Das Y-Chromosom als forensischer und

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Das Y-Chromosom als forensischer und
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Forensische Molekularbiologie
Das Y-Chromosom als forensischer
und genealogischer Marker
LUTZ ROEWER, MARIA GEPPERT, JOSEPHINE PURPS, SASCHA WILLUWEIT
ABTEILUNG FORENSISCHE GENETIK, INSTITUT FÜR RECHTSMEDIZIN UND
FORENSISCHE WISSENSCHAFTEN, CHARITÉ – UNIVERSITÄTSMEDIZIN BERLIN
DNA markers on the human Y chromosome are used as an investigative
tool in crime labs all over the world. Especially in sexual assault cases the
Y chromosome provides essential evidence. Because male relatives share
for several generations an identical Y chromosome profile and paternal
relatives tend to live in the geographic and cultural territory of their
ancestors, the Y chromosome analysis can also infer the probable geographic origin of an unknown male DNA.
10.1007/s12268-014-0497-z
© Springer-Verlag 2014
A
Die Rolle der Y-chromosomalen
Analyse in der forensischen Genetik
ó Die forensische DNA-Analyse liefert Informationen zur Identität eines Spurenlegers,
deren Beweiswert anderen Methoden überlegen ist. Nur wenige menschliche Zellen reichen heute aus, um innerhalb von zwei Stunden einen individuellen DNA-Code zu generieren, der außer bei eineiigen Zwillingen kein
zweites Mal existiert. Die dafür in der forensischen Genetik verwendeten DNA-Loci sind
short tandem repeats (STRs), kurze, repetitive Motivketten, die durch Mutation unterschiedliche Motivzahlen und damit Kettenlängen aufweisen. Die Mutationsraten sind an
solchen repetitiven Loci enorm erhöht, die
B
˚ Abb. 1: Analyse einer Abriebspur von der Kleidung einer Frau, die Opfer einer Sexualstaftat wurde. A, autosomale STR-Analyse, die nur Merkmale
der Geschädigten zeigt. Eine beigemischte Komponente, die von einer männlichen Person stammen könnte, ist nicht zu erkennen. B, Analyse desselben
DNA-Extrakts mit der Y-chromosomalen STR-Analyse. Die Merkmale eines Mannes sind vollständig identifizierbar, das weibliche DNA-Muster inter feriert nicht.
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40 Sexualstraftaten
8 Fälle
Informatives autosomales
DNA-Profil vom Mann
10 weitere Fälle
Informatives YSTR-Profil vom
Mann
22 Fälle
Ohne Ergebnis
˚ Abb. 2: Pilotstudie aus dem Jahr 2011 zum Workflow bei der Analyse von Sexualstraftaten,
durchgeführt an der Charité Berlin. Unter 40 Fällen ergab sich nur in acht ein identifizierbares
männliches Profil in der Mischspur, 32 Fälle blieben in der konventionellen Analyse ohne Information zum möglichen Täter. In der Mann-spezifischen Y-chromosomalen Analyse kamen zehn Fälle
hinzu, in denen ein beweiskräftiges männliches Profil gefunden wurde, nahezu eine Verdoppelung.
˚ Abb. 3: Vereinfachte Phylogenie des Y-Chromosoms und geografische Verteilung der Hauptgruppen A bis R (aus [4]).
Wahrscheinlichkeit einer Motiv-Insertion oder
-Deletion während der Meiose ist bis zu eine
Million Mal höher als ein Basenaustausch
(Substitution), der einen SNP (single nucleotide polymorphism) generiert. Dadurch findet
sich in der Bevölkerung an jedem dieser hoch
polymorphen Loci ein breites Spektrum verschiedener Varianten, die entsprechend den
Mendelschen Regeln vererbt werden. Die Allele werden durch fluoreszenzmarkierte Primer
während der PCR markiert, anschließend
durch Kapillarelektrophorese der Länge nach
aufgetrennt und detektiert. Die Codierung der
Varianten erfolgt nach der Zahl ihrer Motive,
sodass sich bei Kombination mehrerer
Sequenzen von verschiedenen Chromosomen
ein einfacher numerischer Code ergibt. Diese
DNA-Profile sind typisch für jeden Menschen,
können im Hochdurchsatz generiert und miteinander verglichen werden, und zwar direkt
zwischen möglichem Spurenverursacher und
biologischer Spur oder durch Recherche von
polizeilichen DNA-Datenbanken, die Spurenund Personenprofile speichern.
Auch das Y-Chromosom besitzt STRs in seinen ausgedehnten nicht-codierenden Regio-
nen [1]. Da keine Rekombination stattfindet,
werden die STR-Allele mehrerer untersuchter Loci als festes Ensemble, als Haplotyp,
entlang der Patrilinie vererbt. Dieses DNAMuster beibt so lange unverändert, bis eine
spontane meiotische Mutation eine neue Variante kreiert. Ein Y-chromosomaler Haplotyp
definiert also, anders als ein individueller
autosomaler Genotyp, eine Gruppe von Männern innerhalb einer väterliche Genealogie.
Welche Vorteile ergeben sich daraus für die
forensische DNA-Analyse? Der erste Vorzug
liegt auf der Hand: Y-chromosomale Marker
sind geschlechtsspezifisch und eignen sich
zur Analyse von DNA-Spuren männlicher Herkunft. Die überwiegende Zahl der Straftaten
gegen Leib und Leben wird von Männern
begangen, darunter laut Kriminalstatistik
99 Prozent der Vergewaltigungen. In diesen
Fällen entstehen häufig unbalancierte Mischspuren aus viel weiblicher und wenig männlicher DNA. Bei der konventionellen autosomalen STR-Analyse werden bei der Analyse
solcher Spuren die männlichen Allele durch
die weit stärkeren Signale des weiblichen
Opfers überlagert. Ursächlich dafür ist die
präferenzielle Amplifikation. Das heißt, dass
in den ersten PCR-Zyklen die stärker konzentrierte DNA-Komponente einer Mischung
aufgrund der Primerkonkurrenz effizienter
amplifiziert wird als der geringer konzentrierte Anteil. Dies hat zum Ergebnis, dass
die beiden Komponenten der Mischung nicht
in ihren wahren Proportionen detektiert werden. Die gering konzentrierte Komponente
wird schon unterhalb eines Mischungsverhältnisses von 1:10 in der Elektrophorese
unsichtbar, selbst wenn die absolute DNAMenge für die Detektion völlig ausreichen
würde. Wenn dagegen in der PCR-Analyse
Y-chromosomaler Marker die weibliche Komponente als Target nicht um die Primer konkurriert, wird die männliche DNA quantitativ
amplifiziert (Abb. 1). Wird also eine potenzielle DNA-Mischspur, z. B. ein Vaginalabstrich oder eine Kontaktspur (Epithelzellen
eines männlichen Angreifers auf der Haut
oder Kleidung der geschädigten Frau), mit
der konventionellen autosomalen DNA-STRAnalyse untersucht, gehen Beweise zum Täter
und zum Tathergang verloren. Deshalb wird
heute in den meisten forensischen Labors für
potenzielle Mischungen männlicher und weiblicher DNA eine parallele Analyse autosomaler und Y-chromosomaler Marker durchgeführt [2]. An der Charité in Berlin wird diese
Strategie bereits seit mehreren Jahren für die
forensische Untersuchung von Sexualdelik-
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ten angewandt. Die Zahl der beweiskräftigen
DNA-Profile je Fall wurde durch den Einsatz
der Y-chromosomalen Analyse verdoppelt, wie
die Pilotstudie von 2011 zeigt (Abb. 2). Noch
erfolgt die Spurenanalyse mit zwei unterschiedlichen Kits – standardisierte, kommerzielle Primer-Mischungen für gegenwärtig
16 autosomale bzw. 23 Y-chromosomale STRMarker. Es wird jedoch bereits erprobt, wie
eine biologische Spur mittels der Technologie des Next Generation Sequencing in einem
einzigen Sequenzierlauf für Hunderte autosomale und gonosomale DNA-Loci gleichzeitig analysiert werden kann.
Und nicht nur die Identifizierung, für die
die STR-Sequenzen ideale Werkzeuge sind,
ist möglich. Y-chromosomal lokalisierte SNPs
können die Herkunft einer unbekannten
männlichen DNA (eines Straftäters, einer
unbekannten Leiche) mit relativ großer
Genauigkeit auf Kontinente und sogar Regionen eingrenzen [3]. Dazu wird die phylogeografische Analyse genutzt, deren Grundlagen
im Folgenden kurz skizziert werden.
Das Y-Chromosom als genealogischer
und geografischer Marker
Nach der Koaleszenztheorie müssen die durch
ihre SNP-Varianten unterscheidbaren Y-chromosomalen Linien der gegenwärtigen Bevölkerung zwangsläufig bei einem letzten
gemeinsamen Vorfahren, der vor Jahrtausenden lebte, zusammenfließen. Dieser letzte
gemeinsame Vorfahr oder MRCA (most recent
common ancestor) ist der „Y-chromosomale
Adam“. Alle anderen Varianten des Y-Chromosoms, die zur Zeit des MRCA existierten,
starben früher oder später aus. Die seither
akkumulierten Mutationen, die im Laufe der
Zeit und an unterschiedlichen Orten an die
nachfolgenden Generationen vererbt wurden,
definieren Äste eines Stammbaums (Phylogenie), der aus dieser Wurzel emporwuchs.
Unter der Annahme neutraler Evolution der
hier betrachteten SNP-Marker, konstanter
lokaler Mutationsraten von ca. 10–8, Generationszeiten von 25 bis 35 Jahren sowie einer
bis zum Neolithikum kaum veränderten effektiven Populationsgröße von ca. 5.000 wird der
MRCA aller rezenten Y-Chromosomen auf ein
Alter von nur 90.000 Jahren datiert [4]. Bis
heute wurden mehr als 400 verschiedene
Hauptäste der Phylogenie mit ca. 600 binären SNP-Markern definiert [5]. Als nomenklatorische Konvention gilt, dass jeder durch
einen (oder mehrere synonyme) Marker definierte monophyletische Ast des Stammbaums
mit einem Großbuchstaben bezeichnet wird
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(Haplogruppen A bis R, Abb. 3). Den Verzweigungen unterhalb der Hauptknoten werden abwechselnd Zahlen und Kleinbuchstaben zugeordnet, die eine immer feinere Auflösung erlauben, sofern entsprechende Marker und zumindest ein vollständig typisiertes Y-Chromosom eines Individuums mit dem
betreffenden Haplotyp als Referenzprobe zur
Verfügung stehen. Zum Beispiel kann der
eurasische Ast R aufgelöst werden in den in
Osteuropa dominierenden Cluster R1a und
den westeuropäischen oder „atlantischen“
Cluster R1b. Die nächste wichtige Gabelung
führt zu den R1b1-Chromosomen, von denen
der Cluster R1b1b2 abzweigt, dem in Westund Mitteleuropa ca. 110 Millionen Männer
angehören. Diese Nomenklatur trägt der
Erweiterbarkeit der Phylogenie durch neu entdeckte Punktmutationen Rechnung, die
immer wieder weitere Knoten und Verzweigungen erzeugen [6]. Jede unbekannte männliche DNA kann daher durch hierarchische
Y-SNP-Analyse einem Ast des Y-chromosomalen Stammbaums zugeordnet werden. Da
dieser Stammbaum grundlegende demografische Episoden der Menschheitsgeschichte
widerspiegelt, kann nun aus dem SNP-Status
die wahrscheinlichste Herkunftsregion der
unbekannten DNA abgeleitet werden. Einige
Beispiele: Die erste Verzweigung des Dendrogramms A führt in den Süden Afrikas, zu
zwei der ältesten afrikanischen Populationen,
den San und Khoisan. Alle anderen Phylae
(B bis R), die einige afrikanische und alle
nicht-afrikanischen Linien einschließen, tragen zusätzliche Mutationen, die bei den
ursprünglichsten Afrikanern nicht vorkommen und die sie erst bei der Wanderung nach
Asien erworben haben. Die Haplogruppen C,
D und O sind z. B. beschränkt auf Ostasien
und Ozeanien, E auf Nordafrika, das südliche
Europa und das westliche Asien, N auf Sibirien und Finnland. Die Unterteilungen der
Haplogruppe P, insbesondere die Gruppen
R1a und R1b, sind Signale für zwei extreme
Gründereffekte im westlichen und östlichen
Europa während des Neolithikums. Unsere
Untersuchungen zeigten, dass sich in den
Habitaten Osteuropas ganz andere Y-Chromosomen ausgebreitet haben als in Westeuropa und dass deren Gradienten in Mitteleuropa aufeinandertreffen [7]. Dass diese
Stratifizierung stabil ist, hängt mit dem Einfluss kultureller Faktoren auf die Ortsgebundenheit (Patrilokalität) männlicher Clans
zusammen. Vor allem der Einfluss der Sprache ist groß. Beispielsweise ging die slawische Besiedlung Ostdeutschlands erst vor
wenigen Jahrhunderten zu Ende, und noch
heute weist die Bevölkerung dort einen höheren Anteil der Linie R1a auf, als es für den
Teil Deutschlands der Fall ist, der überwiegend von Westen besiedelt wurde. Die slawischen Sorben, die heute als Minderheit auf
deutschem Territorium leben, zeigen Y-Chromosomen, wie sie vor vielen Jahrhunderten
überall östlich der Elbe verbreitet waren [8].
Viele ähnliche erstaunliche Geschichten, z. B.
die enge Verwandtschaft der Inuit Alaskas
und Grönlands, erzählt die größte Y-chromosomale Datenbank der Welt, die YHRD
(Y Chromosome Haplotype Reference Database, http://yhrd.org). Seit dem Jahr 2000 an
der Charité in Berlin beheimatet, repräsentiert sie heute mehr als 132.000 Chromosomen aus fast 1.000 Populationen in 125 Ländern [9]. Von welchem anderen genetischen
Marker ließe sich behaupten, dass er nicht
nur Straftäter überführt und unschuldig Verurteilte entlastet [10], sondern auch Menschheitsfragen beantwortet?
ó
Literatur
[1] Roewer L, Arnemann J, Spurr NK et al. (1992) Simple
repeat sequences on the human Y chromosome are equally
polymorphic as their autosomal counterparts. Hum Genet
89:389–394
[2] Roewer L (2009) Y chromosome STR typing in crime casework. Forensic Sci Med Pathol 5:77–84
[3] Geppert M, Rothe J, Willuweit S et al. (2010) Geografische
Herkunftsbestimmung unbekannter DNA-Spuren.
Rechtsmedizin 20:270–274
[4] Roewer L (2008) Populationsgenetik des Y-Chromosoms.
Medizinische Genetik 20:288–292
[5] van Oven M, Van Geystelen A, Kayser M et al. (2014)
Seeing the wood for the trees: a minimal reference phylogeny
for the human Y chromosome. Hum Mutat 35:187–191
[6] Karafet TM, Mendez FL, Meilerman MB et al. (2008) New
binary polymorphisms reshape and increase resolution of the
human Y chromosomal haplogroup tree. Genome Res
18:830–838
[7] Roewer L, Croucher PJ, Willuweit S et al. (2005) Signature
of recent historical events in the European Y-chromosomal
STR haplotype distribution. Hum Genet 116: 279–291
[8] Krawczak M, Lu T, Willuweit S et al. (2008) Genetic diversity in the German population. In: Cooper, DN, KehrerSawatzki, H (Hrsg) The Encyclopedia of Life Sciences,
Handbook of Human Molecular Evolution. John Wiley & Sons
Ltd. Chichester, UK
[9] Roewer L, Parson W (2013) Internet accessible population
databases: YHRD and EMPOP. In: Siegel J, Saukko P (Hrsg)
Encyclopedia of Forensic Sciences. Academic Press, S 357–
364
[10] Hampikian G, West E, Akselrod O (2011) The genetics of
innocence: analysis of 194 U.S. DNA exonerations. Annu Rev
Genomics Hum Genet 12:97–120
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. Lutz Roewer
Institut für Rechtsmedizin und Forensische Genetik
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Virchow-Klinikum
Forum 4, Westring 3, Etage EO
Augustenburger Platz 1
D-13353 Berlin
Tel.: 030-450-525060
Fax: 030-450-525912
[email protected]
http://remed.charite.de, http://yhrd.org
AUTOREN
Lutz Roewer
Maria Geppert
Jahrgang 1961. 1987 Diplom in Biochemie, Universität Leipzig. 1990 Promotion, 2000 Habilitation an der HU Berlin.
2008 Berufung zum Professor für Forensische Genetik an
die Charité – Universitätsmedizin Berlin. Seit 1987 Leitung
der Abteilung Forensische Genetik am Institut für Rechtsmedizin und Forensische Wissenschaften der Charité, Berlin.
Jahrgang 1982. 2008 Diplom in Biologie, HU Berlin. 2014
Promotion. Seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Abteilung Forensische Genetik am Institut für Rechtsmedizin und Forensische Wissenschaften der Charité, Berlin.
Josephine Purps
Sascha Willuweit
Jahrgang 1983. 2008 Diplom in Biochemie, FU Berlin. Seit
2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Forensische Genetik am Institut für Rechtsmedizin und Forensische Wissenschaften der Charité, Berlin.
Jahrgang 1978. Bioinformatikstudium an der FU Berlin
(Bachelor und Master). Seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Forensische Genetik des Instituts
für Rechtsmedizin und Forensische Wissenschaften der
Charité, Berlin. Gemeinsam mit Prof. Dr. L. Roewer Kurator
der Y Chromosome Haplotype Reference Database (YHRD).
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