Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt -

Transcription

Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt -
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Was denkt und fühlt -das Gehirn oder die Seele?
Von Barbara S. Eisenbeiss
Auszug aus der der Zeitschrift MUSEION2000 2/97
Die Frage nach dem Ursprung von Gedanken und
Gefühlen gehört seit jeher zu den Grundfragen des
Menschen. Es geht dabei um nichts weniger als um die
Definition seiner Persönlichkeit, seines Bewußtseins und
seines Schicksals. Welche Vorstellungen man sich über
den menschlichen Geist und seinen Ursprung macht,
hängt im Wesentlichen von der persönlichen
Weltanschauung ab: Während die einen ihn in den
materiellen Strukturen und Funktionen des Körpers
suchen, sehen andere in ihm ein immaterielles
Lebensprinzip. Eine weitere Ansicht vertreten jene, die
den Geist als ein Geschöpf aus einer jenseitigen Welt
betrachten.
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (1 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Ein Zusammenhang zwischen geistigen und körperlichen Vorgängen scheint
zwar eine Binsenwahrheit zu sein; denn jeder weiss aus eigener alltäglicher
Erfahrung, dass beispielsweise der Gedanke oder der Wille, den Arm zu heben,
den Arm auch tatsächlich in die Höhe fahren lässt. Überlegt man sich aber
diese selbstverständliche Tatsache genauer, so kommen Fragen auf: Wie
können Gedanken und Gefühle, die man sich schliesslich als etwas Geistiges,
Immaterielles vorstellt, Einfluss auf den Körper nehmen? Versucht man dieser
Frage nachzugehen, so taucht unweigerlich die nächste Frage auf, nämlich
diejenige nach dem Ursprung von Gedanken und Gefühlen: Woher stammen
sie? Wo und wie entstehen sie? Sind sie das Resultat körperlicher Funktionen?
Sind sie die Produkte des Gehirns, das Resultat neuronaler Aktivitäten, oder
entstammen sie etwa einer Seele, die auf den irdischen Leib bloss einwirkt?
Diese Fragen gehören zu den wesentlichsten Grundfragen der Philosophie,
denn sie suchen nach dem eigentlichen Wesen des Menschen. Das Thema der
Beziehung zwischen Körper und Geist ist unter dem Begriff
»Leib-Seele-Problem« in die Geistesgeschichte eingegangen. Dieses
beschäftigt jedoch nicht nur Philosophen und andere Geisteswissenschaftler,
sondern es ist auch ein Thema der Naturwissenschaft, sei es der Medizin, der
Physik, der Biologie oder seit neuerer Zeit auch der Gomputerwissenschaft.
Auf welche Weise man die Fragen nach dem Ursprung des Geistes und seinem
Verhältnis zum Körper angeht, hängt im wesentlichen mit der persönlichen
Weltanschauung zusammen. Betrachten wir die verschiedenen Ansichten zum
Leib-Seele-Problem, so zeigt sich, dass sie jeweils grundsätzlich
unterschiedlichen Menschenbildern entspringen. Es handelt sich dabei zum
Teil um völlig gegensätzliche Vorstellungen vom Menschen und seinem
Schicksal.
Der Zusammenhang zwischen diesen Vorstellungen und den darauf
basierenden Ansichten zum Leib-Seele-Problem soll im folgenden an Hand der
am meisten verbreiteten Sichtweisen aufgezeigt werden.
Der materialistische Ansatz
Als erstes kommen wir auf die Ansicht der Materialisten zu sprechen. Sie
vertreten verschiedene Denkrichtungen, radikale und gemässigte. Gemeinsam
ist aber allen, dass ihnen jeglicher Zugang zu einer geistigen Wirklichkeit fehlt.
So sind sie der festen Uberzeugung, es gebe keinen selbständigen Geist, der
Einfluss auf den Leib nehmen könne. Wenn sie von ,Seele‘ oder ,Geist‘
sprechen, so bezeichnen sie damit entweder einen bestimmten Teil des
materiellen Körpers oder aber ein Produkt physischer Prozesse.
Materialisten Altgriechenlands
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (2 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Radikale Materialisten gab es bereits im antiken Griechenland. Unter ihnen
waren solche, die die Erkenntnis der Atomistik, die sichtbare Materie bestehe
aus kleinsten unteilbaren Teilchen und das sichtbare Naturgeschehen sei auf
die Eigenschaften und Bewegungen dieser Teilchen zurückzuführen, auch auf
den Bereich des Geistes übertrugen. Diese ,Atomisten‘ nahmen an, selbst die
Seele bestehe aus solchen Materieteilchen und alle mentalen Vorgänge und
Prozesse seien entsprechend aus den Bewegungen dieser ,Seelenatome‘ zu
erklären. Die Konsequenz dieser Ansicht war die Auffassung, die Seele gehe
mit dem Tod und dem Zerfall des Körpers zugrunde.
Einer, der diese Meinung vertrat, war der Trivialphilosoph Epikur (342—270
v.Chr.). Er missbrauchte die Erkenntnisse des Demokrit (um 469—370 v.Chr.),
des Mitbegründers der Atomistik, um eine Lebenshaltung zu propagieren, die
nur das persönliche Glück des einzelnen als Ideal anerkennt (Eudämonismus).
Nach dem Untergang des freiheitlichen Griechenlands finden wir selten wieder
unverhohlene Bekenntnisse zum Materialismus. Dies bedeutet jedoch bei
weitem nicht, dass es nicht zu allen Zeiten Vertreter einer materialistischen
Anschauung gegeben hätte. Eine solche Sichtweise hegen in der Regel
Atheisten, und sie gibt es in jedem Volk und in jeder Epoche zuhauf; doch
offen zuzugeben, dass man nur das für real hält, was man mit den irdischen
Sinnen wahrnehmen kann, schien vor allem in früheren Jahrhunderten kaum
opportun zu sein. Während die einen Achtung oder Repression befürchteten,
mieden andere ein solches Bekenntnis, um nicht ihre Stellung als ,frommer
Mensch‘ einzubüssen, die es ihnen ermöglichte, Eindruck zu schinden oder
andere zu massregeln und zu beherrschen.
Aufschwung in der Wissenschaft und bei Materialisten
Erst im Zeitalter der Aufklärung wurden wieder materialistische Ansichten
über das Wesen der Seele laut. Einer der ersten, der sich offen zu einem
Materialismus bekannte, war der französische Philosoph und Arzt Julien
Offroy de La Mettrie (1709—1751). Er belächelte die Bemühungen von
Philosophen und Theologen, das Wesen der Seele erklären und ihre
Wirkungsweise ergründen zu wollen. La Mettrie war der Meinung, es gebe gar
nichts, was man als ,Seele‘ bezeichnen könne, es gebe nur eine einzige
Substanz, und dies sei die Materie —was man Seele nenne, sei nichts anderes
als Eigenschaft oder Tätigkeit des Leibes.
Die Erklärungen La Mettries sind indes nicht nur die Reaktion auf eine
jahrhundertelange religiöse Indoktrinierung durch verhasste Theokraten. Sie
sind ebenso das Ergebnis der naturwissenschaftlichen Fortschritte der Zeit. In
der Medizin war man zu neuen Erkenntnissen bezüglich des menschlichen
Körpers und seiner Funktionen gelangt, und man hatte erkannt, dass mentale
Prozesse vom Vorhandensein eines Nervensystems abhängen. Als Arzt hatte
La Mettrie die Fortschritte in der Medizin mitverfolgt und auf Grund der neuen
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (3 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Erkenntnisse der Anatomie des Gehirns und des Nervensystems den Schluss
gezogen, sogenannte seelische Vorgänge oder Zustände seien nichts anderes
als Gehirnfunktionen und die Arbeit motorischer und sensitiver Nerven. Alles,
was empfindet, denkt und will, sei der Körper selbst.
Als es im 19. Jahrhundert auf den Gebieten der Neurologie und der
Physiologie zu einem grossen Aufschwung kam, gewann die materialistische
Sichtweise immer mehr Anhänger. Die Entwicklung präziserer technischer
Hilfsmittel, vor allem die Entwicklung besserer Mikroskope, machte es
möglich, Genaueres über den histologischen Aufbau des Gehirns zu sagen. Auf
Grund von Experimenten an Nerven zeigte sich beispielsweise, wie
Körperbewegungen zustande kommen, genauer gesagt, man beobachtete, dass
elektrische Impulse über die Nervenfasern in die Muskeln gelangen und diese
zu Kontraktionen veranlassen. Um 1861 gelang es dem französischen Arzt und
Anthropologen Paul Broca, das nach ihm benannte Sprachzentrum im Gehirn
zu lokalisieren und so nachzuweisen, dass es im Gehirn verschiedene
Regionen für bestimmte Aufgabenbereiche gibt.
Je grössere Leistungen die moderne Wissenschaft aufzuweisen hatte, desto
grösser wurde der Aufwind der Materialisten. Bestärkt fühlten sie sich im
besonderen durch Beobachtungen, wie sie im folgenden Fall gemacht wurden:
Mitte des letzten Jahrhunderts erfuhr die medizinische Fachwelt von einem
Arbeitsunfall des 25 jährigen Bauarbeiters Phineas Gage: Bei einer Explosion
hatte sich eine Eisenstange in seinen Kopf gebohrt und ihm das Gehirn
durchstossen. Wie durch ein Wunder überlebte er und genas. Die ihn
behandelnden Ärzte notierten, er sei zwar körperlich gesund, doch er habe
einen frappanten Persönlichkeitswandel durchgemacht:
»Er ist unstet, befleissigt sich der gottlosesten Flüche — was früher nicht seine
Gewohnheit war—, nimmt wenig Rücksicht auf seine Mitmenschen, erträgt
keinerlei Einschränkungen oder Ratschläge, wenn sie seinen Wünschen
zuwiderlaufen, ist zeitweise starrsinnig, dann wieder launenhaft und
schwankend ... Sein Geist hat sich von Grund auf verändert, so einschneidend,
dass seine Freunde und Bekannten sagen, er sei nicht länger Gage.«
Materialistisch gesinnten Zeitgenossen schien der Fall zu beweisen, dass
Moral, Vernunft, Persönlichkeit oder Identität in Wahrheit zur Maschinerie des
Gehirns gehören und in den Stirnlappen sitzen, die der Eisenstab verletzt oder
weggerissen hatte. Auf den Punkt brachte diese Ansicht der Physiologe Karl
Vogt (1817—1895), der in seiner 1855 erschienenen Schrift »Köhlerglaube
und Wissenschaft« erklärte, es werde immer klarer,
»dass alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelentätigkeiten
begreifen, nur Funktionen des Gehirns sind oder, um es einigermassen grob
auszudrücken, dass die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn
stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren«.
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (4 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Mit Hilfe der Positronen -Emmissions-Tomograhie (PET) sichtbar gemachte
Hirnaktivitäten einer Versuchsperson, die mit Sprache zusammenhängende intellektuelle
Aufgaben ausführt. Seit der Endeckung des Sprachzentrums (1861) weiss man, dass es
im Gehirn Teile gibt, die für bestimmzte Aufgabenbereiche zuständig sind. Dank
modernen bildgebenden Verfahren können die aktiven, stärker durchbluteten Bereiche
des lebenden Gehirns sichtbar gemacht werden.
Moderne Materialisten
In der heutigen Neurowissenschaft ist diese materialistische Sichtweise
vorherrschend. Eine überwältigende Mehrheit der Forscher ist der
Uberzeugung, die revolutionären wissenschaftlichen Erkenntnisse der Neuzeit
würden dafür sprechen, dass die Ursachen für das Verhalten des Menschen und
höherer Tiere, welche uns die Existenz eines Bewusstseins anzudeuten
scheinen, ganz allein in den physikalisch-chemisch zu erklärenden Aktivitäten
des zentralen Nervensystems liegen. Der Nobelpreisträger Francis Crick, einer
der berühmtesten Biochemiker und Neurowissenschaftler der Gegenwart,
erklärt dies seinen Lesern folgendermassen:
»Ihre Freude und Sorgen, Ihre Erinnerungen und Ambitionen, Ihr Gefühl
persönlicher Identität und freien Willens sind eigentlich nicht mehr als das
Verhalten einer Ansammlung von Nervenzellen und der zugehörigen
Moleküle.«
Freilich herrschen auch unter den materialistisch Gesinnten grosse
Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Definition von Geist und
Bewusstsein: Während die einen im Sinne Cricks den Geist als das Produkt
von Nervenzellen betrachten, sind andere der Meinung, der Geist sei ein Teil
der Materie selbst, genauer gesagt ein Teil jeder Nervenzelle. Einigkeit
herrscht also nur in dem einen, aber entscheidenden Punkt: es gebe keinen vom
Körper unabhängigen, selbständigen Geist; es gebe somit keine unsterbliche
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (5 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Seele, die Einfluss auf den Körper nehmen kann. Man ist so sehr vom
Nichtvorhandensein einer eigenständigen Seele überzeugt, dass man ihre
Existenz nicht einmal in Erwägung zieht, wenn man an das zu behandelnde
Leib-Seele-Problem herantritt. So fragt beispielsweise der Philosoph John R.
Searle:
»Wie genau sind die neurophysiologischen Prozesse beschaffen, und wie
bringen die Elemente der Neuroanatomie — Neuronen, Synapsen synaptische
Spalten, Rezeptoren, Mitochondrien, Gliazellen, Transmitterflüssigkeiten und
so weiter —bewusste sowie unbewusste mentale Phänomene hervor?«
Oder es fragt Helmuth Benesch, ein deutscher Neurowissenschaftler, in seinem
Buch »Der Ursprung des Geistes«:
»Woher kommt der Geist? Wie sind die physiologischen Mechanismen geartet,
mit deren Hilfe der menschliche Geist aufgebaut ist?«
Solche Eingangsfragen lassen gar keine anderen Lösungen als materialistische
zu. Dementsprechend kommt Benesch zum Schluss:
»Die folgenden Sätze sind Schlüsselsätze für den neurowissenschaftlichen
Lösungsprozess. Sie lauten: Unbezweifelbar gilt, der Geist des Menschen
entsteht im Gehirn — das Gehirn des Menschen besteht auf fundamentalster
Ebene aus Nervenzellen —,folglich: In den Nervenzellen des Gehirns bahnt
sich in einfachster Weise der Ursprung des menschlichen Geistes an. Dies ist
der bahnbrechende Ausgangspunkt der Neurowissenschaft!«
Auf Grund solcher Aussagen von Neurowissenschaf tlern und natürlich auf
Grund einer eigenen materialistischen Weltanschauung vertreten auch
Wissenschaftler anderer Gebiete, vor allem aus der Robotertechnik und der
Computerwissenschaft, die Meinung, es sei nur eine Frage der Zeit, bis der
Mensch Maschinen baue, die Bewusstsein, Geist, Gefühle und Intelligenz
besitzen. Hans Moravec, Robotertechniker in Pittsburg, geht davon aus, in
absehbarer Zeit Geschöpfe kreieren zu können, die in jeder Beziehung den
Menschen übertreffen — nicht nur in bezug auf die Intelligenz, sondern auch
auf die Gefühlswelt; denn diese sei bloss eine Frage der richtigen
Programmierung. Roboter würden dereinst, so Moravec gemäss einem
Interview in der Computerzeitschrift CHIP (8/1996), den Menschen
beherrschen und ihn schliesslich sogar verdrängen
»wie Kinder, die als nächste und stärkere Generation ihre Eltern verdrängen«.
Selbst unter Psychologen gibt es Vertreter, die zwischen Computern und
Menschen nur einen graduellen Unterschied zu erkennen vermögen. So erklärt
Dietrich Dörner, Professor für Psychologie in Bamberg:
»Auch Computer besitzen Leben. Ich weiss kein Argument,weshalb sie nicht
leben sollten.«
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (6 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Die Seele ein unpersönliches Lebensprinzip?
Eine weitere Ansicht über das Wesen der Seele vertreten jene, die in ihr eine
immaterielle Grösse sehen in Form eines geistigen Lebens prinzips. Einer der
ersten bekannten Vertreter dieser Ansicht war der dorische Naturphilosoph
Anaxagoras. Der berühmteste Verfechter der Lehre vom Lebensprinzip wurde
jedoch Aristoteles. Er bezeichnete die Seele als die zweck- und regelgebende
Kraft des Körpers, als die
»erste Wirklichkeit (Entelechie) eines von der Natur gebildeten, mit Organen
ausgestatteten Körpers« .
Pyramidenzellen des Großhirns, hier mit Hilfe der
Golgi-Färbung sichtbar gemacht. Das menschliche Gehirn
ist die komplexeste Struktur in unserem Universum. Es
umfasst eine Billion Zellen; ungefähr 100 Milliarden davon
sind Nervenzellen (Neuronen). In Netzwerken verknüpft,
bilden sie das materielle Substrat mentaler Kapazitäten, wie
Intelligenz, Keativität Gefühle, Gedächtnis und Bewusstsein.
Die Seele hat nach Aristoteles zwar eine immaterielle Natur, doch sie hat
ausserhalb des materiellen Körpers keine Sonderexistenz. Sie ist seiner Ansicht
nach eine unpersönliche gestalt- und substanzlose Kraft. Körper und Seele
verhielten sich zueinander wie das Wachs und die Kerze: der Körper stelle den
Stoff dar und die Seele bilde dessen Form. Beide gehören laut Aristoteles
untrennbar zusammen wie das Auge und das Sehvermögen. Alle mentalen
Vorgänge, das heisst Gefühle, Gedanken oder Erinnerungen, seien Produkte
der Verbindung von Körper und Seele, wobei dem Herzen die wesentlichste
Rolle in dieser Verbindungsarbeit zukomme. Weder der Körper noch die Seele
sei allein in der Lage, zu denken oder zu fühlen; deshalb gehe mit dem
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (7 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
physischen Tod des Leibes notwendigerweise auch die individuelle
Persönlichkeit des Menschen mit all ihren Erinnerungen, Fähigkeiten und
Charaktereigenschaften zugrunde. Was vom Menschen nacl seinem Sterben
übrigbleibe, sei einzig ein unpersönliches Lebensprinzip.
Die Vorstellung, die Seele se eine unpersönliche immateriel le Lebenskraft des
Menschen erfreute sich zu allen Zeiten ei ner grossen Beliebtheit. In unse rer
Zeit ist es vor allem unter Psychologen und Philosophen gang und gäbe, die
Psyche des Menschen im Sinne des Aristoteles als geistiges Prinzip zu se hen,
nämlich als
»die Gesamtheit bewusster und unbewusster seelischer (insbesondere
emotionaler) Vorgänge und geistiger beziehungsweise intellektueller
Funktionen«. (Meyers Lexikon)
Die Ursache für die weite Verbreitung der aristotelischer Auffassung von der
Seele liegt zum einen im Umstand, dass sie sich vom radikalen Materialismus
abhebt, den viele als unbefriedigend und sogar abstos— send empfinden; denn
die aristotelische Seelenvorstellung versucht das Phänomen des Bewusstseins
und des Geistes von etwas Immateriellem, Unfassbarem her zu erklären im
Gegensatz zu den Materialisten, die meinen, es einzig auf Grund
physikalischer Gegebenheiten verstehen zu können. Der entscheidende Grund
für die Verbreitung der Lehre vom Lebensprinzip scheint jedoch die Tatsache
zu sein, dass sie der Haltung unzähliger Menschen entgegenkommt, die nicht
an die Unsterblichkeit der individuellen Persönlichkeit glauben, es aber in
bewusster Abgrenzung zu den radikalen Materialisten für möglich halten, dass
es ,etwas‘ im Menschen gibt, das den physischen Tod überlebt.
Ob sich indessen dieser Glaube tatsächlich vom Materialismus abhebt, ist
fraglich; denn man glaubt ja gar nicht an die Existenz eines
körperunabhängigen, individuellen Geistes. Man glaubt bloss an ein
immaterielles ,Prinzip‘. — Doch was ist ein ,Prinzip‘? Was heisst das in bezug
auf die einzelne Persönlichkeit und ihr Schicksal? Anscheinend haben bereits
im Altertum verschiedene Denker in der aristotelischen Anschauung einen
verkappten Materialismus ausgemacht. So berichtet Cicero über Dikaiarch,
einen Schüler des Aristoteles, der in seinem Theaterstück »Gespräche von
Korinth« einen Greis namens Pherekrates folgendes auseinandersetzen lässt:
»Die Seele ist überhaupt nichts. Sie ist ein leerer Name, und ohne Grund heisst
man etwas beseelt. Weder im Menschlichen wohnt eine Seele oder ein Geist,
noch im Tier. All die Kraft, mit der wir etwas tun oder empfinden, ist in alle
lebenden Körper gleichmässig ergossen und ist untrennbar vom Körper, da sie
keine selbständige Existenz hat.«
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (8 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Mischformen
Neben den materialistischen Seelenvorstellungen einerseits und den
aristotelischen andererseits gibt es eine Vielzahl weiterer Anschauungen über
das Wesen und die Bestimmung der Seele beziehungsweise des Geistes.
Vielfach handelt es sich dabei um ,Mischformen‘, das heisst um
Vorstellungen, die mehr oder weniger von materialistischem und
aristotelischem Gedankengut durchdrungen sind. Eingeflossen sind aber auch
Ansichten, wie sie in der sogenannten platonischen Philosophie und den
Glaubensvorstellungen der frühen Christen zum Ausdruck kommen. (Auf
dieseVorstellungen wird im nächsten Kapitel eingegangen.)
Die bedeutungsvollsten dieser Mischformen sind die Lehren der katholischen
Theologie und die Ansichten des französischen Mathematikers und
Philosophen René Descartes (1596 bis 1650).
Die katholische Auffassung von der Seele
In der römischen Kirche wird vor allem seit der Scholastik die aristotelische
Sichtweise vertreten. Thomas von Aquin (1226—1274), eine der grössten
Autoritäten der katholischen Theologie, hatte mit der Erhebung des Aristoteles
zum offiziellen Philosophen der Kirche auch dessen Ansichten über die Seele
übernommen. Wie Aristoteles erklärte auch Thomas die Seele als Wesensform
des lebenden Körpers, die untrennbar zum Körper gehöre; werde die Seele
beim physischen Tod vom Leib getrennt, so sei sie keine Person mehr.
Um nun diese Vorstellung mit dem urchristlichen Glauben an die
Unsterblichkeit der individuellen Persönlichkeit zu vereinbaren, wurde sie von
Thomas von Aquin mit der kirchlichen Lehre von der Auferstehung des
Fleisches verbunden: die Seele werde dann wieder zu einer Persönlichkeit,
wenn sie mit dem auferstandenen irdischen Körper wiedervereint sein werde.
Dies ist bis heute die gängige Auffassung in der katholischen Theologie. Wie
der deutsche Professor für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte,
Gisbert Greshake, erklärt, sei »die Seele wesenhaft auf den Leib verwiesen und
durch ihre Relation zum Leib (mit-)konstituiert«:
»Darüber hinaus gilt, dass, solange sie nicht wiederum mit dem Leib
wesenhaft vereint ist, sie in ihrer Leiblosigkeit — wie Thomas von Aquin
bemerkt — ein ,Krüppelwesen‘, ,Fragment‘, ,Teil des Menschen‘, nicht der
Mensch selbst, nicht Person ist.«
Die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung gehört übrigens zu den ältesten
Seelenvorstellungen überhaupt. Sie entspringt dem Unvermögen vieler
Menschen, sich eine Wirklichkeit in einer anderen Form als der ihnen
bekannten, irdisch wahrnehmbaren vorzustellen. Grabfunde aus frühen
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (9 von 18) [30.12.2002 21:15:10]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Epochen der Menschheitsgeschichte deuten darauf hin, dass man sich das
Leben nach dem Tod in derselben grobstofflichen Materie dachte, wie man sie
vom menschlichen Leben her kannte. Man gab daher den Verstorbenen alles
Lebensnotwendige mit ins Grab - Nahrung, Werkzeuge und Waffen —, damit
sie für die jenseitige Welt gerüstet waren. Die alten Agypter balsamierten den
Leichnam sogar sorgfältig ein, um ihn für die Ewigkeit im Jenseits zu erhalten.
Aus dem Unvermögen, sich Geistiges unabhängig von der irdischen Materie
vorstellen zu können, resultiert schliesslich die Auffassung über den Ursprung
von Gedanken und Gefühlen: So sieht die katholische Theologie ihn gemäss
Aristoteles in der Verbindung von Körper und Seele, wobei sie als das
entscheidende Verbindungsorgan — und hier folgt sie nicht ihrem Philosophen,
sondern den physiologischen Erkenntnissen der Moderne — das Gehirn
betrachtet. Ausdrücklich wird jedoch betont, dass in dieser gemeinsamen
,Produktion‘ mentaler Prozesse die Seele die leitende Rolle übernimmt.
Der descartessche Dualismus
Eine andere Mischform unter den Seelenvorstellungen stammt von René
Descartes. Auf seine Gedanken muss kurz eingegangen werden, weil durch sie
erst das klassische Leib-Seele-Problem der Philosophiegeschichte geschaffen
wurde. Descartes brachte indes keine wirklich neuen Vorstellungen auf,
sondern es handelt sich bei ihnen nur um eine Kombination mit neuen
Abgrenzungen. Seine Betrachtungen über das Wesen von Körper und Geist
müssen vor dem Hintergrund der katholischen Theologie gesehen werden;
denn sie scheinen eine Reaktion auf die fleischliche Sichtweise der Theologie
zu sein, die die Auferstehung des Leibes lehrt. Die Vorstellung, an einem
Jüngsten Tag würden Leichname aus den Gräbern erweckt und wieder mit der
Seele vereint, scheint Descartes abwegig gewesen zu sein. Die Konsequenz,
die er aus seiner Ablehnung zog, war sozusagen das andere Extrem: Er
gelangte zur Auffassung, dass Materie und Geist zwei völlig verschiedene,
voneinander getrennte Substanzen seien: Während die Materie dem Wesen
nach eine »ausgedehnte Substanz« (res extensa) sei und eine in sich
geschlossene mechanische Welt bilde, sei alles Geistige, also auch die Seele,
eine unausgedehnte, form- und gestaltlose, rein »denkende Substanz« (res
cogitans), die unabhängig von der Körperwelt existiere.
Mit seiner rigorosen Trennung der beiden Substanzen stiess Descartes auf ein
Problem: Da Körper und Geist angesichts ihrer radikalen Verschiedenheit
keine einzige inhaltliche Bestimmung gemeinsam haben sollten, entstand für
ihn die Schwierigkeit, das Zusammenwirken beider erklären zu können — war
er doch zugleich der Uberzeugung, Ursache und Wirkung müssten gleichartig
sein. Seine Annahme einer Wechselwirkung zwischen den zwei in sich
geschlossenen Bereichen erwies sich bald als eine Schwachstelle in seiner
Philosophie. Mit ihr schuf Descartes das klassische »Leib-SeeleProblem« der
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (10 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Philosophiegeschichte, mit dem sich seither ganze Forscher-generationen
auseinandersetzten: Während die einen nach Lösungen suchten, wie der
descartessche Dualismus mit den Naturgesetzen in Einklang zu bringen sei,
versuchten andere nachzuweisen, dass es diesen radikalen Dualismus, wie ihn
Descartes postuliert hatte, gar nicht gibt. Die Diskussion hält bis heute an und
bietet sowohl Geistes- als auch Naturwissenschaftlern überreichen Stoff.
Es fragt sich jedoch, ob sich diese Diskussion überhaupt lohnt. Versuchen wir
nämlich, Descartes‘ Vorstellungen über den Geist zu ergründen, so bleibt
unklar, was unter einer form- und gestaltlosen »denkenden Substanz«
eigentlich zu verstehen ist. Ist dies letztlich nicht bloss ein Ausdruck ohne
wirklichen Inhalt?
Der menschliche Geist ein Geschöpf aus der jenseitigen Welt
Die vielschichtigste und fruchtbarste Lehre über das Wesen des Geistes, oft
undifferenziert auch einfach als ,Seele‘ bezeichnet, ist zweifellos jene, die in
ihm ein unsterbliches, individuelles Geschöpf aus der jenseitigen Welt sieht
und ihn als die eigentliche Persönlichkeit des einzelnen Lebewesens betrachtet,
als Träger seiner individuellen Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und
Talente. Die bedeutendsten Vertreter dieser Anschauung waren die Propheten
Altisraels, ionische Philosophen wie Sokrates und Platon, Jesus von Nazareth
und frühe Christen wie Paulus und Origenes. Ihnen gemeinsam ist der Glaube
an eine höhere geistige Wirklichkeit, an einen Schöpfergott, durch dessen
Willen und dessen Macht alles Leben ins Dasein trat.
Ihre Vorstellungen über den Geist und sein Verhältnis zum Körper leuchten
am deutlichsten in den Dialogen Platons und den Schriften des Origenes auf.
Beide beschreiben ihn als jenseitiges Geschöpf, das bereits lange vor der
irdischen Geburt in einer geistigen Welt der Wirklichkeit erschaffen wurde.
Der irdische Körper sei im Grunde genommen nur ein vergängliches,
beschwerliches Kleid, in das dieses Geschöpf infolge eines eigenen
Verschuldens eingekleidet wurde; bei der Geburt verbinde es sich mit ihm, und
es verlasse ihn beim physischen Tod wieder. In diesem ,Gefängnis‘, wie Platon
es ausdrückt (vgl. Phaidros 250), habe es Zeugnis davon abzulegen, wohin sich
sein Sinnen und Streben richtet. Die Ionier und später vor allem Origenes
legten ein ganzes Glaubensgebäude dar, das die Ursachen und den Sinn dieses
Menschseins, ja die Ursache und den Sinn allen irdischen Lebens und der
ganzen irdischen Schöpfung überhaupt aufzeigt. Auf ihre umfassenden
Erklärungen kann an dieser Stelle freilich nicht eingegangen werden.
Für die Behandlung des vorliegenden Themas ist indes vor allem folgendes
festzuhalten: Der Geist wird hier als der Verursacher allen Denkens, Fühlens
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (11 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
und Wollens betrachtet. Er bestimmt nach dieser Auffassung das Handeln des
Menschen. Der irdische Körper ist das Mittel und die Voraussetzung, sich in
dieser materiellen Welt manifestieren zu können. Der Geist ist während seines
Erdenlebens auf den grobstofflichen Körper angewiesen, ist mit ihm engstens
verbunden, bedient sich seiner Organe und ist insofern bis zu einem gewissen
Grad von den körperlichen Gegebenheiten abhängig. Körper und Geist stehen
in gegenseitiger Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehung läuft indes nicht
immer synchron. So brauchen Erregungen des Geistes oft eine gewisse Zeit,
bis sie sich auf den Körper auswirken und ihre Spuren hinterlassen,
beispielsweise in Form einer Krankheit. Aber auch die Bewegungen und
Vorgänge des Körpers brauchen eine gewisse Zeit, bis sie den Geist nachhaltig
geprägt haben. Dies erklärt, weshalb die lonier in der Erziehung der Kinder
darauf achteten, bestimmte Bewegungsübungen und -muster wiederholt
einzuüben. Oder es erklärt — um ein Beispiel aus unserer Zeit zu nennen—,
weshalb das einmalige Betrachten eines Horrorfilms noch keinen bleibenden
psychischen Schaden hinterlässt, sich ein solcher vielmehr erst durch
wiederholtes Konsumieren einstellt.
Im übrigen wurde davon ausgegangen, dass auch der Körper über eine gewisse
Selbständigkeit verfügt: Alle vegetativen Funktionen, wie der Herzschlag oder
die Atmung, aber auch Reflexe, laufen mechanisch ab. Vom Geist stammen
die entsprechenden Verhaltensmuster dazu und vor allem eine
lebenserhaltende Kraft. Wird er beim Tod vom Leib getrennt, so hören auch
die körperlichen Funktionen auf, und der Leib zerfällt.
Gemäss den Erkenntnissen ionischer Ärzte, wie Alkmäon von Kroton (um 570
bis um 500 v.Chr.), nennt Platon das Gehirn als das entscheidende körperliche
Instrumentarium für die Umsetzung der Bewegungsaufforderungen des Geistes
in Körperbewegungen.
Der Geist — ein Geschöpf mit einem feinstofflichen Körper
Die im vorangegangenen Abschnitt dargelegte Vorstellung, der Geist sei ein
unsterbliches Geschöpf aus der jenseitigen Welt, unterscheidet sich indes nicht
nur grundlegend von den Anschauungen der Materialisten und denjenigen der
Aristoteliker. Ebenso unterscheidet sie sich von den beiden Extrempositionen,
wie sie einerseits die katholische Theologie mit ihrer fleischlichen
Auferstehung und andererseits René Descartes mit seiner Auffassung einer
Form- und Gestaltlosigkeit des Geistes vertreten. Aus den Schriften der
Propheten, der ionischen Philosophen und der frühen Christen wird
unmissverständlich deutlich, dass sie unter dem Geist ein Geschöpf verstehen,
das aus einer immateriellen Seele, das heisst aus der von Gott stammenden
Lebendigkeit, und aus einem feinstofflichen Körper besteht, der sich vom
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (12 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
irdischen Körper durch die Unvergänglichkeit unterscheidet. Dieser Geist, der
in jedem Menschen ,wohnt‘, ist nach dieser Auffassung also kein gestaltloser
Hauch oder Dunst, sondern er hat als Geschöpf der Welt des »Urbildes«, von
dem die irdische Welt schliesslich ein Abbild ist, auch Gestalt und Form.
Die Schwierigkeit im Verständnis dieses Geist-Seele-Begriffs, das heisst im
Erkennen der Unterscheidung zwischen immaterieller Seele und
feinstofflichem Geistkörper, liegt darin, dass in den meisten Schriften für
beides die gleiche Bezeichnung verwendet wird — bei den loniern der Begriff
psyché und später bei den Christen auch pneuma. Beide Begriffe sind
mehrsinnig. Platon bezeichnete in den meisten Fällen mit psyché den
verstorbenen Menschen, der, nachdem er seinen irdischen Körper abgelegt hat,
nun in der jenseitigen Welt als Geschöpf mit feinstofflichem Körper weiterlebt
und unter Umständen — wie beispielsweise in Phaidon 81 cd, in Gesetze 865 de
oder auch in Homers Ilias XXIII, 10Sf. berichtet wird — von gewissen
Menschen gesehen oder gehört werden könne. In anderen Fällen wird der
Begriff aber für das Lebendige eines Geschöpfs verwendet, das heisst für die
von Gott stammende Seele, die die eigentliche individuelle Persönlichkeit
jeden Wesens bildet, in der alles Denken, Fühlen und Wollen eingebettet ist. In
diesem Fall wird psyché als etwas unkörperlich Geistiges erklärt, genauer
gesagt, als etwas, das nicht Gestalt und Form hat, wie wir Menschen es uns
gewohnt sind (vgl. Phaidros 247). Wie dieses Lebendige aussehe, darüber
könne der Mensch keine Angaben machen; es fehlten ihm die Begriffe dafür,
weil es sich um etwas Göttliches handle.
Die beiden Begriffsauslegungen erscheinen auf den ersten Blick
widersprüchlich. Wer jedoch mit dem Glaubensgebäude dieser Menschen
vertraut ist, erkennt aus dem Kontext des Gesagten sofort, welche Bedeutung
jeweils im Einzelfall gemeint war. Diese Vorgehensweise bei philosophischen
oder religiösen Erörterungen war anscheinend bei den Griechen gang und
gäbe. Entsprechend kannte nämlich Didymos, ein späterer Schüler des
Origenes, acht verschiedene Bedeutungen für den Begriff ,Geist‘, die er
jeweils ohne weitere Erläuterung in seinen Schriften benutzte. Der Zuhörer
oder Leser musste durch eigenes Nachdenken merken, was im einzelnen Fall
gemeint war.
Solche mehrdeutigen Begriffe kennen wir ja auch heute: Gerade der Begriff
,Geist‘ wird noch für sehr Verschiedenes angewandt. Im einen Fall bezeichnet
er das reine Denkvermögen, im anderen Fall die Gesinnung eines Menschen, in
wieder einem anderen Fall meint man damit eine jenseitige Wesenheit, einen
Verstorbenen oder einen Engel. Unter einem Geist verstehen aber viele nichts
anderes als ein Gespenst. Einem mit unserer Sprache und unserem Denken
Vertrauten bereitet es dennoch keine Mühe, die jeweilige Bedeutung dieses
Wortes zu erkennen.
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (13 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
In diesem Zusammenhang riet Origenes seinen Schülern, es »möge sich jeder,
dem an der Wahrheit gelegen ist,wenig um Namen und Worte kümmern, weil
ja jedes Volk seinen besonderen Sprachgebrauch hat; sondern er soll mehr das
betrachten, was bezeichnet wird, als die Worte, mit denen es bezeichnet wird,
erst recht in so bedeutenden und schwierigen Fragen. Dies gilt beispielsweise,
wenn gefragt wird, ob es eine Substanz gibt, an der weder Farbe noch Gestalt,
noch Berührbarkeit, noch Grösse zu erkennen sind, die nur mit dem Denken
erfassbar ist und die jeder so nennt, wie er will. Die Griechen haben sie
nämlich ,,unkörperlich" (asómaton) genannt, die göttlichen Schriften dagegen
haben sie als ,,unsichtbar" bezeichnet; denn der Apostel erklärt, Gott sei
,,unsichtbar", indem er sagt, Christus sei ,,das Bild des unsichtbaren Gottes".
Andererseits sagt er aber auch, durch Christus sei ,,alles geschaffen, das
Sichtbare und das Unsichtbare". Damit ist ausgesprochen, dass es auch unter
den Geschöpfen einige ihrer besonderen Art nach unsichtbare Wesen gibt.
Aber trotz ihrer Unkörperlichkeit gebrauchen diese doch einen Körper, auch
wenn sie an sich über die körperliche Natur erhaben sind. Dagegen hat man
sich jene Substanz, die Ursprung und Ursache von allem ist und ,,aus der und
durch die und in der alles ist", weder als Körper noch in einem Körper zu
denken, sondern als vollkommen unkörperlich.«
(Peri archon IV 3,15)
Doch wie dieses Unkörperliche, Göttliche beschaffen sei, dafür habe der
Mensch, wie bereits erwähnt, keine Begriffe.
Ansätze platonischen Denkens in der
Neurowissenschaft
Ansatzweise finden sich die ionische beziehungsweise israelitische und die
frühchristliche Vorstellung über Geist und Seele zu allen Zeiten. Während
jedoch der Präexistenzgedanke bei den meisten Gläubigen unbekannt ist oder
von vielen als Spekulation verworfen wird, ist die Uberzeugung, das Geistige
im Menschen bilde dessen eigentliche Persönlichkeit und überlebe den
physischen Tod als individuelles Geschöpf mit all seinen Erinnerungen,
Gefühlen usw. in einer jenseitigen Welt, seit jeher sehr verbreitet. Durch
eigene Erlebnisse im Zusammenhang mit Verstorbenen, durch glaubwürdige
Schilderungen solcher Erlebnisse oder einfach aus innerem Wissen ist die
Unsterblichkeit des individuellen Geistes für viele eine Gewissheit. In der
Literatur aller Epochen und Völker finden sich Zeugnisse für diesen Glauben.
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (14 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Holzschnitt für Martin Luthers Buch »Vorbereitung zum Sterben« von Jörg Nadler, 1520.
Der Glaube an die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes, der den physischen Kärper
belebt und ihn nach seinem Hinschied verlässt, ist von alters her für viele Menschen eine
feste Gewissheit. Allerdings sind die Vorstellungen über Wesen und Aussehen von Geist
und Seele meist sehr naiv
Dieser Glaube findet sich selbst unter heutigen Neurowissenschaftlern. Als
eine verschwindende Minderheit unter materialistisch gesinnten Kollegen
gehen einzelne Forscher davon aus, dass das unsterbliche Geistige im
Menschen die massgebende Instanz für alle mentalen Prozesse sei und Einfluss
auf den Körper nehme, indem es sich seiner Organe bediene. Sie sind
überzeugt, nur von diesem Ansatz her hinter das Rätsel des Bewusstseins und
des Geistes zu kommen und die Prinzipien erahnen zu können, nach welchen
die Wechselwirkung zwischen Gehirn und Geist abläuft. Mit dieser Haltung
forschen sie im Sinne des berühmten Physikers und Nobelpreisträgers Werner
Heisenberg (1901—1976), der mehrfach betonte, erst die Abkehr von
Aristoteles und die Hinwendung zu Platon öffne in der Naturwissenschaft die
Wege zu neuen Erkenntnissen (Heisenberg, »Naturwissenschaftliche und
religiöse Wahrheit«, 1973).
Noch fehlt den Neurowissenschaftlern die umfassende Kenntnis des Wissens
über erste und letzte Dinge eines Platon, eines Sokrates oder Origenes. Aus
ihren Aussagen wird ersichtlich, dass ihnen deren Lehren von der Herkunft
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (15 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
und der Bestimmung von Geist und Seele oder von der Ursache irdischen
Lebens fremd sind. Der hauptsächliche Grund dafür ist in den vorliegenden
Übersetzungen zu suchen, die das Wissen der Genannten nur mangelhaft und
verdreht wiedergeben. So wird beispielsweise in den heute erhältlichen
Übersetzungen der platonischen Dialoge den völlig gegensätzlichen
Geisteshaltungen und Weltanschauungen der jeweiligen Gesprächspartner
überhaupt nicht Rechnung getragen, weil sie den Übersetzern entweder nicht
näher bekannt waren oder diese selbst eine bestimmte Sicht vertraten, die sie
bei ihrer Arbeit einbrachten. Die Folge davon sind Schriften, deren Inhalt in
Glaubensdingen keinen Sinn machen und daher in diesen Belangen nicht
nachvollzogen werden können,
Man denke beispielsweise an die Übersetzungen von Platons »Symposion«,
aus denen überhaupt nicht ersichtlich wird, worum es in dieser
Auseinandersetzung über den »Eros« eigentlich gegangen war. Erst neue
Übersetzungen, wie sie MUSEION 2000 vorlegt, die sowohl die
unterschiedlichen Glaubensansichten von Ioniern und Dorern aufzeigen als
auch dem historischen und geistesgeschichtlichen Bezug der Gespräche
nachgehen, bringen Licht in die Glaubenswelt der ionischen Philosophen. Sie
machen es möglich, den eigentlichen Gehalt dieser Einsichten wieder an den
Tag zu bringen.
Ein ähnliches Problem besteht auch bei den Ubersetzungen der Schriften von
Origenes, allen voran seines Werks »Peri archon« (»Über die ersten Dinge«),
in dem der grösste Gelehrte des christlichen Altertums sein gesamtes
Glaubensgebäude dargelegt hat. Hier vermag der mit dem ionischen
beziehungsweise dem frühchristlichen Glaubensgut nicht vertraute Leser in der
Regel nicht mehr zu unterscheiden, was auf Origenes und was auf spätere,
anders gesinnte Abschreiber und Übersetzer — insbesondere auf den römischen
Kirchenvater Hieronymus —zurückgeht (vgl. Robert Sträuli »Origenes der
Diamantene«).
Es ist daher von grösster Wichtigkeit, Übersetzunge vorzulegen, die das
erwähnt Gedankengut unverfälscht und nachvollziehbar darlegen. Erst dann
wird dieses Wissen in Glaubensdingen einsichtig und kann es in den
verschiedenen Wissenschaften im Sinne Heisenbergs zu starken Impulsen und
Forschungsansätzen kommen.
Erfreulich ist zweifelsohne schon der Mut von verschiedenen
Neurowissenschaftlern, einen ersten Schritt in die richtige Richtung hin zu
Platon zu tun, indem sie mit ihren Forschungsergebnissen andere davon zu
überzeugen versuchen dass es überhaupt einen körperunabhängigen, freien
Geist gibt, der Einfluss auf den Körper nimmt. Im Gegensatz zu ihren
Kollegen fühlen sie sicl durch die immer sensationelleren Erkenntnisse über
die Funktionsweisen des Gehirns in ihrem Glauben bestärkt, der menschliche
Geist müsse aus einer jenseitigen Welt stammen die mit den heute bekannter
Methoden der Wissenschaft nicht ergründet werden kann So gibt
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (16 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
beispielsweise der grosse Neurowissenschaftler und Neurochirurg Wilder
Penfield seiner Uberzeugung Ausdruck:
»Die physische Basis des Geistes ist die Hirnaktion in jedem Individuum; sie
begleitet die Aktivität seines Geistes, doch der Geist ist frei; er ist eines Grades
von Initiative fähig... Der Geist ist der Mensch, den man kennt. Er muss durch
Perioden von Schlaf und Koma Kontinuität besitzen. Ich vermute, dass dann
dieser Geist irgendwie nach dem Tode fortleben muss. Ich kann nicht daran
zweifeln, dass viele in Kontakt zu Gott treten und von einem grösseren Geist
geführt werden. Doch das ist persönlicher Glaube, den jeder Mensch für sich
selbst annehmen muss. Besässe er nur ein Gehirn und keinen Geist, so wäre
diese schwierige Entscheidung nicht seine Angelegenheit.«
Der berühmteste Neurowissenschaftler, der im physischen Gehirn das
Werkzeug des unabhängigen Geistes sieht, ist der australische
Nobelpreisträger Sir John C. Eccles (1903-1997). Angesichts der Komplexität
der neuralen Anlage des Gehirns und angesichts der Einmaligkeit jedes
einzelnen Individuums hatte sich in Eccles während eines langen
Forscherlebens die Gewissheit gefestigt, der Geist im Menschen sei »auf eine
übernatürliche, spirituelle Schöpfung zurückzuführen«:
»Die Einzigartigkeit der Seele führt als wichtiger Punkt zu einer religiösen
Sichtweise des einzelnen Menschen. Zunächst ist jede einzelne Psyche auf eine
Weise einzigartig, die auf naturwissenschaftlicher Basis, auch mit den stark
verfeinerten Methoden der Genetik und Neuroembryologie, nicht erklärbar ist.
Das Ins-Leben-Treten jeder einzelnen erfahrenden Psyche ist voller
Geheimnisse....Im Gegensatz zu den materialistischen Theorien ist der
dualistische Interaktionismus [Wechselwirkung zwischen Leib und Seele] mit
einem Leben in Einklang zu bringen, das mit der unaufhörlichen Suche nach
den höchsten Werten — dem Wahren, dem Guten und dem Schönen —, die
dem Leben Sinn und Zweck verleihen, befasst ist und ebenso mit der Suche
nach der Freiheit, die moralische Verantwortlichkeit mit sich bringt.«
Eccles hat es sich zur Lebensauf gabe gemacht, den Materialismus seiner
Kollegen zu widerlegen. Er vermutet, dass es auf Grund genauer Kenntnisse
über die Mikrostrukturen und Mikrofunktionen des Neokortex (des am
stärksten differenzierten Teils der Grosshirnrinde) und auf Grund der
modernen Erkenntnisse in der Quantenphysik möglich ist, die Existenz des
körperunabhängigen Geistes und sein Wirken auf den Körper nachzuweisen.
Zu Eccles‘ Hypothese ist folgendes anzumerken: Freilich hilft die moderne
Wissenschaft, dem Leib-Seele-Problem auf die Spur zu kommen. Doch mit
den Naturwissenschaften allein lässt sich das Rätsel des Bewusstseins und der
Seele nicht lösen. Die erste Voraussetzung für das Verständnis des
Leib-Seele-Problems ist der Zugang zu geistigem Denken und ein Verständnis
für erste und letzte Dinge, wie sie beispielsweise Platon oder auch Origenes
einst darlegten.
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (17 von 18) [30.12.2002 21:15:11]
Das Leib-Seele Problem: Wer denkt und fühlt --das Gehirn oder die Seele?
Die Zeitschrift MUSEION 2000 (ISSN 1017-0367)
erscheint 6 mal jährlich im ABZ Verlag Zürich
Abonnement 68.-DM, Schweiz 59.-Fr., Österreich 510.- öS
[email protected]
file:///D|/Webs-Speer/lokalorigenes/_private/Copyright_abgelehnt/Museion2-97/Gehirn-Seele.htm (18 von 18) [30.12.2002 21:15:11]