Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt -
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Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt -
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Was denkt und fühlt -das Gehirn oder die Seele? Von Barbara S. Eisenbeiss Auszug aus der der Zeitschrift MUSEION2000 2/97 Die Frage nach dem Ursprung von Gedanken und Gefühlen gehört seit jeher zu den Grundfragen des Menschen. Es geht dabei um nichts weniger als um die Definition seiner Persönlichkeit, seines Bewußtseins und seines Schicksals. Welche Vorstellungen man sich über den menschlichen Geist und seinen Ursprung macht, hängt im Wesentlichen von der persönlichen Weltanschauung ab: Während die einen ihn in den materiellen Strukturen und Funktionen des Körpers suchen, sehen andere in ihm ein immaterielles Lebensprinzip. Eine weitere Ansicht vertreten jene, die den Geist als ein Geschöpf aus einer jenseitigen Welt betrachten. file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (1 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Ein Zusammenhang zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen scheint zwar eine Binsenwahrheit zu sein; denn jeder weiss aus eigener alltäglicher Erfahrung, dass beispielsweise der Gedanke oder der Wille, den Arm zu heben, den Arm auch tatsächlich in die Höhe fahren lässt. Überlegt man sich aber diese selbstverständliche Tatsache genauer, so kommen Fragen auf: Wie können Gedanken und Gefühle, die man sich schliesslich als etwas Geistiges, Immaterielles vorstellt, Einfluss auf den Körper nehmen? Versucht man dieser Frage nachzugehen, so taucht unweigerlich die nächste Frage auf, nämlich diejenige nach dem Ursprung von Gedanken und Gefühlen: Woher stammen sie? Wo und wie entstehen sie? Sind sie das Resultat körperlicher Funktionen? Sind sie die Produkte des Gehirns, das Resultat neuronaler Aktivitäten, oder entstammen sie etwa einer Seele, die auf den irdischen Leib bloss einwirkt? Diese Fragen gehören zu den wesentlichsten Grundfragen der Philosophie, denn sie suchen nach dem eigentlichen Wesen des Menschen. Das Thema der Beziehung zwischen Körper und Geist ist unter dem Begriff »Leib-Seele-Problem« in die Geistesgeschichte eingegangen. Dieses beschäftigt jedoch nicht nur Philosophen und andere Geisteswissenschaftler, sondern es ist auch ein Thema der Naturwissenschaft, sei es der Medizin, der Physik, der Biologie oder seit neuerer Zeit auch der Gomputerwissenschaft. Auf welche Weise man die Fragen nach dem Ursprung des Geistes und seinem Verhältnis zum Körper angeht, hängt im wesentlichen mit der persönlichen Weltanschauung zusammen. Betrachten wir die verschiedenen Ansichten zum Leib-Seele-Problem, so zeigt sich, dass sie jeweils grundsätzlich unterschiedlichen Menschenbildern entspringen. Es handelt sich dabei zum Teil um völlig gegensätzliche Vorstellungen vom Menschen und seinem Schicksal. Der Zusammenhang zwischen diesen Vorstellungen und den darauf basierenden Ansichten zum Leib-Seele-Problem soll im folgenden an Hand der am meisten verbreiteten Sichtweisen aufgezeigt werden. Der materialistische Ansatz Als erstes kommen wir auf die Ansicht der Materialisten zu sprechen. Sie vertreten verschiedene Denkrichtungen, radikale und gemässigte. Gemeinsam ist aber allen, dass ihnen jeglicher Zugang zu einer geistigen Wirklichkeit fehlt. So sind sie der festen Uberzeugung, es gebe keinen selbständigen Geist, der Einfluss auf den Leib nehmen könne. Wenn sie von ,Seele‘ oder ,Geist‘ sprechen, so bezeichnen sie damit entweder einen bestimmten Teil des materiellen Körpers oder aber ein Produkt physischer Prozesse. Materialisten Altgriechenlands file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (2 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Radikale Materialisten gab es bereits im antiken Griechenland. Unter ihnen waren solche, die die Erkenntnis der Atomistik, die sichtbare Materie bestehe aus kleinsten unteilbaren Teilchen und das sichtbare Naturgeschehen sei auf die Eigenschaften und Bewegungen dieser Teilchen zurückzuführen, auch auf den Bereich des Geistes übertrugen. Diese ,Atomisten‘ nahmen an, selbst die Seele bestehe aus solchen Materieteilchen und alle mentalen Vorgänge und Prozesse seien entsprechend aus den Bewegungen dieser ,Seelenatome‘ zu erklären. Die Konsequenz dieser Ansicht war die Auffassung, die Seele gehe mit dem Tod und dem Zerfall des Körpers zugrunde. Einer, der diese Meinung vertrat, war der Trivialphilosoph Epikur (342—270 v.Chr.). Er missbrauchte die Erkenntnisse des Demokrit (um 469—370 v.Chr.), des Mitbegründers der Atomistik, um eine Lebenshaltung zu propagieren, die nur das persönliche Glück des einzelnen als Ideal anerkennt (Eudämonismus). Nach dem Untergang des freiheitlichen Griechenlands finden wir selten wieder unverhohlene Bekenntnisse zum Materialismus. Dies bedeutet jedoch bei weitem nicht, dass es nicht zu allen Zeiten Vertreter einer materialistischen Anschauung gegeben hätte. Eine solche Sichtweise hegen in der Regel Atheisten, und sie gibt es in jedem Volk und in jeder Epoche zuhauf; doch offen zuzugeben, dass man nur das für real hält, was man mit den irdischen Sinnen wahrnehmen kann, schien vor allem in früheren Jahrhunderten kaum opportun zu sein. Während die einen Achtung oder Repression befürchteten, mieden andere ein solches Bekenntnis, um nicht ihre Stellung als ,frommer Mensch‘ einzubüssen, die es ihnen ermöglichte, Eindruck zu schinden oder andere zu massregeln und zu beherrschen. Aufschwung in der Wissenschaft und bei Materialisten Erst im Zeitalter der Aufklärung wurden wieder materialistische Ansichten über das Wesen der Seele laut. Einer der ersten, der sich offen zu einem Materialismus bekannte, war der französische Philosoph und Arzt Julien Offroy de La Mettrie (1709—1751). Er belächelte die Bemühungen von Philosophen und Theologen, das Wesen der Seele erklären und ihre Wirkungsweise ergründen zu wollen. La Mettrie war der Meinung, es gebe gar nichts, was man als ,Seele‘ bezeichnen könne, es gebe nur eine einzige Substanz, und dies sei die Materie —was man Seele nenne, sei nichts anderes als Eigenschaft oder Tätigkeit des Leibes. Die Erklärungen La Mettries sind indes nicht nur die Reaktion auf eine jahrhundertelange religiöse Indoktrinierung durch verhasste Theokraten. Sie sind ebenso das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Fortschritte der Zeit. In der Medizin war man zu neuen Erkenntnissen bezüglich des menschlichen Körpers und seiner Funktionen gelangt, und man hatte erkannt, dass mentale Prozesse vom Vorhandensein eines Nervensystems abhängen. Als Arzt hatte La Mettrie die Fortschritte in der Medizin mitverfolgt und auf Grund der neuen file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (3 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Erkenntnisse der Anatomie des Gehirns und des Nervensystems den Schluss gezogen, sogenannte seelische Vorgänge oder Zustände seien nichts anderes als Gehirnfunktionen und die Arbeit motorischer und sensitiver Nerven. Alles, was empfindet, denkt und will, sei der Körper selbst. Als es im 19. Jahrhundert auf den Gebieten der Neurologie und der Physiologie zu einem grossen Aufschwung kam, gewann die materialistische Sichtweise immer mehr Anhänger. Die Entwicklung präziserer technischer Hilfsmittel, vor allem die Entwicklung besserer Mikroskope, machte es möglich, Genaueres über den histologischen Aufbau des Gehirns zu sagen. Auf Grund von Experimenten an Nerven zeigte sich beispielsweise, wie Körperbewegungen zustande kommen, genauer gesagt, man beobachtete, dass elektrische Impulse über die Nervenfasern in die Muskeln gelangen und diese zu Kontraktionen veranlassen. Um 1861 gelang es dem französischen Arzt und Anthropologen Paul Broca, das nach ihm benannte Sprachzentrum im Gehirn zu lokalisieren und so nachzuweisen, dass es im Gehirn verschiedene Regionen für bestimmte Aufgabenbereiche gibt. Je grössere Leistungen die moderne Wissenschaft aufzuweisen hatte, desto grösser wurde der Aufwind der Materialisten. Bestärkt fühlten sie sich im besonderen durch Beobachtungen, wie sie im folgenden Fall gemacht wurden: Mitte des letzten Jahrhunderts erfuhr die medizinische Fachwelt von einem Arbeitsunfall des 25 jährigen Bauarbeiters Phineas Gage: Bei einer Explosion hatte sich eine Eisenstange in seinen Kopf gebohrt und ihm das Gehirn durchstossen. Wie durch ein Wunder überlebte er und genas. Die ihn behandelnden Ärzte notierten, er sei zwar körperlich gesund, doch er habe einen frappanten Persönlichkeitswandel durchgemacht: »Er ist unstet, befleissigt sich der gottlosesten Flüche — was früher nicht seine Gewohnheit war—, nimmt wenig Rücksicht auf seine Mitmenschen, erträgt keinerlei Einschränkungen oder Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen zuwiderlaufen, ist zeitweise starrsinnig, dann wieder launenhaft und schwankend ... Sein Geist hat sich von Grund auf verändert, so einschneidend, dass seine Freunde und Bekannten sagen, er sei nicht länger Gage.« Materialistisch gesinnten Zeitgenossen schien der Fall zu beweisen, dass Moral, Vernunft, Persönlichkeit oder Identität in Wahrheit zur Maschinerie des Gehirns gehören und in den Stirnlappen sitzen, die der Eisenstab verletzt oder weggerissen hatte. Auf den Punkt brachte diese Ansicht der Physiologe Karl Vogt (1817—1895), der in seiner 1855 erschienenen Schrift »Köhlerglaube und Wissenschaft« erklärte, es werde immer klarer, »dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen des Gehirns sind oder, um es einigermassen grob auszudrücken, dass die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«. file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (4 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Mit Hilfe der Positronen -Emmissions-Tomograhie (PET) sichtbar gemachte Hirnaktivitäten einer Versuchsperson, die mit Sprache zusammenhängende intellektuelle Aufgaben ausführt. Seit der Endeckung des Sprachzentrums (1861) weiss man, dass es im Gehirn Teile gibt, die für bestimmzte Aufgabenbereiche zuständig sind. Dank modernen bildgebenden Verfahren können die aktiven, stärker durchbluteten Bereiche des lebenden Gehirns sichtbar gemacht werden. Moderne Materialisten In der heutigen Neurowissenschaft ist diese materialistische Sichtweise vorherrschend. Eine überwältigende Mehrheit der Forscher ist der Uberzeugung, die revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnisse der Neuzeit würden dafür sprechen, dass die Ursachen für das Verhalten des Menschen und höherer Tiere, welche uns die Existenz eines Bewusstseins anzudeuten scheinen, ganz allein in den physikalisch-chemisch zu erklärenden Aktivitäten des zentralen Nervensystems liegen. Der Nobelpreisträger Francis Crick, einer der berühmtesten Biochemiker und Neurowissenschaftler der Gegenwart, erklärt dies seinen Lesern folgendermassen: »Ihre Freude und Sorgen, Ihre Erinnerungen und Ambitionen, Ihr Gefühl persönlicher Identität und freien Willens sind eigentlich nicht mehr als das Verhalten einer Ansammlung von Nervenzellen und der zugehörigen Moleküle.« Freilich herrschen auch unter den materialistisch Gesinnten grosse Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Definition von Geist und Bewusstsein: Während die einen im Sinne Cricks den Geist als das Produkt von Nervenzellen betrachten, sind andere der Meinung, der Geist sei ein Teil der Materie selbst, genauer gesagt ein Teil jeder Nervenzelle. Einigkeit herrscht also nur in dem einen, aber entscheidenden Punkt: es gebe keinen vom Körper unabhängigen, selbständigen Geist; es gebe somit keine unsterbliche file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (5 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Seele, die Einfluss auf den Körper nehmen kann. Man ist so sehr vom Nichtvorhandensein einer eigenständigen Seele überzeugt, dass man ihre Existenz nicht einmal in Erwägung zieht, wenn man an das zu behandelnde Leib-Seele-Problem herantritt. So fragt beispielsweise der Philosoph John R. Searle: »Wie genau sind die neurophysiologischen Prozesse beschaffen, und wie bringen die Elemente der Neuroanatomie — Neuronen, Synapsen synaptische Spalten, Rezeptoren, Mitochondrien, Gliazellen, Transmitterflüssigkeiten und so weiter —bewusste sowie unbewusste mentale Phänomene hervor?« Oder es fragt Helmuth Benesch, ein deutscher Neurowissenschaftler, in seinem Buch »Der Ursprung des Geistes«: »Woher kommt der Geist? Wie sind die physiologischen Mechanismen geartet, mit deren Hilfe der menschliche Geist aufgebaut ist?« Solche Eingangsfragen lassen gar keine anderen Lösungen als materialistische zu. Dementsprechend kommt Benesch zum Schluss: »Die folgenden Sätze sind Schlüsselsätze für den neurowissenschaftlichen Lösungsprozess. Sie lauten: Unbezweifelbar gilt, der Geist des Menschen entsteht im Gehirn — das Gehirn des Menschen besteht auf fundamentalster Ebene aus Nervenzellen —,folglich: In den Nervenzellen des Gehirns bahnt sich in einfachster Weise der Ursprung des menschlichen Geistes an. Dies ist der bahnbrechende Ausgangspunkt der Neurowissenschaft!« Auf Grund solcher Aussagen von Neurowissenschaf tlern und natürlich auf Grund einer eigenen materialistischen Weltanschauung vertreten auch Wissenschaftler anderer Gebiete, vor allem aus der Robotertechnik und der Computerwissenschaft, die Meinung, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der Mensch Maschinen baue, die Bewusstsein, Geist, Gefühle und Intelligenz besitzen. Hans Moravec, Robotertechniker in Pittsburg, geht davon aus, in absehbarer Zeit Geschöpfe kreieren zu können, die in jeder Beziehung den Menschen übertreffen — nicht nur in bezug auf die Intelligenz, sondern auch auf die Gefühlswelt; denn diese sei bloss eine Frage der richtigen Programmierung. Roboter würden dereinst, so Moravec gemäss einem Interview in der Computerzeitschrift CHIP (8/1996), den Menschen beherrschen und ihn schliesslich sogar verdrängen »wie Kinder, die als nächste und stärkere Generation ihre Eltern verdrängen«. Selbst unter Psychologen gibt es Vertreter, die zwischen Computern und Menschen nur einen graduellen Unterschied zu erkennen vermögen. So erklärt Dietrich Dörner, Professor für Psychologie in Bamberg: »Auch Computer besitzen Leben. Ich weiss kein Argument,weshalb sie nicht leben sollten.« file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (6 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Die Seele ein unpersönliches Lebensprinzip? Eine weitere Ansicht über das Wesen der Seele vertreten jene, die in ihr eine immaterielle Grösse sehen in Form eines geistigen Lebens prinzips. Einer der ersten bekannten Vertreter dieser Ansicht war der dorische Naturphilosoph Anaxagoras. Der berühmteste Verfechter der Lehre vom Lebensprinzip wurde jedoch Aristoteles. Er bezeichnete die Seele als die zweck- und regelgebende Kraft des Körpers, als die »erste Wirklichkeit (Entelechie) eines von der Natur gebildeten, mit Organen ausgestatteten Körpers« . Pyramidenzellen des Großhirns, hier mit Hilfe der Golgi-Färbung sichtbar gemacht. Das menschliche Gehirn ist die komplexeste Struktur in unserem Universum. Es umfasst eine Billion Zellen; ungefähr 100 Milliarden davon sind Nervenzellen (Neuronen). In Netzwerken verknüpft, bilden sie das materielle Substrat mentaler Kapazitäten, wie Intelligenz, Keativität Gefühle, Gedächtnis und Bewusstsein. Die Seele hat nach Aristoteles zwar eine immaterielle Natur, doch sie hat ausserhalb des materiellen Körpers keine Sonderexistenz. Sie ist seiner Ansicht nach eine unpersönliche gestalt- und substanzlose Kraft. Körper und Seele verhielten sich zueinander wie das Wachs und die Kerze: der Körper stelle den Stoff dar und die Seele bilde dessen Form. Beide gehören laut Aristoteles untrennbar zusammen wie das Auge und das Sehvermögen. Alle mentalen Vorgänge, das heisst Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen, seien Produkte der Verbindung von Körper und Seele, wobei dem Herzen die wesentlichste Rolle in dieser Verbindungsarbeit zukomme. Weder der Körper noch die Seele sei allein in der Lage, zu denken oder zu fühlen; deshalb gehe mit dem file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (7 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? physischen Tod des Leibes notwendigerweise auch die individuelle Persönlichkeit des Menschen mit all ihren Erinnerungen, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften zugrunde. Was vom Menschen nacl seinem Sterben übrigbleibe, sei einzig ein unpersönliches Lebensprinzip. Die Vorstellung, die Seele se eine unpersönliche immateriel le Lebenskraft des Menschen erfreute sich zu allen Zeiten ei ner grossen Beliebtheit. In unse rer Zeit ist es vor allem unter Psychologen und Philosophen gang und gäbe, die Psyche des Menschen im Sinne des Aristoteles als geistiges Prinzip zu se hen, nämlich als »die Gesamtheit bewusster und unbewusster seelischer (insbesondere emotionaler) Vorgänge und geistiger beziehungsweise intellektueller Funktionen«. (Meyers Lexikon) Die Ursache für die weite Verbreitung der aristotelischer Auffassung von der Seele liegt zum einen im Umstand, dass sie sich vom radikalen Materialismus abhebt, den viele als unbefriedigend und sogar abstos— send empfinden; denn die aristotelische Seelenvorstellung versucht das Phänomen des Bewusstseins und des Geistes von etwas Immateriellem, Unfassbarem her zu erklären im Gegensatz zu den Materialisten, die meinen, es einzig auf Grund physikalischer Gegebenheiten verstehen zu können. Der entscheidende Grund für die Verbreitung der Lehre vom Lebensprinzip scheint jedoch die Tatsache zu sein, dass sie der Haltung unzähliger Menschen entgegenkommt, die nicht an die Unsterblichkeit der individuellen Persönlichkeit glauben, es aber in bewusster Abgrenzung zu den radikalen Materialisten für möglich halten, dass es ,etwas‘ im Menschen gibt, das den physischen Tod überlebt. Ob sich indessen dieser Glaube tatsächlich vom Materialismus abhebt, ist fraglich; denn man glaubt ja gar nicht an die Existenz eines körperunabhängigen, individuellen Geistes. Man glaubt bloss an ein immaterielles ,Prinzip‘. — Doch was ist ein ,Prinzip‘? Was heisst das in bezug auf die einzelne Persönlichkeit und ihr Schicksal? Anscheinend haben bereits im Altertum verschiedene Denker in der aristotelischen Anschauung einen verkappten Materialismus ausgemacht. So berichtet Cicero über Dikaiarch, einen Schüler des Aristoteles, der in seinem Theaterstück »Gespräche von Korinth« einen Greis namens Pherekrates folgendes auseinandersetzen lässt: »Die Seele ist überhaupt nichts. Sie ist ein leerer Name, und ohne Grund heisst man etwas beseelt. Weder im Menschlichen wohnt eine Seele oder ein Geist, noch im Tier. All die Kraft, mit der wir etwas tun oder empfinden, ist in alle lebenden Körper gleichmässig ergossen und ist untrennbar vom Körper, da sie keine selbständige Existenz hat.« file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (8 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Mischformen Neben den materialistischen Seelenvorstellungen einerseits und den aristotelischen andererseits gibt es eine Vielzahl weiterer Anschauungen über das Wesen und die Bestimmung der Seele beziehungsweise des Geistes. Vielfach handelt es sich dabei um ,Mischformen‘, das heisst um Vorstellungen, die mehr oder weniger von materialistischem und aristotelischem Gedankengut durchdrungen sind. Eingeflossen sind aber auch Ansichten, wie sie in der sogenannten platonischen Philosophie und den Glaubensvorstellungen der frühen Christen zum Ausdruck kommen. (Auf dieseVorstellungen wird im nächsten Kapitel eingegangen.) Die bedeutungsvollsten dieser Mischformen sind die Lehren der katholischen Theologie und die Ansichten des französischen Mathematikers und Philosophen René Descartes (1596 bis 1650). Die katholische Auffassung von der Seele In der römischen Kirche wird vor allem seit der Scholastik die aristotelische Sichtweise vertreten. Thomas von Aquin (1226—1274), eine der grössten Autoritäten der katholischen Theologie, hatte mit der Erhebung des Aristoteles zum offiziellen Philosophen der Kirche auch dessen Ansichten über die Seele übernommen. Wie Aristoteles erklärte auch Thomas die Seele als Wesensform des lebenden Körpers, die untrennbar zum Körper gehöre; werde die Seele beim physischen Tod vom Leib getrennt, so sei sie keine Person mehr. Um nun diese Vorstellung mit dem urchristlichen Glauben an die Unsterblichkeit der individuellen Persönlichkeit zu vereinbaren, wurde sie von Thomas von Aquin mit der kirchlichen Lehre von der Auferstehung des Fleisches verbunden: die Seele werde dann wieder zu einer Persönlichkeit, wenn sie mit dem auferstandenen irdischen Körper wiedervereint sein werde. Dies ist bis heute die gängige Auffassung in der katholischen Theologie. Wie der deutsche Professor für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte, Gisbert Greshake, erklärt, sei »die Seele wesenhaft auf den Leib verwiesen und durch ihre Relation zum Leib (mit-)konstituiert«: »Darüber hinaus gilt, dass, solange sie nicht wiederum mit dem Leib wesenhaft vereint ist, sie in ihrer Leiblosigkeit — wie Thomas von Aquin bemerkt — ein ,Krüppelwesen‘, ,Fragment‘, ,Teil des Menschen‘, nicht der Mensch selbst, nicht Person ist.« Die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung gehört übrigens zu den ältesten Seelenvorstellungen überhaupt. Sie entspringt dem Unvermögen vieler Menschen, sich eine Wirklichkeit in einer anderen Form als der ihnen bekannten, irdisch wahrnehmbaren vorzustellen. Grabfunde aus frühen file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (9 von 18) [30.12.2002 21:15:10] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Epochen der Menschheitsgeschichte deuten darauf hin, dass man sich das Leben nach dem Tod in derselben grobstofflichen Materie dachte, wie man sie vom menschlichen Leben her kannte. Man gab daher den Verstorbenen alles Lebensnotwendige mit ins Grab - Nahrung, Werkzeuge und Waffen —, damit sie für die jenseitige Welt gerüstet waren. Die alten Agypter balsamierten den Leichnam sogar sorgfältig ein, um ihn für die Ewigkeit im Jenseits zu erhalten. Aus dem Unvermögen, sich Geistiges unabhängig von der irdischen Materie vorstellen zu können, resultiert schliesslich die Auffassung über den Ursprung von Gedanken und Gefühlen: So sieht die katholische Theologie ihn gemäss Aristoteles in der Verbindung von Körper und Seele, wobei sie als das entscheidende Verbindungsorgan — und hier folgt sie nicht ihrem Philosophen, sondern den physiologischen Erkenntnissen der Moderne — das Gehirn betrachtet. Ausdrücklich wird jedoch betont, dass in dieser gemeinsamen ,Produktion‘ mentaler Prozesse die Seele die leitende Rolle übernimmt. Der descartessche Dualismus Eine andere Mischform unter den Seelenvorstellungen stammt von René Descartes. Auf seine Gedanken muss kurz eingegangen werden, weil durch sie erst das klassische Leib-Seele-Problem der Philosophiegeschichte geschaffen wurde. Descartes brachte indes keine wirklich neuen Vorstellungen auf, sondern es handelt sich bei ihnen nur um eine Kombination mit neuen Abgrenzungen. Seine Betrachtungen über das Wesen von Körper und Geist müssen vor dem Hintergrund der katholischen Theologie gesehen werden; denn sie scheinen eine Reaktion auf die fleischliche Sichtweise der Theologie zu sein, die die Auferstehung des Leibes lehrt. Die Vorstellung, an einem Jüngsten Tag würden Leichname aus den Gräbern erweckt und wieder mit der Seele vereint, scheint Descartes abwegig gewesen zu sein. Die Konsequenz, die er aus seiner Ablehnung zog, war sozusagen das andere Extrem: Er gelangte zur Auffassung, dass Materie und Geist zwei völlig verschiedene, voneinander getrennte Substanzen seien: Während die Materie dem Wesen nach eine »ausgedehnte Substanz« (res extensa) sei und eine in sich geschlossene mechanische Welt bilde, sei alles Geistige, also auch die Seele, eine unausgedehnte, form- und gestaltlose, rein »denkende Substanz« (res cogitans), die unabhängig von der Körperwelt existiere. Mit seiner rigorosen Trennung der beiden Substanzen stiess Descartes auf ein Problem: Da Körper und Geist angesichts ihrer radikalen Verschiedenheit keine einzige inhaltliche Bestimmung gemeinsam haben sollten, entstand für ihn die Schwierigkeit, das Zusammenwirken beider erklären zu können — war er doch zugleich der Uberzeugung, Ursache und Wirkung müssten gleichartig sein. Seine Annahme einer Wechselwirkung zwischen den zwei in sich geschlossenen Bereichen erwies sich bald als eine Schwachstelle in seiner Philosophie. Mit ihr schuf Descartes das klassische »Leib-SeeleProblem« der file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (10 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Philosophiegeschichte, mit dem sich seither ganze Forscher-generationen auseinandersetzten: Während die einen nach Lösungen suchten, wie der descartessche Dualismus mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen sei, versuchten andere nachzuweisen, dass es diesen radikalen Dualismus, wie ihn Descartes postuliert hatte, gar nicht gibt. Die Diskussion hält bis heute an und bietet sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaftlern überreichen Stoff. Es fragt sich jedoch, ob sich diese Diskussion überhaupt lohnt. Versuchen wir nämlich, Descartes‘ Vorstellungen über den Geist zu ergründen, so bleibt unklar, was unter einer form- und gestaltlosen »denkenden Substanz« eigentlich zu verstehen ist. Ist dies letztlich nicht bloss ein Ausdruck ohne wirklichen Inhalt? Der menschliche Geist ein Geschöpf aus der jenseitigen Welt Die vielschichtigste und fruchtbarste Lehre über das Wesen des Geistes, oft undifferenziert auch einfach als ,Seele‘ bezeichnet, ist zweifellos jene, die in ihm ein unsterbliches, individuelles Geschöpf aus der jenseitigen Welt sieht und ihn als die eigentliche Persönlichkeit des einzelnen Lebewesens betrachtet, als Träger seiner individuellen Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Talente. Die bedeutendsten Vertreter dieser Anschauung waren die Propheten Altisraels, ionische Philosophen wie Sokrates und Platon, Jesus von Nazareth und frühe Christen wie Paulus und Origenes. Ihnen gemeinsam ist der Glaube an eine höhere geistige Wirklichkeit, an einen Schöpfergott, durch dessen Willen und dessen Macht alles Leben ins Dasein trat. Ihre Vorstellungen über den Geist und sein Verhältnis zum Körper leuchten am deutlichsten in den Dialogen Platons und den Schriften des Origenes auf. Beide beschreiben ihn als jenseitiges Geschöpf, das bereits lange vor der irdischen Geburt in einer geistigen Welt der Wirklichkeit erschaffen wurde. Der irdische Körper sei im Grunde genommen nur ein vergängliches, beschwerliches Kleid, in das dieses Geschöpf infolge eines eigenen Verschuldens eingekleidet wurde; bei der Geburt verbinde es sich mit ihm, und es verlasse ihn beim physischen Tod wieder. In diesem ,Gefängnis‘, wie Platon es ausdrückt (vgl. Phaidros 250), habe es Zeugnis davon abzulegen, wohin sich sein Sinnen und Streben richtet. Die Ionier und später vor allem Origenes legten ein ganzes Glaubensgebäude dar, das die Ursachen und den Sinn dieses Menschseins, ja die Ursache und den Sinn allen irdischen Lebens und der ganzen irdischen Schöpfung überhaupt aufzeigt. Auf ihre umfassenden Erklärungen kann an dieser Stelle freilich nicht eingegangen werden. Für die Behandlung des vorliegenden Themas ist indes vor allem folgendes festzuhalten: Der Geist wird hier als der Verursacher allen Denkens, Fühlens file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (11 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? und Wollens betrachtet. Er bestimmt nach dieser Auffassung das Handeln des Menschen. Der irdische Körper ist das Mittel und die Voraussetzung, sich in dieser materiellen Welt manifestieren zu können. Der Geist ist während seines Erdenlebens auf den grobstofflichen Körper angewiesen, ist mit ihm engstens verbunden, bedient sich seiner Organe und ist insofern bis zu einem gewissen Grad von den körperlichen Gegebenheiten abhängig. Körper und Geist stehen in gegenseitiger Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung läuft indes nicht immer synchron. So brauchen Erregungen des Geistes oft eine gewisse Zeit, bis sie sich auf den Körper auswirken und ihre Spuren hinterlassen, beispielsweise in Form einer Krankheit. Aber auch die Bewegungen und Vorgänge des Körpers brauchen eine gewisse Zeit, bis sie den Geist nachhaltig geprägt haben. Dies erklärt, weshalb die lonier in der Erziehung der Kinder darauf achteten, bestimmte Bewegungsübungen und -muster wiederholt einzuüben. Oder es erklärt — um ein Beispiel aus unserer Zeit zu nennen—, weshalb das einmalige Betrachten eines Horrorfilms noch keinen bleibenden psychischen Schaden hinterlässt, sich ein solcher vielmehr erst durch wiederholtes Konsumieren einstellt. Im übrigen wurde davon ausgegangen, dass auch der Körper über eine gewisse Selbständigkeit verfügt: Alle vegetativen Funktionen, wie der Herzschlag oder die Atmung, aber auch Reflexe, laufen mechanisch ab. Vom Geist stammen die entsprechenden Verhaltensmuster dazu und vor allem eine lebenserhaltende Kraft. Wird er beim Tod vom Leib getrennt, so hören auch die körperlichen Funktionen auf, und der Leib zerfällt. Gemäss den Erkenntnissen ionischer Ärzte, wie Alkmäon von Kroton (um 570 bis um 500 v.Chr.), nennt Platon das Gehirn als das entscheidende körperliche Instrumentarium für die Umsetzung der Bewegungsaufforderungen des Geistes in Körperbewegungen. Der Geist — ein Geschöpf mit einem feinstofflichen Körper Die im vorangegangenen Abschnitt dargelegte Vorstellung, der Geist sei ein unsterbliches Geschöpf aus der jenseitigen Welt, unterscheidet sich indes nicht nur grundlegend von den Anschauungen der Materialisten und denjenigen der Aristoteliker. Ebenso unterscheidet sie sich von den beiden Extrempositionen, wie sie einerseits die katholische Theologie mit ihrer fleischlichen Auferstehung und andererseits René Descartes mit seiner Auffassung einer Form- und Gestaltlosigkeit des Geistes vertreten. Aus den Schriften der Propheten, der ionischen Philosophen und der frühen Christen wird unmissverständlich deutlich, dass sie unter dem Geist ein Geschöpf verstehen, das aus einer immateriellen Seele, das heisst aus der von Gott stammenden Lebendigkeit, und aus einem feinstofflichen Körper besteht, der sich vom file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (12 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? irdischen Körper durch die Unvergänglichkeit unterscheidet. Dieser Geist, der in jedem Menschen ,wohnt‘, ist nach dieser Auffassung also kein gestaltloser Hauch oder Dunst, sondern er hat als Geschöpf der Welt des »Urbildes«, von dem die irdische Welt schliesslich ein Abbild ist, auch Gestalt und Form. Die Schwierigkeit im Verständnis dieses Geist-Seele-Begriffs, das heisst im Erkennen der Unterscheidung zwischen immaterieller Seele und feinstofflichem Geistkörper, liegt darin, dass in den meisten Schriften für beides die gleiche Bezeichnung verwendet wird — bei den loniern der Begriff psyché und später bei den Christen auch pneuma. Beide Begriffe sind mehrsinnig. Platon bezeichnete in den meisten Fällen mit psyché den verstorbenen Menschen, der, nachdem er seinen irdischen Körper abgelegt hat, nun in der jenseitigen Welt als Geschöpf mit feinstofflichem Körper weiterlebt und unter Umständen — wie beispielsweise in Phaidon 81 cd, in Gesetze 865 de oder auch in Homers Ilias XXIII, 10Sf. berichtet wird — von gewissen Menschen gesehen oder gehört werden könne. In anderen Fällen wird der Begriff aber für das Lebendige eines Geschöpfs verwendet, das heisst für die von Gott stammende Seele, die die eigentliche individuelle Persönlichkeit jeden Wesens bildet, in der alles Denken, Fühlen und Wollen eingebettet ist. In diesem Fall wird psyché als etwas unkörperlich Geistiges erklärt, genauer gesagt, als etwas, das nicht Gestalt und Form hat, wie wir Menschen es uns gewohnt sind (vgl. Phaidros 247). Wie dieses Lebendige aussehe, darüber könne der Mensch keine Angaben machen; es fehlten ihm die Begriffe dafür, weil es sich um etwas Göttliches handle. Die beiden Begriffsauslegungen erscheinen auf den ersten Blick widersprüchlich. Wer jedoch mit dem Glaubensgebäude dieser Menschen vertraut ist, erkennt aus dem Kontext des Gesagten sofort, welche Bedeutung jeweils im Einzelfall gemeint war. Diese Vorgehensweise bei philosophischen oder religiösen Erörterungen war anscheinend bei den Griechen gang und gäbe. Entsprechend kannte nämlich Didymos, ein späterer Schüler des Origenes, acht verschiedene Bedeutungen für den Begriff ,Geist‘, die er jeweils ohne weitere Erläuterung in seinen Schriften benutzte. Der Zuhörer oder Leser musste durch eigenes Nachdenken merken, was im einzelnen Fall gemeint war. Solche mehrdeutigen Begriffe kennen wir ja auch heute: Gerade der Begriff ,Geist‘ wird noch für sehr Verschiedenes angewandt. Im einen Fall bezeichnet er das reine Denkvermögen, im anderen Fall die Gesinnung eines Menschen, in wieder einem anderen Fall meint man damit eine jenseitige Wesenheit, einen Verstorbenen oder einen Engel. Unter einem Geist verstehen aber viele nichts anderes als ein Gespenst. Einem mit unserer Sprache und unserem Denken Vertrauten bereitet es dennoch keine Mühe, die jeweilige Bedeutung dieses Wortes zu erkennen. file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (13 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? In diesem Zusammenhang riet Origenes seinen Schülern, es »möge sich jeder, dem an der Wahrheit gelegen ist,wenig um Namen und Worte kümmern, weil ja jedes Volk seinen besonderen Sprachgebrauch hat; sondern er soll mehr das betrachten, was bezeichnet wird, als die Worte, mit denen es bezeichnet wird, erst recht in so bedeutenden und schwierigen Fragen. Dies gilt beispielsweise, wenn gefragt wird, ob es eine Substanz gibt, an der weder Farbe noch Gestalt, noch Berührbarkeit, noch Grösse zu erkennen sind, die nur mit dem Denken erfassbar ist und die jeder so nennt, wie er will. Die Griechen haben sie nämlich ,,unkörperlich" (asómaton) genannt, die göttlichen Schriften dagegen haben sie als ,,unsichtbar" bezeichnet; denn der Apostel erklärt, Gott sei ,,unsichtbar", indem er sagt, Christus sei ,,das Bild des unsichtbaren Gottes". Andererseits sagt er aber auch, durch Christus sei ,,alles geschaffen, das Sichtbare und das Unsichtbare". Damit ist ausgesprochen, dass es auch unter den Geschöpfen einige ihrer besonderen Art nach unsichtbare Wesen gibt. Aber trotz ihrer Unkörperlichkeit gebrauchen diese doch einen Körper, auch wenn sie an sich über die körperliche Natur erhaben sind. Dagegen hat man sich jene Substanz, die Ursprung und Ursache von allem ist und ,,aus der und durch die und in der alles ist", weder als Körper noch in einem Körper zu denken, sondern als vollkommen unkörperlich.« (Peri archon IV 3,15) Doch wie dieses Unkörperliche, Göttliche beschaffen sei, dafür habe der Mensch, wie bereits erwähnt, keine Begriffe. Ansätze platonischen Denkens in der Neurowissenschaft Ansatzweise finden sich die ionische beziehungsweise israelitische und die frühchristliche Vorstellung über Geist und Seele zu allen Zeiten. Während jedoch der Präexistenzgedanke bei den meisten Gläubigen unbekannt ist oder von vielen als Spekulation verworfen wird, ist die Uberzeugung, das Geistige im Menschen bilde dessen eigentliche Persönlichkeit und überlebe den physischen Tod als individuelles Geschöpf mit all seinen Erinnerungen, Gefühlen usw. in einer jenseitigen Welt, seit jeher sehr verbreitet. Durch eigene Erlebnisse im Zusammenhang mit Verstorbenen, durch glaubwürdige Schilderungen solcher Erlebnisse oder einfach aus innerem Wissen ist die Unsterblichkeit des individuellen Geistes für viele eine Gewissheit. In der Literatur aller Epochen und Völker finden sich Zeugnisse für diesen Glauben. file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (14 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Holzschnitt für Martin Luthers Buch »Vorbereitung zum Sterben« von Jörg Nadler, 1520. Der Glaube an die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes, der den physischen Kärper belebt und ihn nach seinem Hinschied verlässt, ist von alters her für viele Menschen eine feste Gewissheit. Allerdings sind die Vorstellungen über Wesen und Aussehen von Geist und Seele meist sehr naiv Dieser Glaube findet sich selbst unter heutigen Neurowissenschaftlern. Als eine verschwindende Minderheit unter materialistisch gesinnten Kollegen gehen einzelne Forscher davon aus, dass das unsterbliche Geistige im Menschen die massgebende Instanz für alle mentalen Prozesse sei und Einfluss auf den Körper nehme, indem es sich seiner Organe bediene. Sie sind überzeugt, nur von diesem Ansatz her hinter das Rätsel des Bewusstseins und des Geistes zu kommen und die Prinzipien erahnen zu können, nach welchen die Wechselwirkung zwischen Gehirn und Geist abläuft. Mit dieser Haltung forschen sie im Sinne des berühmten Physikers und Nobelpreisträgers Werner Heisenberg (1901—1976), der mehrfach betonte, erst die Abkehr von Aristoteles und die Hinwendung zu Platon öffne in der Naturwissenschaft die Wege zu neuen Erkenntnissen (Heisenberg, »Naturwissenschaftliche und religiöse Wahrheit«, 1973). Noch fehlt den Neurowissenschaftlern die umfassende Kenntnis des Wissens über erste und letzte Dinge eines Platon, eines Sokrates oder Origenes. Aus ihren Aussagen wird ersichtlich, dass ihnen deren Lehren von der Herkunft file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (15 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? und der Bestimmung von Geist und Seele oder von der Ursache irdischen Lebens fremd sind. Der hauptsächliche Grund dafür ist in den vorliegenden Übersetzungen zu suchen, die das Wissen der Genannten nur mangelhaft und verdreht wiedergeben. So wird beispielsweise in den heute erhältlichen Übersetzungen der platonischen Dialoge den völlig gegensätzlichen Geisteshaltungen und Weltanschauungen der jeweiligen Gesprächspartner überhaupt nicht Rechnung getragen, weil sie den Übersetzern entweder nicht näher bekannt waren oder diese selbst eine bestimmte Sicht vertraten, die sie bei ihrer Arbeit einbrachten. Die Folge davon sind Schriften, deren Inhalt in Glaubensdingen keinen Sinn machen und daher in diesen Belangen nicht nachvollzogen werden können, Man denke beispielsweise an die Übersetzungen von Platons »Symposion«, aus denen überhaupt nicht ersichtlich wird, worum es in dieser Auseinandersetzung über den »Eros« eigentlich gegangen war. Erst neue Übersetzungen, wie sie MUSEION 2000 vorlegt, die sowohl die unterschiedlichen Glaubensansichten von Ioniern und Dorern aufzeigen als auch dem historischen und geistesgeschichtlichen Bezug der Gespräche nachgehen, bringen Licht in die Glaubenswelt der ionischen Philosophen. Sie machen es möglich, den eigentlichen Gehalt dieser Einsichten wieder an den Tag zu bringen. Ein ähnliches Problem besteht auch bei den Ubersetzungen der Schriften von Origenes, allen voran seines Werks »Peri archon« (»Über die ersten Dinge«), in dem der grösste Gelehrte des christlichen Altertums sein gesamtes Glaubensgebäude dargelegt hat. Hier vermag der mit dem ionischen beziehungsweise dem frühchristlichen Glaubensgut nicht vertraute Leser in der Regel nicht mehr zu unterscheiden, was auf Origenes und was auf spätere, anders gesinnte Abschreiber und Übersetzer — insbesondere auf den römischen Kirchenvater Hieronymus —zurückgeht (vgl. Robert Sträuli »Origenes der Diamantene«). Es ist daher von grösster Wichtigkeit, Übersetzunge vorzulegen, die das erwähnt Gedankengut unverfälscht und nachvollziehbar darlegen. Erst dann wird dieses Wissen in Glaubensdingen einsichtig und kann es in den verschiedenen Wissenschaften im Sinne Heisenbergs zu starken Impulsen und Forschungsansätzen kommen. Erfreulich ist zweifelsohne schon der Mut von verschiedenen Neurowissenschaftlern, einen ersten Schritt in die richtige Richtung hin zu Platon zu tun, indem sie mit ihren Forschungsergebnissen andere davon zu überzeugen versuchen dass es überhaupt einen körperunabhängigen, freien Geist gibt, der Einfluss auf den Körper nimmt. Im Gegensatz zu ihren Kollegen fühlen sie sicl durch die immer sensationelleren Erkenntnisse über die Funktionsweisen des Gehirns in ihrem Glauben bestärkt, der menschliche Geist müsse aus einer jenseitigen Welt stammen die mit den heute bekannter Methoden der Wissenschaft nicht ergründet werden kann So gibt file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (16 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? beispielsweise der grosse Neurowissenschaftler und Neurochirurg Wilder Penfield seiner Uberzeugung Ausdruck: »Die physische Basis des Geistes ist die Hirnaktion in jedem Individuum; sie begleitet die Aktivität seines Geistes, doch der Geist ist frei; er ist eines Grades von Initiative fähig... Der Geist ist der Mensch, den man kennt. Er muss durch Perioden von Schlaf und Koma Kontinuität besitzen. Ich vermute, dass dann dieser Geist irgendwie nach dem Tode fortleben muss. Ich kann nicht daran zweifeln, dass viele in Kontakt zu Gott treten und von einem grösseren Geist geführt werden. Doch das ist persönlicher Glaube, den jeder Mensch für sich selbst annehmen muss. Besässe er nur ein Gehirn und keinen Geist, so wäre diese schwierige Entscheidung nicht seine Angelegenheit.« Der berühmteste Neurowissenschaftler, der im physischen Gehirn das Werkzeug des unabhängigen Geistes sieht, ist der australische Nobelpreisträger Sir John C. Eccles (1903-1997). Angesichts der Komplexität der neuralen Anlage des Gehirns und angesichts der Einmaligkeit jedes einzelnen Individuums hatte sich in Eccles während eines langen Forscherlebens die Gewissheit gefestigt, der Geist im Menschen sei »auf eine übernatürliche, spirituelle Schöpfung zurückzuführen«: »Die Einzigartigkeit der Seele führt als wichtiger Punkt zu einer religiösen Sichtweise des einzelnen Menschen. Zunächst ist jede einzelne Psyche auf eine Weise einzigartig, die auf naturwissenschaftlicher Basis, auch mit den stark verfeinerten Methoden der Genetik und Neuroembryologie, nicht erklärbar ist. Das Ins-Leben-Treten jeder einzelnen erfahrenden Psyche ist voller Geheimnisse....Im Gegensatz zu den materialistischen Theorien ist der dualistische Interaktionismus [Wechselwirkung zwischen Leib und Seele] mit einem Leben in Einklang zu bringen, das mit der unaufhörlichen Suche nach den höchsten Werten — dem Wahren, dem Guten und dem Schönen —, die dem Leben Sinn und Zweck verleihen, befasst ist und ebenso mit der Suche nach der Freiheit, die moralische Verantwortlichkeit mit sich bringt.« Eccles hat es sich zur Lebensauf gabe gemacht, den Materialismus seiner Kollegen zu widerlegen. Er vermutet, dass es auf Grund genauer Kenntnisse über die Mikrostrukturen und Mikrofunktionen des Neokortex (des am stärksten differenzierten Teils der Grosshirnrinde) und auf Grund der modernen Erkenntnisse in der Quantenphysik möglich ist, die Existenz des körperunabhängigen Geistes und sein Wirken auf den Körper nachzuweisen. Zu Eccles‘ Hypothese ist folgendes anzumerken: Freilich hilft die moderne Wissenschaft, dem Leib-Seele-Problem auf die Spur zu kommen. Doch mit den Naturwissenschaften allein lässt sich das Rätsel des Bewusstseins und der Seele nicht lösen. Die erste Voraussetzung für das Verständnis des Leib-Seele-Problems ist der Zugang zu geistigem Denken und ein Verständnis für erste und letzte Dinge, wie sie beispielsweise Platon oder auch Origenes einst darlegten. file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (17 von 18) [30.12.2002 21:15:11] Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele? Die Zeitschrift MUSEION 2000 (ISSN 1017-0367) erscheint 6 mal jährlich im ABZ Verlag Zürich Abonnement 68.-DM, Schweiz 59.-Fr., Österreich 510.- öS [email protected] file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (18 von 18) [30.12.2002 21:15:11]