Blütezeit des Erzählens - Bertz + Fischer Verlag

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Blütezeit des Erzählens - Bertz + Fischer Verlag
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Blütezeit des Erzählens
Aktuelle Bücher zur Filmnarratologie
Von Roman Mauer
Dem Gegensatz zwischen
Old School und New School
widmete sich André Georgi
in Scenario 2. Dagmar Benkes Band zum Freistil findet
sich wie alle in diesem Essay
besprochenen Bücher in der
Literaturliste im Anhang.
Ein Amateur, der am Plot verzweifelt, oder ein Profi, der die Technik verfeinern will – beide greifen nach Drehbuchratgebern, sei es Old School
oder Freistil. Ein Redakteur wird vielleicht nach Gemeinsamkeiten und
Unterschieden in der Drehbuchliteratur suchen und Dennis Eicks vergleichende Analyse zur Hand nehmen. Manche aber lesen sich auch
in die Theorien ein, die in der noch immer jungen Film- oder Medienwissenschaft über das audiovisuelle Erzählen entstehen. Und es gibt
gute Gründe. Jeder Autor kommt im Schreibprozess irgendwann an
den Punkt, wo er das eigene Drehbuch analysieren muss wie ein Ethnograf, der sich einer fremden Spezies nähert. Jeder Autor muss sich
beim Drehbuch der Herausforderung eines Mediums stellen, bei dem
Narration und Ästhetik eng miteinander verzahnt sind und Erzählen auf
vielen Gestaltungsebenen verteilt, auf bildlichen, akustischen, sprachlichen, musikalischen und körperlichen Kanälen stattfindet. Und ein
Autor im Jahre 2013 – nach 20 Jahren aufregender Erzählexperimente
in Kino, Fernsehen, Internet und Computerspiel – kann nicht umhin,
sich auf ein Publikum mit hoher Medienkompetenz einzustellen, das
Komplexität nicht scheut, sondern genießt. Allein schon aus diesen
Gründen können die Bemühungen der Forscher – auch wenn ihre exzessive Begriffs- und Ordnungsbildung erschlagen mag – hilfreich für
die Praxis sein. Denn um die Vielfalt der Arten zu kennen, bedarf es
genauer Klassifizierungen. Und wer keine Begriffe hat, sieht kaum die
Unterschiede. Nicht selten entzünden sich neue Ideen für Geschichten
an der erhellenden Analyse eines Films, den man liebt.
Dabei lässt sich das Erforschen filmischen Erzählens schwerlich
in die Lager Dramaturgie und Narratologie spalten. Beide Begriffe vagabundieren genauso wie die Konzepte. Historisch lässt sich natürlich
sagen: Die Filmdramaturgie hat sich aus der Dramentheorie des Theaters entwickelt, die Filmnarratologie aus der Erzähltheorie der Literatur.
Theater und Literatur sind die älteren Geschwister, von denen der jüngere Film Modelle und Begriffe übernommen hat, so wie die jüngeren
eben die getragenen Hosen der älteren vererbt bekommen – bis sie aus
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ihnen herauswachsen. Denn auch wenn die Deckungsflächen zwischen
Film und Theater (in der Inszenierung von Körpern) oder Film und
Literatur (im Arrangieren von Erzählpartikeln) nicht zu leugnen sind,
so muss sich eine Erzähltheorie des Films daran messen lassen, wie sie
der Eigenständigkeit des Bewegtbild-Mediums gerecht wird.
Klarer unterscheiden lässt sich in allen drei Künsten zwischen
Ratgebern und Theorien: den Praktikern, die ihr Handwerk in Form
von Regeln oder Tipps für zukünftige Autoren weitergeben, und den
Wissenschaftlern, die Theorien des Erzählens aus geschriebenen Geschichten destillieren. Mal gibt es Praktiker, die sich wissenschaftlich
geben (wie Robert McKee in Story), mal gibt es Wissenschaftler, die Konzepte aus der Produktionspraxis für die Theorie fruchtbar machen (wie
Michaela Krützen in Dramaturgie des Films), aber in der Regel scheut
man einander, weil die einen auf Intuition und Erfahrung vertrauen,
die anderen auf Analyse und Definition.
Blickt man im Zeitraffer zurück, so lässt sich sagen: Zunächst
waren es Romanschriftsteller, die ihre handwerklichen Erfahrungen
überdachten. Friedrich Spielhagen bereits 1883 mit Beiträge zur Theorie
und Technik des Romans, Edward M. Forster 1927 in England mit Aspects of the Novel und Henry James 1934 in den USA mit seinem Essay
The Art of the Novel (um nur die bekanntesten zu nennen). In der noch
jungen Bundesrepublik gelang es dann Literaturwissenschaftlern wie
Käte Hamburger (1957), Eberhard Lämmert (1955) und Franz K. Stanzel
(1964, 1979), mit ihren Erzähltheorien international Impulse zu setzen, die noch heute Gültigkeit haben. In Frankreich taten sich in den
1960er Jahren die Strukturalisten hervor: neben Claude Bermond, Roland Barthes oder Tzvetan Todorov vor allem Gérard Genette. Indem er
Marcel Prousts Jahrhundertroman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
(1913–27) mikroskopisch untersuchte, legte Genette in seinem Standardwerk Discours du récit (1972) den Grundstein für eine systematische und
komplexe Theorie des Erzählens, die international Wellen schlug – nur
nicht in Deutschland. Das Buch wurde schlichtweg nicht übersetzt. Als
es dann 1994 unter dem Titel Die Erzählung erschien und 1999 durch
die Einführung in die Erzähltheorie von Matías Martínez und Michael
Scheffel unter Studenten bekannter wurde, da stand es in Frankreich,
England und den USA bereits zerlesen, vielfach unterstrichen und eingeklemmt zwischen daran anschließenden Theorien in den Regalen
herum. Zu diesem Zeitpunkt rätselte man in Deutschland noch darüber, wie man Stanzels personalen oder auktorialen Erzähler auf den
Film übertragen könne. Derweil hatte sich in den USA schon eine eigenständige Erzähltheorie des Films herausgebildet, deren Pioniere der
Strukturalist Seymour Chatman (1978) und die Neoformalisten David
Bordwell (1985) und Edward Branigan (1992) waren.
Marcel Proust: Auf der Suche
nach der verlorenen Zeit.
Frankfurter Ausgabe in
sieben Bänden (Suhrkamp
2011)
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Webisodes sind kurze Videofilme im Internet oder
einzelne Episoden von
Webserien, die speziell für
den Download oder Videostream produziert werden.
Die durchschnittliche Länge
einer Webisode liegt zwischen 3 und 15 Minuten,
und oft beinhalten sie die
Möglichkeit der Interaktion.
Mobisodes sind speziell für
die Wiedergabe auf dem
Mobiltelefon produzierte
Videofilme, die zwischen 30
Sekunden und 5 Minuten
lang sind. Oftmals ist
eine Mobisode Teil einer
eigenen Serie oder eines
Zusammenschnitts von im
Fernsehen ausgestrahlten
Serien.
Machinima setzt sich aus
den Wörtern machine und
cinema zusammen und
bezeichnet Filme, die meist
mit Hilfe von 3-D-Computerspiel-Technologien produziert werden. Sie entstehen
duch die Kombination aus
herkömmlichen Filmtechniken und Animation in der
virtuellen Game-Welt.
Seit der Jahrtausendwende sind die Erzählforscher nun ausgeschwärmt, suchen in der Musik und bildenden Kunst, den Comics,
Computerspielen, Nachrichten, Dokumentationen und Internetseiten
nach Erzählstrukturen, fragen nach ihren jeweiligen Funktionen, gründen Forschergruppen, beraten sich in Konferenzen und veröffentlichen
Sammelbände und Monografien. Dabei läuft die Forschung beinah
atemlos einem kraftvollen Strom innovativen Erzählens hinterher, der
seit Mitte der 1990er Jahre die audiovisuellen Medien erfasst hat: das
Cinema of Narration im Kino, die Quality-TV-Serie in den Bezahlsendern der USA, die Webisodes, Mobisodes und Machinima im Internet
oder Smartphone. Wir leben in einer Blütezeit des Erzählens. Und die
Forschung schaut beinah bedröppelt auf die forensischen Aktivitäten
der Fans, die akribisch jede Spur ihrer Lieblingsserie nachrecherchieren und deren weit verzweigte Erzählwege kartografieren.
2012 ist endlich ein Buch erschienen, das die deutsche Erzählforschung des Films einen wichtigen Schritt voranbringt. Filmnarratologie:
ein erzähltheoretisches Analysemodell heißt die Dissertation von Markus
Kuhn, die das Überfällige leistet und dabei präzise und belesen vorgeht. Kuhn hebt den Schatz an theoretischen Instrumenten, den die
Literaturwissenschaft angesammelt hat, im Zentrum die bewährten
Begriffe von Gérard Genette, und er prüft säuberlich, was sich vom
Roman auf den Film übertragen lässt, was abgewandelt und was zurückgewiesen werden muss – immer im Dialog mit den hauseigenen
Filmtheoretikern. Ansätze dazu gab es mehrfach. Kuhns Leistung
ist die bislang umfassendste. Er beginnt beim Kern des Erzählens,
denn Genettes Minimaldefinition für eine Erzählung (die da lautet:
»Ich gehe«) ist zu vage. Es braucht mindestens eine Zustandsveränderung in einem Zeitintervall mit Ausgangs- und Endpunkt, die von
einer Erzählinstanz vermittelt wird, damit man von einer Narration
sprechen kann. Dass Film im Zusammenspiel aus Sprache, Kamera,
Montage und mise en scène erzählt und dieses komplexe System aus
sprachlichen, visuellen und akustischen Zeichen nicht auf den Begriff Erzähler reduziert werden kann, ist common sense. Kuhn unterscheidet grundlegend zwischen einer (audio)visuellen Erzählinstanz
(VEI) und einer sprachlichen Erzählinstanz (SEI) und dekliniert ihre
Interaktionen durch, denn was die Kamera zeigt und eine Voice-over
dazu erzählt, sind schließlich zwei Paar Schuhe. Beide Instanzen
können sich ergänzen, überlappen, dominieren oder gar entlarven
und somit die Qualitäten von Bild und Sprache, Film und Literatur
bis auf eine philosophische Ebene heben (wie in L’ANNÉE DERNIÈRE
À MARIENBAD). Es ist bezeichnend, dass der Bereich, der sich immer
schon am leichtesten auf den Film transferieren ließ – Genettes Zeitkonzept: Dauer, Ordnung und Frequenz –, bei Kuhn am schwächsten
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ausfällt. Hier kann sein akribisches Konjugieren aller formalistischen
Möglichkeiten ziemlich ermüden. In den anderen beiden, sehr viel
sperrigeren Feldern, der Perspektive und der Erzählebene, weiß Kuhn
hingegen inspirierende Impulse zu setzen. Ich werde seine Systematik zur Perspektive nutzen, um in andere filmnarratologische Bücher
der letzten drei Jahre aus dem deutschsprachigen Raum einzutauchen. Erschöpfend ist diese kleine Tour bei weitem nicht. Wichtige
Themen, wie die aktuellen Forschungen zur Figur, zur Emotion, zum
transmedialen und seriellen Erzählen (um nur einige zu nennen)
bleiben unerwähnt.
L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (Letztes Jahr in Mari-
enbad; 1961; D: Alain RobbeGrillet; R: Alain Resnais)
Kamera und gestörte Filter – Perspektive im Film
Ein Drehbuchautor sollte seinen Helden bis in die Haarspitzen kennen.
Ratgeber werden nicht müde, das zu betonen. Sie geben Tipps, wie
man die entlegensten Winkel in der Psyche der Hauptfigur erforschen
kann. Dabei kommt das eigentliche Problem erst danach, wenn es zu
entscheiden gilt: Soll die Hauptfigur ihr Inneres überhaupt preisgeben? Verstehen wir erst am Ende die Pläne, die der schweigsame Held
während des Films geknüpft hat? Oder soll der Zuschauer alles, sogar
seine Träume und Gedankenspiele, miterleben? Solche Fragen führen
in das Themenfeld der Erzählperspektive, das kulturgeschichtlich mit
Fragen nach der Einheit des Subjekts und seiner Wahrnehmung von
Welt verflochten ist. In der Filmtheorie herrschte lange Zeit Konfusion,
ob der Gegensatz von telling (in der Literatur) und showing (im Film)
nicht eine Übertragbarkeit der Kategorien prinzipiell ausschließt, was
auch der lesenswerte Sammelband Probleme filmischen Erzählens thematisiert.
Markus Kuhn fragt in seiner Filmnarratologie zunächst: »Wie wird
der Zuschauer eigentlich an dem Wissen der Figur beteiligt?« und orientiert sich damit an dem Fokalisierungsmodell von Genette. Berichtet
der Erzähler nur, was die Hauptfigur weiß? Erzählt er weniger? Oder
mehr? Ist er also intern, extern oder gar nicht fokalisiert? Für den Film
muss man die Unterscheidung sowohl für die gezeigten Bilder (die visuelle Erzählinstanz) als auch für eine Erzählerstimme (die sprachliche Erzählinstanz) treffen. Von der Wissensvermittlung grenzt Kuhn
dann im Sinne von Franz Jost die Wahl der Wahrnehmung ab: Sieht
und hört der Erzähler nur, was die Hauptfigur erreicht? Sieht und hört
er weniger? Oder mehr? Ist er also intern, extern oder gar nicht okularisiert bzw. aurikularisiert? Allein mit dieser Systematik erhalten wir
schon zwölf Stellschrauben, über die eine Filmerzählung das Perspektivische einpegeln kann. Wenn wir jetzt noch danach fragen, ob dieser
Fokus konstant bleibt oder wechselt, auf einer Mikro- oder Makroebene
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BURIED (2010; D: Chris
Sparling; R: Rodrigo Cortés)
LADY IN THE LAKE (Die
Dame im See; 1947; D: Steve
Fisher; R: Robert Montgomery)
DR. JEKYLL AND MR. HYDE
(Dr. Jekyll und Mr. Hyde;
1931; D: Samuel Hoffenstein,
Percy Heath; R: Rouben
Mamoulian)
DARK PASSAGE (Die schwarze Natter; 1947; D+R: Delmer Daves)
arbeitet, offenbart sich, wie sehr Film als multikanaliges Medium ein
komplexes perspektivisches Gewebe schafft.
Ein Beispiel (das Kuhn nicht nennt): Der Film BURIED – LEBEND
BEGRABEN spielt ausschließlich in dem Sarg, in dem die Hauptfigur
aufwacht und ihre letzten 90 Minuten bis zum Erstickungstod erlebt.
Der Film ist also auf einer Makroebene radikal intern fokalisiert. Ein
Experiment der Raumverengung im Geiste Hitchcocks. Trotzdem wissen wir nie, wen die Hauptfigur als Nächstes anrufen wird, wenn sie
im Sarg zum Handy greift. Diese externe Fokalisierung auf der Mikroebene erhöht die Spannung und schafft Überraschungen. Einmal
träumt unsere Hauptfigur. Wir hören die imaginären Stimmen, sehen
aber keine mentalen Bilder, sondern nur unseren Helden. Wir werden
intern aurikularisiert, aber extern okularisiert. Mehr noch: Die Kamera
vermag in diesem Sarg virtuose Kreisfahrten zu vollziehen und sich
sogar abstrakt zu entfernen, sodass der vertikale Kerker in der Leinwand immer kleiner wird. Die visuelle Erzählinstanz ist nicht an den
Blick des gefangenen Helden gebunden, sondern übersteigt ihn in ihrer Nullokularisierung. Auch wenn diese Begriffe nicht sehr handlich
sind: Kennt man die Unklarheit, mit der oftmals über Perspektive im
Film gesprochen wird, so ist man für eine Ordnung dankbar. Kuhn zeigt
auch, dass der Distanzbegriff der Literaturtheorie im Film nicht funktioniert, sich zumindest nicht auf die Einstellungsgrößen der Kamera
begrenzen lässt. Denn eine Figur kann uns in einer Totalen emotional
nah und nachvollziehbar erscheinen und in einer Großaufnahme fremd
und undurchdringlich – jeweils abhängig von dem, was sie über sich
verbal oder gestisch ausdrückt.
Jüngere Arbeiten zur Filmnarratologie, die sich mit der Erzählperspektive beschäftigen, konzentrieren ihr Interesse auf die Subjektivierung der Perspektive. Vorreiter waren hier Edward Branigan und
im deutschsprachigen Raum Christine Brinckmann. Zum Steckenpferd der Filmtheoretiker wurde dabei – weil sie so offensichtlich mit
der Ich-Perspektive im Roman zu korrelieren schien – die subjektive
Kamera. Das uninteressante Paradebeispiel DIE DAME IM SEE musste
dafür herhalten, das Scheitern dieser radikalen Strategie zu besiegeln
– dabei gibt es Filme wie DR. JEKYLL UND MR. HYDE, DIE SCHWARZE
NATTER oder SCHMETTERLING UND TAUCHERGLOCKE, die das Gegenteil
beweisen. Kuhn nennt diese Filme in Anlehnung an Branigan »IchKamera-Filme«, weist aber zu Recht darauf hin, dass die Kamera nicht
»Ich« sagen, sondern nur eine anthropomorphe Blickweise imitieren
kann. Kuhn diskutiert diese Ich-Kamera-Filme im Zusammenhang
mit Handkamerafilmen wie IDIOTEN und DAS FEST aus der DogmaBewegung oder THE BLAIR WITCH PROJECT und macht deutlich, wie
hier subjektivierende Strategie und dokumentarischer Gestus in der
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Fiktion verschmelzen. Einen Endpunkt dieser Entwicklung finden wir
in MELANCHOLIA. Lars von Trier ließ in die hyperrealen, computergenerierten Bilder vom drohenden Weltuntergang das leichte Atmen einer Handkamera einrechnen und war begeistert von der emotionalen
Wucht dieser unmerklichen Veränderung.
Einblick in die Psyche eines Menschen zu bekommen ist in der
Realität nicht möglich. In der Fiktion schon. Das macht diese Möglichkeit so besonders. Dabei wird die Ich-Perspektive nicht nur im
Film, sondern auch im Computerspiel eingesetzt. In seinem Buch
First Person Perspectives. Point of View und Figurenzentrierte Erzählformen im Film und im Computerspiel destilliert Benjamin Beil intermediale Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus. Der theoretische
Teil ist etwas kursorisch und kryptisch geraten, dafür weiß Beil in seinen vergleichenden Filmanalysen interessante Erkenntnisse zusammenzutragen. Beil sortiert die Phänomene in drei Schubladen: das
unverzerrte Bild als Blickinszenierung (figurenzentrierter Filter); das
verzerrte Bild als Ausdruck getrübter Wahrnehmung oder mentaler
Projektion (gestörte Filter) und das Bewusstseinsbild als Ausdruck einer reinen Innensicht (Subjektives). Es gibt Vorurteile gegenüber der
Methode. Doch die Tatsache, dass bei einer subjektiven Kamera der
Held als Blickträger zur Leerstelle wird, dass der menschlich bewegte Kamerablick künstlich erscheint und die filmischen Möglichkeiten
eingeschränkt sind – all diese Besonderheiten müssen nicht per se
Nachteile sein. Im Horrorfilm erhöht es das Grauen, wenn wir den
Blick des Monsters auf das Opfer nachvollziehen, aber das Monster
selbst nicht sehen können (wie in ALIEN), oder es steigert die Angst,
wenn wir durch den eingeschränkten Blickwinkel des Opfers keine Orientierung erhalten. Im Science-Fiction-Film wird gerade die
Künstlichkeit des Kamerablicks zum authentischen Ausdruck eines
Blicks, wenn dieser einem Roboter gehört (TERMINATOR). Ein Film wie
BEING JOHN MALKOVICH schließlich führt die subjektive Kamera als
Ich-Perspektive ad absurdum, weil sich dahinter jeweils ein anderer
Besucher in Malkovichs Bewusstsein befindet, der den Blick steuert
wie ein Spieler seinen Avatar.
Sind das nicht ästhetische Fragen, die wohl den Regisseur, aber
nicht den Drehbuchautor tangieren? Nicht ganz. Ein Film über das
Locked-in-Syndrom wie SCHMETTERLING UND TAUCHERGLOCKE lebt
davon, dass er den Körper als Kerker und das Auge als einziges Fenster
zur Außenwelt erzählerisch umsetzt. Die Verfremdung des Kamerablicks, um den gestörten Wahrnehmungsfilter eines zwischen Wachheit
und Ohnmacht pendelnden Bewusstseins auszudrücken, geht einher
mit einer Voice-over-Stimme, die das Visuelle interpretiert, ohne sich
verständlich machen zu können. Erzählung und visuelle Ästhetik sind
LE SCAPHANDRE ET LE
PAPILLON (Schmetterling
und Taucherglocke; 2007;
D: Ronald Harwood; R: Julian Schnabel)
IDIOTERNE (Idioten; 1998;
D+R: Lars von Trier)
FESTEN (Das Fest; 1998;
D: Thomas Vinterberg,
Mogens Rukov; R: Thomas
Vinterberg)
THE BLAIR WITCH PROJECT
(1999; D+R: Daniel Myrick,
Eduardo Sánchez)
MELANCHOLIA (2011; D+R:
Lars von Trier)
ALIEN (1979; D: Dan
O’Bannon; R: Ridley Scott)
THE TERMINATOR (1984;
D: James Cameron, Gale
Anne Hurd, William Wisher
Jr.; R: James Cameron)
BEING JOHN MALKOVICH
(1999; D: Charlie Kaufman;
R: Spike Jonze)
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hier so eng miteinander vernäht, dass eine Ordnung, wie sie Benjamin
Beil in das Phänomen hineinträgt, notwendig erscheint, um die eigenen erzählerischen Mittel präzise einsetzen zu können.
Eine Schlüsselrolle für den Zugang zur Innenwelt kommt dem
Traum zu. In seinem hervorragenden Buch Traumbühne Kino: Der
Traum als filmtheoretische Metapher und narratives Motiv widmet sich
Matthias Brütsch im vierten Kapitel auch der Erzählfunktion des
Traums im Film. Nachdem er die reizvolle Ästhetik des Traums in
der Filmkunst beschrieben hat, konzentriert er sich auf die Frage: Wer
erzählt eigentlich die Träume im Film? Aus welcher Perspektive und
auf welcher Erzählebene? Zunächst muss Brütsch mit dem Vorurteil
aufräumen, dass im Film das Vermitteln von Innenwelt schwieriger sei
als in der Literatur, weil die Kamera nur die »Außenhaut der Dinge«
(Anke-Marie Lohmeier) aufzeichnen könne. Um Bewusstseinsprozesse
zu erzählen, bedarf es in jedem Medium der Übersetzungsleistung.
Auch die Literatur muss das neuronale Gewitter in andere, und zwar
sprachliche Formen zwingen – unter Verlust aller nicht-verbalen Bewusstseinsanteile, die der Film noch in Bild und Ton ergänzen kann.
Seltsam, dass dem Film diese Fähigkeit abgesprochen wird, da er wiederholt selbst »als Hirntraum mit offenen Augen« (so Theodor Heinrich Mayer im Jahr 1912) gedeutet wurde. Ebenfalls nicht überzeugend
findet Brütsch, dass eine Traumsequenz als Partialgeschichte im Film
verstanden und der Träumende somit als interner Erzähler bezeichnet
wird. Denn ein Traum wiederfährt einem Menschen »ohne Bewusstsein
für ein Publikum« (Seymour Chatman). Ein Träumender lügt nicht,
betont Hans J. Wulff (und »You are innocent when you dream«, singt
Tom Waits). Lügen kann er erst, wenn er den Traum im Wachzustand
erzählt. Mentale Bilder und Gedankenrede im Film werden also von
der filmischen Erzählinstanz vermittelt. Wenn aber der Träumende
kein Erzähler ist, wäre dann ein Traum auf der gleichen Erzählebene
anzusiedeln wie das Wachgeschehen? Obwohl die Traumwirklichkeit
einer gänzlich anderen Logik folgt? Hier deckt Matthias Brütsch ein
zentrales Problem auf: Der Wechsel der Erzählebene kann nicht nur,
wie es viele Narratologen tun, an das Auftauchen einer erzählenden
Figur geknüpft werden. Vielmehr lässt sich eine fiktionale Welt nicht
nur über den Erzählakt (Geschichten in Geschichten), sondern auch
über den Realitätsmodus (Traumbilder in Wachbildern) verschachteln. Wenn der Träumende schon nicht der Erzähler ist, können wir
dann wenigstens davon sprechen, dass der Film seine Perspektive
einnimmt, also durch das Bewusstsein dieser Person erzählt? Für
Brütschs Überlegungen zum Traum erweist sich Genettes Modell
der Fokalisierung als zu grobmaschig und unbeweglich. Imitiert die
Kamera den Blick eines Helden auf die Außenwelt, so übernimmt die
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Erzählung die räumliche Perspektive einer Figur, was man mit Genette
als interne Fokalisierung bezeichnen müsste. Wir sehen, was er sieht.
Aber: wie er es empfindet, sehen wir nicht. Schließt der Held seine
Augen, sodass der Blick der Kamera in seine Innenwelt führt und
dort mentale Bilder aufstöbert, so bietet uns Genettes Modell keinen
Begriff dafür an. Wie trennen wir Innen- und Außenwahrnehmung?
Brütsch findet David Bordwells Unterscheidung zwischen der Breite
und Tiefe des Wissens hilfreicher. Auf die Weise fragen wir: Wie sehr
überschreitet der Film den Aktionsradius der Figur (Breite des Wissens)? Wie sehr erfasst der Film die subjektiven Bewusstseinsinhalte
des Helden (Tiefe des Wissens)? Subjektivierung meint dabei nicht
nur die optische und akustische Wahrnehmung des Helden, sondern
auch seine Mimik und Gestik, die Reaktionen der Umwelt oder die
Atmosphäre des Films.
Einen entgegengesetzten Weg schlagen Filme ein, die den Zuschauer gezielt aus der Perspektive und dem Wissen der Hauptfigur
ausgrenzen und »extern fokalisieren«, wie es Genette nennen würde.
Solche Informationslücken sind oftmals Kraftfelder in der Erzählung
(auch für Miles Davis war sie zentral: die Pause zwischen den Tönen).
In narrativen Löchern lagern Geheimnisse, beginnt die Geschichte zu
atmen und gibt der Imagination Raum. Der Zuschauer versucht diesen
bedeutsamen Mangel zu kompensieren, entwirft Hypothesen, spielt Optionen durch. In ihrem Buch Leerstellen transmedial. Auslassungsphänomene als narrative Strategie in Film und Fernsehen verankert Nadine Dablé
die Theorie der narrativen Lücke in der Philosophie Roman Ingardens,
die durch Hans Robert Jauß, Wolfgang Iser und die Konstanzer Schule
zu einem Paradigmenwechsel in der Literaturwissenschaft der 1970er
Jahre geführt hatte: Man entdeckte den Leser als kreativen Mitgestalter
des Textes, der die Unbestimmtheitsstellen individuell konkretisiert.
Man musste akzeptieren, dass literarische Werke mehrdeutig sind und
sich nicht in ihrem Sinn festschrauben lassen – für den Zeichentheoretiker Umberto Eco auch ein ausdrückliches Ziel moderner Poetik.
Im Zuge der Renaissance der Narratologie seit Mitte der 1990er Jahre
wurde das Konzept der Leerstelle auch in der Medienwissenschaft reflektiert und spielte in den Büchern zum »unzuverlässigen Erzählen«
eine Rolle. Denn das unzuverlässige Erzählen braucht die Leerstelle,
um den Zuschauer auf falsche Fährten zu führen. Nadine Dablé möchte die von der Literaturwissenschaft entwickelten Konzepte für Film
und Fernsehen fruchtbar machen. Dabei ist erstaunlich, dass sie die
theoretische Tradition des »filmischen Offs« in der Filmwissenschaft
gänzlich unberücksichtigt lässt.
Für Film und Fernsehen unterscheidet Dablé zwischen fünf Formen. Mit »Unbestimmtheit« sind Informationen gemeint, die dra189
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THE USUAL SUSPECTS (Die
üblichen Verdächtigen;
1995; D: Christopher McQuarrie; R: Bryan Singer)
THE SIXTH SENSE (1999;
D+R: M. Night Shyamalan)
MEMENTO (2000; D+R:
Christopher Nolan)
THE LIMITS OF CONTROL
(The Limits of Control – Der
geheimnisvolle Killer; 2010;
D+R: Jim Jarmusch)
maturgische Relevanz besitzen, aber unvollständig vermittelt werden,
sodass der Zuschauer gezwungen ist, das Fehlende zu ergänzen (wie
das Gesicht von Keyser Soze in DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN). Bei
einer »Auslassung« fehlt die relevante Information gänzlich und wird
manchmal auch erst im Nachhinein als Lücke erkennbar (wie die Tatsache, dass Bruce Willis einen Geist verkörpert, in THE SIXTH SENSE).
Mit »Dekontextualisierung« ist ein Verwirrspiel mit der zeitlichen oder
räumlichen Ordnung im Film gemeint, die dem Zuschauer die Einsicht
in den Zusammenhang nimmt (wie der rückwärts arrangierte Plot in
MEMENTO). Eine »Unterbrechung« ist eine Lücke, die durch das Abschneiden einer Erzähleinheit entsteht, die erst später weitergeführt
wird – solche Retardierungen spielen in der Spannungsdramaturgie,
aber auch in episodischen oder seriellen Konzeptionen eine zentrale
Rolle. »Darstellungsleere« resultiert aus Ereignislosigkeit, räumlicher
Entleerung, Wiederholungen oder Ausführlichkeit und erzeugt einen
Mangel an narrativer Orientierung (wie das minimalistische Spiel
mit ritualisierten Dialogen in THE LIMITS OF CONTROL). Nadine Dablé untersucht diese Phänomene anhand von Spielfilmen, Fernsehserien, aber auch Werbeclips. Neue Studien könnten ihre sehr global
angelegten Begriffe, die sie auf die gesamte Informationsvergabe des
Films bezieht, genau differenzieren – mit Blick auf die Erzählwelt, die
Plotführung oder die ästhetische Gestaltung des Films.
Gabelung, Kreis, Verschachtelung – Zeit im Film
IRRÉVERSIBLE (Irreversibel;
2002; D+R: Gaspar Noé)
PRZYPADEK (Der Zufall
möglicherweise; 1981; D+R:
Krzysztof Kieslowski)
Klassische Plots konzentrieren sich auf eine lineare Geschichte, deren
Dominosteine der Kausalität vom Anfang bis zum Schluss in einem
kohärenten Universum kontinuierlich durchlaufen, bis die Story einen
klaren Abschluss findet – ein Modell, an dem weder Subplots noch
Flashbacks etwas ändern. Aber was, wenn Filme mit der Zeit Katz und
Maus spielen?
Systematisiert werden sie von Julia Eckel in ihrem Buch Zeitenwende(n) des Films. Temporale Nonlinearität im zeitgenössischen Erzählkino. Wie viele andere Studien zu alternativen Erzählmodellen setzt
auch sie an der Classical Narration des Hollywood-Kinos an, die David
Bordwell 1985 prägnant beschrieben hat, weil vor dieser Vergleichsfolie die Experimente jüngerer Regisseure markant hervortreten. Eine
»revers-chronologische Zeit« präsentieren Filme, die ihre Geschichte
rückwärts buchstabieren und sich von den Folgen zu den Ursachen
graben (wie IRREVERSIBEL); in der »multilinearen Zeit« laufen Filme an
der Wegkreuzung des Erzählens nicht einen, sondern mehrere mögliche Pfade ab (DER ZUFALL MÖGLICHERWEISE); in der »verschachtelten
Zeit« fallen Charaktere von einer Traum- oder Spielebene in die andere
Auszug aus: Jochen Brunow (Hg.): Scenario 7. Film- und Drehbuch-Almanach
190
© Bertz + Fischer Verlag. ISBN 978-3-86505-227-8
http://www.bertz-fischer.de/scenario7.html
Scenario 7.indb 190
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