Umsetzung der neuen Bildungsstandards in Kindertagesstätten

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Umsetzung der neuen Bildungsstandards in Kindertagesstätten
Ausgabe 2007
Jahrgang 4 Ausgabe 1
Schwerpunkt “Frühes
Lernen” (hrsg. von Ursula
Carle & Diana Wenzel)
ISSN 1860-8213
Umsetzung der neuen Bildungsstandards in
Kindertagesstätten - Chancen und
Schwierigkeiten für Erzieherinnen
Malte Mienert, Heidi Vorholz
Die Bildungsgrundsätze der Bundesländer betonen kindliche Selbstbildungsprozesse. Ihre Umset­
zung in Kindertagesstätten hängt davon ab, ob Erzieherinnen eine Neudefinition ihrer Rolle im
kindlichen Lernprozess gelingt. Im Artikel werden Gründe für die Entwicklung neuer Bildungs­
grundsätze aufgeführt. Moderne Anforderungen an Elementarpädagogik werden mit Ansprüchen an
Erzieherinnen kontrastiert. Die Erzieherinnenrolle wird historisch beleuchtet. Hinweise auf Unter­
stützungsbedarfe angesichts notwendiger Neudefinitionen werden abgeleitet.
1. Einleitung
Ein neuer Blick auf frühkindliche Bildung, ein neues Bildungsverständnis, das den Selbstbil­
dungsprozess der Kinder in das Zentrum der Arbeit in Kindertagesstätten stellt und eine neue
Herangehensweise an die Umsetzung pädagogischer Ziele im Elementarbereich sollen mit den Plä­
nen der Bundesländer für die Neuausrichtung der Arbeit in den Kindertagesstätten in Deutschland
Einzug halten. Kinder sind aktive Gestalter ihrer Lern- und Entwicklungsprozesse. Sie konstruieren
sich ihr Wissen von der Welt selbst, erwerben Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit Problem­
stellungen, planen Problemlösungen, probieren sich aus und wachsen an Fehlern genauso wie an Er­
folgen. Unbestreitbar sind die Vorteile, die diese Neuausrichtung für die Kinder mit sich bringen
kann. Dreh- und Angelpunkt, ob die Umsetzung der Bildungsstandards in den Kindertagesstätten
auch langfristig gelingen und die frühkindliche pädagogische Arbeit auf feste Füße stellen wird,
sind jedoch die Personen, die unmittelbar mit den Kindern arbeiten – die Erzieherinnen und Tages­
mütter. Der Inhalt dieses Artikels bezieht sich auf die Schwierigkeiten der Umsetzung der Bildungs­
standards im Elementarbereich und die damit verbundenen neuen Anforderungen an die Erzieherin­
nen. In einem kurzen Abriss sollen zunächst die Gründe skizziert werden, die zur Entwicklung der
Bildungsgrundsätze der Bundesländer führten. In einem zweiten Schritt werden die Anforderungen,
die zur Neuausrichtung der frühkindlichen Bildung in Deutschland beitrugen, mit den Ansprüchen
an die Arbeit der Erzieherinnen in Beziehung gesetzt. Die traditionelle Rolle der Erzieherin wird
unter entwicklungspsychologischem Blickwinkel historisch beleuchtet, und die Schwierigkeiten ein­
er Neudefinition dieser Rolle unter den aktuellen Bedingungen werden dargelegt. Die damit verbun­
denen Konfliktfelder im pädagogischen Arbeitsalltag werden daraus abgeleitet. Möglichkeiten,
Chancen und Risiken einer Neuausrichtung werden erörtert. Hinweise auf den Unterstützungsbedarf
der Erzieherinnen werden gegeben.
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2. Inhalt und Entstehung der neuen Bildungsstandards
Die Diskussion über Bildungsstandards ist nicht neu. Sie wurde nur erneut Gegenstand des Interess­
es, weil Bildung zum einen wieder als wirtschaftlich lukratives Gut entdeckt worden ist. Zum an­
deren haben sich die gesellschaftlichen Ansprüche an die Fähigkeiten und Kompetenzen Her­
anwachsender verändert sowie die Umweltbedingungen, unter denen die Kinder heute aufwachsen.
Um eine Gesellschaft zu erhalten, die aus flexiblen, kreativen, lernbegeisterten und sozial kompe­
tenten Menschen besteht, müssen diese Fähigkeiten bereits im Kindesalter gefördert werden (vgl.
Textor, 2007). Da die Geburtenrate rückläufig ist, liegt auf dem Nachwuchs zwangsläufig noch
mehr Verantwortung. Die optimale Förderung bereits in den ersten Lebensjahren wird somit zur
wichtigsten Aufgabe. Neue entwicklungspsychologische Erkenntnisse aus dem Bereich der Neu­
rowissenschaften und der Pädagogik machen zudem deutlich, dass dies nicht nur sinnvoll, sondern
notwendig ist, um das vorhandene Potential der Kinder voll auszuschöpfen. Kinder sind keine
kleinen, unfertigen Wesen, sie sind von Geburt an lernfähige, wissbegierige Individuen, die mit
einem Schatz an intuitiven Kompetenzen ausgestattet sind, die sie für die Entdeckung der Welt ab
dem Moment der Geburt – wenn nicht sogar schon früher – prädestinieren. Viele dieser angebore­
nen Lernvoraussetzungen (z.B. für den Spracherwerb, das Sozialverhalten, die Bindungsfähigkeit
und das Neugierdeverhalten) engen sich frühzeitig auf das unmittelbar Notwendige ein, wenn sie
nicht von den Kindern schon frühzeitig systematisch genutzt werden können (Shore, 1997). Es
scheint daher nahezu fahrlässig, die Kompetenzen der Kinder erst im Grundschulalter ernst zu
nehmen und zu fördern (vgl. Laewen, 2002). Ein weiterer Aspekt ist die veränderte Umweltsituation
der Kinder. Die Eltern haben weniger Zeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, dafür sind die Kinder
vermehrt multimedialen Einflüssen ausgesetzt. Dadurch sinken soziale Kontakte und damit ein­
hergehend vor allem der soziale Austausch, sowohl mit Erwachsenen als auch mit Gleichaltrigen.
Die Sprache wird als wichtiges Glied in der Kette des Lernens betrachtet. Die perfekte Be­
herrschung der Muttersprache ist für eine gesunde Entwicklung unverzichtbar. Kinder, deren Mut­
tersprache nicht deutsch ist, haben noch mehr Probleme und die Integration ihrer Erstsprache ist
somit ein wichtiger Aspekt. Das Beherrschen der Muttersprache ist somit eng mit dem Erwerb von
Zweitsprachen verbunden. Die riesige Chance, die in der Zweisprachigkeit von Kindern liegt, kann
dadurch optimal zur Geltung kommen. Somit liegt ein weiteres Augenmerk auch auf der Sprach­
förderung im Elementarbereich.
Die von den Bundesländern entwickelten Bildungspläne beinhalten als wichtigsten Aspekt den
Selbstbildungsprozess des Kindes und damit einhergehend das veränderte Rollenbild des Erziehers.
Der Begriff der Selbstbildung baut auf der Theorie des Konstruktivismus auf (König, 2007; Reich,
2005). Der Konstruktivismus geht davon aus, dass der Lernende sich seine individuelle Lernsitua­
tion selber konstruiert und somit seinen Lernprozess selber steuert. Sein Wissen entsteht dabei
durch die interne subjektive Konstruktion von Ideen und Konzepten und deren Interpretation. Selbst
die Informationen aus den Sinneswahrnehmungen sind nicht einfach Abbilder, sondern bereits
gefilterte, verarbeitete und interpretierte Ergebnisse des Gehirns, also auf kognitiven Prozessen
basierend. Somit lassen sich auch diese Informationen als konstruiert bezeichnen. Dabei ist das Vor­
wissen des Lernenden von entscheidender Bedeutung, da das neue Wissen immer im Bezug darauf
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konstruiert wird. Beim Lernen spielt die Aktivierung von Vorkenntnissen, ihre Ordnung, Korrektur,
Erweiterung, Ausdifferenzierung und Integration eine entscheidende Rolle.
Wissen kann somit als individuelle Konstruktion eines aktiven Lerners bezeichnet werden. Das Ler­
nen findet jedoch nicht im luftleeren Raum statt, sondern wird durch die äußeren Gegebenheiten,
den Lernraum, die anderen Lernenden sowie die Erzieher und Lehrer als Lernunterstützer beein­
flusst. Die Erweiterung eines rein konstruktivistischen Blicks auf das Lernen auf den Kontext, in
dem Lernen stattfindet, ermöglicht es, auch ko-konstruktivistische Lernprozesse zu beschreiben,
d.h. Lernprozesse, in dem sowohl das lernende Kind, als auch die Erzieherin oder andere Kinder
gemeinsam in den Austausch treten, ihre Wissensbestände abgleichen und sich somit einer erweit­
erten gemeinsamen Weltsicht annähern. Im Ausmaß eines eher konstruktivistischen Lernverständ­
nisses oder einer ko-konstruktivistischen Beschreibung kindlicher Lernprozesse unterscheiden sich
die Bildungspläne der Bundesländer. Die Aufgabe, die den Erzieherinnen nun zukommt, ist damit je
nach Blickwinkel des jeweiligen Bildungsplans unterschiedlich. Sie soll immer unterstützend und
anregend, aber in unterschiedlichem Maße steuernd und zielorientiert auf defizitäre Entwicklungs­
bereiche einwirkend in den Konstruktionsprozess des Kindes eingreifen. Dafür wurden in den Bil­
dungsplänen der Bundesländer Bildungsbereiche definiert, die Bildungsangebote unterschiedlicher
Wissens- und Erlebensbereiche zusammenfassen und zum Teil mit Lernzielvorgaben verknüpft
sind. Für die Abgrenzung der fünf bis sieben Bildungsbereiche wurde augenscheinlich auf die
Beschreibung der Intelligenzdimensionen von Howard Gardner (2002) zurückgegriffen.
3. Die neuen Bildungspläne und die alte Rolle der Erzieherin
Die Bildungspläne spiegeln die neu entstandenen Ansprüche an die Fähigkeiten und Kompetenzen
von Kindern auf Grund der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wider. Die Notwendigkeit
dieser Veränderungen ist unbestritten und bietet nicht nur den Kindern mehr Chancen, sich ihren
Möglichkeiten entsprechend individueller entfalten zu können, auch für die Erzieherinnen eröffnet
sich dadurch die Chance auf eine flexiblere Arbeitsweise. Was die Arbeit nach den neuen Bildungs­
standards für die Erzieherinnen im Hinblick auf ihr pädagogisches Selbstverständnis bedeutet, ist
bisher in der fachöffentlichen Debatte eher unzureichend reflektiert worden. Erzieherinnen als „En­
twicklungsbegleiterinnen“ (u.a. in der Reggio-Pädagogik, Knauf 1998) Erzieherinnen als „Er­
möglicherin“ (u.a. in der Freinet-Pädagogik, Klein 2002), Erzieherinnen als „Coach und Begleiterin
für die Kinder“ (Rohnke 2004), diese in der pädagogischen Fachpresse dargelegten Beschreibungen
vermögen die Lücke in der Neudefinition der eigenen Rolle der Erzieherin bisher nicht befriedigend
zu füllen. Auch der Begriff der Ko-Konstruktion erweist sich hier als wenig hilfreich, da echte KoKonstruktion von ähnlichen Voraussetzungen bei den Lernenden ausgeht, die in der Hierarchie von
Erzieherin und Kind und der Unterschiedlichkeit der aktuellen Lebens- und Konstruktionswelten
kaum gegeben sind. Für die Erzieherinnen stellen sich in der aktuellen Situation viele Fragen:
1. Was ist meine Aufgabe als Erzieherin?
2. Welche Rolle spiele ich in den frühkindlichen Selbstbildungsprozessen?
3. Ich soll die Kinder begleiten und sie gleichzeitig auf das Leben vorbereiten – wie soll das
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gelingen?
4. Darf ich den Kindern überhaupt etwas „beibringen“ wollen?
5. Was mache ich mit Kindern, die sich nicht von selbst bestimmte Fähigkeiten und Kompeten­
zen aneignen, die ich als Erzieherin als wichtig und richtig erachte?
6. Darf ich in Selbstbildungsprozesse eingreifen, oder wird mir die Rolle der Beobachterin und
Dokumentatorin der kindlichen Entwicklungsprozesse genügen?
7. Sollten nun keine Vorgaben mehr gemacht werden?
8. Dürfen jetzt Kinder in jedem Alter alles?
9. Darf ich Kinder überhaupt noch durch spezifische Anforderungen und Aufgaben fördern?
10.Welches Wissen kann, darf, muss Kindern vermittelt werden?
11.Wie selbstbewusst, neugierig und kreativ sollen Kinder werden – und ist unser Umgang mit
den Kindern im Kindergartenalltag tatsächlich förderlich dafür?
12.Und – wenn ein Kind kurz vor der Einschulung noch immer keine Lust aufs Schereschnei­
den zeigt, wäre es dann nicht meine Aufgabe, es ihm beizubringen? Was wird die Grund­
schule dazu sagen?
Verschiedene Rollen der Erzieherin stehen hier im unmittelbaren Konflikt, und Beobachtungen aus
der aktuellen pädagogischen Praxis deuten darauf hin, dass viele Erzieherinnen diesen Konflikt für
sich bewältigen, indem sie die neuen Anforderungen nach den neuen Bildungsstandards inhaltlich
wiedergeben, ohne dass sie den Bezug zum pädagogischen Alltag der eigenen Arbeit nehmen kön­
nen oder indem sie die Notwendigkeit eines Umdenkens an sich ablehnen – denn „früher haben wir
aus den Kindern auch vernünftige Menschen gemacht – warum sollte das jetzt auf einmal alles
schlecht sein?“.
Die zum Teil auch unterschiedlichen Ausrichtungen der Bildungspläne der Bundesländer im Hin­
blick auf das Ausmaß konstruktivistischer, ko-konstruktivistischer oder sogar traditionell behavior­
istischer Lernvorstellungen erschweren die Neu-Positionierung der Erzieherinnen in Deutschland
zusätzlich.
4. Ein Blick zurück und ein Blick nach vorn
4.1 Die Motoren menschlicher Entwicklung
Um diesen Konflikt im eigenen pädagogischen Selbstverständnis besser nachvollziehen zu können,
ist ein historischer Blick auf das Rollenverständnis der Erzieherin angebracht: Hintergrund der eige­
nen Rollenvorstellungen von Erzieherinnen sind die sich unterscheidenden Vorstellungen davon,
wie kindliche Entwicklung verläuft und was die Antriebskräfte - Motoren menschlicher Entwick­
lung sind. Hier haben sich in den letzten Jahrzehnten bereits zwei grundlegende Wechsel in der En­
twicklungspsychologie und der Kleinkindpädagogik – vom biologistischen Reifungsverständnis hin
zum behavioristischen Erziehungsoptimismus und von dort hin zum antiautoritären Selbsts­
teuerungsverständnis von Entwicklung - vollzogen. Heute befinden wir uns mitten im dritten Wech­
sel, und die Suche nach der eigenen Rolle hat bei den Erzieherinnen erneut begonnen. Die eigene
Bildungsgeschichte der Erzieher und ihre Ausbildung, die zu einer Zeit stattfanden, in der auf
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kindliche Entwicklung durch eine der im Folgenden dargelegten Blickwinkel geschaut wurde, prägt
das aktuelle Erleben und Verhalten der Erzieherinnen bewusst und unbewusst weiter. Um diesen
Wechsel zu beschreiben, werden zunächst die bisher dominierenden Leitvorstellungen über
kindliche Entwicklung und ihre Umsetzungen in der pädagogischen Arbeit mit Kindern
beschrieben. Diese Leitvorstellungen hatten ihre Entsprechungen in klaren Rollendefinitionen für
den Beruf der Erzieherin gehabt. Die folgenden Ausführungen sollen daher auch deutlich machen,
welche gesellschaftlichen Zielvorstellungen das Rollenbild der Erzieherin prägten und wie
Erzieherinnen in diesen Zielvorstellungen ihr berufliches Selbstverständnis verankern konnten.
4.2. Entwicklungsmotor Gene - Die Erzieherin als Pflegerin
Die Überzeugung, dass die Entwicklung in den ersten Lebensjahren vorwiegend ein biologisches,
von Genen gesteuertes Reifungsprogramm sei, das ohne äußeres Dazutun abläuft und möglichst
nicht gestört werden sollte, hat insbesondere in Deutschland eine lange Tradition (vgl. Kroh 1928).
Die Beschränkung auf die genetisch determinierten Reifungsprozesse bei der der Betrachtung
kindlicher Entwicklung fand ihren traurigen Höhepunkt im Nationalsozialismus (vgl. Amthor 2003,
Metzinger 1993). Kindliche Kompetenzen wurden eher ignoriert, Willensäußerungen als Ausdruck
körperlicher und geistiger Unreife angesehen („Schreien kräftigt die Lunge“). Hauptaufgabe der
Erzieherin war es, die hygienischen und organisatorischen Bedingungen zu schaffen, die eine
ungestörte Reifung des Kindes ermöglichen. Sauber, trocken und satt, so lauteten die Pflegegrund­
sätze. Pädagogische Beschäftigung mit den Kindern, Beziehungsaufnahme, Austausch waren von
untergeordneter Bedeutung. "Der völkische Staat hat... seine gesamte Erziehungsarbeit in erster Lin­
ie nicht auf das Einpumpen bloßen Wissens einzustellen, sondern auf das Heranzüchten kerngesun­
der Körper. Erst in zweiter Linie kommt die Ausbildung geistiger Fähigkeiten.“ (Kindergarten 1934,
25, zit. nach Berger 2005). Auch wenn der genetisch determinierte Reifungsgedanke seitdem an
Popularität verloren hat, spielt er in zahlreichen von Großeltern überlieferten Erziehungstipps nach
wie vor eine wichtige Rolle und hatte insbesondere in der DDR auch in der Fachausbildung für
Krippenerzieherin einen festen Platz – wo Pflege- und Ernährungstipps gegenüber der pädagogis­
chen Ausbildung dominierten (Blank-Mathieu 2007).
4.3 Entwicklungsmotor Umwelt - Die Erzieherin als Trainerin
"Gib mir ein Dutzend gesunde wohlgeformte Kinder, um sie in meiner eigenen Welt
aufzuziehen, und ich garantiere, dass ich jedes beliebige nehmen kann, und es ganz nach
meiner Wahl zu jeder Art von Spezialisten ausbilden kann – Arzt, Rechtsanwalt,
Künstler, Lagerverwalter und, ja, sogar zum Bettler und Dieb, und zwar ganz
unabhängig von seinen Talenten, Schwächen, Tendenzen, Fähigkeiten, Begabungen und
der Rasse seiner Vorfahren" (Watson 1930, 104).
Kein Zitat kennzeichnet besser den großen Erziehungsoptimismus, der den Wechsel von einem bi­
ologischen Entwicklungsverständnis zu einem umweltorientierten, behavioristischen Entwick­
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lungsverständnis kennzeichnete. Genetische und biologische Ausgangsbedingungen der Kinder
wurden vernachlässigt, die Kinder galten als weißes Blatt, für die nur das richtige Erziehungspro­
gramm gefunden werden musste, damit ein perfektes Entwicklungsergebnis entstehen kann. In de­
taillierten Ausarbeitungen wurden den Erzieherinnen Handlungspläne vorgegeben, die in den
Kindertagesstätten praktiziert werden sollten. „Der Erzieherin im Kindergarten ist die bedeutende
gesellschaftspolitische Aufgabe gestellt, den Menschen von morgen zu formen.“ (Schroeter 1975,
25): Die Erzieherin als Trainerin und Formerin der Kinder – diese Vorstellung umfasste nicht nur
die frühkindliche Förderung aller Leistungsbereiche, sondern auch Charakterentwicklung und Per­
sönlichkeitsformung.
4.4 Entwicklungsmotor Selbststeuerung - Die Erzieherin als Ermöglicherin
Menschliche Entwicklung als Prozess der Selbststeuerung – so lässt sich die dritte vorherrschende
Entwicklungsauffassung im letzten Jahrhundert kennzeichnen. Das Kind als Partner zu sehen und
ihm alle Möglichkeiten einzuräumen, seine Entwicklungsbedingungen selbst zu schaffen, ihm keine
Einschränkungen aufzuerlegen, dieser Versuch wurde in der antiautoritären und antipädagogischen
Erziehung mit dem Anspruch unternommen, das klassische erzieherische Verhältnis von Unterord­
nung des Kindes unter die Erziehungsvorstellungen von Erwachsenen aufzulösen. „Die einzige
Regel bei uns in der Kita ist, dass es keine Regel gibt“. Hilflosigkeit und Überforderung auf Seiten
der Erzieherin und der Eltern führten nicht selten dazu, dass antiautoritäre Erziehung in einen Lais­
sez-Faire-Stil überging, in dem die Kinder sich selbst überlassen wurden. Selbst von den Kindern
kamen hilflose Ausrufe „Müssen wir denn heute wieder machen, was wir wollen?“ (vgl. auch Bott
1970).
4.5 Motoren kindlicher Entwicklung – der heutige Blick
Zugegeben, in völlig reiner Ausprägung sind diese drei Hauptsichtweisen eher selten gewesen. Zu
allen Zeiten der Kleinkind- und Vorschulpädagogik haben sich die drei Sichtweisen miteinander
gemischt. Zu allen Zeiten hat es auch progressive, reformpädagogische Bestrebungen einer integra­
tiven Sicht auf das Kind als aktiven Gestalter seiner eigenen Entwicklung gegeben. Die Aufführung
der drei Extrempositionen ist auch nicht als historische Abfolge zu verstehen. Sie soll eher den
Blick auf die eigene Haltung der Erzieherin im Hinblick auf ihre Rolle in der kindlichen Entwick­
lung lenken, die sich je nach eigener Verortung in einem der drei Entwicklungsmotoren unter­
schiedlich manifestiert: Alle drei Hauptrichtungen unterscheiden sich insbesondere im Aspekt der
Beziehung zwischen Kind und Erzieherin. Der Blick auf das Kind, seine Möglichkeiten und seinen
Bildungs- und Entwicklungsprozess wird durch die Brille der eigenen Verankerung in diesen Haup­
trichtungen gefiltert.
Erfahrungen, die aus den Erziehungsvorstellungen vergangener Jahrzehnte gezogen wurden und die
neue Erkenntnisse der entwicklungspsychologischen Forschung verdeutlichen, dass es keine Domi­
nanz eines Entwicklungsmotors gibt. Alle drei Motoren bestimmen in einem komplizierten Wech­
selspiel, wie Menschen zu dem werden, was sie sind. In den Genen angelegte individuelle Leis­
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tungsfähigkeiten entfalten sich nur unter bestimmten Umweltanregungen, und wenn das Kind bes­
timmten Neigungen nicht selbststeuernd nachgehen will, so nutzen die besten Talente und
Erziehungsprogramme nichts. Entwicklung wird heute als „Handeln im Kontext“ (Silbereisen &
Eyferth 1986) verstanden, als aktiver Prozess des Menschen, der sich mit seiner Umwelt genauso
wie mit seinen körperlichen Leistungsvoraussetzungen auseinandersetzt. Diese interaktionistische
Perspektive haben die Bildungsgrundsätze aller Bundesländer gemein.
Die Bildungsgeschichte der Erzieher und die Art der Ausbildung wirken aber auch unter dem verän­
derten Bildungsverständnis, wie es in allen Bildungsleitfäden der Bundesländer dargelegt ist, nach.
Wie können wir von den Erziehern Dinge verlangen oder erwarten, die sie selber in ihrer Lernbi­
ographie nicht erfahren oder während der Ausbildung gelernt haben? Zu DDR-Zeiten gab es
konkrete Tagesabläufe, die eingehalten werden mussten, und auch in der BRD wurden die Kinder
gezielt gefördert, dass sie den Anforderungen der Grundschule oder der Kinderärzte gerecht werden
konnten. In beiden Teilen Deutschlands stand das Produkt, ein braves, fleißiges, schlaues Kind im
Vordergrund, das die gesellschaftlichen Erwartungen erfüllte. Der Prozess, den jedes Kind individu­
ell durchläuft, wurde nicht ausreichend differenziert wahrgenommen. Das Kind sollte eine
vorgegebene gesellschaftliche Norm am Ende der Kindergartenzeit erreichen. Unser Augenmerk
richtet sich aber nun mehr auf den Prozess und die individuelle Mannigfaltigkeit der Fähigkeiten,
Interessen und Kompetenzen der Kinder.
Es ist für die Erzieher keine leichte Aufgabe, ihre bisherige Arbeitsweise zu verändern. Viele
Erzieher üben ihren Beruf schon seit Jahren aus und müssen erst einsehen, dass es nicht darum geht,
es früher falsch gemacht zu haben, sondern darum, es jetzt entsprechend der veränderten
gesellschaftlichen Bedingungen anders machen zu können. Aus diesem Grund sollten die Erzieher
in diesem Prozess durch Fortbildungsmaßnahmen intensiv unterstützt werden.
4.6 Die neuen Bildungsgrundsätze im Praxistest – Konflikte lauern überall
Die neuen Bildungsgrundsätze der Bundesländer berücksichtigen weitestgehend die neuen Erkennt­
nisse der Entwicklungspsychologie und der pädagogischen Forschung. Individuelle Leistungsunter­
schiede der Kinder werden von den Programmen aufgegriffen, Anregungen für die Gestaltung der
Umwelt der Kinder werden gegeben, Bildungsbereiche formuliert, und es wird auf den Selbstbil­
dungsprozess der Kinder fokussiert, den die Erzieherin beobachten, dokumentieren und (im unter­
schiedlichen Ausmaß je nach Bundesland) auch direkt anregen soll. Verschwunden sind mit den
Bildungsgrundsätzen die bisher klaren Vorstellungen von der Rolle als Erzieherin. Der organ­
isatorische Alltag in zahlreichen Kindertagesstätten hat sich durch das neue Bildungsverständnis
bisher kaum geändert. Er ist nach wie vor durch Vorgaben der Erzieherinnen, feste Strukturen, feste
Zeiten für Mahlzeiten, Mittagsruhe und Hofzeit gekennzeichnet.
Was bedeuten die neuen Bildungsgrundsätze nun für den Alltag einer Erzieherin? Wie könnte die
neue Rolle der Erzieherin aussehen? Oder gibt es DIE Rolle der Erzieherin überhaupt noch? Zur
Klärung wird der Begriff der Rolle nach Linton (1979) als die Gesamtheit der dem Status der
Erzieherin zugeschriebenen gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen definiert. Wie also
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füllt jede Erzieherin ihre Spiel- und Handlungsfreiräume innerhalb der kulturell definierten Er­
wartungen aus? Wie hat sie selbst die auch historisch je nach vorherrschender Erziehungsideologie
(siehe Kap. 6) unterschiedlich vorgegebene Rolle verinnerlicht? Welche Veränderungen ergeben
sich aus der aktuellen Bildungsdebatte für die Rolle der Erzieherin?
Wo klare Vorstellungen davon fehlen, wie viel Erziehung nötig und wie viel Selbststeuerung
möglich sein sollten, macht sich Ratlosigkeit unter den Erzieherinnen breit. Die pädagogischen
Leitideen haben durch die interaktionistische Perspektive zwangsläufig ihre Prägnanz und Klarheit
verloren. Der Versuch, verschiedene Ansätze zu integrieren, birgt die Gefahr von Unsicherheit über
das eigene pädagogische Selbstverständnis und Beliebigkeit in der Arbeit. Konflikte lauern dabei an
ganz verschiedenen Stellen:
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Es kollidieren der Wunsch von Erzieherinnen, Kindern etwas beizubringen und der
Anspruch, Selbstbildungsprozesse zu begleiten. Wie soll ich dem Kind das Schneiden mit
der Schere beibringen, wenn es sich nicht für Schereschneiden interessiert?
Es kollidieren Interessen der Eltern an vorzeigbaren Produkten der Kinder und der Anspruch
der Bildungsgrundsätze, vom Leistungsdenken wegzukommen.
Es besteht ein tiefer Widerspruch zwischen dem, wie Kindertagesstätten nach den neuen Bil­
dungsgrundsätzen gestaltet werden (offene Arbeit, Angebotsorientierung, Themen der
Kinder) und dem, was Schulen an Schulfähigkeit bei den Kindern fordern (Lehrerzen­
trierung, Konzentration, Fachvorgaben).
Es existieren zwischen den Erzieherinnen selbst einer Einrichtung gravierende Unterschiede
in der Auffassung davon, was „normale“ Entwicklung ist, welche Erziehungsziele existieren
und welche Kriterien den Nachweis ermöglichen, dass diese Erziehungsziele bei den
Kindern erreicht sind. Das Instrument der Beobachtung und Dokumentation wird nicht sel­
ten dafür gebraucht, um über eine Hintertür doch den alten Defizitblick auf das Kind zu
reaktivieren und spezifische Fördermaßnahmen zu planen.
Die Unsicherheit der Erzieherinnen über ihre eigene Rolle und ihr Selbstverständnis führt
dazu, dass gegenüber den Eltern, aber auch insbesondere gegenüber der Schule die eigenen
Positionen kaum selbstbewusst vertreten werden. Mit anderen Worten: modernste päda­
gogische und entwicklungspsychologische Erkenntnisse finden durch die neuen Bildungs­
grundsätze in den Kindertageseinrichtungen endlich ihre Verwirklichung, aber gegenüber El­
tern und Schulen werden diese verschämt versteckt. Insbesondere die Allmacht der Schule
bleibt unangetastet. So wird auch die Chance vertan, die Schulen zu Reformen zu drängen,
die neuen lernpsychologischen Erkenntnissen besser entsprechen würden.
Konstruktivistische Lernauffassungen stellen eine der letzten Bastionen des Selbstverständ­
nisses von Erzieherinnen in Frage: den Wissensvorsprung vor den Kindern durch die längere
Lebenserfahrung und Schulbildung. Der Gedanke, dass das eigene Wissen und die eigenen
Fähigkeiten nicht besser, sondern höchstens alltagserprobter sind als das Wissen und die
Fähigkeiten der Kinder, stellt eine zusätzliche Bedrohung für die eigene wackelige Rolle dar.
Die Erzieher sehen sich nun mit der Umsetzung der Bildungspläne konfrontiert, die in
schriftlicher Form vorliegen und nicht nur den Selbstbildungsprozess des Kindes in den
Vordergrund stellen. Sie beinhalten verwirrender Weise auch konkret definierte Bildungs­
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bereiche, die alle mit einbezogen werden sollen und dem freien Arbeiten eher im Weg ste­
hen.
Diese Konflikte werden von Erzieherinnen selbst erlebt, und sie werden auch in die Teams der
Kindertagesstätten hineingetragen. Ideen, wie Kitateams sich mit diesen Fragen konstruktiv au­
seinandersetzen und für sich tragfähige Lösungen finden können, sind bisher rar. Teamfortbildun­
gen zu Fragen des erzieherischen Selbstverständnisses sind noch rarer als Fortbildungsangebote, in
denen die Bildungsbereiche der neuen Bildungsgrundsätze durchdekliniert werden. Hier ist ein Um­
denken erforderlich. Durch zielgerichtete Unterstützungsangebote und neue Methoden von Team­
fortbildungen kann die aktuelle Dynamik durch die Implementierung der neuen Bildungsgrundsätze
dafür genutzt werden, tatsächlich zu einem neuen Selbstverständnis in der eigenen Rolle als
Erzieherin zu kommen. Es gibt Beispielkindergärten, die das Konzept bereits umgesetzt haben und
als Vorbild dienen können. Da aber nicht die Veränderung der Einrichtung an sich im Vordergrund
steht, sondern jede Erzieherin für sich entscheiden muss, wie sie den neuen Anforderungen gerecht
werden kann, scheint die Unterstützung auf individueller Ebene mindestens genauso sinnvoll wie
kitaübergreifende Angebote. Ansätze für entsprechende rollenzentrierte Fortbildungsangebote
befinden sich derzeit in Evaluation. Ohne spezifische Fortbildungen dominiert bei vielen
Erzieherinnen der Gedanke, dass die neuen Bildungsprogramme „so neu“ gar nicht seien und sich
durch leichte Modifikationen der Alltagsgestaltung auch ohne inneres Nachvollziehen der mit ihnen
verbundenen neuen Sicht auf frühkindliche Bildung umsetzen ließen.
5. Zusammenfassung: Die neuen Rollen der Erzieherinnen
Die Herausforderung für die Erzieherinnen ist groß: Ein neues Bildungsverständnis und die damit
verbundenen Veränderungen im Umgang mit Kindern sollen nun in den Kita-Alltag Einzug halten.
Was geschieht nun aber mit den Erzieherinnen und ihrer bisherigen Arbeitsweise?
Die bisher gesellschaftlich gewünschte Rolle der Erzieherin als „Macherin“ wird nun durch einen
Kanon verschiedener anderer Rollen ersetzt. Erzieherinnen sollen jetzt Begleiterin, Beobachterin,
Freundin, Partnerin oder Unterstützerin der Kinder sein, aber nicht mehr Animateurin, Allwissende,
Bewerterin oder Richterin.
Der Umgang mit Kindern erfordert bereits ein flexibles Arbeiten und individuelles Eingehen auf
den Einzelnen. Es gibt in den verschiedenen Situationen im Kitaalltag wechselnde Anforderungen
an die Arbeit der Erzieherin, die unterschiedlichen Rollen entsprechen. Diese machen es möglich,
individueller auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Kinder einzugehen, erfordern aber auch jedes
Mal aufs Neue eine Entscheidung, welche Rolle die Erzieherin in der jeweiligen Situation dem Kind
gegenüber einnimmt. Diese Umstellung auf ein flexibles Rollenverständnis der Erzieherin kann
nicht sofort erfolgen, sie braucht Zeit und Unterstützung. Da dieser Schritt nicht einfach ist, wird
deutlich, warum sich viele Erzieherinnen mit der neuen Situation so schwer tun.
Durch die Theorie des Konstruktivismus, dem veränderten Verständnis von den Bedürfnissen, den
Möglichkeiten und den Potenzialen des frühkindlichen Bildungsprozesses, kommt der Arbeit der
Erzieherin eine neue Bedeutung zu. Stärker denn je geht es darum, die Kinder in ihrem Selbstbil­
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dungsprozess zu unterstützen. Die Umsetzung erfordert nicht nur eine Veränderung des Blick­
winkels und der Sichtweise der Erzieherinnen auf die Kinder, es erfordert eine flexiblere Gestaltung
des Tages, der Angebote und der Zusammenarbeit mit den Eltern.
Dadurch definieren sich auch die konkreten Alltagsaufgaben der Erzieherinnen neu. Eine aktive
minutiöse Planung des pädagogischen Alltags und die Gestaltung von Angeboten für alle Kinder
sind nun nicht mehr zentral. Erzieherinnen können nun mehr Zeit damit verbringen, die Kinder zu
beobachten, ihnen Angebote zu machen, sie aber selber entscheiden zu lassen, welches sie davon
nutzen möchten und sie dann ihren Erfahrungen zu überlassen. Die dadurch entstandene Zeit lässt
sich dazu nutzen, die Beobachtungen zu dokumentieren, oder mit interessierten Kindern Antworten
auf Fragen zu finden, die die Kinder beschäftigen. Kinder in ihrem Selbstbildungsprozess zu unter­
stützen heißt vor allem, sich mehr zurück zu nehmen. Präsent und ansprechbar zu sein, aber nicht
die allwissende Erzieherin, sondern die interessierte Begleiterin. Diese Umstellung ist schwierig
und für das Selbstbild der Erzieherinnen besser zu verkraften, wenn sie selber überzeugt von der Art
und Weise sind, mit den Kindern umzugehen. Nur dann können sie auch Kritik standhalten und
ihren Standpunkt gegenüber den Eltern, dem Kinderarzt oder dem Grundschullehrer vertreten.
Es bedarf zum einen viel Zeit und zum anderen kompetenter Hilfe von außen. Die Erzieherinnen
müssen zuerst verstehen, warum sie anders arbeiten sollen und wie dies zu erreichen ist. Die Frage,
die geklärt werden sollte, ist: „Was hat es bisher bedeutet, den Beruf der Erzieherin auszuüben, und
was bedeutet es jetzt?“ Zudem bergen die Konzepte der Bundesländer Gefahren in sich, die darin
bestehen, dass die Erzieherinnen sich auf die Umsetzung der verschiedenen Bildungsbereiche
beschränken und nicht ihre Arbeits-, bzw. Sichtweise ändern. Eine Leseecke und eine Werkbank
können erste Schritte sein, bleiben aber halbherzig, wenn der hinter den Bildungsgrundsätzen ste­
hende Leitgedanke nicht verstanden oder nicht akzeptiert wird.
Leitgedanke aller Bildungspläne ist, die Toleranz und Akzeptanz den Kindern gegenüber zu er­
höhen, sie ernst zu nehmen mit ihren Wünschen und Bedürfnissen, ihnen zu vertrauen und ihnen
zuzutrauen, sich selbst zu bilden und sie vor allem in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen.
Die kindliche Sichtweise der Dinge nicht als falsch zu sehen, sonders als anders gegenüber der
erwachsenen Sichtweise, gibt auch uns die Chance, die Welt mit anderen Augen zu entdecken.
6. Ausblick
Kinder in ihrer Entwicklung und ihrem Selbstbildungsprozess optimal zu unterstützen, ist die
wichtigste Aufgabe aller, die mit ihnen zusammenleben und zusammenarbeiten. Erzieherinnen sind
sich dieser Aufgabe bewusst, sie stellt für sie das zentrale Element ihrer pädagogischen Arbeit dar.
Neue Bildungsgrundsätze können ihnen dafür Handreichung sein. Voraussetzung dafür ist jedoch,
dass Erzieherinnen dabei unterstützt werden, wenn sie sich auf den Weg machen, mit neuen Ideen
die pädagogische Arbeit neu auszurichten und ihre eigene Rolle im kindlichen Bildungsprozess neu
zu definieren. Um neue Sichtweisen umsetzen zu können, müssen die damit verbundenen Ängste,
Vorurteile und Schwierigkeiten der Erzieher ernst genommen werden. Sie brauchen kompetente
Unterstützung und Begleitung in dem Prozess, damit sie sich nicht alleingelassen und überfordert
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mit der neuen Aufgabe fühlen. Die Frage nach der optimalen Form der Unterstützung für die
Erzieherinnen konnte bisher nicht ganz geklärt werden. Sicher ist jedoch, dass allein die Herausgabe
der Bildungspläne nicht gewährleistet, dass diese auch umgesetzt werden. Die Erzieherinnen sollten
durch kompetente Fachleute in Seminaren für die neuen Aufgaben sensibilisiert werden. Vor allem
auf Leitungsebene der Kindertagesstätten muss dieses neue Bildungskonzept akzeptiert und umge­
setzt werden, um den Erzieherinnen den nötigen Rückhalt zu geben. Der Austausch und die Kom­
munikation untereinander müssen auf allen Ebenen stattfinden und gefördert werden. Sowohl zwis­
chen den Kolleginnen, als auch zwischen Erzieherinnen und Eltern und ebenso zwischen
Erzieherinnen und Grundschullehrern, damit die Erzieherinnen sich nicht alleingelassen fühlen und
nicht befürchten müssen, sie seien allein verantwortlich für die Umsetzung eines neuen Verständ­
nisses frühkindlicher Bildung.
Autoren
Prof. Dr. Malte Mienert
Arbeitsgruppe Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie
Universität Bremen
E-Mail: [email protected]
Homepage: http://www.ent-paed-psy.uni-bremen.de/mienert/homepage.htm
Dipl.-Päd. Heidi Vorholz
E-Mail: [email protected]
Homepage: http://www.vorholz-berlin.de/
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Zitation
Empfohlene Zitation:
Mienert, Malte & Vorholz, Heidi (2007). Umsetzung der neuen Bildungsstandards in
Kindertagesstätten - Chancen und Schwierigkeiten für Erzieherinnen. In: bildungsforschung,
Jahrgang 4, Ausgabe 1,
URL: http://www.bildungsforschung.org/Archiv/2007-01/standards/
[Bitte setzen Sie das Datum des Aufrufs der Seite in runden Klammern und verwenden Sie die
Kapitelnummern zum Zitieren einzelner Passagen]
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