehrerseminars
Kriegsfreiwilliger im 1. Weltkrieg
Verwundet in französischer Kriegsgefangenschaft
Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft
Lehrer in Stotel/ Kreis Wesermünde
Lehrer in Neuenlande
Lehrer in Verden/ Aller
Lehrer in Lüneburg
1916
1917
März 1920
1923-1934
1934-1938
1938-1944
Seine Parteikarriere schilderte Heinrich Schneider am 15. Januar 1948 vor der Spruchkammer in
Benefeld-Bomlitz fern aller Selbstkritik und unbelehrbar:
Wenn ich nochmals wiederhole, so waren meine Ämter
1932-1934
1934-1935
1935-1938
1938-1943
1943Januar 1944
30.11.1944
April 1945
August
Nov. 1943
Sept. 1944
April 1945
Verstorben
Blockleiter in Neuenlande
Ortsgruppenleiter in Verden/ Aller (Propaganda)
Kreisamtsleiter im Amt für Erzieher und
Kreisschulungsleiter in Verden/ Aller,
zugleich Kreisschulungsleiter
Gauschulungswalter des NSLB (Nationalsozialistischer Lehrerbund)
Stellvertretender Leiter des Gauschulungsamtes Lüneburg
Gauschulungsleiter in Lüneburg
Zugleich auch
Stellvertretender Kreisleiter von Osterholz-Scharmbeck
Stellvertretender Kreisleiter in Uelzen
13. August 1964 in Hamburg
Quelle:
Verhandlungsakte Heinrich Schneider:
Spruchgericht Benefeld/Bomlitz vom Mai 1947 bis August 1948
Kriegsende in Uelzen
Die letzten Kriegstage in Uelzen Mitte April 1945 waren auch hier von den Auflösungserscheinungen geprägt, die am Ende der
nationalsozialistischen Gewaltherrschaft standen: Hektik und Nervosität beim Führungskorps - Furcht und Flucht vor dem
heranrückenden Kriegsgegner und den unberechenbaren und willkürlichen Entscheidungen und Taten der zunehmend
unkontrollierter werdenden Führen vor Ort. Das Verhalten des Kreisleiters Heinrich Schneider während der letzten Kriegstage
entsprach dem. Die Zeugenaussagen im Zusammenhang mit der Anklage gegen ihn 1948 bestätigen dies:
Der Zeuge Postangestellter Gerhard Meyer aus Oldenstadt:
Seinerzeit war Kampfkommandant von Uelzen der Waffenoberst Lüders und Reichsverteidigungskommissar war der
Kreisleiter Schneider. Dieser machte einen sehr nervösen Eindruck und war mit Drohungen schnell bei der Hand. 75u mir
persönlich sagte er, als ich ihn um eine Unterschrift zum Erhalt der Lebensmittel bat ohne irgendeine Überleitung: Wer
plündert, wird erschossen.' Diese Drohung war durchaus ernst zu nehmen, da Schneider als
Reichsverteidigungskommissar durchaus Todesurteile fällen konnte. Die Erschießung des Hauptmann Marquardt ist mir
auch bekannt.
Trotz seiner Durchhalteparolen zog Schneider dann am Tag der Einnahme der Stadt, am Abend des 17. April seine Uniform aus
und flüchtete getarnt in der Volkssturmuniform aus Uelzen, deren Einwohner er dem Einzug der Alliierten auslieferte, nachdem er
die Kapitulation verhindert hatte.
Dazu sagte die Zeugin Luise Dunker aus der Brauerstraße 28 aus:
Am 19. April befand ich mich in der Gastwirtschaft Rieckmann in Weste/Kreis Uelzen. Infolge der Kriegsereignisse war
ich mit meinen beiden Kindern aus Uelzen geflüchtet. Mein Sohn Joachim, damals 13 Jahre alt, machte mich auf die
Anwesenheit des
Kreisleiters Schneider aufmerksam, der sich in der Küche befand. Ich ging auf ihn zu und fragte ihn, oh ich schon nach
Uelzen rein könne. Der war sehr erschrocken und sagte wieder erkannt!' Dann fragte er mich, woher ich ihn kenne,
worauf ich auf die Kinder im Hof wies. Da ging er zur Küchentür und winkte die Kinder zu sich: Dass ihr nichts sagt, dass
ich hier bin.' Haltet eure Schnauze -und Sie auch.'
Die Erschießung des Hauptmanns Erich Marquardt
Dazu sagte die Zeugin Gertrud Riest aus der Lüneburger Straße 65:
Am Tage vor dem Einmarsch der Truppen der Alliierten war ich im Bunker auf dem Hof der Kreisleitung an der
Lüneburger Straße. Um 6.30 Uhr kam der mir bis dahin unbekannte Hauptmann Marquardt in den Bunker, in dem sich
noch andere Schutzsuchende befanden. Dieser fragte mich, ob ich die Christel von der Post bin, was ich bejahte. Er kannte
mich aus dem Postzustelldienst in Veerssen. Marquardt machte einen sehr müden Eindruck, und ich gab ihm meinen
Dienstumhang und eine Wolldecke und sagte ihm, er solle sich hinsetzen. Das tat er auch und schlief sofort ein.
In dem Bunker waren der Tischlermeister Ernst Adam und dessen Ehefrau Marie vom Scbnellenmarkt 18. Ich hörte, wie
Frau Adam zu ihrem Mann sagte, dass hier ein Hauptmann im Bunker schläft. Daraufhin ging Herr Adam sofort zur
Kreisleitung und meldete dies. Kurz darauf kamen der Kreisleiter Schneider und der Major Fronzek in den Bunker. Mit
vorgehaltener Pistole holten sie den Hauptmann Marquardt aus dem Bunker. Im Haus der Kreisleitung wurde er verhört.
Gegen Mittag wurde Marquardt dann in den Hof geführt und von vier Soldaten erschossen.
Der Zeuge Hans Schuster, der den Hauptmann während seiner letzten Tage und Stunden immer begleitet hatte, konnte weiteres
aussagen:
Als der Hauptmann mit erhobenen Händen auf den Hof hinter der Kreisleitung geführt wurde, rief er mir zu Ich werde
erschossen. Grüß mir Frau und Kinder, wenn Du wieder nach Breslau kommst.'
Hauptmann Marquardt war gegen ein sinnloses Opfern der Zivilbevölkerung und seiner Leute. Aus diesem Grund hatte
er auch versucht, die Stadt Uelzen als freie Stadt' erklären zu lassen, damit stieß er vermutlich auf den Widerstand des
Kreisleiters Schneider.
Das Spruchgericht Benefeld / Bomlitz verurteilte den Angeklagten Heinrich Schneider am 13. Juli 1948 zu 3 Jahren 3
Monaten Gefängnishaft, wovon die Untersuchungshaft anzurechnen war.
In der Urteilsbegründung heißt es: Der Angeklagte wird beschuldigt, in den letzten Kriegstagen seine Macht als
Kreisleiter in verbrecherischer Weise ausgenutzt zu haben, indem er den Hauptmann Erich Marquardt erschießen ließ,
die sinnlose Verteidigung Uelzens verschuldet und schließlich viele Einwohner mit Erschießen bedroht hat, wen sie nicht
Verteidigungswillen zeigen wollten.
Heinrich Schneider verstarb 19 Jahre nach Kriegsende 1964 im Alter von 69 Jahren in Hamburg ohne wieder in seinen Beruf als
Lehrer zurückkehren zu können. Der Eintrag in das Strafregistervermerk wurde gemäß des Straffreiheitsgesetzes vom 17.7.1954
im Januar 1962 getilgt.
Quelle:
Stadtarchiv Uelzen:
Verhandlungsakte Heinrich Schneider (im Auszug)
Spruchgericht Benefeld/ Fallingbostel,
im Mai 1947 bis August 1948
Reimer Egge
Stadtarchiv Uelzen
Januar 2004

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