Reale Gewalt – mediale Gewalt

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Reale Gewalt – mediale Gewalt
Vorlesung
Medienpädagogik
WS 2005/06
Roland Rosenstock
Reale Gewalt – mediale Gewalt
I.
Was ist Gewalt in den Medien?
Wenn in Action- bzw. Horrorfilmen Menschen getötet und gequält werden, ist das zweifellos
Gewalt. Es ist aber auch Gewalt, wenn in Filmen und Computerspielen Heldenfiguren siegen,
die im Kampf für das „Gute“ das „Böse“ mit Gewalt beseitigen. Und es ist auch Gewalt,
wenn Opfer von Katastrophen oder Verbrechen in allen grausamen Einzelheiten in RealityTV-Sendungen portraitiert werden, oder wenn sich in Talkshows Menschen gegenseitig
verbal attackieren und bedrohen. Eine direkte Möglichkeit der Gewaltausübung ermöglichen
so genannte Ego-Shooter-Spiele. Im virtuellen Raum besteht das Ziel des Spieles in der
Tötung der Gegner, dafür stehen umfangreiche Waffenarsenale zur Verfügung, die eine große
Realitätsnähe aufweisen.
Gewaltdarstellungen in den Medien unterscheiden sich von den Gewalterlebnissen im Alltag
darin, dass sie medial vermittelt sind. Mediale Gewalt ist immer inszenierte Gewalt. Es ist
daher wichtig, zwischen realer Gewalt und der medial vermittelten Darstellung von Gewalt zu
unterscheiden.
Im Verlauf ihrer „Medienbiografie“ treffen Heranwachsende auf vielfältige Darstellungen
von Gewalttätigkeiten. Sie müssen sich mit den Eindrücken auseinander setzen und sie
verarbeiten. Dabei lernen sie, dass Gewalttätigkeiten zu bestimmten Formen von Erzählungen
gehören, wie z.B. der Wolf, der die Großmutter frisst zum Märchen oder der Mord zum
Krimi. Wie auch in der Erwachsenenwelt ist Gewalttätigkeit - als Moment der Information
und der Unterhaltung - ein fester Teil der Kinder- und Jugendkultur geworden. Gewalt
umfasst demnach beides: das Element der Spannung und das der Entspannung.
Die Form der Inszenierung ist dabei sehr unterschiedlich: Sie reicht von der Comicfigur, die
gerade noch mit einem großen Hammer platt gehauen wurde und schon wieder aufsteht bis
zur Darstellung aller Einzelheiten der Enthauptung eines amerikanischen Sicherheitsmannes
durch irakische Untergrundkämpfer auf einer Internethomepage.
Gewalt hat ihren Platz in den Erzählungen der Nachrichtensendungen, z.B. in Kriegsberichten
oder Übertragungen von Terroranschlägen wie auch in Actionfilmen, den Musikformaten
oder in Computerspielen. Die Bilder des Irak Krieges zeigen nicht die Realität des Krieges,
sondern sie bilden die Realität für das Medium nur ab. Die Art, wie in den
Nachrichtendramaturgien Gewalt inszeniert wird, spiegelt auch wider, wie eine Gesellschaft
ihre Konflikte bewältigt.
Die Abbildung realer Gewalt folgt bestimmten journalistischen Regeln, die eine Auswirkung
auf unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit haben: Gewalt und Verbrechen haben eine große
Chance als Nachricht veröffentlicht zu werden, da sie einen besonderen
Aufmerksamkeitswert besitzen und intensiv konsumiert werden. Dabei kommt es zu einer
Verzerrung, da meist über schwere Verbrechen und Morde berichtet wird. So kann das Gefühl
entstehen, ständig in einer bedrohten Umwelt zu leben.
Bestimmte Formen der Gewalt wie terroristische Anschläge werden heute sogar in Blick auf
die mediale Berichterstattung geplant. Medienberichterstattung und reale Gewalt stehen in
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einer engen Beziehung zueinander. Bestimmte Personengruppen versuchen durch Gewalttaten
über die Medien auf sich aufmerksam zu machen.
Die Inszenierung von realer Gewalt wird in der Regel nicht als unterhaltsam empfunden. In
realen oder realitätsnahen Darstellungen, wie zum Beispiel den Nachrichten, vermuten die
Heranwachsenden einen Zusammenhang zu ihrem eigenen Leben. In drastischen Szenen
leiden Kinder mit den Opfern mit. Bei terroristischen Anschlägen wie dem 11. September
spüren sie die emotionale Betroffenheit der Erwachsenen ohne die Bilder für sich selbst in
einen Zusammenhang bringen zu können. Gewalt kann auch als legitim dargestellt werden,
als erfolgreiches Mittel zur Konfliktlösung oder neuerdings zur strategischen
Terrorbekämpfung. Das Böse in Gestalt von Terroristen muss auf jeden Fall beseitigt werden.
Es macht einen Unterschied, in welchem Medium Gewalt gezeigt oder beschrieben wird:
Wird Gewalt zum Beispiel in einem (Märchen-)Buch beschrieben, muss man sich vorstellen,
was passiert ist. Im Hörspiel muss die Phantasie die Bilder produzieren. Gewalt im Film lässt
dagegen wenig Spielraum für Phantasie. Gewalt, die in Computerspielen als Ego-Shooter
selbst aktiv ausgeübt wird, verringert die Möglichkeit zur Distanz: Der Spieler ist selbst der
Schütze, Gewalt die einzige Möglichkeit, um ans Ziel zu kommen. Das Internet bietet heute
die Möglichkeit, alle Medien multimedial zusammen zu führen und die Darstellung von
medialen Actionwelten zu perfektionieren.
Kinder können zwischen realer und fiktiver Gewalt in den Medien unterscheiden, wenn die
Medien ihnen dafür klare Unterscheidungsmöglichkeiten anbieten. Dabei helfen ihnen
Gestaltungsmittel wie Zeitlupenaufnahmen, Spezialeffekte und die Untermalung von
dramatischer Musik. Sie lernen, dass prügelnde Cowboys Schauspieler sind, die nur so tun,
als ob sie verprügelt werden, getötete Indianer wieder aufstehen und Zeichentrickfiguren
unverwundbar sind. In der kindlichen Welt werden diese Formen der Gewalt in der Regel
spielerisch aufgenommen.
Eine intensivere Form der fiktiven Gewalt finden sich in animierten Actionwelten (Animes),
die zur gegenwärtigen Kinderkultur dazugehören: Aus Japan stammenden Zeichentrickserien
(Mangas) basieren nicht selten auf Videospiele, die für den Gameboy von Nintendo
entwickelt wurden. Nichts selten findet eine breite crossmediale Vermarktung statt:
Sammelkartenspiele, TV Serien, Kinofilme, Sammelfiguren, Computerspiele und eine Reihe
von Merchandising-Produkte führen zur intensiven Bindung an die Helden und Charaktere.
Die bekanntesten Formate sind hier „Pokemon“ (Taschenmonster-Gladiatoren für fünf bis
zehn Jährige), „Beyblade“ (Action Kreiselspiele ab sechs Jahren), „Digimon 02“ (Digitale
Monster als Konkurrenz zur „Pokemon“ Serie) oder „One piece“ (Kämpfe im Piratenmilieu
um einen Goldschatz).
Mangas nehmen für sich in Anspruch eine Form von „sauberer Gewalt“ zu vermitteln: Fragt
man bei diesem Genre nach „Werten“, die den Kindern vermittelt werden, stehen vor allem
Hegenomiewerte im Vordergrund: Der (Lebens-)Kampf wird zum Metawert „Gut gegen
Böse“, Kampftaktiken sind wichtig, sich behaupten, Stärke zeigen, Macht und Herrschaft
ausüben durch Einsatz von Waffen von zentraler Bedeutung. Doch die Werte der
Selbstentfaltung, das Bedürfnis „gewinnen zu wollen“, Meister zu sein, steht neben der
dramatischen Spannungssuche vor allem im Vordergrund.
Von „sauberer“ Gewalt kann auch gesprochen werden, wenn die Folgen von Gewalt nicht
gezeigt werden, wenn Gewalt scheinbar keine Opfer hat. Oder wenn die Opfer unbeschadet
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wieder aufstehen, wie zum Beispiel in dem Zeichentrickfilm „Tom und Jerry“. Es wird
vermittelt, dass nichts Schlimmes passiert ist.
Welche Gefahr liegt in solchen medialen Gewaltdarstellungen? Wie wirkt in Medien
dargestellte Gewalt auf Kinder und Jugendliche?
II. Die Wirkung von Gewalt
Die Erforschung der Wirkung von medialer Gewalt führt zu sehr unterschiedlichen
Ergebnissen: Die Spanne reicht von der Ablehnung bis hin zur Rechtfertigung von
Gewaltdarstellungen, von panischen Angst bis zur unterhaltsamen Spannung, von dem Gefühl
der psychischen Belastung bis zu einem gesteigerten Selbstbewusstsein.
Im Einzelnen werden folgende Thesen vertreten:
Die so genannte Katharsisthese geht davon aus, dass Gewaltszenen helfen, Aggressionen
abzureagieren. Die dargestellt Gewalt verhindert demnach wirkliche Gewalt. Gewalt soll eine
reinigende Wirkung haben. Der Drang selbst aggressiv zu werden nimmt ab, da die Gewalt
bereits in der Phantasie ausagiert werden kann. Man kann auch größere Zufriedenheit mit der
eigenen Situation fühlen, dass Gewalt in größer Ferne geschieht oder medial überwunden
wird. Vor allem in der Rezeption von Kampfsportfilmen kann diese Wirkung nachgewiesen
werden.
Die Abschreckungsthese besagt: Eine besonders wirklichkeitsgetreue Wiedergabe von
Kriegsgewalt hat stärker gewaltkritische Impulse. So hat sich mit den Antikriegsfilmen von
„Im Westen nichts Neues“ bis „Der Soldat James Ryan“ ein Genre etabliert, dass bewusst den
Blick auf die Opfer und ihr Leiden lenkt: Kinder und Jugendliche identifizieren sich mit den
Schwachen und Drangsalierten. Auch in der Berichterstattung über reale Gewalt wird dieser
Effekt genutzt: Zum einen von der Propaganda der Kriegsparteien - zum Beispiel in der
Berichterstattung über die beiden Golfkriege -, zum anderen von den Nachrichten und
Politmagazinen um die „realen“ Auswirkungen von Kriegen zu zeigen.
Die Nachahmungs- oder Suggestionsthese besagt, dass die Beobachtung von Mediengewalt
zu einer Nachahmungstat führen kann. So folgte die Tötung eines 12-jährigen Mädchens der
Dramaturgie des Films „Halloween“: Ein Jugendlicher drang mit Umhang und Totenmaske in
ein Haus ein und erstach das Mädchen wie „im Film“.
Jugendliche Täter begründen ihre Tat vor Gericht häufig mit medialer Gewalt auch wenn
darin Rationalisierungsversuche des eigenen Verhaltens zu Vermuten sind. So kann
nachgewiesen werden, dass die Berichterstattung über fremdenfeindliche Gewaltakte weitere
Straftaten stimuliert hat. Doch wie stark können Nachahmungstaten von ohnehin
gewaltbereiten Menschen für die Wirkung von medialer Gewalt gewichtet werden?
Auch ist nachgewiesen worden, dass nach der Veröffentlichung von Berichten über
Selbstmorden die Selbstmordziffer anstieg („Werther-Effekt“). Untersucht wurden zum
Beispiel die Folgen der ZDF-Fernsehserie „Tod eines Schülers“ (1981/ 1982), in dem ein 19 Jähriger von einem Zug überrollt wird. Aus diesem Grund werden Selbstmordversuche im SBahn Bereich von Großstädten wie München oder Berlin in der Presse nicht oder nur
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verschlüsselt als Personenschaden veröffentlicht. Auch in den Suizidforen im Internet ist der
Nachahmungseffekt beobachtbar.
Mit der Erregungsthese bezeichnet man die Beobachtung, dass Medieninhalte wie Erotik und
Gewalt emotionale Erregungszustände auslösen können. Wie diese abgebaut werden, hängt
mit der jeweiligen Situation und den zur Verfügung stehenden Mitteln (z.B. der Besitz von
Waffen) zusammen. So können Gewaltdarstellungen in Frustsituationen kurzfristig
aggressives Verhalten verstärken, vor allem wenn sie Ähnlichkeiten zur realen Situation
aufweisen. Erfahrungen aus der Jugendpsychiatrie zeigen, dass Kinder und Jugendliche ihr
eigenes aggressives Verhalten durch Vorbilder aus Gewaltfilmen rechtfertigen.
Die Abstumpfungsthese behauptet das Gegenteil: Je mehr Gewalt man sieht, desto
gleichgültiger reagiert man. Die Gewöhnung an Gewalt durch aggressive Musik, in
Computerspielen und im Fernsehen führt dann dazu, dass gewalttätiges Verhalten als
Alltagsverhalten toleriert wird. Eine allgemeine „Verrohung“ der Gesellschaft könnte die
Folge sein.
Allen Thesen ist gemeinsam, dass „soziales Lernen“ in Beziehung mit den Medien stattfindet.
Der Konsum von medialer Gewalt vermittelt ein sinnliches Erlebnis. Was „gelernt“ wird,
hängt vom Beobachter und der jeweiligen Situation und der Umwelt ab. Kinder die keine
Vorlieben für Gewaltdarstellungen haben, werden auch durch langen und regelmäßigen
Kontakt mit brutalen Darstellungen nicht Gewaltbereiter. Auf der anderen Seite kann
nachgewiesen werden, dass das aggressive Verhalten von Kindern und Jugendlichen, deren
Alltagserfahrungen durch Gewalt geprägt sind, durch verstärkten Medienkonsum gesteigert
wird.
III. Schlussfolgerung
In Folge von tragischen Ereignissen - wie dem Amoklauf von Robert S. in einem Erfurter
Gymnasium - werden in der Öffentlichkeit gern die Massenmedien für Gewaltexzesse von
Jugendlichen verantwortlich gemacht.
Gewaltbereitschaft kann aber nicht allein auf mediale Einflüsse zurück geführt werden. Ein
einfacher Ursache/Wirkungszusammenhang besteht nicht. Von entscheidender Bedeutung für
das Erlernen und den Umgang mit aggressiven Verhalten bleiben die familiäre Situation und
die Erfahrungen in den sozialen Netzwerken, im Freundes- bzw. Bekanntenkreis.
Dennoch findet soziales Lernen heute auch in Auseinandersetzung mit medialen Inhalten
statt. Und es gibt so genannte Nachahmungstäter, die Gewalt anhand von medialen
Dramaturgien inszenieren.
Kinder, die in ihrem Umfeld gelernt haben, dass Gewalt ein probates Mittel ist, um Ziele zu
erreichen, werden durch gewalthaltige Medieninhalte in dieser Haltung bestätigt. Die
Vernachlässigung in der Erziehung und das „Vorbild“ der Eltern und älteren Geschwister
wirken unterstützend, Persönlichkeitsmerkmale wie ein niedriges Selbstbewusstsein und die
Erfahrung von sozialer Isolation kommen hinzu – quer durch alle Schichten und Milieus.
Jungendliche verfügen heute im Allgemeinen über einen großen Erfahrungsschatz von
medialen Gewaltdarstellungen. Vor allem in der Jungenkultur kann ein gewisser „Kick“
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beobachtet werden, sich mit Action- und Psychofilmen oder gewalthaltigen Computerspielen
zu beschäftigen.
Dabei werden die Inhalte je nach Geschlecht anders erlebt. Mädchen konsumieren weniger
gewalthaltige Inhalte und berichten in der Regel von Gefühlen der Angst und Belastung. Für
Jungen sind Werte wie der Kampf „Gut gegen Böse“, das „Überleben“ und „Sich-wehrenkönnen“ von zentraler Bedeutung. Dabei identifizieren sie sich mit den kämpfenden Figuren
und haben eine Vorliebe für Action-Genres. Mediale Gewalterfahrungen sind nicht die
Alleinverursacher von gesteigerter Aggressivität. Im Zusammenhang mit anderen Problemen
verstärken sie aber die Aggressivität und prägen das Rollenverhalten.
Durch gezielte Gespräche über Gewaltinhalte von Medien können Erfolge im Sinne einer
Aggressivitätsreduzierung erzielt werden. In der Arbeit mit Schülern hat sich ein
Materialpaket bewährt, dass neben einer Elternbroschüre vier Module enthält (Spielemodul,
Vermarktungsmodul, Jugendschutzmodul, Gewaltmodul), die das Thema Gewalt umfassend
beleuchten und eine Vielzahl von pädagogischen Anregungen vermitteln:
•
Aufwachsen in Actionwelten. Ein Materialpaket zu gewalthaltigen Spielwelten und
Medienverbünden, hrsg. v. JFF – Institut für Medienpädagogik in Forschung und
Praxis/ Aktion Jugendschutz, Landesstelle Bayern (AJ), kopaed: München 2003.
Literatur:
• Anfang, Günther: Mit Medien gegen Gewalt. Beispiele, Anregungen und Ideen aus
der Praxis, kopaed: München 2003.
• Weiß, Rudolf H.: Gewalt, Medien und Aggressivität bei Schülern, Hogrefe: Göttingen
u.a. 2000.