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Nr. 46 | Mai 2011 Aktuelles für ASP-Mitglieder Dernières informations à l‘intention des membres ASP Informazioni per i membri ASP Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ASP Association Suisse des Psychothérapeutes ASP Associazione Svizzera degli Psicoterapeuti ASP Assoziaziun Svizra dals Psicoterapeuts ASP DIENSTLEISTUNGEN FÜR ASP-MITGLIEDER Praxishilfen Patientenvermittlung Eine Dienstleistung des ASP für die Öffentlichkeit und für seine Mitglieder. Gegen einen Selbstkostenbeitrag können Sie sich PatientInnen vermitteln lassen. IV–Vertrag Mitglieder (mit Praxisbewilligung) können dem Vertrag zwischen BSV (Bundesamt für Sozialversicherung) und ASP beitreten. Psychotherapien bei Minderjährigen, bei Geburtsgebrechen und zur beruflichen Eingliederung können unter bestimmten Voraussetzungen über die Invalidenversicherung abgerechnet werden. Opferhilfebehandlungen Für Opferhilfebehandlungen bestehen Finanzierungsmöglichkeiten. (Merkblatt) Leistungen und Tarife Informationsschriften (Zum Kopieren und Auflegen in der Praxis) Informationen zur Psychotherapie Wissen Ihre PatientInnen, was Psychotherapie ist, was sie kann, wie sie funktioniert? Kennen sie den Unterschied zwischen PsychologIn, PsychotherapeutIn und PsychiaterIn? Informieren Sie Ihre PatientInnen über ihre Rechte und Pflichten: Schweigepflicht, Qualifikation der PsychotherapeutInnen, Honorar, Schutz der PatientInnen, Klagerecht. Redaktionsschluss: Standesregeln Annette Conzett/Vorstandsmitglied Witikonerstr. 80, 8032 Zürich Tel. 044 251 77 45 | [email protected] Zeigen Sie Ihren PatientInnen, welche Regeln qualifizierte PsychotherapeutInnen einhalten müssen. Vermittlung von InterviewpartnerInnen für Medien Delegierte Psychotherapie Was muss beachtet werden? (Merkblatt) Urkunde für ordentliche Mitglieder Repräsentative Bestätigung der Mitgliedschaft. Versicherungen Pensionskasse (2. Säule) Die Pro Medico Stiftung Zürich bietet als Verbandsvorsorge der 2. Säule den ASP-Mitgliedern die Möglichkeit einer flexiblen beruflichen Vorsorge. Es handelt sich um finanziell attraktive Angebote zur individuellen Altersvorsorge für selbständig Erwerbende und deren Personal. Krankenkasse Kostengünstig für ASP-Mitglieder und ihre Familienangehörigen. Bei den Zusatzversicherungen profitieren Sie vom Kollektivtarif. Risikoversicherungen Waisenrenten, Kapital im Todesfall sowie Renten bei Invalidität werden zu einem vorteilhaften Preis abgedeckt. Taggeldversicherung Ersatzeinkommen bei Krankheit und Unfall zum Kollektivtarif. Der ASP vermittelt seine Mitglieder als kompetente Interview partnerInnen in Psychotherapie-Fragen an JournalistInnen. Wenn Sie ein Spezialgebiet haben und bereit sind, auch kurzfristig für Anfragen zur Verfügung zu stehen sowie gerne Auskunft an Medienleute geben, melden Sie sich im Sekretariat. www.psychotherapie.ch Mit seiner Homepage richtet sich der ASP an die Öffentlichkeit. Wer eine Psychotherapie machen möchte, findet alle Merkblätter, Standesregeln, die Therapieplatzvermittlung, die Liste der Kassenleistungen, Angaben über die Psychotherapie und Erläuterungen zu einzelnen Krankheitsbildern. Für JournalistInnen oder PolitikerInnen sind die Ausbildungskonzepte sowie die gesundheitsund berufspolitischen Vorstellungen des ASP dargestellt. Für ASP-Mitglieder ist ein spezieller Bereich eingerichtet. Publikationen «à jour» Verbandsnachrichten, Informationen zur Berufspolitik, Briefkasten zu Praxisfragen, Veranstaltungskalender etc. Aktuelles für ASP-Mitglieder. Vorstand Rüttimann Gabriela, Präsidentin Conzett Annette, Redaktorin Gianinazzi Nicola, Berufspolitik, Romandie Roth Kurt, Finanzverantwortlicher Baud-Schuster Veronica Isabel Berufshaftpflichtversicherung Geschäftsleitung Die Leistungen der Versicherung bestehen in der Entschädigung begründeter und in der Abwehr unbegründeter Haftpflichtansprüche. Sekretariat Sachversicherung Gegen Feuer, Elementar, Einbruchdiebstahl und Beraubung, Wasser, etc. 2| à jour 46 Erscheinungsweise: 1. Mai | 1. November 25. März | 25. September Honorarformulare Welche Kosten kann ich als PsychotherapeutIn von den Steuern absetzen? (Merkblatt) Herausgeber: ASP | Riedtlistrasse 8 CH-8006 Zürich | Tel.: 043 268 93 00 Welche Krankenkasse zahlt zu welchen Bedingungen wieviel für eine Psychotherapie? Öffentlichkeitsarbeit Tipps bei Steuerfragen Aktuelles für ASP-Mitglieder | Dernieres informations a l’intention des membres ASP Krankenkassenleistungen Tarife für Leistungen und Richtzeiten für Tests (siehe Homepage). Elektronische Version kann als Word-Datei im Sekretariat bezogen werden. Impressum Stutz Emil Enggist Ursula Fourati Patricia An dieser Stelle möchten wir uns bei unseren Partnern, Firma Goetz Desktop GmbH und Kuhn Druck, herzlich für die gute Zusammenarbeit bedanken. Redaktion: Die Zeitschrift «à jour» ist das Informationsorgan des ASP. Gleichzeitig versteht sie sich als Forum in den Rubriken: Forum, Praxis, Diverses und Literatur, in denen auch Meinungen geäussert werden, die unabhängig von der Meinung des Vorstandes und der Redaktion sind. Übersetzung: Françoise O'Kane Layout: Goetz Desktop GmbH | 8153 Rümlang Druck: Wehntal Druck | 8165 Schöfflisdorf Inserate: Redaktion | [email protected] Auflage: 1000 Exemplare Inserate für «à jour» Die ASP-Redaktion behält sich vor, die Annahme von Anzeigen ohne Begründung abzulehnen. Über Annahme und Ablehnung führen wir keine Korrespondenz. 1/1 Seite 1/2 Seite 1/4 Seite 1/8 Seite CHF 500.– CHF 320.– CHF 250.– CHF 200.– Reduzierter Tarif für DeKo-Verbände und ASP Mitglieder: 40% Rabatt. EDITORIAL Editorial Editorial Ein intensives Verbands-Halbjahr 2010/2011 ist an der MV am 19. März 2011 mit der Verabschiedung unseres langjährigen Präsidenten, Theodor Itten, zu Ende gegangen und der Neubeginn im Hinblick auf das kommende Halbjahr startete mit der Wahl der ASPPräsidentin Gabriela Rüttimann. Erstmals in der Verbandsgeschichte stellte sich eine Frau für dieses Amt zur Verfügung, die dann auch gewählt und von uns allen herzlich beglückwünscht wurde. Dem vorliegenden «à jour 46» entnehmen Sie eine Fülle von Informationen, die einerseits Auskunft über das unmittelbare Verbandsgeschehen auf Vorstandsebene und der Geschäftsleitung geben, Abschied und Würdigung unseres Ex-Präsidenten, Kurzbeschreibungen von Fachbüchern, u.a. die der Neuerscheinung seines «ISTITUTO RICERCHE DI GRUPPO ANIMA E PSICHE Riflessioni per una scienza psicoterapeutica» von Nicola Gianinazzi, Interviews zu spezifischen Themen sowie auch solche, in denen sich verschiedene Mitglieder für ein Interview zur Verfügung gestellt haben, was für die einzelnen einen Zeitaufwand zur Auseinandersetzung und der ‹Selbstdarstellung bedeutete, für den ich den fünf Interviewten an dieser Stelle noch einmal meine herzliche Dankbarkeit und Anerkennung aussprechen möchte. Es kam eine Farbigkeit zum Ausdruck, die uns alle inspirieren und motivieren möchte, mehr von ‹uns› in die Sicht- und Hörbarkeit kommen zu lassen, damit jeder einzelne von uns nicht nur per Namen, sondern auch per ‹Gesicht› wahrgenommen werden kann. Une année bien remplie d’activités associatives est arrivée à sa fin le 19 mars 2011, avec les adieux à notre président, Theodor Itten, et l’élection de Gabi Rüttimann à ce poste. On pourrait dire qu’il s’agit d’un nouveau début, dans le sens où c’est la première fois qu’une femme postule, qu’elle est élue et que tous les membres l’en félicitent chaleureusement. Le présent numéro d’à jour (no. 46) contient de nombreuses informations sur, d’une part, ce qui se passe au sein de l’ASP (comité et secrétaire central), mais aussi des textes soulignant à quel point Theodor Itten était apprécié (en allemand seulement), des comptesrendus de livres, dont celui de Nicola Gianinazzi (ISTITUTO RICERCHE DI GRUPPO ANIMA E PSICHE Riflessioni per una scienza psicoterapeutica), des interviews soit sur des thèmes spécifiques, soit accordées par différents membres – ce qui a requis qu’ils investissent du temps dans une réflexion de leur propre ‘identité’. A tous, merci. Le contenu de ces interviews est très ‘coloré’ et il pourrait nous inspirer et nous motiver à nous faire voir et entendre plus souvent, afin qu’en tant que membres nous ne soyons pas un simple nom, mais aussi un ‘visage’. Je vais continuer à choisir de manière aléatoire d’autres membres parmi tous nos effectifs, leur poser des questions et espérer qu’ils m’ouvriront leur porte. Tous les membres du comité vous souhaitent un printemps merveilleux, un bon été et des mois remplis de riches expériences jusqu’à l’automne, date à laquelle le prochain numéro d’à jour sera publié. Gerne werde ich mich per Stichprobe weiterhin an noch viele andere aus der grossen Schar unserer Mitglieder wenden in der Hoffnung auf offene Türen. Ihnen allen wünschen wir vom Vorstand einen wunderschönen Frühling, einen guten Sommer und bis zur Herbstausgabe des «à jour 47» verbleibe ich Ihre Redaktorin Annette Conzett Avec mes salutations cordiales Annette Conzett Editrice à jour Inhaltsverzeichnis Editorial Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erneuern sich Zum Abschied von Theodor Itten «Halte mich nicht fest» Informationen aus dem Sekretariat Interviews mit ASP-Mitgliedern Neue Kandidaten Wa(h)re Medizin - Heilkunst und Gesundheitsmarkt «20 Jahre Psychotherapie PsyA®T am Spital Affoltern» Burnout: aus der Erschöpfung in die Kraft Interview mit Professor Berbalk: Schematherapie ALS – eine Fortsetzung der MS? Interview mit Paolo Migone Literatur 3 4 5 6 9 10 11 18 19 21 27 31 33 Table des matières Editorial Un vent de renouveau chez les psychothérapeutes suisses « Ne me retiens pas ainsi. » Interviews avec un membre ASP Nouvaux candidats Burnout: de l’epuisement a l’energie Interview avec le professeur Berbalk: thérapie des schémas SLA – une étape ultérieure de la SEP ? Interview avec Paolo Migone Âme et psyché Calendrier/Kalender à jour 46 3 36 37 41 42 48 49 57 61 64 68 |3 AKTUELLES Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erneuern sich Verbänden arbeiten. Es ist ihr ein Anliegen, die Etablierung der Psychotherapie als eigenständigen, wissenschaftlichen Beruf in der Schweiz weiterzuführen. Die Namensänderung zu ASP Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, deren Abkürzung «ASP» in allen vier Landessprachen Verwendung findet, bringt die schweizweite Verbundenheit der Mitglieder zum Ausdruck. Auf diese Weise können auch Verwechslungen mit anderen Verbänden und Vereinigungen vermieden werden. Zudem erleichtert der Wechsel eine bessere Positionierung des Verbandes gegenüber Behörden und in der Öffentlichkeit. Die Annahme des PsyG durch das Parlament warf in Bezug auf die zukünftige Ausrichtung des Psychotherapieberufes bei den Mitgliedern berechtigte Fragen auf. Die Verengung auf die Psychologie als Ausgangspunkt für das Studium der Psychotherapie löst Verunsicherung aus und wird sehr bedauert. Behalten die kantonalen Bewilligungen für bereits praktizierende PsychotherapeutInnen für die nächsten fünf Jahre zwar ihre Gültigkeit, müsste bei einem Kantonswechsel allenfalls ein Psychologiestudium nachgeholt werden. An ihrer 31. Mitgliederversammlung nahmen die Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten einige zukunftsweisende Weichenstellungen vor. Neben der Stabsübergabe an die neue Präsidentin Gabi Rüttimann beschlossen sie eine schweizweite Vereinheitlichung ihres Namens in ASP: Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Viel zu diskutieren gab die Zukunft ihres Berufes nach der Annahme im Parlament des Psychologiegesetzes (PsyG) an der vergangenen Session. Den eingeschlagenen Weg hin zur Entwicklung einer eigenständigen Psychotherapiewissenschaft wollen sie konsequent weiterverfolgen. 4| à jour 46 Mit Akklamation haben die Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten an ihrer Mitgliederversammlung vom 19. März Gabi Rüttimann zu ihrer Präsidentin gewählt. Sie löst Theodor Itten ab, der vor vier Jahren das Amt in turbulenten Zeiten übernommen hatte und in Zukunft etwas kürzer treten möchte. Mit Gabi Rüttimann haben die Mitglieder des Berufsverbandes erstmals eine Frau an ihre Spitze gewählt. Die erfahrene praktizierende Psychotherapeutin, Ausbildnerin und Lehrtherapeutin am IKP will die begonnenen Aktivitäten des Vorstandes weiterführen. Insbesondere möchte sie nach Annahme des PsyG an einer Konsensfindung mit den verschiedenen Ab 2013 dürfen die ausbildenden Institute keine Studierenden ohne Psychologiestudium mehr aufnehmen. Verschiedene Fragen der Umsetzung bleiben ungeklärt. Durch die veränderte Gesetzgebung entsteht unter anderem eine Ungleichbehandlung, weil sich die kantonalen Bewilligungen teilweise unterscheiden. Für eine Aussprache mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) sind bereits Termine anberaumt. AKTUELLES Zum Abschied von Theodor Itten «Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.» Ein Zweizeiler aus den ‹Stufen› von Hermann Hesse, der uns in der letzten Retraite, als wir den Abschied von Theodor schon einmal ‹vor-andachten› und ‹an-spürten›, in den Sinn kam, wobei wir den grossen ‹Rest› des Gedichtes nicht mehr zusammen brachten. Welch eine Überraschung, denn auch den hatte unser Theodor ‹gespeichert›! Kurz nach der Retraite bekamen wir alle das Hesse-Gedicht zugeschickt und wieder einmal zeigte sich unser Präsident von seiner nichts vergessenden, alles bedenkenden, verbindlichen und umsichtigen Seite. Diesen Genuss des Abschieds und des Neubeginns von Hermann Hesse möchte ich dem Thema der Verabschiedung unseres Präsidenten in diesem «à jour 46» widmen und ihn uns allen noch einmal in Erinnerung rufen, mit unserem Dank für eine Zeit der absoluten Präsenz, in der er uns zu jeder Stunde zur Verfügung stand, einer Zeit des ultimativen Übergangs, einer Epoche? Stufen Wie jede Blüte welkt und jede Jugend dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe, blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern. Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne, um sich in Tapferkeit und ohne Trauern in andre, neue Bindungen zu geben. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten, an keinem wie an einer Heimat hängen, der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, er will uns Stufe um Stufe heben, weiten. Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen, nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen. Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde uns neuen Räumen jung entgegen senden, des Lebens Ruf an uns wird niemals enden… wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde. In diesem Sinne danke ich Dir für eine Zeit, die ich mit Dir und allen unseren Vorstän- den, Kurt, Nicola, Gabi, Veronica wie auch unserem Geschäftsleiter Emil habe erleben und darin wachsen dürfen. «Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.» Annette Conzett Ich kannte Theodor bis zu meiner Wahl in den Vorstand persönlich. Während der leider nur kurzen Zeit der gemeinsamen Arbeit war ich immer wieder von seiner Warmherzigkeit beeindruckt, die er, obwohl er so viel ‹um die Ohren hatte› jederzeit und immer ausstrahlte. Ich konnte mich gut auf Dich einlassen. Es war eine fliessende Zusammenarbeit mit Dir möglich, Theodor. Ein Ausgleich auf der Verständnisebene war immer möglich. Nichts stand dazwischen. Später entdeckte ich, dass Du Dich früher bereits in London mit Bion und seiner Gruppendynamik und auch mit Theologen auseinandergesetzt und mit ihnen zu tun hattest, selbst Dein Vater ist ja Theologe. Diese Übereinstimmung in Vielem machte mir den Kontakt zu Dir angenehm leicht. Danke für diese Zeit! Nicola Gianinazzi Lieber Theodor die Zeit mit Dir im Vorstand des ASP war – wenn auch viel zu kurz – sehr schön, anregend und lustig. Souverän hast Du unsere Sitzungen geleitet, Vielredner und Umstandskramer in ihre Schranken gewiesen, sodass wir immer planmässig unsere Sitzungen beginnen und schliessen konnten. Ernsthaft und liebevoll hast Du unsere Anliegen aufgenommen, uns gehört und eigentlich immer einen Kompromiss gefunden, der für alle befriedigend war. Am Wunderbarsten ist für mich an Dir Dein Humor. Er durchzieht bei Dir das Geschäftliche und Private. Gerne denke ich an unseren gemeinsamen Abend an der letzten Retraite, an dem wir uns nach einem intensiven Arbeitstag bei einem guten Glas Wein Witze erzählt haben. Auf einige Witze und vor allem ihre Pointen hast Du uns dann recht warten lassen, weil Du selber so lachen musstest, dass Du nicht weiter erzählen konntest. Das war einfach umwerfend! In diesem Sinne danke ich Dir von ganzem Herzen dafür, dass ich Dich im Vorstand erleben durfte und freue mich, Dich dann als «Indianer» an den MVs wiederzusehen. Meine guten Wünsche für Dich, der Du in Deiner unglaublichen Vielseitigkeit auch noch ein poetischer Mensch bist… Wir kennen uns seit der gemeinsamen Jugendzeit im bernischen Oberaargau, also nun seit mehr als vierzig Jahren. In dieser Zeit haben sich unsere Wege auf verschiedenste Art und Weise gekreuzt, verflochten, getrennt und wieder gefunden, zuletzt im Vorstand des ASP. Auch diese Zeiten mit Dir im Vorstand ASP möchte ich auf keinen Fall missen. Es war bereichernd, immer wieder humorvoll, auch sehr ernsthaft, lebendig und vielfältig, mit Dir nach Antworten für all die Fragen rund um unseren Beruf der ‹Psychotherapie’ zu suchen. Manchmal wurden wir sogar fündig und konnten das dann auch angemessen feiern. Ich habe ein lachendes und ein weinendes Auge in Bezug auf Dein Ausscheiden. Ein Lachendes, weil ich es Dir natürlich von Herzen gönne, dass Du nun – hoffentlich, mehr ‹freie’ Zeit hast, weniger Sitzungen, mehr Musse, mehr Entspannung, weniger Stress, mehr Gelassenheit und hoffentlich weniger Krampf und Kampf. Ein weinendes, weil ich, weil wir Dich vom Vorstand und sicher auch von der Geschäftsstelle ASP, natürlich an unseren Vorstandssitzungen, an unseren Retraiten, am Telefon, bei unserem Mailverkehr vermissen werden. Und es wird uns Vieles fehlen: Deine ruhige Stimme, Deine immer der Sache dienenden Gedanken, Deine grossartige Loyalität dem Verband und den Mitgliedern gegenüber, Deine herzliche, wärmende Art, Deine Belesenheit, Weisheit und Dein grosses Herz! Veronica Baud Kurt Roth Gabi Rüttimann Lieber Theodor, à jour 46 |5 AKTUELLES «Halte mich nicht fest.» Zitat aus «Christus in schlechter Gesellschaft» Annette Conzett | Theodor Itten Als ich Deinen Vortrag anlässlich des Symposiums OLG in Wien zu Ehren der Adolf Holl-Disputation vom Mai 2010 las, dachte ich mir, dass ich unserer Leserschaft diesen ‹Leckerbissen› nicht vorenthalten möchte, indem Deine Auseinandersetzung mit Dir in Deinem Glaubensbekenntnis, Deinem spirituellen Wachsen sowie auch die Verknüpfungen damit zu psychotherapeutischen Zusammenhängen deutlich zum Vorschein kommt. Du beginnst Deinen Vortrag mit dem Aufführen von Berührungspunkten und Gemeinsamkeiten, die Deinen Lebensweg mit dem von Adolf Holl zusammen bringen, Ähnlichkeiten aufweisen, Dich zu ihm hinführen, was schlussendlich eine tiefe Freundschaft mit ihm daraus entstehen lässt. In der vorliegenden Kurzfassung Deines sehr umfangreichen Vortrags liegen die Kernstücke vor, die das Fundament zum Vorschein zu bringen vermögen, das den einen Theodor, unseren scheidenden Präsidenten stützt, im tiefsten Inneren begleitet, inspiriert und trägt und den anderen, den privaten, fasziniert, belebt und beglückt. Als Sohn des protestantischen Pfarrers und Missionars Ernst Traugott und seiner Gattin, Rosmarie, aufgewachsen und geprägt durch die religiös reformjüdische Umgebung Deiner Familie, wähltest Du London für Deine Studienjahre, wo Dir der protestantische Pfarrer der Swiss Church, Ueli Stefan, empfahl, das Buch «Jesus in Schlechter Gesellschaft» von Adolf Holl zu lesen, da er meinte, dass Du ein zorniger junger Pfarrerssohn seist und dieses Buch für Dich grad das Beste sei, was Dir jetzt passieren könne. Damals warst Du sein Praktikant in der kirchlichen Jugendarbeit in London. Als 30jähriger junger Mann machtest Du dann später eine fünfmonatige Hafterfahrung als Militärdienstverweigerer und wendetest Dich mit einem Bittbrief an Adolf Holl, dessen Intervention, so denke ich, Dich beflügelte, ihn kurz nachher nach St. Gallen für eine Lesung einzuladen, die zur Vertiefung Eurer Freundschaft bis heute führte. 6| à jour 46 Als Vater von zwei kleinen Kindern und neu in eigener Praxis tätig, appelliertest Du damals gegen dieses scharfe, nur noch in der DDR übliche kriminalisierende Urteil. Dein Anwalt meinte, ‹ja toll, holen wir uns den Holl in den Gerichtssaal in Bern›. Mutig schriebst Du zum ersten Mal Deinem aus der Ferne geliebten Autor. Mittlerweile hattest Du Dich à jour gelesen und zitiertest in Deiner Verteidigungsrede, was das Zeug hielt aus «Mystik für Anfänger», «Der letzte Christ», Religionen. Dr. Holl antwortete als Sachverständiger Deinem Hilferuf mit einem Brief vom 2. 12. 1982, den Du dem Militär-Appellations-Gericht in Bern zu Deiner erfolgreichen Verteidigung vorlegtest. Das Strafmass wurde um zwei Monate verringert, und zwei Monate zusätzliche Freiheit in Deinem Leben ist u.a. Adolf Holl zu verdanken. ‹Das Telefon läutet. Anatol Itten nimmt ab und vernimmt als 17jähriger, eine ihm bekannte männliche Stimme, die seinen Vater zu sprechen wünscht. «Die linke Hand Gottes ist am Apparat», sagt er und reicht mir den Hörer. Die linke Hand Gottes ist am Telefon. Beide Freunde lachten.› «Erst wenn es niemand mehr gibt, der etwas zu verraten hat, ist die Weltgeschichte zu Ende.» schreibt Holl und fährt weiter, «Ehe es soweit ist, bleibt der Verrat am Christentum ein wichtiges Thema.» Er beginnt in dem Augenblick, da jene heilige Gestalt, die man so gut zu kennen glaubte, sich in eine andere verwandelt. Die eingangs erwähnte Verwechslung, die der schönen Marie aus Magdala vor dem leeren Grab passiert, kann auch als Aufforderung gelesen werden, sich gelegentlich umzudrehen. Die Marie, so steht es geschrieben, stand zunächst vor dem Grab und weinte. Dann, nach der Erscheinung zweier Engel, die ihr auch nicht weiter hilft, dreht sie sich um und erblickt den Gärtner. Nachdem dieser sie mit ihrem Namen angesprochen hat, dreht sie sich noch einmal um (was in den Bibelübersetzungen meist unter den Tisch fällt) und sagt das beglückte «Rabbuni». Wie man sich täuschen kann. Erst beim zweiten Umdrehen kommt sie darauf, dass sie ihren geliebten Jesus nicht erkannt hat. Ob sie danach den Gärtner oder Jesus umarmt hat, wird nicht erzählt. Zitiert wird lediglich Jesus, mit der Bitte: «Halte mich nicht fest.» Eben dies haben die Christenmenschen aller Zeiten immer wieder versucht. Die Lektion, dass der Gott sich ungern festhalten lässt, bleibt schwierig zu lernen, und zu sehen ist nach wie vor nur der Gärtner. (Holl 2010, Ostern 105-6; Holl 1993, In Gottes Ohr, 138) Dieses Zitat ist eines Deiner liebsten Stellen in seinem, Dich seit 37 Jahren immens beeinflussenden, inspirierenden und seelisch wie geistig bereichernden grossen Oeuvre. Nach der Literatur und dem Studium von Sigmund Freud und C.G. Jung folgten Adolf Holl und das vor Kierkegaard. Zusammen mit Kurt Martis Leichenreden öffnete Dir «Jesus in schlechter Gesellschaft» ein frisches, religiöses Schauen in diese Welt hinein und Du interessiertest Dich für mehr. Die theologische Sensation für Dich war damals, dass Jesus in Schlechter Gesellschaft als Aussenseiter geschildert wurde, indem er sich nicht so verhielt, wie es von seiner Umgebung, dem sozialen Kontext erwartet wurde und Du konntest Dich spielerisch damit identifizieren. Noch war Dir die Bezeichnung Befreiungstheologie unbekannt. Ohne Zweifel hattest Du in Holl 1973 Deinen Befreiungstheologen gefunden. Als Du Dich später in die Schriften von Brunner, dessen Dogmatik Dir Dein Vater, sein ehemaliger Student, geschenkt hatte, Barth, Rahner, Shillebeeckx, Boff, Sölle, Moltmann-Wendel, Wöller usw., vertieftest, bewegte keiner dieser Autoren Deine religiöse Kodierung so sehr in Richtung Freiheit, Echtheit und Seelenfrieden, wie Holls Texte es zu tun vermochten und immer noch tun. Als Pfarrerssohn teilst Du ein Schicksal mit ‹Buben› wie Nietzsche, Hesse, C.G. Jung und Dürrenmatt, um nur einige zu nennen, was Euer, so wie Du es benennst, Seelenleben neurotisch, geprägt hat. Holls Jesusverständnis wirkte auf den damals 21jährigen, der Du warst, wie eine neue, taufrische Lichtung im Wald, wo mit einem Feuerchen Ostern gefeiert werden konnte. AKTUELLES Die Aussenseiterposition Jesu steht fest und entsprang seinem radikalen Willen zur Neuerung (Holl 1971, S. 42). Diese Neuerung von der Abba Religion zur Sohnesreligion, von der Schuld zurück zur Schamkultur, hatte als Prozess eine heilende Wirkung. Befreit vom systemimmanenten Diktum: Wir werden gezwungen sein zu lügen (Holl 1971, 53), welches Holl mit Dostojewskij zitiert, der die Feindseligkeit des strukturellen Machtchristentums, in dem Du aufgewachsen bist, gegen Jesus auf den Nullpunkt bringt. Da waren Thron und Altar oder Regierungssitz und Pfarrhaus, die einander mit der Strategie des vergotteten Jesus gegen die Bauern und Bürger, stützten. Die Kirche übernahm das Gottesreich und machte uns die Hölle heiss. Holl schrieb: Ob Jesus in einer neuen Gestalt eine müd gewordene Christenheit beschwingen wird können, kann kaum vorausgesagt, allenfalls gehofft werden. In dieser Hoffnung wurde jedenfalls dieses Buch geschrieben (Holl 1971, S.62). Diese Hollsche-Hoffnung hat viele ergriffen. Du geniesst heute ein freies und beschwingtes Glaubensleben ohne Priester- oder PfarrerInnenkirche, mit visionärem Glaubensverständnis. Jeschu wurde als Sonderling und als Narr gesehen, der sich von den familiären Bindungen, in die er via Geburt als Menschgott gelandet war, emanzipierte. Das verlockt zur Nachfolge. Die Debatte läuft weiter. Holl zitiert das Evangelium: «Ja, ihr kennt mich und wisst woher ich bin. Doch bin ich nicht von mir aus gekommen, sondern wahrhaftig ist der, so mich gesandt hat und den ihr nicht kennt. Ich aber kenne ihn, denn ich bin von ihm, und er hat mich gesannt.» (Holl 1971, S. 88). Hier scheint für Dich unser primärer, menschlicher Erkenntnismangel von Anbeginn an zu liegen, denn wer immer auch Jeschu gesandt zu haben mag, so ist dieser ‹Jemand› nicht erkenn- oder fassbar, vielleicht erfahrbar? Die erste Erfahrung mit der direkten Gotteskenntnis ist also der Mangel daran und Du fragst Dich, ob Holl das Lachen über eine solchen Gedanken à jour 46 |7 AKTUELLES vergeht. Nein, und Du stellst mit Erlaub fest, dass Holl wohl eine Gottesneurose zu haben scheint und empfiehlst ihm eine Therapie: Eine Schreibmaschine zum Bücher schreiben sowie Liebe, Freundschaften, viel Humor und gutes Essen. Prognose: Gut, weil unheilbar. Holls Eigendiagnose in «Wie gründe ich eine Religion» auf Seite 126 «… ich bin so hartnäckig wie Sigmund Freud, der ein Leben lang gegen den Glauben seiner Väter revoltierte, ohne von seiner Gottesneurose loszukommen. Das war gut so. Auch ich werde mich mit Gott als Bezugsperson sicher nicht langweilen. Ein wenig verrückt.» Schreibt er da, und fährt weiter «Meine Gottesneurose orientiert sich nicht nur an Freud. Franz von Assisi zum Beispiel empfing gegen Ende seines Lebens die Wundmale des Gekreuzigten während einer Ekstase, was dem Heiligen eher peinlich war. Seitdem passierten ein paar hundert Stigmatisierungen im katholischen Einzugsbereich, zuletzt am Körper des italienischen Kapuzinerpriesters Pio von Pietrelcina (gest.1968), der in seinem Heimatland zum absoluten Hit avancierte, mit jährlichen Pilgermillionen und seinem Bild in jedem zweiten Taxi. Das ist Religion pur, zeitlos und irrational, unverwüstlich, rund um den Globus.» Holls Absicht ist es zu öffnen, öffnen, öffnen. Hier ist ein Theologe der damaligen Avantgarde, ein Religionswissenschaftler von Format und Rang am Werk, dessen kreatives Schaffen und tiefes subjektives Nachdenken im Jesusbuch seinen ersten Höhepunkt erreicht hat. Holl bringt immer wieder Überraschendes. Er nimmt das, was ist, nicht wichtiger als das, was nicht ist. Er geniesst selber den offenen Raum, den er uns verschreibt. « Als Christus aus dem Jordan stieg, kam Er herauf und lachte über alles in der Welt, weil Er ihre Wirklichkeit nicht ganz ernst nahm. Herzlichen Dank. Mit diesem Evangelium lässt sich leben.» (Holl, 2005, S. 271). Zurück zur Neurose, die einfach ausgedrückt, seit Sigmund Freud eine leichte seelische Störung ist, welche durch vergangene Konflikte verursacht wurden und meist zu einer Fehlanpassung im «Hier und Jetzt» führen kann. Unser alter Grossmeister aus Wien sah ja die Religion als Dienstleisterin im Bereich 8| à jour 46 der menschlichen Kultur, wo sie als Bändigerin unserer wilden Triebe viel beigetragen hat. In der Gottesneurose wird hinter der Maske der Wirklichkeit nach dem Verdräng ten im Wahren gesucht. Wir vermuten darin unseren Anteil am Göttlichen, der nicht einfach so ist. Gott war einst ein Tätigkeitswort, für Giessen, Opfern, das sich mit den Jahren auf die Figur, der die Opferung dargebracht wurde, übertragen hat. Diese Gewohnheit hielt sich so lange, bis das Wort Gott schliesslich eine Figur, ob männlich oder weiblich, bezeichnete, welche ihren eigenen Namen meist noch behalten durfte, wie Shiva, Athene, Jahu, Kali, usw. Du lässt einen Schriftsteller sprechen, der es viel schöner zu sagen vermag als Du, so meinst Du: In den Psalmen wird besonders deutlich, dass Gott nichts ist als das, was einem fehlt. Gegen Feinde, Krankheit, Alter usw. Gott wird umso grösser, je grösser mein Mangel wird. Martin Walser (2010, S. 421). Die Aussage, es gebe keinen Gott, ist in jeder Hinsicht primitiver als die Aussage, dass es Gott gebe. Wer sagt, es gäbe Gott, reagiert auf eine Not. Dadurch schafft er sich Gott. Die Aussage, dass es keinen Gott gebe ist primitiver, weil sie nicht notwendig ist. … Die Aussage: Es gibt keinen Gott, ist sogar völlig sinnlos. Wenn einer Gott nicht braucht, schafft er ihn nicht. Wenn er glaubt, ihn nicht zu brauchen, kann er sich keinen schaffen. Eine negative Schaffung gibt es nicht. Martin Walser (2010, S. 457–8). Holl bringt immer wieder das zusammen, was zusammengehört. Unser Gottesmann Holl bringt die Seelsorge und die Psychotherapie zusammen, wie die zwei Ufer eines Flussbettes. In Wirklichkeit spielt es keine Rolle an welchem Ufer wir aus dem Schlamassel unserer Verwundungen herauskommen. Du sagst, dass Du als Holl-Leser immer weniger den Weltanschauungsproduzenten in den Universitäten und Schreibwerkstätten rund um den Globus verfällst. Ein HollText befreie vom Leim diverser Theorie Jongleure. Mit «Mystik für Anfänger» wurde es dem Schriftsteller Holl möglich, vom «wir» der Religionswissenschaften zum «Ich» des Autors zu gelangen, was Du als ausserordentlich elegant erfährst. Holl kam 1985 nach St. Gallen und las aus «Mitleid im Winter» von den Geschichten seiner Mitleidenschaft mit Paranoia, Ricki, Fips und andern. Verschiedene Schicksale, die allesamt von einem Mix aus Sehnsucht nach Geborgenheit, Wahn, seelenkundlicher Suche, Steinhofaufenthalte ohne Heilerfolg und Rettung zeugen. In solchen Notfällen, schreibt er, ist der Autor Holl: …unübertrefflich, präzis wie ein Uhrwerk, umsichtig, von schneller und doch wohlüberlegter Entschlusskraft (1985, S. 39). Dieses Buch lag damals bei vielen Psychotherapeutinnen auf dem Pult. Als die Taschenbuchausgabe erschien, gab es ein Foto im Tages Anzeiger Magazin, Zürich, das den Psychoanalytiker Paul Parin im In- AKTUELLES terview abgebildet hatte, und neben ihm auf seinem Pult lag das Buch «Mitleid». Die Frage nach dem fremden Ich beschäftigte ebenso wie die Thematik der freien sexuellen Liebe, künstlerischem Schöpfertum und religiöser Inbrunst. Ja, die Freundschaft beginnt beim Maskenablegen. Öfters kommen da Masken hinter den Masken zum Vorschein. Befreit von den Maskeraden, die die klare Sicht auf unsere Wirklichkeit sowie die von uns selber durcheinander bringen können, zeigen Freunde einander ihre inneren Erfahrungen, Gedanken, Träume und Wünsche. Das Unbewusste regiert und reagiert. Du sagst über Holl, er sei ‹Kein Versprecher›, denn es werden von ihm keine neuen wissenschaftlichen Namen und Termini erfunden, keine neuen Rezepturen werden ausgesprochen. Das ist schon so in «Wegweisungen im Glauben» (1965) und in «Wo Gott wohnt» (1976). Er schreibt: «Die Tatsachen sind die Fragen, die Geschichten sind die Antworten.» (S. 7), vor denen wir uns nicht zu fürchten brauchen. In «Mitleid im Winter» können wir Holl im «Hier und Jetzt» und im «Es war einmal» erleben. Seine und die Herzenswunden seiner ihn nach Heilung aufsuchenden Gäste werden an den Tränenbächen gewaschen. «Weine nur», hat er Dir einmal am Telefon gesagt. Alles ist nicht so neu, wie es jeder Generation immer wieder erscheint. Holl sei Dank, für die kontinuierlichen Aufdeckungen dieser bekannten Tatsache. Das Ziel: Vorübergehende Geborgenheit in einer vorübergehenden Beziehung. Hier wie dort, bei normalen wie bei Gottesneurosen, wirkt die Kraft des Eigensinns, die im Horchen auf das Unbewusste, emotional leiblich freigesetzt werden kann. Wie immer: Vorsicht vor falschen Hoffnungen. Holl verspricht auch kein Heil zum Lebensglück. Er bleibt Realist, auch im Bereich der Sexualität: Die Entwürdigung des Geschlechtsaktes durch das kirchliche Christentum ist bis heute nicht revidiert worden (S. 168). Schlimmer noch als vor 30 Jahren sieht es um die ekklesiogene Neurose in der aktuellen Zeit aus. Sie nimmt massiv zu. Die pervertierten sexuellen Missbrauchsübergriffe, die emotionalen Gewaltübergriffe, die sadistischen Rituale von Erziehern, Priestern, Pfarrern, fast möchte ich sagen Pfaffen und Bischöfen, sind tagtäglich in der Presse. Laut einer neuen Studie des Psychiaters Dr. Ingo Schäfer, UKE, Hamburg, sind ein Viertel der in der Psychiatrie gestrandeten Menschen Missbrauchsopfer. Der Schaden in der Seele ist irreparabel, so Holls letzte Verlautbarung dazu. Deine Empfehlung: Falls ein Fragemangel entstehen sollte, bitte Holl lesen. Mit dem Fisch aus der Tiefe, wurden die Freuden der Keuschheit frisch angepriesen. Der 54 bis 57jährige Holl hat sich mit diesem Buch über die Erkundung der dunklen und sonnigen Seite unseres Geschlechts- und Beziehungslebens in drei Jahren vollends aus seinem Mittelalter ins Freie geschrieben. Es ist für Dich ein männerbefreiendes Buch ersten Ranges. Ein Hauptdarsteller ist der Schweizer Arzt und Psychotherapeut C.G. Jung (1875–1961), dessen Gegenspieler ein Gott aus dem Schattenreich der Seele ist. Über der Eingangstüre seiner Villa in Küsnacht liess er einmeisseln: «vocatus atque non vocatus, deus adherit – Gerufen und nicht gerufen wird Gott da sein» . Das ist ein delphischer, kein christlicher Orakelspruch, der den Lakedämoniern gegeben wurde, als sie gegen die Athener Krieg führen wollten (Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G.Jung. 1972, S. 297). Die Gottesneurose ermöglicht das kontinuierliche Fühlen der frühen Geborgenheit vor der Abnabelung von der leiblichen Mutter. Im Weihrauch- und Räucherstäbchenduft riechen wir die Nähe des ewigen glückseligen Augenblicks. Die weibliche Gottlosigkeit, als Befreitsein vom Zwang der Opferung an ein unsichtbares Wesen, erweist sich für Holl als eine geistige Kraft, über die wir Männer noch nicht verfügen. Warum? Im Hebräischen rachamim (Erbarmen) hören wir das rechem, das soviel wie Gebärmutter bedeutet. Die Barmherzigkeit, das Gemütliche in der Geborgenheit. Zu Hause angekommen konnten wir von Herzen lachen. Der Lachende Christus spielt immer jeweils zu Ostern an verschiedensten Orten der Welt gleichzeitig sein Welttheater. Unsichtbar und ohne Worte. Diese Kurzfassung aus Deinem Vortrag zeigt uns einen Theodor auf, den wir in den vielen Rezensionen, die Du für uns im «à jour» geschrieben hast, wiedererkennen, doch gibt es im vorliegenden Zusam- menzug etwas Besonderes, nämlich Deine bewegte Berührung mit der eigenen Spiritualität. Du bekennst Dich als jemand, der sich in den Holl-Schriften vollumfänglich «abgeholt», verstanden und weiter geführt wird ,sowohl vom theologischen, religiösen wie auch vom psychologisch, psychotherapeutischen Aspekt her. Annette Conzett Informationen aus dem Sekretariat Ursula Enggist | Patricia Fourati Die Daten der Krankenkassenliste wurden neu erhoben und können entweder von der Homepage heruntergeladen werden oder Sie finden die Angaben als Beilage. Der PTW-Bericht (d/f/i) kann nach wie vor im Sekretariat zum Preise von CHF 20.—bezogen werden. Agenda: Diverse Veranstaltungen werden auf unserer Homepage: www.psychotherapie.ch auf der Agenda publiziert. Besuchen Sie diese Seite regelmässig – dann entgeht Ihnen keine Veranstaltung. Fremdsprachenverzeichnis: Nun ist die Neuauflage erschienen. Diese kann zum Preis von CHF 25.– (inkl. Versandspesen) im Sekretariat bestellt werden. Treffen Romandie: Dieses Treffen musste bereits einmal infolge der kleinen Teilnehmerzahl verschoben werden. Bei einem neuerlichen Versuch erhielten wir wiederum sehr wenige An- bzw. Abmeldungen. Ist das Bedürfnis nach einem Treffen vorhanden? Teilen Sie uns Ihre Meinung mit. Eine gute Gelegenheit dafür bietet das Diskussionsforum, welches auf unserer Homepage aufgeschaltet ist. Sie finden es im Mitgliederbereich (Benutzer: «Mitglied»; Passwort: «ASPV30»). à jour 46 |9 PRAXIS Interview mit ASP-Mitglied Glenck-Kuster Elisabeth Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten zu wählen? Als Quereinsteigerin hat für mich der Weg zu diesem Beruf eher mit persönlicher Entwicklung und Wachstum als mit aktiver Berufswahl zu tun. Rückblickend jedoch weiss ich, dass der Wunsch, psychotherapeutisch zu arbeiten, schon in mir schlummerte, als ich noch die Schulbank drückte. Intensive Begegnungen und Gespräche, die «die Welt veränderten», haben mich schon damals fasziniert. Was ist Ihr beruflicher Hintergrund/ Werdegang? Nach meiner Matur 1969 unternahm ich einen ersten Versuch, Psychologie zu studieren. Ich bekam aber schnell den Eindruck, mich hoffnungslos in der Materie zu verlieren und entschied mich für Fächer, die in meinen Augen «handfest, praktisch und nützlich» waren, nämlich Germanistik, Geschichte und im Nebenfach Englisch. Mit Lizenziat und Gymnasiallehrerpatent schloss ich dieses Studium 1975 ab. Während der intensiven Familienphase mit drei kleinen Kindern und einem Leben auf dem Land war es nicht einfach, diesen Beruf auch auszuüben. So hielt ich «meinen Fuss in der Türe», indem ich Literaturkurse erteilte – an der Akad Femina und an der Volkshochschule – oder auch mal englisch unterrichtete. Über meine eigenen Kinder lernte ich die Musikgrundschule kennen, ein damals frei- williges Fach für Erst- und Zweitklässler, das mich begeisterte. So begab ich mich mit viel Phantasie in dieses pädagogische Feld und war zehn Jahre 1985–1995 an einer Jugendmusikschule angestellt. In diese Zeit fällt meine Ausbildung am FPI (Fritz Perls Institut) zur Gestalt- und Kunsttherapeutin sowie das Ergänzungsstudium in Psychotherapie relevanten Fächern der Charta. Seit 1996 psychotherapeutische Tätigkeit in eigener Praxis. Kunsttherapeutisches Praktikum in der Psychotherapiestation «Villa» des Kantonsspitals Winterthur und Teilzeitstelle im Paraplegikerzentrum in Nottwil. Seit 2003 Aufbau des psychotherapeutischen Dienstes in der Frauenklinik Maternité, Stadtspital Triemli. Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin/selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als delegierte/r TherapeutIn tätig? In meiner freien Praxis innerhalb einer Praxisgemeinschaft arbeite ich selbständig ohne Delegationsmöglichkeit. In meiner Festanstellung in der Frauenklinik ist der Zugang für die Patientinnen sehr niederschwellig. Der spitalinterne Abrechnungsmodus für ambulante Therapien basiert dort auf dem Delegationsprinzip. Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben? Als Kunsttherapeutin bin ich freie Mitarbeiterin des IAC (Integratives Ausbildungszentrum für Mal- und Kunsttherapie in Zürich). In dieser Funktion arbeite ich in Seminarien mit Gruppen und begleite angehende KunsttherapeutInnen in Lehrtherapien oder Supervisionen. 10 | à jour 46 Ich arbeite gerne mit Gruppen und Gruppenprozessen und natürlich macht es mir Freude, mit künstlerisch interessierten und motivierten Leuten kunsttherapeutisch zu arbeiten. Was ist Ihre Spezialität? In Zeiten, in denen unser Beruf zunehmend von der Medizin vereinnahmt wird, suggeriert diese Frage sehr schnell, auf welche Krankheitsbilder sich die spezialisierte Erfahrung beziehen könnte. Ich möchte aber die Frage so offen beantworten, wie sie gestellt ist: Als meine Spezialität erachte ich den Einbezug meines persönlichen geisteswissenschaftlichen Hintergrundes. D.h. als kunsttherapeutisch ausgebildete Psychotherapeutin liebe ich es, mit Bildern, gemalten oder häufiger noch imaginierten, manchmal auch einfachen Sprachbildern, zu arbeiten. Intermediäre Quergänge, die auch mal Klänge eines Gongs oder einer Stimme erlauben, intensivieren und erweitern den Raum des Erlebens – im Spital oft von besonderer Bedeutung. Auch Hinweise auf Märchen, Mythen, Gedichte oder Bücher sind bei mir keine Seltenheit. In der Arbeit im Spital habe ich es mit Menschen zu tun, die durch ihre aktuelle, meist krankheitsbedingte Lebenssituation meine Unterstützung suchen. Praktische Lebenshilfe ist da gefragt. Die Spitalsituation weicht auf, öffnet die Türen zu verborgenen Gefühlen. Aus diesem Ausnahmezustand meines Gegenübers hat sich für mich eine weitere Spezialität entwickelt: in kürzester Zeit adäquat auf das intensive Erleben meines Gegenübers zu reagieren, eine Therapiesituation, die stark auf mich zurück wirkt. Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden? Ja, ich bin sehr zufrieden mit meiner beruflichen Situation. Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschten? Angaben zur Person Vorname, Name: Wohnort: Mitglied ASP seit: Berufflich tätig als: Wenn ja, was sind hierfür die Beweggründe? Glenck-Kuster Elisabeth 8925 Ebertswil 1995 Psychotherapeutin und Kunsttherapeutin in eigener Praxis und in der Frauenklinik Maternité, Stadtspital Triemli in Zürich. Natürlich denke ich etwas nostalgisch an die Zeiten, in denen administrative Dinge sich nicht so aufgeplustert haben wie heute. Auch mir gibt der politische Gegenwind, der mit seinem Spargehabe durch alle Rit- PRAXIS zen pfeift, sehr zu denken. Die «Mängelliste» liesse sich verlängern. Für mich persönlich gilt zu dieser Frage trotzdem: Nichts, das ich nicht selbst in der Hand hätte. Gibt es ein Amt im ASP, das Sie gerne bekleiden würden? Gibt es etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen würden? Wie sähe Ihre Wunsch-Situation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus? In der Frauenklinik mache ich die Erfahrung, wie befriedigend ein vernetztes interdisziplinäres psychotherapeutisches Arbeiten ist. Die Zusammenarbeit und der Austausch mit Ärzten, Pflege, Sozialarbeiterinnen etc. erlebe ich persönlich bereichernd und de facto Effizienz steigernd. Vermutlich liegt im Bereich Vernetzung und Interdisziplinarität für unseren Berufsstand ein wichtiges Zukunftspotenzial. Ich wünsche unserem Berufsverband, dass er Entwicklungen wie Ärztenetzwerke, Bahnhofpraxen oder ähnliche Neuerungen im Blick hat, um auf politischer Ebene mögliche Chancen für unser (Mit-)Wirken wahrzunehmen. Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt? Für mich als Psychotherapeutin ohne Vollzeit-Psychologiestudium war und ist es immer besonders wichtig, mich im ASP mit meinem Hintergrund gut gestützt und vertreten zu wissen, auch wenn die politische Situation sich in diesem Punkt zunehmend verdüstert. Die Wertschätzung des interdisziplinären Zugangs zu unserem Beruf, aber auch zu unserem «Forschungsgegenstand», zur menschlichen Seele, ist mir im ASP sehr wertvoll. Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand des ASP wären? Ein sehr grosses Anliegen wäre mir das Aufrechterhalten unseres humanistischen Therapieverständnisses. Die generellen Ökonomisierungstendenzen unserer Zeit machen keineswegs Halt vor unserer Arbeit. Beispielsweise werden die vorgesehenen Fallpauschalen (DRGs) in den Spitälern uns zwingen, unsere psychotherapeutische Begleitung von PatientInnen mit Diagnosen aus dem ICD-10 zu unterlegen. Die daraus hervorgehende Pathologisierung unserer Klientinnen und Klienten steht in grossem Kontrast zu unseren Bemühungen, salutogen zu denken und zu arbeiten. Im Moment nicht. Vernetzte, wertgeschätzte Arbeit, wie ich sie oben schilderte, wünsche ich den PsychotherapeutInnen der Gegenwart und der Zukunft. Was wäre Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag? Diese letzte Frage möchte ich mit einem Zitat von Käthe Kollwitz beantworten, das ich als Buchtitel* in Erinnerung habe: «Ich will wirken in dieser Zeit.» *Es handelt sich um eine Sammlung von Tagebuchnotizen und Briefen von K.K. Neue Kandidaten Folgende Leute haben beim ASP ein Aufnahmegesuch eingereicht. Gegen die Aufnahme können ordentliche Mitglieder bis 14 Tage nach der Publikation begründete Einsprache an den Vorstand richten: Vorstand, Riedtlistr. 8, 8006 Zürich Bona Angelo, Via Delle Scuole, 34 , 6900 Lugano Cassarate Bonorand-Reichling Christiane, Sonnenweg 30, 5022 Rombach Cantori Yvette, 14 rue de l'Avenir, 1207 Genève Eggenberger Regina, Moosstr. 18, 6003 Luzern Gheiler Malamud, Ilan Vicolo Caminel 10, 6979 Brè sopra Lugano Jaeger Both Catherine, 20, rue Beau-Séjour, 1003 Lausanne Rechsteiner Maya, Oberdorfstr. 35, 4118 Rodersdorf Röder Monika, Wieladingen 31, D-79736 Rickenbach Rossi Maurizio, Casa Campana, 6956 Lopagno Täuber Irene, Schwengiweg 27, 4438Langenbruck Tombois Patricia, Ch. Du Miroir 73, 1090 La Croix sur Lutry Weisser Blaser Regula, Seeblickstr. 38, 9037 Speicherschwendi Interview mit ASPMitglied Jaron Bendkower Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten zu wählen? Eigentlich interessierte mich immer schon der Mensch und seine Gesellschaft. Deshalb studierte ich Psychologie, Pädagogik und Soziologie und las viel zur Geschichte. Die eigentliche Ausbildung zum Psychotherapeuten ergriff ich nach der Uni, um meine eigenen Konflikte besser zu bewältigen. Aber das verstand ich erst später so. Was ist Ihr beruflicher Hintergrund/Werdegang? Ich habe immer im Phil I-Bereich gearbeitet. Die meiste Zeit als Psychotherapeut, oft hart an der Grenze zur Organisationsentwicklung. Auch als Supervisor – von Einzelnen, Teams und in Institutionen. Weiter war ich Dozent für Psychotherapeutisches an verschiedenen Institutionen. Mittlerweile hat sich der Mittelpunkt meiner Tätigkeiten verschoben: Ich verstehe mich zunehmend auch als Autor. Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin/selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als Delegierte/r TherapeutIn tätig? Immer als selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis. Delegiert arbeiten war noch nie mein Ding. Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben? à jour 46 | 11 PRAXIS Seit langem leiste ich mir den Luxus, nicht nur laut zu denken und mich zu diesem und jenem öffentlich, schriftlich zu äussern. Wenn ja, was sind hierfür die Beweggründe? Das Rezeptive oder Passive an unserem Beruf deckte stets nur einen Teil meiner Berufswünsche ab. Seit ich viel schreibe, ist mir einiges wohler. Was ist Ihre Spezialität? Die Schwerpunkte kristallisierten sich im Zusammenhang mit meiner eigenen Biographie heraus: Als schulübergreifend arbeitender Therapeut, als Behinderter und als Multikulti. Arbeit mit chronisch Kranken Da ich selber seit vielen Jahren behindert bin, bot es sich geradezu an, aus diesen Erfahrungen zu schöpfen und sie an Hilfesuchende weiterzugeben. Zweit-Therapien Nicht alle, die mal therapiert wurden, konnten ihre Erst-Therapie schätzen. Der Gründe können viele sein. Eine Zweittherapie ist immer anders. Sie findet hier jenseits institutioneller Zwänge statt, schulübergreifend, undogmatisch. Integrativ arbeiten ist für mich keine Kompilierung, sondern kreativ. Auch meine eigene Biographie führte mich an verschiedenen Schulen/Richtungen vorbei. Geschadet hat es mir nicht, sondern im Gegenteil bereichert. Schreiben Zunehmend kann ich mir ein Leben ohne Schreiben nicht vorstellen. Schreiben nimmt einen immer grösseren Teil meines Schaffens ein. Multikulti-Paar-Therapien Mein Lebensweg führte mich auch in viele Länder. Kosmopolit sein ist keineswegs nur belastend, sondern auch sehr bereichernd. Das zeigt sich beruflich insbesondere in der Arbeit mit interkulturellen Paaren. Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden? Ja, trotz der gesundheitlichen Einschränkungen. Dozieren kann ich zum Beispiel momentan nicht mehr. Aber das könnte sich bald ändern. Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschten? Ich würde das Profil der Psychotherapie als eigenständiges Medium stärker betonen. Sie ist keine Hilfswissenschaft. Und ich würde mich nicht länger an mittlerweile veralteten Wissenschaftsmodellen orientieren. Sondern offensiver dazu stehen, dass wir die Milch auch anderswo holen. Gibt etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen würden? 12 | à jour 46 Doch Anerkennung möchte ich unserem Vorstand genauso zollen. Die momentane Situation ist ungeheuer herausfordernd: Sowohl Würde und Identität der Mitglieder (und des lädierten Berufsstandes) zu verteidigen als auch zur Sicherung ihrer materiellen Interessen beizutragen, erfordert eine Spagatkunst hohen Grades. Alle Achtung! Gibt es ein Amt im ASP, das Sie gerne bekleiden würden? Leider momentan nicht. Was ich gerne machen würde, kann ich nicht mehr – was bleibt, wird sich zeigen … Wie sähe Ihre Wunsch-Situation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus? Mit der Standesvertretung bin ich – siehe auch da weiter unten – nur zum Teil zufrieden. Wir verkaufen uns weit unter unserem Wert. Schritte zu unternehmen, die Psychotherapie mittelfristig aus dem Dunstkreis des Medicozentrismus herauszuholen. Weltanschaulich und politisch. Zum Glück können wir einiges zu solchen Umbrüchen aus den neuesten Ereignissen im arabischen Raum lernen, wo sich vieles schneller veränderte, als wir es vorauszusehen wagten. Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand des ASP wären? Was wäre Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag? Ich würde erstens eine Strategiegruppe damit beauftragen, Vorschläge für den «guten Umgang mit dem <Medicozentrismus> vorzulegen: mit der überschiessenden Macht der Schulmedizin. Und ich würde zweitens mich darum bemühen, die Psychotherapie auf eine adäquatere wissenschaftstheoretische Basis zu stellen. Dass dies die verschiedenen Schulen an unterschiedlichen Punkten trifft, würde das Projekt umso spannender machen. Sicherlich auch darum, weil andere aus den dabei anfallenden Erfahrungen ebenfalls profitieren Meine Vision ist es, die therapeutische Arbeit und das Schreiben noch stärker zu verknüpfen. Ein Buch ist in Vorbereitung, das nicht nur die «Psychotherapie bei der MS» betrifft, sondern auch auf das Psychologische anderer chronischer Krankheiten eingeht. Der interdisziplinäre Ansatz (psychisch und somatisch) scheint mir alles andere als ausgeschöpft. Die Quantentheorie als Rahmen bietet sich dafür geradezu an. Auf diesen Büchern aufbauend schweben mir entsprechende Kurse und Vorträge vor. Das kann ich aber nur, sofern mein Gesundheitszustand das zulässt. Last but not least besteht im «völlig Gesunden» mein wichtigstes Projekt. Aber das ist kein berufliches Ziel allein. Vermutlich gilt das für alle Visionen: sie gehen nahtlos in die allgemeinen Lebenswünsche über … Ja – dazu später mehr … Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt? Angaben zur Person Vorname, Name: Wohnort: Mitglied ASP seit: Berufflich tätig als: könnten. Der ASP käme diesbezüglich in eine Vorreiterrolle. Jaron Bendkower Uerikon (bei Stäfa) 1988 Psychotherapeut und Autor PRAXIS Interview mit ASP-Mitglied Klaus Beeler Schiesser Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten zu wählen? Wenn ich heute in meine Kindheit zurückblicke, wird mir klar, dass es schon immer so sein sollte, dass ich mich mit dem menschlichen Sein und dessen Wachstum beschäftigen würde. Aufgewachsen in einer behüteten, grossen katholischen Familie, war es der Wunsch meiner Eltern, dass ich Priester werden würde. Durch diese ideologisch, religiöse Prägung meiner Eltern sowie einiger belastender Umstände und Erfahrungen wie auch häufiges Kranksein in meiner Kindheit, war ich «gezwungen», mich in einem hohen Masse von früh an mit meinem Menschsein zu beschäftigen. Gleichzeitig war ich ein «Träumerkind», etwas entrückt und oftmals mental abwesend. Im Alter von 20 Jahren war es dann mein Traum, Kindertherapeut zu werden und ich befasste mich damals sehr mit der diesbezüglich, vorhandenen Literatur. Entschieden habe ich mich dann jedoch für eine Ausbildung in Sozialarbeit. Ich wollte aus einer sozialpolitischen Haltung heraus, die sehr dem damaligen Zeitgeist entsprach, mich sozial und therapeutisch engagieren. Dies war der Grundstein meiner therapeutischen Berufsarbeit. Was ist Ihr beruflicher Hintergrund/Werdegang? Nach meinem Abschluss an der Fachhochschule für Sozialarbeit in St. Gallen arbei- tete ich zwei Jahre im Leitungsteam einer stationären Drogentherapiestation. Begleitend dazu absolvierte ich eine Ausbildung in Gruppendynamik an einem Institut in München. In dieser Zeit entwickelte ich mit Gleichgesinnten ein ganzheitliches, soziound psychotherapeutisches Konzept für junge erwachsene Frauen und Männer aus psychiatrischen Institutionen und/oder aus dem Jugendstrafvollzug. Der Grundgedanke war, individuelles und kollektives Wachstum in einer therapeutischen Gemeinschaft zu ermöglichen und dies für alle, nicht nur für Patientinnen und Patienten. Aus dieser Idee des umfassenden, ganzheitlichen sozialtherapeutischen Konzeptes heraus entstand konkret eine therapeutische Institution in einem wunderschönen Schlossgut, in der ich elf Jahre lang arbeitete. Konzeptionell war es sehr interessant – Sozio- und Psychotherapie, Gemeinschaft, Leben und Arbeiten auf dem Lande, Selbstversorgung usw., wie es der Ideologie der 68er-Jahre entsprach. Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten hatten bereits einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik hinter sich, bevor sie in unser Programm einstiegen. Auch während dieser Zeit wollte ich mich persönlich und beruflich weiterentwickeln und absolvierte berufsbegleitend eine Ausbildung in Gestalttherapie am Fritz Perls Institut in Düsseldorf (heute EAG/ FPI). 1987 wurde mir die kantonale Bewilligung für die Durchführung für Psychotherapie im Kanton St. Gallen zugesprochen, welche mir ermöglichte, mich selbständig zu machen. Der psychotherapeutische Bereich, das Menschenbild darin, die Theoriekonzepte und Methodik der integrativen Gestalttherapie entsprachen sehr meinen persönlichen Vorstellungen von ganzheitlicher Psychotherapie. Um mein Wissen darin zu vertiefen, bildete ich mich weiter Angaben zur Person Vorname, Name: Wohnort: Mitglied ASP seit: Berufflich tätig als: Klaus Beeler Schiesser St. Gallen 1989 Psychotherapeut, Supervisor als Gestaltsupervisior bei Frau. Dr. Astrid Schreyögg am FPI, was sich als sehr spannende Ergänzung zur Psychotherapieausbildung erwies. Zu Beginn meiner Selbständigkeit gründete ich in teilzeitiger Anstellung eine neue Institution für Menschen mit Behinderungen unterschiedlicher Art, den heutigen «förderraum» in St. Gallen mit verschiedenen Wohngruppen, Ausbildungsangeboten und einem Hotelbetrieb. Diese Gründungszeit und die damit verbundene Arbeit dauerte insgesamt fünf Jahre. Danach tat ich den Schritt ganz in die Selbständigkeit als Psychotherapeut und Supervisor. Mit der Zeit kamen noch weitere Ausbildungen dazu wie: Integrative Imaginationsarbeit bei Prof. Stephen Gallegos, Santa Fe. Familienstellen und Systemische Strukturaufstellung bei Dr. B. und G. Ulsamer und Paartherapie-Ausbildung in Zürich. Ebenfalls beschäftigte ich mich mit Lösungs- und Ressourcenorientierten Ansätzen. Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin/selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als Delegierte/r TherapeutIn tätig? Ich arbeite seit 20 Jahren als selbständiger Psychotherapeut und Supervisor in meiner Praxis. Zurzeit entwickle ich nebenbei aus meinem Interesse heraus ein neues Konzept für ein Gemeinschaftsprojekt. Delegierte Psychotherapie führe ich keine durch. Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben? Ja, wie ich bereits erwähnte, bin ich auch als Supervisor tätig. In diesem Berufsfeld war und bin ich in verschiedenen sozialen, psychosozialen, psychiatrischen, schulischen und sozialpädagogischen Bereichen tätig. Zusätzlich führe ich Ausbildungs-, Kon troll- und Lehrsupervisionen für verschiedene Ausbildungsinstitutionen durch. à jour 46 | 13 PRAXIS Schon viele Jahre setze ich mich sehr intensiv mit Meditation und Spiritualität unterschiedlicher Richtungen und Traditionen auseinander. Die damit verbundenen eigenen Erfahrungen und Prozesse sowie das aus dieser Vertiefung hervorgegangene Wissen, fliessen in meine psychotherapeutische Arbeit mit ein. Diese Seite meines persönlichen Weges führte vor zehn Jahren zur Gründung der Fachschule für Rituale, welche ich bis heute mit drei weiteren Personen leite. Ebenfalls bin ich als Meditationslehrer tätig. Wenn ja, was sind hierfür die Beweggründe? Die Ausbildung zum Supervisor war eine natürliche Fortsetzung meines Ausbildungsweges. Durch die Vertiefung mit verschiedenen Supervisionsmodellen- und -theorien erweiterte ich meinen Zugang zu Problemstellungen und Lösungsansätzen. Was ist Ihre Spezialität? Das ist eine interessante Frage. Der Grossteil meiner Klientinnen und Klienten befinden sich in einer akuten Leidenskrise aufgrund unterschiedlicher Ursachen – das Leiden steht vorerst im Vordergrund. Vielleicht ist das eine Spezialität von mir, mit diesen Menschen im psychotherapeutischen Prozess wieder Vertrauen aufzubauen und das in erster Linie zu sich selbst, um das eigene Potential darin zu erkennen, damit der Lebensweg wieder im Vertrauen zu sich selbst und in der Kraft ihres Daseins aufgenommen werden und weiter gehen kann. Durch diese Verbindung von Psychotherapie und Spiritualität kontaktieren mich viele Menschen, die sich in einer spirituellen Unsicherheit oder auch in massiven Lebenskrisen befinden. Die Arbeit mit integrativer Imagination und meditativen Techniken fördern diese Prozesse sehr. Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden? Im Grossen und Ganzen bin ich sehr zufrieden mit meiner beruflichen Situation. Die geringe bis Nullfinanzierung durch die Krankenkassen spüre ich in den letzten Jahren sehr viel stärker als früher. Ein Grossteil 14 | à jour 46 der Klientinnen und Klienten sind nicht sehr wohlhabend und kommen somit an ihre finanziellen Grenzen. Aus diesem Grunde muss ich oftmals Menschen in eine psychiatrische Begleitung weiter weisen. Die psychiatrischen Begleitungen beinhalten jedoch oftmals Wartezeiten von drei bis sechs Monaten, was den Hilfesuchenden nicht sehr dienlich ist und somit die Leidenszeit herauszögert. Es gibt immer häufiger Momente, in denen ich dieses System der Klassifizierung als Entwertung des Menschseins und somit auch unserer hochqualifizierten, freiberuflichen psychotherapeutischen Arbeit ansehe. eine Ausnahmebewilligung auf Grund meiner Ausbildungen, langjährigen Erfahrungen und geleisteten Arbeit in psychotherapeutischen Bereichen. Dafür bin ich noch heute sehr dankbar, dass dies damals möglich war. Ich fühle mich vom ASP sehr gut vertreten und gewürdigt. Ich bin auch immer wieder berührt über die offene Haltung des Verbandes und das persönliche Engagement vieler Menschen in den entsprechenden unterschiedlichen Funktionen. Auch dafür möchte ich hier die Gelegenheit nutzen, um mich zu bedanken. Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschten? Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand des ASP wären? Ja natürlich. Eine sinnvolle Handhabung der Finanzierung durch die Krankenkassen, dies in dem Sinne, dass die Klientinnen und Klienten frei entscheiden können, bei wem sie eine Psychotherapie machen wollen – da auch die Synergie zwischen Therapeut/in und Klient/ in sehr wichtig ist für den positiven Verlauf einer Therapie. Das jetzige System der Krankenkassen ermöglicht das nur bedingt. Durch eine entsprechende Änderung würden sowohl die hilfesuchenden Menschen wie auch wir freiberuflichen Psychotherapeutinnen und -therapeuten mehr Wertschätzung erfahren. Ich bin immer wieder erstaunt, dass diese «alten» Strukturen nicht von mehr Menschen in Frage gestellt werden und wünsche mir sehr, dass sich das in naher Zukunft ganz im speziellen zugunsten der Klientinnen und Klienten ändern wird. Gibt es etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen würden? Der Verband, der Vorstand und das Sekretariat haben sehr gute Arbeit geleistet, auch wenn verschiedene Ziele durch die schwierigen Kontexte nicht immer erreicht werden konnten. Ich hoffe sehr, dass diese bis heute verantwortungsvolle und mehrdimensionale Ausrichtung auch weiterhin im Fokus bleiben wird. Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt? Ja. Mir wurde im Rahmen der Übergangsbestimmungen die Bewilligung für Psychotherapie 1987 zugesprochen. Es war damals Neben der bis heute ausgerichteten Zielsetzung, die ich weiter so verfolgen würde, wäre mein persönlicher Fokus auf eine intensivere Vernetzung innerhalb des Verbandes ausgerichtet. Dies im Speziellen auf mehr Ausrichtungen in den einzelnen Regionen; ein interessantes Weiterbildungsangebot; vereinfachtes Eintrittsverfahren, dies wenn zum Beispiel jemand bereits die kantonale Bewilligung für die Berufsausübung besitzt. Neue belebende Impulse und somit ein Beobachten darin, welche Neuerungen dem Zeitgeist entsprechend immer wieder umgesetzt werden könnten, würden sicherlich meinem Fokus entsprechen. Gibt es ein Amt im ASP, das Sie gerne bekleiden würden? Nein, nicht unbedingt. Ich habe die Schwerpunkte meiner Tätigkeiten auf andere Themen ausgerichtet und diese füllen mein Leben neben meinen privaten und persönlichen Inhaltsbereichen vollumfänglich aus. Wie sähe Ihre Wunsch-Situation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus? Um mehr und überhaupt gehört zu werden, wäre eine starke Lobby notwendig. Zu Lobbys habe ich jedoch ein sehr ambivalentes Verhältnis – eine wirklich sachbezogene Lobby wäre für unsere Situation sicherlich wünschenswert. Leider wurde durch die aufreibenden «Kämpfe» um Anerkennung der unterschiedlichen Interessensvertreter PRAXIS der Stellenwert und somit der Bekanntheitsgrad der Psychotherapie vermindert, da der Fokus nicht auf die wirkliche Sache sondern auf die Wertung gelegt wurde. Dies ist schade und wirkt sich bis heute aus. Ich gebe jedoch nicht auf und wünsche mir weiterhin, dass jeder Mensch, ob gesund oder krank, die Möglichkeit hat, einen psychotherapeutischen Entwicklungsprozess zu durchlaufen, dies mit unterstützender Finanzierung der Krankenkassen. Was wäre Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag? Ich bin jetzt viele Jahre in meiner freiberuflichen Praxis als Einzelperson tätig. Lange Jahre war ich auch in einer Gemeinschafts praxispraxis integriert und dies möchte ich wieder mehr aktivieren und mich mehr vernetzen. Heute habe ich eine Vision von einer Institution, in der verschiedene interdisziplinäre Ausrichtungen aus therapeutischen, medizinischen, psychiatrischen, heilerischen, sozialen und pflegerischen Bereichen zusammen wirken und arbeiten, so dass sich all dieses Wissen im Dienste der Menschheit immer mehr zusammenfügen kann. Interview mit ASP-Mitglied Ursula Walter Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten zu wählen? Gibt es etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen würden? ? Persönliches Interesse und Erfahrungen als Lehrerin mit psychisch belasteten Kindern. Ja. Schade, dass kein Status für altershalber nicht mehr berufstätige Mitglieder geschaffen wurde – so bin ich seit Ende 2010 aus dem ASP ausgetreten. Was ist Ihr berufl. Hintergrund/Werdegang? Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand des ASP wären? Nach der Matur Lehrerseminar, dann zwei Jahre Lehrerin, dann Psychologiestudium an der Uni Zürich, neun Jahre Schulpsychologin (Teilzeit), gleichzeitig Ausbildung zur Psychoanalytikerin. Psychotherapeutische Praxis für Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin/selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als delegierte/r TherapeutIn tätig? 1975- 2010 selbständige Psychotherapeutin in freier Praxis. Keine delegierte PT. Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben? Nein Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden? Im Ganzen:Ja. Gibt es etwas, das sie sich anders wünschten? Die öffentliche Anerkennung unserer Arbeit als Arbeit. Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt? Die berufspolitische Arbeit zur Valorisierung von qualifizierter Psychotherapie in der Öffentlichkeit, Zusammenarbeit mit Pro Mente Sana und anderen Patientenorganisationen. Mitarbeit in der Charta. Weiterbildung in methodenübergreifenden Fragen. Gibt es ein Amt im ASP, das Sie gerne bekleiden würden? Nicht mehr Wie sähe Ihre Wunsch-Situation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus? Dass die Psychotherapie und damit die PsychotherapeutInnen auch im neuen Psychologen-Berufe-Gesetz eine eigenständige Stellung erhält, ist gut. Wichtig ist nun, dass der ASP sich voll einbringen kann in den Gremien, welche die konkreten Anforderungen an die Ausbildung und Berufsausübung bestimmen und überprüfen. Was wäre Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag? Mich im Ruhestand zurechtzufinden. Angaben zur Person Vorname, Name: Wohnort: Mitglied ASP seit: Berufflich tätig als: Ursula Walter Basel ca. 1980 Psychotherapeutin bis ende 2010, jetzt altershalber im Ruhestand à jour 46 | 15 PRAXIS Interview mit ASP-Mitglied Ursula Genton Keller Was waren Ihre Beweggründe, den Beruf der Psychotherapeutin, des Psychotherapeuten zu wählen? Und was ist Ihr beruflicher Hintergrund/Werdegang? Später folgte die zweijährige Ausbildung zur Lehrtherapeutin am gleichen Institut. Im Rahmen der Übergangsbestimmungen habe ich psychotherapierelevante Fächer im Ergänzungsstudium und am früheren IAP Zürich absolviert. Neben zahlreichen anderen Weiterbildungen absolvierte ich ausserdem eine zweijährige Weiterbildung in Traumatherapie bei Prof. Dr. med. Luise Reddemann. Bei meiner früheren Tätigkeit als Dipl. Sozialarbeiterin SSAZ in einer Jugend- und Familienberatungsstelle und in Wiedereingliederungsprogrammen und vor allem später als therapeutische Mitarbeiterin in einer Jugend- und Drogenberatungsstelle, war ich immer wieder mit Problemstellungen konfrontiert, die mit Sozialarbeit allein nicht zu lösen waren. Um verantwortungsvoll tieferliegende Ursachen behandeln zu können, erschien mir eine psychotherapeutische Ausbildung notwendig. Arbeiten Sie als selbständige Psychotherapeutin/selbständiger Psychotherapeut in freier Praxis und/oder sind Sie zusätzlich noch als delegierte/r TherapeutIn tätig Ich hatte bereits zwei Jahre Selbsterfahrungsgruppe nach Rogers und fünf Jahre Psychoanalyse und psychoanalytische Weiterbildung gemacht. In der Arbeit mit SuchtpatientInnen habe ich jedoch erfahren, wie wichtig es ist, auch den nicht sprachlichen Raum, d.h. Körperwahrnehmung, Körperhaltung und Ausdruck mit einzubeziehen und «Übersetzungshilfe» zu leisten. Ebenso auch in der Therapie mit Menschen, die HIV-positiv sind oder an Aids leiden. In den Anfängen meiner Praxistätigkeit habe ich noch als Leiter-Stellvertreterin in einer Jugend- und Drogenberatungsstelle gearbeitet. Danach für einige Monate als Bewegungstherapeutin in einer Psychiatrischen Klinik. Die Integrative Bewegungs- und Leibtherapie an der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit (Fritz Perls Institut) erwies sich deshalb als Ausbildung der Wahl. Nach circa sechs Jahren habe ich sie im psychotherapeutischen Zweig abgeschlossen. Ich arbeite selbständig in meiner Praxis in Zürich und besitze seit 1999 die Praxisbewilligung. Gibt es noch einen weiteren Beruf, eine weitere Beschäftigung, den/die Sie zusätzlich zur Psychotherapie ausüben? Als Lehrtherapeutin bin ich heute noch in der Ausbildung für die Europäische Akademie für psychosoziale Gesundheit tätig. Früher habe ich ferner während mehrerer Jahre Seminare für den Gesamtverband für Suchtkrankenhilfe (D) gegeben Wenn ja, was sind hierfür die Beweggründe? Die Seminartätigkeit ist eine gute Herausforderung, sich mit Theorie und Theorie- Angaben zur Person Vorname, Name: Wohnort: Mitglied ASP seit: Berufflich tätig als: 16 | à jour 46 Ursula Genton Keller Zürich 1995 Psychotherapeutin SPV Psychotherapie, Supervision, Lehranalyse Praxisverschränkung auseinanderzusetzen. Und natürlich ist es auch sehr befriedigend und anregend, mit interessierten, meist jungen Menschen zu arbeiten. Man lernt selbst auch viel bei dieser Tätigkeit. Was ist Ihre Spezialität? Schwerpunkte meiner Arbeit liegen in der Therapie mit Menschen, die Suchtprobleme aller Art haben, Menschen mit psychosomatischen Problemen, Menschen die von HIV und Aids bedroht sind, Menschen in psychosozialen Belastungssituationen, Menschen mit traumatischen Erfahrungen wie Gewalt- und Kriegserfahrungen, sexuelle Übergriffe etc. In den letzten Jahren kommen auch öfters ältere Menschen in Lebenskrisen auf der Suche nach Bewältigung von früher Erlebten, das sich nicht mehr verdrängen lässt und das sie immer wieder lähmt. Oftmals sind psychosomatische Beschwerden der Anlass, aber auch der Wunsch nach Neuorientierung, Zukunftsperspektiven für sich entwickeln, Ressourcen entdecken. Fühlen Sie sich mit Ihrer beruflichen Situation zufrieden? Die freiberufliche therapeutische Arbeit kombiniert mit der Tätigkeit als Lehrtherapeutin hat mich immer sehr befriedigt. Gibt es etwas, das Sie sich anders wünschten? Ja! Entweder die Aufnahme der Psychotherapie in die obligatorische KrankenkassenGrundversicherung und/oder bessere Leistungen der Zusatzversicherungen. Gibt etwas, das Sie sich von Ihrem Verband ASP wünschen würden? Ich würde mir einen noch wirksameren Einsatz im berufspolitischen Feld, beispielsweise für PsychotherapeutInnen, die in freien Praxen tätig sind, wünschen. Das würde u.a. Verhandlungen mit Krankenkassen zwecks besserer Leistungen der Zusatzver- PRAXIS sicherung bedeuten (für Leiden mit Krankheitscharakter oder begrenzt auch zur Prophylaxe). Somit hätten auch Menschen, die finanziell nicht gut gestellt sind, eher eine freie Therapeutenwahl. Ausserdem würde ich es sehr begrüssen, wenn der ASP sich öfter und kontinuierlich in der Öffentlichkeit vernehmen lies se, beispielsweise zum Thema «wo und wie wirkt Psychotherapie? Wie kann durch Psychotherapie rechtzeitig stärkeres Leiden mit schwerwiegenden Konsequenzen und grösseren Kosten (Klinik etc.) vermieden werden?». Ich habe immer wieder erlebt, dass in der breiten Bevölkerung – durch alle Schichten hindurch – ein recht nebulöses Bild der Psychotherapie vorherrscht. Da wäre Aufklärung sicher gut. Spannend wäre auch eine Tagung zum Thema «Angst vor dem Fremden? Wie begegnen wir der/dem Fremden in der Schweiz? Kennen wir die eigenen Werte? Oder warum ist ein fruchtbarer Dialog so schwer? Was kann Psychotherapie beitragen?». Oder: « Wie gehen wir und unsere KlientInnen mit Reizüberflutung um? Was ist das bekömmliche Mass?». Schön wäre es auch, wenn der ASP zu speziellen Themen (z.B. Hirnforschung) Kurzvorträge von Fachleuten oder Gesprächsrunden organisieren würde. Es muss ja nicht einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, nur ca drei Stunden. Fühlen Sie sich in Ihrem Berufsverband ASP vertreten und gewürdigt? Im Grossen und Ganzen Ja. Weitere Wünsche siehe auch Frage 9. Was wäre Ihr Fokus, wenn Sie im Vorstand des ASP wären? Siehe Antwort auf Frage 9. anderer Institute war sehr interessant und anregend. Jetzt überlasse ich gerne jüngeren KollegInnen das Feld. Gesundheitswesen als Teil einer interdisziplinären Behandlungsform voll anerkannt. Ausserdem hätte eine Vereinheitlichung kantonaler Praxisbewilligungen stattgefunden. Wie sähe Ihre Wunsch-Situation im gegebenen politischen Umfeld für PsychotherapeutInnen aus? Was wäre Ihre Vision in Ihrem beruflichen Alltag? Der Konflikt mit dem FSP wäre beigelegt und das Verhältnis zwischen den beiden Verbänden von gegenseitigem Respekt geprägt. Man würde sich mehr auf die Aufgaben der Psychotherapie – zum Wohle der KlientInnen konzentrieren. Der Zugang zur Psychotherapieausbildung wäre auch über bestimmte andere Studiengänge möglich. Psychotherapie wäre im Meine Vision ist, dass in der Öffentlichkeit die psychischen und die somatischen Leiden denselben Stellenwert bekommen. Auch die neueren Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen deutlich auf, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist. Menschen mit psychischen Leiden würden so weniger stigmatisiert. AGAVA Arbeitsgemeinschaft gegen die Ausnützung von Abhängigkeiten 10. Schweizer transdisziplinäre Kongress- und Ateliertage zur Überwindung von Gewalt und Machtmissbrauch Freitag / Samstag, 27. / 28. Mai 2011 Haus der Kirche, Hirschengraben 50, 8001 Zürich Zwischen Vertuschung und Transparenz – Prävention in Organisationen und Institutionen Veranstaltet in Kooperation mit Limita Fachstelle zur Prävention sexueller Ausbeutung IST Interventionsstelle gegen Häusliche Gewalt des Kantons Zürich und a+w Aus- und Weiterbildung der Pfarrerinnen und Pfarrer Für Fachpersonen aus den Bereichen – Psychotherapie und Medizin – Justiz und Polizei – Schulen und Kirchen – Sozialarbeit und Heime – Organisationen und Verbände Gibt es ein Amt im ASP, das Sie gerne bekleiden würden? Nein. Ich war viele Jahre als Vertreterin der Europäischen Akademie in der Delegiertenkonferenz des ASP. Der Austausch mit dem Vorstand des ASP und KollegInnen Detailinformationen und Anmeldung (bis 10. Mai 2011): www.agava.ch oder [email protected] à jour 46 | 17 PRAXIS Wa(h)re Medizin - Heilkunst und Gesundheitsmarkt « 20 Jahre Psychotherapie PsyA®T am Spital Affoltern» Eine Reportage von Theodor Itten Diese vielfältige und erfolgreiche Tagung mit mehr als 200 Teilnehmenden fand am Samstag, den 6. November 2010 in der Aula Ennetgraben in Affoltern am Albis statt. Das Modell Affoltern bezeichnet eine Menschheitsmedizin, wie es sie in der Schweiz zurzeit nur einmal gibt. In diesem Regional-Spital wird eine ganzheitliche Betrachtungsweise auf Gesundheit und ihrer Verborgenheit in der Krankheit gelegt. Die kranken Menschen werden dort interdisziplinär betreut, immer schon mit psycho- und kunstherapeutischen Interventionen begleitet, in einem Geist des respektvollen Zusammen- und Miteinanderarbeitens. Die finanziellen Ressourcen werden umsichtig eingesetzt, damit der Leistungsauftrag der Zürcher Regierung mit den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der regionalen Bevölkerung zur Übereinstimmung kommt. «Unser Menschenbild, unser Verständnis von Kranksein und Leiden und unsere Einsicht in die Unvollkommenheit unseres Wissens und Handelns sind die Basis unserer Arbeit», steht es pointiert in der reichhaltigen und schöngestalteten 40seitigen Broschüre Modell Affoltern, welche zur Tagung publiziert wurde. Als Präsident des ASP durfte ich eine Grussbotschaft unseres Verbandes überbringen. Neben dem Feiern von spannenden und lehrreichen 20 Jahren Psychotherapie im Regionalspital, mit einem Versorgungsauftrag fürs Kronauer Amt mit über 70´000 Menschen, war die Tagung zusätzlich eine Besinnung zur gelebten Menschenmedizin. In Affoltern wird eine integrative und integere Heilkunst praktiziert und gelebt. Das Innovative an diesem einmaligen Ansatz in der Schweiz – ein Vorbild zum Nachahmen – ist, dass die Praktizierenden darin den Patientinnen und Patienten kurativ und emanzipativ zur Seite stehen. Das Modell Affoltern steht in der Heilkunst-Tradition des Äskulaps. Ich erinnerte die HörerInnen daran, wie sein Stab von zwei Schlangen umrankt war. Heute sehen wir bei den meisten 18 | à jour 46 Apotheken und Spitälern (leider auch noch in Affoltern) nur eine Schlange am Stab des Heilers. Es ist nur die Sciencia, die Wissenschaft, welche hier geehrt wird. Das ist eine heilmethodisch, strukturelle Verarmung. In Wirklichkeit, seit Heilerinnen und Heiler aktiv wurden, braucht es immer schon beide Schlangen, die Sciencia und Humanitas. Also das Wissen und die Weisheit des Herzens, modern als Intuition ausgedrückt. Im Modell Affoltern werden seit 20 Jahren wieder beide Schlangen verbunden, die sich im Hochranken am Stab überkreuzen und so einander bereichern. Curare und emanzipiere. Wenn die im Spital Affoltern Tätigen einen oder eine Leidende auf deren Haut berühren, berühren sie immer auch schon deren Seele. Dieses Bewusstsein der Einheit von Körper, Seele und Geist gilt es weiterhin zu bedenken und zu pflegen. Die Impulsreferate wurden jeweils musikalisch vom Pianisten André Desponds interpretiert. Annina Hess-Cabalzar, Gründerin und Leiterin der PsyA®T und Christian Hess, Chefarzt Innere Medizin und Ärztlicher Leiter, gaben einen eindrücklichen Überblick zu den 20 Jahren gelebter Neuorientierung im Gesundheitswesen Affoltern. Was das für die weitere Gesundheitspolitik der Menschenmedizin in der Schweiz bedeuten könnte, wurde mit dargestellt. Der renommierte Herz-Gefäss-Chirurg, Prof. Paul Vogt, Klinik im Park, Zürich, gab eine ausserordentlich aufrüttelnde Präsentation zur politischen Ökonomisierung der modernen technifizierten Medizin. Vieles, was heute als Evidenz basierte Intervention gelobt wird, ist oft eine verborgene Taktik, um an das Geld der andern Leute zu kommen. Genau zu diesem Thema, den Analogien zum Finanzmarkt und die einseitige Gewinnoptimierung versus nachhaltige Anlagen zur Steigerung der Lebensqualität, machte die Ökonomin, Antoinette Hunziker-Ebneter, zu ihrem Fokus. Diese Referate sind über den Link zur freien Verfügung: http:// www.spitalaffoltern.ch/xml_1/internet/ de/application/d375/f378.cfm. Vor dem Mittagessen und nach den erfahrungsbunten nachmittäglichen Arbeits- gruppen, gab es, einer solchen Tagung entsprechend, Dialoge auf der Bühne. In der ersten Runde vor dem Mittagessen wurde mit den Vortragenden und der Leiterin Pflege über das Thema: «Heilkunst und Gesundheitsmarkt: Bedeutung für die zu Behandelnden und die Behandlung» diskutiert. Fragen aus dem Publikum zur sozialen und gesellschaftlichen Dimension des Modells Affoltern belebten den eher ins Nette abgleitenden Dialog. Die acht nachmittäglichen Workshops wurden parallel durchgeführt und hatten vor allem ein Ziel, nämlich die Veranschaulichung der praktische Umsetzung des Modells Affoltern/Menschenmedizin im Alltag. Die Gruppen wurden von psychotherapeutischen, pflegerischen, physiotherapeutischen und ärztlichen im Spital Tätigen moderiert. Vorgestellt und besprochen wurden alle Bereiche des Spitals: Innere Medizin, Chirurgie, Frauenklinik, MutterKind-Abteilung, Psychiatrie, Geriatrie, Palliative Care und die Führung des ganzen Betriebes. An der Podiumsdiskussion am Nachmittag ging es vor allem um die Aspekte und Bedeutungen der Menschenmedizin Heilkunst für Patientinnen und Patienten, eine Gruppe der «KundInnen» im umworbenen Gesundheitsmarkt. Es diskutierten gesundheitspolitisch kontrovers Werner Bauer, internistischer Hausarzt und neu Präsident Schweizerisches Institut für ärztliche Weiter- und Fortbildung, Christine Egerszegi-Obrist, Aargauer Vertreterin im Ständerat, Christian Hess und Margrit Kessler, Präsidentin der Stiftung Schweizerische Patientenorganisation, unter der kundigen Leitung von Karin Frei, Redakteurin und Moderatorin DRS 1. Wie so oft wurde eine solche Debatte von der politischen Ökonomie des Gesundheitswesens dominiert. Die politischen Fehler der Vergangenheit beeinflussen die gegenwärtige Versorgungspolitik der Bevölkerung. Es ist ein Teufelskreis, in dem alle Beteiligten gefangen sind. Die Berufstätigen im Gesundheitswesen, die Zulieferer-Firmen, die Krankenversicherer, die Chemische Industrie, die Politik-Lobby, alle PRAXIS Burnout: aus der Erschöpfung in die Kraft sind betroffen von der Sucht nach Gewinnmaximierung in diesem Wachstumsmarkt der Krankheit. Es wurde kritisch darüber geredet, was uns krank macht, wie und was an Faktoren daran beteiligt sind und uns seit Jahrzehnten ein immer grösseres und teureres Gesundheitswesen beschert, über welche gesellschaftspolitischen Arbeitsbedingungen des Konsummarktes (inklusive Nahrungsmittel-Industrie und Medikamente) und über die Heuchelei eines Grossteils der PolitikerInnen, die Sparen via neue Modelle proklamieren. Wieder einmal konnten alle Beteiligten an einer solchen Tagung merken, wie komplex, verwoben, multifaktoriell und oft undurchsichtig die Gesundheitspolitik und -versorgung ist. Es gibt trotzdem die Alternative zwischen gelebter und verabreichter Gesundheit. Und Tatsache ist, dass wir in Affoltern die Wahl haben und das ist gut so. Zum Abschluss, als die meisten TeilnehmerInnen schon wortsatt und sitzmüde waren, plauderte der ehemalige «Spitalphilosoph», Wilhelm Schmid, aus seinem soeben erschienenen Buch: Die Liebe neu erfahren – Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen. Er vergass leider das Motto: less is more. Die finale Musik aus dem Flügel war danach eine salutogenetische Erlösung. Die ganzen Tagungsunterlagen können unter http://www.spitalaffoltern.ch/xml_1/ internet/de/application/d375/f376.cfm eingesehen werden. Annette Conzett: Mit grossem Interesse habe ich Ihr Buch gelesen, Herr Dr. Ruch, und Sie darum gebeten, uns einen kurzen Eindruck darüber zu vermitteln, was Sie dazu bewogen hat, sich mit speziell diesem Kapitel der psychotherapeutischen Praxis intensiver auseinanderzusetzen, welche Erfahrungen Sie damit gemacht haben, wie die Perspektive Ihrer Behandlungsart mit genau dieser Symptomatik zu sehen ist, etc. Sie sagen, dass es sich beim Burnout um ein ‹energetisches Problem handelt, das sich schleichend entwickelt› und Sie haben zur Bewältigung dieser energetischen Krise Übungen und Verhaltensangebote entwickelt und sie in Ihrem Buch hinterlegt, das sowohl FachkollegInnen wie auch Betroffenen Einblicke in die Zusammenhänge wie auch Ausblicke aus der Krise in eine neue, bewusste Lebensweise verschafft. Dr. Hanspeter Ruch: Als Psychologe und Psychotherapeut mit langjähriger Berufserfahrung bin ich vor fünfzehn Jahren erstmals auf das Burnout gestossen. Das, was Betroffene mir damals berichtet haben, machte mich betroffen und hellhörig. Um die Ursachen und Hintergründe, die in die Erschöpfung führen, zu verstehen und Wege aufzuzeigen, wie die Krise bewältigt werden kann, begann ich mich mit diesem Thema zu befassen und habe dazu auch ein Buch geschrieben. was mit ihrem Leben geschehen war und weshalb die Bewältigung des Alltages so schwierig war. Zusätzlich zu schaffen machte ihnen, dass die Menschen um sie herum ihre Not meistens nicht wahrnahmen. Häufig bekamen sie zu hören, dass sie sich nur zusammennehmen müssten und dann würde alles gut werden. Doch dem war nicht so. Im Gegenteil. Je mehr sie sich zusammennahmen, desto schwächer wurden sie und desto tiefer wurde die Krise. Was aber fehlte diesen Menschen? Was war mit ihrem Leben, das nicht mehr funktionierte, passiert? Was waren die Ursachen ihrer Schwierigkeiten? Waren sie depressiv und wollten sich dies nicht eingestehen? Dies waren Fragen, die mich anleiteten. Um mehr über das Phänomen Burnout in Erfahrung zu bringen, begann ich Fachbücher zu lesen, fand in diesen jedoch keine Antworten, die mich befriedigten. Die meisten Bücher waren zu theoretisch und für die Betroffenen nur beschränkt hilfreich. Viele orientierten sich an psychologischen Theorien, die das Burnout in seinem Wesen nicht zu erfassen vermochten. Alles begann damit, dass Klienten und Klientinnen in meine Praxis kamen, die zwischen vierzig und fünfzig Jahren alt waren und beruflich wie auch privat viel erreicht hatten. Sie klagten über Müdigkeit und eine grosse Erschöpfung. Sie hatten Symptome wie Unwohlsein, Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Enge in der Brust, Übelkeit und Verdauungsprobleme. Viele litten unter Schlafstörungen. Sie waren häufig gereizt und reagierten auf Störungen ungehalten. Bei der Arbeit fiel es ihnen schwer, sich zu konzentrieren und die von ihnen geforderten Leistungen zu erbringen. Sie konnten nicht verstehen, à jour 46 | 19 PRAXIS kann entstehen. Dadurch dass ich mich mit dem Thema Lebensenergie befasste und ergründete, wie diese aufgebaut und stabilisiert werden kann, begann ich nicht nur das Burnout mit anderen Augen zu sehen, sondern es öffneten sich neue Wege der Therapie. Um Burnoutbetroffenen zu helfen, die Krise zu bewältigen, zeigte ich ihnen Übungen, die dazu dienen, das Entspannen und Loslassen zu lernen, Kraft und Energie aufzubauen und die Verankerung im Leben zu festigen. Diese Übungen zeigten bei den meisten Klienten und Klientinnen grosse Wirkung. Die Kräfte kehrten zurück und die Erschöpfung liess nach. Vom Erlebten gestärkt und mit neuem Selbstvertrauen, gelang es ihnen, das Lebensgefüge wieder aufzubauen und den Weg zurück ins Leben zu finden. Die meisten Klienten und Klientinnen führten ein aktives Leben und meisterten den Alltag souverän. Da der Stress überhand nahm und ihnen die Zeit zum Erholen und Auftanken fehlte, begannen die Kräfte zu schwinden. Ohne dies zu realisieren, gerieten sie in eine Erschöpfung, die ein solches Ausmass annahm, dass ihr Lebensgefüge auseinanderbrach. Sie fühlten sich schutzlos und dünnhäutig und waren vom Leben überfordert. Beim Einkaufen konnte es geschehen, dass sie plötzlich einen Schweissausbruch bekamen und den Laden fluchtartig verlassen mussten. Am Morgen auf dem Weg zur Arbeit erlebten sie den Lärm und das Gedränge am Bahnhof derart intensiv und überwältigend, dass sie rechtsumkehrt machten und nach Hause gingen. Oder dann glaubten sie, da sie sich gut fühlten, die Krise bewältigt zu haben. Kaum, dass sie sich anstrengten und eine Aufgabe in Angriff nahmen, fühlten sie sich entkräftet. Um sich zu erholen, mussten sie sich hinsetzen und eine Pause einlegen. Je vertrauter ich mit dem Burnout wurde, desto klarer wurde mir, dass das Burnout primär ein energetisches Problem ist, das sich schleichend entwickelt. Wird der Energieverlust nicht gestoppt, vertieft sich die Krise, eine Erschöpfungsdepression 20 | à jour 46 Ein weiterer wichtiger Aspekt der Psychotherapie bestand darin, dass sie ihr Leben vereinfachten, Unbewältigtes klärten und sich mit ihren Mustern, Konzepten und Glaubensätzen befassten. Burnoutbetroffene neigen dazu, sich mit hohen Erwartungen unter Druck zu setzen und Anerkennung und Wertschätzung durch Leistung zu erlangen. Muster dieser Art gilt es aufzudecken und aufzulösen, denn sie kosten Kraft und tragen massgeblich zum Entstehen des Burnouts bei. Das Bewältigen eines Burnouts ist ein komplexer und anspruchvoller Prozess, der Zeit und Geduld, aber auch eine Haltungsänderung erfordert. Strategien und Techniken, die darauf abzielen, möglichst schnell wieder fit zu werden und optimal zu funktionieren, nützen wenig. Der Haltungsänderung kommt eine zentrale Bedeutung zu. Zu dieser gehört, dass man während des Tages regelmässig Pausen einlegt, das Entspannen und Loslassen übt und die eigenen Ressourcen fördert. Darüber hinaus geht es darum, die Prioritäten neu setzen und das Leben so ausrichten, dass man trotz Stress, Sorgen und Zeitdruck bei Kräften bleiben und den Alltag meistern kann. Annette Conzett: Haben Sie herzlichen Dank für Ihren informativen Text! Der Kontakt mit Ihnen hat mich gefreut und sicher ist es Ihnen gelungen, unsere Leserschaft neugierig auf Ihr Buch zu machen. Biographie Dr. phil Heinrich Berbalk Diplom-Psychologe Dr. phil Heinrich Berbalk, Universitätsprofessor für Psychologie/Verhaltenstherapie an der Universität Hamburg, Mitglied der Psychotherapeutenkammer Schleswig-Holstein, Approbationen als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut und Psychologischer Psychotherapeut – Verhaltenstherapie. Eigene Psychotherapeutische Praxis in Schleswig-Hostein und Stations-Supervisor am Zentrum für Integrative Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Kiel in der Psychiatrie, der Psychosomatik und der Kinder- und Jugendlichen Psychiatrie und Psychotherapie. Verhaltenstherapeut in Praxis Lehre und Forschung seit 32 Jahren, angefangen als Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Kiel, Tätigkeiten an verschiedenen Therapieeinrichtungen, Lehrstuhlvertretungen für Klinische Professuren an den Universitäten Trier, Hamburg, Kiel und schliesslich Berufung an die Universität Hamburg auf Lebenszeit. Publikationen in den Bereichen Psychosomatik, Entspannung, Kindliches Einnässen, Stressbewältigung, Hypertonie, Gesundheitsförderung und Schematherapie. Vorlesungen, Seminare und Workshops zur Verhaltenstherapie seit 35 Jahren, Multimediale und Internetvorlesung zur Allgemeinen Psychologie, seit 2005 über 100 Vorlesungen und Workshops zur Schematherapie im In- und Ausland. Email: [email protected] PRAXIS Interview mit Professor Berbalk: Schematherapie Zusammenfassung: Schilderung seines Weges in die Psychologie bis zu seiner Professur in Hamburg und die Kognitive Verhaltenstherapie sowie deren Weiterentwicklung zur Schematherapie durch Jeffrey Young. Zu deren Verbreitung in den deutschsprachigen Ländern hat Berbalk in den letzten zehn Jahren entscheidend beigetragen. Erweiterung der schemageleiteten zur persongeleiteten Verhaltenstherapie. Einführung einer neuen Sichtweise: vom Patienten über den Klienten zur anvertrauten Person. Schlüsselwörter: Schematherapie, Kognitive Verhaltenstherapie, schemgeleitete Verhaltenstherapie, persongeleitete Verhaltenstherapie, Patient vs. anvertraute Person, Integrative Psychotherapie. Itten: Werter Professor Berbalk, wie war Ihr eigener Weg in die Psychologie? Was hat Sie damals vor 45 Jahren motiviert, Psychologie zu studieren und Psychologe zu werden? Berbalk: Nachdem ich als erster in der Familie Abitur gemacht hatte, war ich erst einmal ratlos, was ich damit machen könnte. Eine Freundin, die gerade Freud las, meinte, ich müsse unbedingt Psychologie studieren. Ohne diesen Rat hätte ich mich lieber handwerklich betätigt. Ich war geschickt im Reparieren und «Frisieren» von Motoren, im Malen und Anstreichen und im verlegen von Heizungsrohren. Ich habe mir mit solchen Aktivitäten mein Studium verdient. Itten: Heute gibt es ja 16 bis 20 verschiedene Richtungen innerhalb der Psychologie, wie Sportpsychologie, Wirtschaftspsychologie, Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie etc. Was bewegte Sie. in die Richtung der klinischen Psychologie zu gehen? In Ihrer Universitätslaufbahn wurden Sie später Professor der klinischen Psychologie und Psychotherapie in Hamburg. Im Studium an der Goethe-Universität in Frankfurt waren meine Schwerpunkte Wahrnehmungspsychologie, Allgemeine Psychologie, besonders Lern- und Gedächtnispsychologie sowie Persönlichkeitspsychologie. Im Rahmen der Lern- und Persönlichkeitspsychologie bin ich auf die Anwendung in der Verhaltenstherapie hingewiesen worden. Die Verhaltenstherapie entwickelte sich gerade in England, SüdAfrika und Amerika. Zu dieser Wissensberührung mit Klinischer Psychologie kam eine praktische Selbsterfahrung: Nach einem kläglichen Versagen bei einem Referat in einem grossen Hörsaal der Goethe-Universität war ich zu verzagt, die fehlenden Pflichtreferate halten zu können. Statt allerdings aufzugeben, führte ich mit mir selbst erfolgreich eine Verhaltenstherapie durch, sodass ich mein Studium beenden konnte. Da ich ja eine Selbsttherapie durchgeführt hatte – Verhaltenstherapie gab es damals in Deutschland noch nicht – war niemand da, der mir hätte sagen können, dass das Diplom als ausreichender Therapieerfolg gewertet werden könnte. So habe ich nach dem Examen auch noch promoviert und bin Professor für Psychologie geworden, als hätte es weiterer Beweise der Überwindung meiner Schwächen bedurft. Sind es diese persönlichen Erfahrungen, die Sie damals bewogen haben, in das Berufsfeld der Psychotherapie hineinzugehen, um schliesslich als Verhaltenstherapeut die Approbationen für Kinder- und Jugend- sowie für Erwachsenenpsychotherapie zu erwerben? Die persönlichen Erfahrungen haben dazu beigetragen. Hinzu kam, dass Professor Wegener von der Universität Kiel mir zutraute, die Verhaltenstherapie an seinem Institut einzuführen, nachdem dort Klientenzentrierte Psychotherapie und Spieltherapie bereits etabliert waren. In der Heilpädagogik verankert war Wegener ein grosser Integrator von psychotherapeutischen Richtungen und förderte das Miteinander und die Ergänzung aller therapeutischen Richtungen. Das war eine sehr schöne Zeit und ich war sehr gerne bei Professor Wegener Assistent. Es war stimulierend, mit den vorhandenen klinischen Kolleginnen und Kollegen zu kooperieren. Meine Aufgabengebiete waren sowohl Verhaltenstherapie für Kinder, Jugendliche und deren Famili- en und Verhaltenstherapie für Erwachsene. Am liebsten hätte ich nur mit Kindern und Familien gearbeitet. Es war eine meiner schönsten Erfahrungen im Übergang von Studium zur Berufsausübung, dass ich am Projekt einer Kollegin mitarbeiten durfte, bei dem «werdende Eltern» auf ihre Elternschaft vorbereitet wurden. Es ist über die Berufsjahre und auch noch heute für mich immer mit Schmerz erfüllt gewesen, wenn sichtbar wurde, wie sehr Patientenleid mit schädigenden Aufwuchsbedingungen verknüpft war und bei früher Intervention hätte verhindert werden können. Nach der Promotion kam ich erst einmal als Lehrstuhlvertreter nach Trier, um dort Vorlesungen über Psychosomatik und Klinische Psychologie zu geben und in Seminaren die Praxis der Verhaltenstherapie zu vermitteln. Bald darauf wurde ich nach Hamburg als Universitätsprofessor für Psychologie auf Lebenszeit berufen und sollte besonders die Kognitive Therapie für Erwachsene vertreten. Im Laufe der Jahre habe ich tatsächlich auch die ganze Breite der Angewandten und der Allgemeinen Psychologie vertreten. Das grösste Vergnügen an der Universität waren für mich die Zusammenarbeit mit den Studierenden und die Möglichkeit, Forschung mit praktischer Anwendung zu verbinden. Sie haben seit Ihrer Studienzeit immer auf beiden Seiten gearbeitet, als Psychotherapeut und als Lehrer der Psychologie, vor allem der klinischen Psychologie. Ist das vielleicht auch ein Grund, dass Sie viel für die Schematherapie und ihre Verbreitung in Deutschland gemacht haben? Können Sie erzählen wie die Schematherapie nach Deutschland kam? Am Anfang stand der Bericht eines Studenten, der ein Praktikum bei Dr. Young, einem Assistenten von Aaron Beck, gemacht hatte. Das mag vor zwanzig Jahren gewesen sein. Young hatte bis dahin einen Teil der Schemata zusammengetragen, die er bei schwierigen, schwer gestörten Patienten als früh erworbene und auch im Erwachsenenalter wirksame hinderliche Lebensthemen gefunà jour 46 | 21 PRAXIS den hatte. Zusammen mit seinen Annahmen zur Aufrechterhaltung dieser Schemata war ich so vom Vortrag des Studenten angesprochen, dass ich die Arbeit von Young über die Jahre verfolgte und in alle meine Klinischen Überlegungen und Anwendungen einbezog. Vor ca. 10 Jahren gab es die ersten persönlichen Kontakte, zunächst in Holland und dann regelmässig in den USA. Seit den ersten Kontakten verbreitete ich die Theorie und Praxis der Schematherapie nach Young in Vorträgen, Vorlesungen und Workshops in Deutschland, der Schweiz und in Österreich. Auf meine Einladung hin, hielt Young seine erste Vorlesung über Schematherapie in Deutschland vor gut fünf Jahren an der Universität Hamburg. Ich organisierte dann grosse Workshops mit Jeffrey Young in Frankfurt, Hamburg und München. Mit ihm zusammen entwickelte und organisierte ich den international ersten Workshop für Schematherapie-Supervisoren in Hamburg. Hilfreich für die Verbreitung der Schematherapie war auch ein Interview, das ich zusammen mit Dr. Kempkensteffen von der Universität Hamburg mit Young in Schweden aufgenommen und im deutschsprachigen Raum verbreitet hatte. Der Anlass für das Interview war das Erscheinen seines Buches «Schema Therapy» im Jahre 2003. Davor hiess sein therapeutischer Ansatz noch Schema-fokussierte Therapie. Von diesem Zeitpunkt an organisierte ich in Abstimmung mit Young ein Schematherapie Curriculum mit nunmehr fünf Workshops und führte dieses Curriculum in München, Bad Dürkheim, Münster, Hamburg, Basel, Freiburg, Berlin, Köln und in SchleswigHolstein, dem Ort des ersten Institutes für Schematherapie in Deutschland, ein. Sie spielten eine Rolle dabei, dass die beiden Bücher von Young in die deutsche Sprache übersetzt wurden. Wie ging das vor sich? Ich hatte schon 2003 dem Verlag, in dessen Verhaltenstherapiezeitschrift mein Schwedeninterview erschienen war, dringend empfohlen, Youngs damals neues Buch zu übersetzen und herauszugeben. Die haben aber die Bedeutung des Buches nicht begriffen. Der jetzige Verlag schickte eine Anfrage nach meiner Prognose und ich sagte sowohl für das Buch «Schematherapie» als auch für das Buch «Erfinde Dein Leben 22 | à jour 46 neu» grosse Verkaufserfolge voraus. Diese Prognose hat sich mehr als bestätigt, auch durch die vielfältigen Empfehlungen, die ich in meinen unzähligen Vorträgen und Workshops ausgesprochen hatte. Dann hat Ihr enger Kontakt zu Young der Verbreitung der Schematherapie in deutschsprachigen Raum genützt und Ihr Engagement hat der Schematherapie und Young bei der Verbreitung unermessliche Dienste erwiesen. In erster Linie galt mein leidenschaftliches Engagement den fürsorglichen und befreienden Grundideen der Schematherapie. Dabei war für mich die Zustimmung erfahrener Therapeutinnen und Therapeuten ganz unterschiedlicher Herkunft eindrucksvoll. Nach ca. zehn Jahren begeisterter Anstrengung für die Schematherapie haben dann Personen aus dem Kreise derer, die ich bezüglich der Schematherapie in Deutschland besonders berücksichtigt hatte, mein Ansehen und die kollegiale Beziehung zu Young untergraben. Bei der Gründung einer Gruppierung der Schematherapeuten im Dachverband Verhaltenstherapie wurde ich sogar systematisch an den Rand gedrängt. Die Theorie und die Anwendung der Schematherapie sind aber in meinen Gedanken unverändert mit Heilung und Befreiung verbunden, dominierende Personen in den Organisationen habe ich allerdings als kalt und berechnend kennenlernen müssen. Im Herbst 2009 hat Evelyne Gottwalz-Itten, meine Frau, Jeffrey Young für die DGVT Hamburg das erste Mal für ein Seminar eingeladen. Mir ist da aufgefallen, wie viele Elemente der Gestalttherapie in der Schematherapie vorkommen. Die aktiven psychotherapeutischen Interventionen, also Berührungen, erinnerten mich an die psychoanalytische Tradition von Sandor Ferenczi. Jeffrey Young ist einer der kognitiven Verhaltenstherapeuten, der zugibt, wo und was er von anderen Richtungen übernommen hat. Ist die Schematherapie lediglich eine Modeerscheinung in der Psychotherapie oder eine eigene Methode, die sich seit 15 Jahren aus der KVT heraus entwickelt? Geht man nach den Reaktionen in den USA, so handelt es sich bei der Schmathera- pie nicht einmal um eine Modeerscheinung sondern eine gewisse Ausformulierung von Beck's Konzeptionen zu Schemata und Schema Modi. Young entwickelte eine Theorie zur Entstehung und Aufrechterhaltung von früh im Leben erworbenen hinderlichen Schemata und kombiniert und integriert dabei Errungenschaften der Lehren von den Abwehrmechanismen, der Individualpsychologie, der kognitiven Therapie, der Verhaltenstherapie und der Stressverarbeitung. Der bindungstheoretische Ansatz Bowlby's stellt sogar die wichtigste Basis für Bedürfnisanalysen und Gestaltung der therapeutischen Beziehung dar. Implizit verwendet er klientenzentrierte und transaktionsanalytische Konzepte. Panscherei von alten Weinen in neuem Schlauch? Strukturell werden Einzelaspekte integriert: frustrierte Kernbedürfnisse werden verbunden mit hinderlichen Schemata als Gedächtnisstrukturen, die nicht nur kognitive sondern auch emotionale und somatische Aspekte umfassen. Der Prozess der Anpassung an die Schemastruktur wird als dreifaltige Aufrechterhaltung und Stabilisierung über die sogenannte Schemabewältigung beschrieben. Therapie besteht aus Beziehungsgestaltung, Erschliessen vergangener Erfahrungen und deren «Gerinnung» in Schemata, Veränderung von Kognitionen, Zugang und Bearbeiten von Gefühlen und Körperempfindungen – auch Gestalttherapeutische Interventionen, Änderung schemaerhaltender Verhaltensgewohnheiten, Kompetenzerwerb und Erwerb von Selbstkontrolle sowie Emotionaler Enthemmung und Befriedigung zentraler Bedürfnisse. Summierung «evidenzbasierter» Einzelmethoden? Die Wahl und die integrierte Abfolge der Interventionen wird geleitet durch eine SchemaFallkonzeption, die von Patient und Therapeut geteilt wird und eine neue Dynamik der Schemaprozesse bewirken oder ermöglichen soll. Zum bisher erwähnten Schemaansatz kommt der sogenannte Modusansatz. Schematherapeuten berücksichtigen den momentanen persönlichen Hintergrund oder Zustand, auf dem sich das Handeln, Denken und Fühlen eines Patienten oder Therapeuten abspielen. Evolutionär gegebene, in der Lebensbewältigung erlern- PRAXIS te und von bedeutenden Begleitpersonen in der Entwicklung übernommene Zustände oder Modi werden im Zusammenspiel beobachtet und Veränderungen der Ausprägungen und des Zusammenspiels werden vermittelt. Heilung hinderlicher Schemata und Integration der Modi sind die erklärten Ziele der Schematherapie. Sie schilderten schon Ihre berufliche Grundposition, die Verbindung zwischen Praxis und Theorie aufrechtzuerhalten und lebten das als Universitätsprofessor in Hamburg vor. Jeffrey Young wurde aber von der akademischen Psychologie und von der akademischen Verhaltenspsychologie angefeindet. Das ist Ihnen hier in Hamburg nicht passiert? Young ist Psychotherapeut und nicht Wissenschaftler. Der Wissenschaftler unter den Schematherapeuten ist der Holländer Arntz. Er hat auch gezeigt, dass empirisch die Schematherapie in Holland bei ambulant behandelten Borderline-Patienten besser wirkt als übertragungs-fokussierte Therapie. Das hat aber in Hamburg nicht zur Ablehnung Young's geführt, auch wenn die theoretische Fundierung seiner Ideen durch psychologisches Basiswissen wünschenswert erschien. Die Suche Youngs nach Verbesserung der Therapie für sonst aussichtslose Patienten wurde mit Begeisterung aufgenommen. Anerkennung fanden Youngs effektive Methoden des Zugangs zu Schema relevanten Erfahrungen in der Kindheit mit geleiteten Vorstellungen und weitere «Erlebnis basierte» Methoden zur Diagnose und Änderung dysfunktionaler emotionaler Gesamtzustände – seine «Modusarbeit». Ist die Schematherapie als Weiterentwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie anzusehen oder geht sie in Richtung einer neuen Psychotherapie-Methode und oder gar Psychotherapieschule? Die Tatsache, dass sich die Internationale Gesellschaft für Schematherapie ISST gegründet hat, weist darauf hin, dass man die Schematherapie als eigenständig betrachtet. Eine eigenständige Therapierichtung hat ein breites Anwendungsspektrum, die Schematherapie ist in Holland und England als effektiv nachgewiesen worden für ambulan- te Borderline-Patienten. Gewisse Hinweise auf nützliche Anwendung bei anderen Störungsbildern werden beschrieben. In der Zukunft wahrscheinlicher als die Etablierung einer neuen Therapieform ist die Berücksichtigung von Schemaprozessen in anderen Therapierichtungen. Schema-geleitete Verhaltenstherapie z.B. gibt es bereits und wird von mir in Deutschland vertreten. Auch auf dem Wege zu einer besseren Zuweisung von Patienten zu angemessener Behandlung und einem besseren Verständnis anderer Störungsbilder über die Borderline-Störung hinaus könnte die Schematherapie wesentlich beitragen. Wird nicht an die Konkurrenz von Therapieformen, sondern an die Person des Patienten gedacht, könnte Schematherapie mit anderen Überlegungen zusammen eine Brücke bilden: Das Ziel wäre, den Patienten eher nach seinen Bedürfnissen und Barrieren mit für ihn individuell zusammengestellten Interventionen zu behandeln. Das könnte dann auch eine Patienten-geleitete Kooperation von Behandlern mit unterschiedlicher Therapieausrichtung ermöglichen. In ihrem Vorwort zu Youngs Buch «Sein Leben neu erfinden (Reinventing your life)» (1996), ist mir aufgefallen, wie stark die Schematherapie das Kurative und das Emanzipative der Psychotherapie in sich trägt. Können Sie das etwas erläutern? Ich habe ein Säulenmodell der Schematherapie entwickelt, man könnte es auch Tempelmodell nennen. Auf einem festen Fundament, dem Symbol für die therapeutische Beziehung, stehen sieben Säulen, die im Verlauf oder an bestimmten kritischen Punkten in der Therapie notwendige und insgesamt hinreichende Bedingungen für Heilung von frustrierenden und schädigenden Erfahrungen und damit auch für Befreiung von Irrwegen der Lebensbewältigung darstellen. Heilung und Befreiung gehören in diesem Gesamtverständnis von Schematherapie zusammen, sind gleichbedeutend. Vielleicht ist dabei von Interesse, dass ich die Schematherapie dennoch als symptomorientierte Therapie betrachte. In der Schematherapie werden in den dysfunktionalen Schemaprozessen gewissermassen Symptome höherer Ordnung gezielt verändert. Das ist gut und menschengerechter für Patienten und The- rapeuten, beide sind motivierter und besser versorgt. Ich habe in einer früheren Arbeit auf die Unterscheidung zwischen «game»und «growth»-Therapien hingewiesen. Im Wesentlichen lassen sich danach Therapieformen als an Symptomen oder an persönlichem Wachstum orientiert unterscheiden. Ich bin sehr sicher, dass sich viele Therapeuten für Schematherapie nicht nur wegen der anspruchsvolleren Symptom-Betrachtung sondern gerade auch aus Wachstumsüberlegungen interessiert haben. Das gleiche scheint mir für Patienten zuzutreffen: viele möchten die von Young und Klosko eindrucksvoll beschriebenen Barrieren überwinden, andere möchten sich als Person entwickeln. Nun kann man der Schematherapie entweder das Pozential für beides zubilligen und meinen, dass die Überwindung und Heilung von hinderlichen Schemata auch schon Wachstum darstellt. Ich selbst habe die Haltung, dass Schematherapie auf dem Wege zu Wachstum und persönlicher Entwicklung hilfreich sein kann. Wünschenswert ist es, dass wir über die Schematherapie hinausgehen und Begriffe wie Evidenz-basierte Therapie auch darauf hin überprüfen, ob sie auch Evidenz für persönliches Wachstum von Patient und Therapeut mit beinhalten. Ich betrachte die Förderung persönlichen Wachstums für Rückfallprophylaxe und Prävention als unabdingbar. Eine meiner Säulen für die Schematherapie ist die hinreichende Beachtung der realen Lebensbedingungen. Sowohl für das, was die Schematherapie mit der Änderung und Heilung von hinderlichen Schemata gut kann, als auch das Erkennen und Entwickeln der Person sind mit den realen Lebensbedingungen fördernd oder beschränkend verbunden. Einflussnahme auf die realen Lebensbedingungen kann für Heilung und Befreiung wie auch für Wachstum der Person entscheidender sein als eine Schematherapie oder eine sonstige Therapie. Verhaltenstherapie, Kognitive Therapie, Gestalttherapie und Schematherapie können betrieben werden, wie ich als Junge meine Werkzeuge zum Reparieren (Heilung) verwendet hatte. Zum Frisieren (Wachstum) gehören nicht nur Werkzeuge zur Reparatur. Es braucht Veredelungswerkzeuge und dem zu veredelnden Gegenstand à jour 46 | 23 PRAXIS innewohnende Möglichkeiten. Soll Wachstum bei Patient und Therapeut begünstigt werden, benötigen wir zusätzliches Rüstzeug aus einer Person-zentrierten Psychotherapie und damit Fähigkeiten, welche die der Person gegebene Tendenz zur Selbstentwicklung anstossen. Als Professor an der Universität Hamburg haben Sie viele Generationen junger Psychologie-Studierender unterrichtet, die sich durch Sie vom Fach haben faszinieren lassen. Als praktischer Forscher haben Sie ausserhalb der Universität die Schematherapie mit PatientInnen eingebracht. Diese Erfahrungen und das Wissen um die Resultate brachten Sie wieder in die akademische Lehre ein. Können Sie hierzu noch mehr erzählen? Das ist mein Glück im Leben, dass ich dieses beides machen durfte. Störungsund Änderungswissen vermitteln auf der Grundlage der Begegnung mit Menschen, um die es in beidem geht. Mein Unterricht war für meine Studierenden anregend und überzeugend, weil er Wissen und Anwendungserfahrung verband. Im Übergang von Grund- und Hauptstudium war es für Studierende sicher interessant, von meinen Arbeiten zur Stressimpfung zu erfahren. Sowohl für Sportler als auch für berufstätige Frauen konnten wir zeigen, dass die Kombination von Entspannung mit Intervention auf emotional-kognitiver (Schema-) Ebene die stärksten Auswirkungen auf verbal-subjektiver und auf biochemischer (Plasmacortisol und Immunabwehr) Ebene hatten. Ich hoffe, niemand hat vergessen, zum Wohle des Patienten die Notwendigkeit von Interventionskombinationen zu erwägen. Schematherapie kombiniert Methoden, allerdings ohne die Einzelwirkung und die der Kombinationen zu kennen. Das wäre Anlass zu Untersuchungen. Schematherapie dauert länger als die üblichen Symptom zentrierten Interventionen. Ich habe einige Studierende angehalten zu einem geprüften schrittweisen Vorgehen, für Patienten nach Bedarf von eingegrenzter zu zusammengesetzter oder ergänzter Intervention zu kommen. Das könnte in geplanter Weise für Patient und Therapeut Aufwand reduzieren. Es könnte wichtig sein, Schemaprozesse mit kontingenten Körperreaktionen zu verbinden. Young verbindet 24 | à jour 46 die Schemabewältigungsarten mit den Reaktionsalternativen auf Stress: Schemaerdulden mit «freeze», Schemavermeidung mit «flight» und Schemaüberkompensation mit «fight». Ich habe die im Tierexperiment gefundenen Herz-Kreislaufmuster bei Freeze, Flight und Fight bei Patienten untersucht und überzeugende Hinweise auf die Diagnostizierbarkeit der Schemabewältigungsarten für die basalen Schemata «Emotionale Vernachlässigung, Im Stich gelassen, Misstrauen und Unvollkommenheit» gefunden. Für Studierende liegt darin sicher Stoff für die Verbindung von Grundlagenforschung und Anwendungsforschung. Geradezu aufregend ist die Offenheit der Patienten selbst, ihre Schemaprozesse mit ihren Körperreaktionen zu verbinden. Sie kennen die fortschreitende Monopolisierung der Psychologie an deutschen Universitäten durch VertreterInnen der Neurowissenschaften. Die Vielfalt geht verloren. Das bedeutet für mich, dass diese KollegInnen die Psychologie, einschliesslich der Klinische Psychologie, kolonialisieren wollen. Auch wenn es skandalöse Beispiele von Anfangserfolgen gibt, scheint sich das Blatt bereits zu wenden. Verwechslungen von eindrucksvoller Methodik mit Erkenntnisvermehrung wird weniger, sogar schon in den Wissenschaftsmedien. Psychologie lebt von und mit den Bezügen zu allen anderen Fakultäten. Bestrebungen, die Klinische Psychologie aus dem Kontext der gesamten Psychologie zu nehmen, wäre allerdings so schädlich wie die Dominanz der Bio-, Neuro- und Pharmakopsychologie. Was? Dass sich die klinische Psychologie um ihre eigenen Grundlagen kümmert und Psychotherapie sich als eigenständige Wissenschaft weiterentwickelt? Die private Sigmund Freud Universität in Wien ist eine Tatsache und dort kann Frau oder Mann jetzt einen Bachelor, einen Master und ein Doktorat in Psychotherapiewissenschaft machen. Der Umweg über eine Sozial- oder Humanwissenschaft, wie die Psychologie, ist nicht mehr nötig. Was halten Sie davon? Ich halte nichts davon. Ich habe viele Studierende kennen- und schätzen gelernt, die ihre Leidenschaft erst im Laufe des Studiums entdeckt haben. Die Psychologie als ganzes Fach ermöglicht dem einzelnen eine sehr auf ihn zugeschnittene Berufsfindung. Es läge weder im Interesse von Patienten, noch im Interesse der angehenden Therapeuten, wenn ahnungslose Entscheidungen zu Beginn des Studiums nicht auf eine natürliche Weise korrigiert werden könnten. Hinzu kommt, dass man aus meiner Sicht Psychotherapie gar nicht beliebig jung anfangen kann. Der Vorteil einer guten Vorbereitung an der Universität, mit dem Kennenlernen der ganzen Breite der Auffassungen und Schulen, bewahrt die Studierenden vor Indoktrination in einer Freud-, Adler-, Jung, Wolpe-, Beck oder Young Universität und ermöglicht ihnen eine informierte Wahl. So wie Sie das jetzt schildern, wäre das ein Rückschritt in den überwundenen Schulenstreit, unter dem unser Beruf bis in die 1980er Jahre gelitten hat. Wieder schwarz/ weiss zu denken, dass die eine Richtung besser ist als die andere, wäre das nicht ein Rückschritt? Ja. Wenn Sie mich fragen würden, sind Sie eigentlich ein Anhänger von Schematherapie, da würde ich sagen, ich habe einen enormen Nutzen von der Schematherapie in meiner therapeutischen Arbeit und auch in der Ausbildung von Therapeuten gehabt. Aber welchen berühmten Therapiegründer oder Mitbegründer oder welchen Ansatz ich wirklich liebe: Für die Beantwortung dieser Frage verweise ich Sie auf mein Buch, das Ende des Jahres im Springer Verlag erscheint. Mit Adler und Rogers, Wolpe und Bandura, aber auch mit Vertretern konstruktiv-narrativer Ansätze, können Sie rechnen. Die mir gegenwärtig am meisten bedeuten erfahren Sie dann. In meinem Buch erfahren Sie auch mehr zu einer neuen Sicht der in Psychotherapie zu betreuenden Menschen (sonst Klienten oder Patienten), die unabhängig von einer Psychotherapeutischen Richtung ist: Ich bezeichne und beschreibe diesen Menschen als «Die Anvertraute Person», die eine über die Youngsche «Begrenzte Elterliche Fürsorge» hinaus weiterentwickelte therapeutische Beziehung impliziert. PRAXIS Schön, das freut mich, es klingt nach einer integrierenden Richtung. In der Schematherapie hat sich Jeffrey Young Gedanken zum Modus gemacht. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Schema und Modus? Die Schematherapie ist jung und insofern ist noch nicht alles so konsistent, wie es vielleicht in ein paar Jahren sein wird. Es wird dann wahrscheinlich nicht mehr darüber nachgedacht, weil es klarer konzipiert wird. Ein hinderliches Schema ist eine Gedächtnisstruktur, die frühere Erfahrungen der Person mit sich selbst oder anderen Menschen mit kognitiven, emotionalen und somatischen Aspekten repräsentiert. Zusammen mit der nahezu unbegrenzten Zahl von orientierenden und förderlichen Schemata können sich die Schemata gruppieren zu umfassenderen Anteilen der Person. Den Begriff Anteil der Person ergänze ich zu dem üblichen Vokabular der Schematherapie. Ein Anstoss, ein Aufruf oder eine Auslösung eines Schemas durch eine passende innere oder äussere Gegebenheit führt zu einer Schema bezogenen Anpassung, einem Versuch, die Schemasituation zu vermeiden oder zu einem Ankämpfen gegen die Situation. Dieses Erdulden, Vermeiden oder die Überkompensation sind mögliche Schema-Reaktionen, die für die Person im Vordergrund ihres Erlebens und Handelns stehen. Analog zur Schema Reaktion befindet sich die Person im Zustand eines spezifischen Modus, wenn die aktuelle innere oder äussere Situation ein bestimmtes Schemamuster oder Schemakombination angestossen hat. Eine Schemareaktion ist die Antwort auf ein aktiviertes Schema, ein Schemamodus ist die Antwort auf die Aktivierung einer Kombination oder eines Clusters von Schemata bzw. in meiner Terminologie die Antwort auf die Aktivierung eines Anteils der Person. Modi stellen den aktuellen Hintergrund für das Erleben und Verhalten der Person dar. Den Modi wird in der Schematherapie eine zunehmend grössere Rolle zugeschrieben, was keineswegs immer berechtigt ist. Günstig für die Therapie wirken sich oft die Kombination der Arbeit mit Schemata und die Arbeit mit Modi aus. In meiner Arbeit mit Anteilen der Person und den zugehörigen Modi wird im Gegensatz zu gängigen Vorgehensweisen in der Schematherapie eine umfassende Sichtung aller wichtigen Personanteile und Modi herausgestellt. Bedeutsam ist dabei auch die Symbolisierung jedes Personanteils durch eine geeignete Finger- oder Handpuppe. Mit dieser von mir speziell entwickelten Methode geht die Modusarbeit weit über das Ziel der Schematherapie hinaus. Werden in der Schematherapie Modi bekämpft oder gefördert, geht es in meiner Arbeit um Erkennen von gegenwärtigen Mustern der Personanteile, deren Integration und darüber hinaus um Anstösse für persönliche Weiterentwicklung und Wachstum der Person. Spezielle Techniken meines Ansatzes ermöglichen den Bezug von Störungen zu den Personanteilen und damit die kombinierte Veränderung von Störungsbild und Zusammenspiel der Personanteile. Sie haben sich intensiv mit Eltern- und Kinderschaft beschäftigt. Es ist dies der Lebensabschnitt unserer primären Geschichte, in der sich die Schemata bilden. Schematherapie als Methode für Kinder- und JugendPsychotherapeutInnen? Geht das und wenn ja, wie? Vor ein paar Jahren habe ich auf einer internationalen Tagung der Schematherapeuten in Holland auf die paradoxe Situation hingewiesen, dass sich die Schematherapie mit der Entstehung tiefgreifender Störungen bei Erwachsenen beschäftigt, deren Entstehungsbedingungen in Kindheit und Jugend zu finden sind. Die naheliegende Anwendung von Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen gab es nicht. Zusammen mit einem Hamburger Kollegen haben wir im vergangenen Jahr in München mit einem Workshop zur Schematherapie bei Kindern und Jugendlichen begonnen. Ich arbeite seit ca. zwei Jahren mit Behandlungsteams für Kinder und Jugendliche zusammen und bin Fallsupervisor für sechs Behandlungsteams in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie. Insbesondere meine schematherapeutische Arbeit mit Puppen ist hilfreich. Die Behandlungsteams erarbeiten eine gemeinsam Sicht der Schemata und Personanteile eines Patienten und prüfen die Angemessenheit bisheriger Interventionen und verabreden verteilte Betreuungsaufgaben für das Kind oder den Jugendlichen, mit dem Ziel der angemessenen Versorgung bezüglich frustrierter Kernbedürfnisse, Anleitung und Nacherziehung bei fehlender Anleitung und fehlenden Vorbildern und Förderung altersgemässer Personanteile. Mit Jugendlichen arbeite ich auch direkt mit dem Puppenansatz, insbesondere zum Verstehen ihrer Person und ihrer Beeinträchtigung sowie zur Erarbeitung von persönlichen Zielen und möglicher und gewünschter Kooperation mit dem Behandlungsteam. Schemata und Modi der Teammitglieder werden berücksichtigt und die Ursprünge der Fehlentwicklungen zu Hause und in der Schule werden in Eltern- und Schulberatungen erklärt. Wenn möglich werden die Eltern zu heilsamem und förderlichem Verhalten angeleitet. Schematherapeutische Bedürfnisanalysen und Entwicklungsziele werden für Umplatzierungen in andere Lebensumgebungen verwendet. Erlauben Sie mir noch ein paar Fragen zu Ihren Forschungen. Wir reden heute in unserem Feld von der evidenzbasierten Psychotherapie. Es gibt viel Laborforschung an den Universitäten und es werden naturalistische Forschungen betrieben. Eine Goldstandard naturalistische Studie läuft momentan in der Schweiz, die Praxisstudie ambulanter Psychotherapie Schweiz (PAP-S) von der Schweizer Charta für Psychotherapie. Was für gegenwärtige Forschungsideen haben Sie z.B. für die jüngere Generation? Je länger ich therapeutisch arbeite und je älter ich werde, umso mehr bemühe ich mich, die Patienten genau zu verstehen. Die Patienten schätzen natürlich das Bemühen, aber mehr noch das auch wirklich verstanden werden. Wenn das der Fall ist, eröffnet sich ihnen selbst und eröffnen sie ihrem Therapeuten bedeutsamere für die Therapie richtungweisende Erfahrungen. Die Patienten werden immer unverwechselbarere Individuen und haben dann auch die Chance, einen individuellen Weg der Veränderung zu finden. Je einfacher die Störung, je «Evidenz-basierter» und vorgefertigter darf auch der Behandlungsansatz sein. Je komplizierter, schwerer und verankert in der Persönlichkeit des Patienten die Störung erscheint, umso individuellere Wege der Therapie sind gefragt. Schematherapie eignet sich für die Behandlung einer schweren, komplizierten à jour 46 | 25 PRAXIS Störung: Borderline. Schematherapie erscheint erlernbar und hat eine Reihe von Annahmen und Handlungsanweisungen für Therapeuten. Dem gegenüber steht die Aufforderung an Therapeuten, extrem flexibel zu sein. Darüber hinaus besteht die Erwartung, dass nur erfahrene Therapeuten Schematherapie lernen sollten und sie selbst mit eigenen Schemaprozessen vertraut und selbst auf einem guten Wege der Heilung und der persönlichen Integration sind. Die Art der beschriebenen Beobachtungen und aufgeworfenen Fragen führt mich zu dem Rat, vor intensiven Forschungsaktivitäten Fragen der angemessenen Forschungsmethoden zu klären. Vieles spricht dafür, sich um kluge Einzelfallstudien zu bemühen, die so angelegt sind, dass ihre Ergebnisse in Teilen in Gruppen analysiert werden können. Ich erwarte, dass Untersuchungen mit Dyaden als Untersuchungseinheiten besonders aufschlussreich sein werden, da sich bedeutsame Therapien nicht ohne die Beziehung zwischen Patient und Therapeut beschreiben lassen. Innovative Ansätze, wie zum Beispiel meine Methode der Anteils-/ Modusarbeit mit Puppen könnte zu neuen Annahmen in der Schematherapie führen, oder auch gänzlich neue Wege beschreiten lassen. Sie haben jetzt nach all den Jahren Forschung und Lehre an der Universität Hamburg und vorher in Kiel ein eigenes Therapie-Institut gegründet. Was ist dabei Ihre Grundmotivation gewesen? Ich habe vor einigen Jahren das erste deutsche Institut für Schematherapie gegründet und vor zwei Jahren unter das Dach des Instituts für Person-geleitete Verhaltenstherapie gestellt. Am gleichen Ort betreibe ich seit Jahren meine Verhaltenstherapie Praxis. Diese Verbindung – eigene Praxis und daran angegliedert ein Weiterbildungsinstitut war immer mein Traum. In Eckernförde im Institut gebe ich Supervision und leite Selbsterfahrung. Eine Motivation war auch, in einer guten Atmosphäre zu arbeiten. Das Institut liegt in der Altstadt, 1 min Fischrestaurant, 5 min Italiener, 2 min Hafen und 5 min zum Strand. Zu mir kommen Psychologen und Ärzte, die sich für andere Menschen oft verausgaben. Bei mir sollen sie selbst geschätzt 26 | à jour 46 und gut versorgt werden. Bei mir stehen die Therapeuten an erster Stelle und die Patienten an «zweiterster» Stelle. Ich habe den Eindruck, dass oftmals geplagte, geknickte Therapeuten kommen, die gestärkt in ihre Arbeit aber auch in das eigene Leben wieder zurückgehen. Das ist etwas, was diesem Institut, glaub ich, anhaftet. Ich höre es immer wieder rundherum, dass die Teilnehmenden, wenn sie die Wahl haben, dort oder dahin zu gehen in die Selbsterfahrung, dass sie gerne zu mir kommen. Aufrichten und Unterstützen, die eigene Entwicklung von Therapeuten fördern ist wichtig in der Weiterbildung. Patienten brauchen keine depressiven Therapeuten. Wir wissen von Lamberts et al. Metastudie, dass 30% des Wirkungsfaktors die psychotherapeutische Beziehung und nur 15% die angewandte Methode ist. 40% des Wirkfaktors ist eigentlich das, was Sie als Person bezeichnen, der Lebenskontext, die Bildung, die soziale Vernetzung, die Arbeitsstruktur und die Überlebensmotivation in ihm oder in ihr. Verdichtet ausgedrückt ist es die Heilkraft der Seele in uns als PatientInnen, die stärker wirkt, als die gewählte Psychotherapie-Methode. Und wir haben damit ein Stückchen Carl Rogers dabei. Das ist der, der glaubt an die nur verschütteten Stärken im Menschen. Mechanismen zur Wiederherstellung wohnen der ganzen Natur und auch dem Menschen inne. Das ist ein durchgängiges Prinzip von Lebewesen. Ich bin selbst fasziniert davon bei meinen Patienten. Es gibt aber eben auch die Momente und Lebensabschnitte, in denen sich ein Mensch eben nicht auf sich selbst stützen kann, sondern wie ein kleines Kind an die Hand genommen werden muss und der dort die Unterstützung von aussen braucht. Carl Rogers ist in meinem Denken eine wichtige Person. Young hat auch eine klientenzentrierte Grundausbildung gehabt, aber er erwähnt es nicht einmal. Ich glaube, dass die Basis der Schematherapie, die Gestaltung der therapeutischen Beziehung nicht nur mit Bowlby's Bindungstheorie verknüpft ist, sondern sehr viel mehr auch das Denken von Carl Rogers beinhaltet. Das Spezifische der Schematherapie kommt dazu: Meine Kenntnis der Schemaprozesse der Person lassen mich ein ein- fühlender Therapeut sein, der bereit ist, die Patienten entsprechend ihrer deprivierten Kernbedürfnisse zu versorgen. Wenn ich mich als erfahrener Psychotherapeut in eine Fortbildung in Schematherapie begebe, habe ich die frische Möglichkeit, mich als Person noch einmal von einer andern Seite anzuschauen, mit den Schemata und Modi, die ich habe, welche allenfalls eine Blockade oder Lebendigkeit in mir binden können und ich als Gegenübertragung in der Psychotherapie einbringe. Der Therapeut hat und macht dann Probleme in der Therapie, wenn sein Erleben und Verhalten unbemerkt durch Schemaauslösungen gesteuert wird. Unbemerkte Wechsel in dysfunktionale Schemamodi verhindern die angemessene Beantwortung von Patientenverhalten. Also die Produktion von Problematiken in der Psychotherapie, die von mir als Psychotherapeut aus kommen und nicht von Hilfesuchenden? Unsere eigenen Schemata lassen ein eigentlich nachvollziehbares Verhalten als Abwertung oder Angriff werten, das unbemerkte Kippen in einen verletzten oder verärgerten Zustand ermöglicht die Neigung, den Patienten für Hindernisse verantwortlich zu machen und eventuell sogar zu bestrafen. Der bedürftige Borderline-Patient kann zum Beispiel als manipulativ überfordernd und undankbar erscheinen. In verärgerten oder ablehnenden und strafenden Zuständen als Antwort kann der Therapeut übersehen, dass er den Patienten für seine tatsächliche Situation der unzureichenden Versorgung bestraft. Und es gibt einen zweiten Hintergrund: ob jemand Gewinn haben kann aus einer Therapie lässt sich allein aus dem Geschehen in der Therapie ohne die Berücksichtigung der Umgebung, in der er lebt, mit den realen Umständen, mit denen er sich rumzuschlagen hat nicht sagen. Ich weiss z.B. von meiner Frau, die als Suchttherapeutin arbeitet, unter welchen lähmenden, aussichtslosen und zerstörerischen Lebensumständen die Patienten oft schon ihr ganzes Leben verbringen mussten und oder immer noch leben. In solchen Fällen werden hinderliche Schemata und dysfunktionale Zustände der PRAXIS Patienten durch Realität aufrechterhalten und sind keineswegs, zumindest nicht ausschliesslich Ergebis hinderlicher Gedächtnisstrukturen in der Person. Für so betroffene Patienten braucht es noch mehr die Verbindung von Sozialarbeiter und Psychotherapeut, das gehört zusammen. An dieser Stelle fehlt es in der Psychotherapie und damit auch in der Schematherapie an ökopsychologischen Überlegungen und Handlungsmöglichkeiten. Viele Therapien und besonders solche, die auf die innere Veränderung abzielen wie die Schematherapie, laufen ohne diese ökopsychologische Seite Gefahr, den Patienten zu überfordern und ihn letztlich dafür verantwortlich zu machen und ihn damit im Stich zu lassen. Wir haben da noch viel zu tun. Von Amerika können wir hier allerdings nicht lernen. In Deutschland sind wir z.B. was die Berücksichtigung der realen Lebenswelt der Patienten angeht, weit und uneinholbar voraus. Was noch fehlt ist die noch stärkere Integration in die Psychotherapie. Ich kenne genügend Schicksale, bei denen positive Beeinflussung der realen Lebensbedingungen die bessere Psychotherapie ist, aus der heraus sich oft in erstaunlicher Weise Selbstheilungskräfte entwickeln. Werter Professor Berbalk, ich bedanke mich für das Gespräch. Einschlägige Publikationen: Berbalk, H. & H ahn, K.-D. (1980). Lebensstil, psychisch-somatische Anpassung und klinischpsychologische Intervention. In Baumann, U., Berbalk H. & Berbalk, H. & Kempkensteffen, J. (2000). Die Bedeutung des «Momentanen Personalen Gesamtzustandes» für die Arbeit in der Depressionstherapie. Psychotherapeuten Forum: Praxis und Wissenschaft, Nr. 3. Berbalk, H. & Kempkensteffen, J. (2005). Cardiovascular reactions as parts of schema processes. Vortrag auf dem Symposion Schematherapie anlässlich des 35. Jährlichen Kongresses der EABCT in Thessaloniki, Griechenland. Berbalk, H. & Young, J.E. (2009). Schematherapie. In Margraf, Schneider (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Bd. 1. New York: Springer. Berbalk, H. (2011). Schematherapie. In Margraf, Schneider (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Bd. 4 Materialien New York: Springer. ALS – eine Fortsetzung der MS? Dr. phil Jaron Bendkower Seit ich mein Buch zur MS [1] veröffentlichte, wurde ich auch mehrmals zum Thema ALS gefragt. Je länger, umso mehr, erschien mir die Beschäftigung mit ALS (Amyotrophe Lateralsklerose) eine Fortsetzung des Themas MS. Aber eigentlich geht es nicht um diese beiden Bilder, sondern um den generellen Umgang mit vielen chronischen Krankheiten. Nicht etwa geht es um den psychischen Anteil bei deren Entstehung. Den gibt es zweifellos. Wichtiger aber ist in unserem Zusammenhang der psychische Anteil beim therapeutischen Umgang mit ihnen. Und da wird es sofort wieder leichter ums Herz, denn da gibt es viel Gutes zu machen. Im folgenden Artikel stelle ich exemplarisch Morrie vor [2]. Dies ist auf den ersten Blick kein erhebendes Beispiel, denn Morrie ist tot. Er starb an seiner ALS. Viele von uns kennen diese Krankheit von Stephen Hawking her. Hawking doziert und schreibt Bücher, stieg kürzlich kurz in die Schwerelosigkeit hinaus, lebt also noch intensiv; nach Jahrzehnten ALS. Bewegen aber kann er sich schon lange nicht mehr, und sich verständlich machen nur noch über einen Apparat. Sein Körper ging rasch ein. Seine Muskeln sind mittlerweile völlig erschlafft. Manche Symptome der ALS (incl. dem Spasmus) decken sich mit denen der MS. ALS führt in der Regel in drei bis fünf Jahren zum Tod. Die MS hingegen ist nur selten tödlich. Es erstaunt wenig, dass manche ASL-er die MSler um ihre Krankheit beneiden. Ebensowenig erstaunt, dass die MS homöopathisch ab und zu mit dem «Wilden Jasmin» behandelt wird. Mit jenem Heilmittel, mit dem Indianer, unverdünnt als Gift verabreicht, das Gottesurteil vollzogen. Das Gift nannten sie «gläserner Sarg». Der Verurteilte war sehenden Auges und bei klarem Verstand zur völligen Bewegungsunfähigkeit verdammt. Er musste bei vollem Bewusstsein seinen 1 Jaron Bendkower, 2010: Mit Multipler Sklerose mitten im Leben. Heidelberg 2 Mitch Albom, 2002 (1997): Dienstags bei Morrie. München eigenen Tod miterleben. Zwischen ALS und einer solcherart wildgewordenen MS ist der Unterschied nur graduell. Morrie starb übrigens sehenden Auges an seiner ALS. Es fällt nicht leicht, sich von dieser Dramatik nicht berühren zu lassen und doch hilfreich zu bleiben; genau darum aber geht es hier: es geht wirklich! Morries Beispiel ist für uns lehrreich. Vielleicht darum, weil Morrie ein aussergewöhnlicher Mensch war, gütig und weise. Das reicht aber leider nicht aus. Güte und Weisheit hat noch nie jemanden vor dem Sterben bewahrt. Oder ist Morris ein Beispiel dafür, wie man «gut sterben» könne? Vielleicht. Vormals war er in Boston Professor für Soziologie. Ein früherer Student von ihm, Mitch Albom, besuchte ihn, als er von Morries Erkrankung erfuhr. Jeden Dienstag fuhr er hin. Viele ehemalige Studenten, Freunde und Kollegen besuchten Morrie. Zu seinen ehemaligen Studenten gehörten manche Anführer der US-amerikanischen 68er-Studentenbewegung. Seine Weisheiten stammten aus vielen Quellen. Von der Kultur her war er jüdisch, er schöpfte aber aus vielen Traditionen. Auch der Buddhismus war ihm nah. Einer seiner ehemaligen Studenten war besagter Mitch. Als Morrie starb, hatte er seit zwei Jahren ALS und die 70 schon überschritten. Wir hätten ihm dennoch ein schöneres Ende gewünscht. An den Dienstagen, von denen Mitch berichtet, sprach Morrie eindrücklich über die Bedeutung der Familie, über die Liebe. Auch wusste er: Wer zuvor nicht tief empfunden hatte, könne nicht loslassen. Wer nicht richtig gelebt hatte, könne auch nicht gut sterben. Er konnte es. Jeder Leser ist von so viel aus Lebenserfahrung geschöpfter Weisheit ergriffen. Ich natürlich auch. Im Verlauf der Lektüre aber wurde ich zunächst einmal skeptisch. Den Grund versuchte ich bald zu ergründen. Warum wurde ein derart gefühlvoller, weiser Mann so krank? War seine Krankheit eine wirre Laune der Natur? Ein Zufall? Lag ihr eine erbliche Belastung zugrunde? Diese Fragen stellen sich fast alle chronisch Kranken. Auffällig ist: Morrie ging dieser Frage nie nach. Im Gegenteil: Er betrachtet seine Erkrankung mit dem, was er klares «Beà jour 46 | 27 PRAXIS wusstsein» der Realität nannte. Die Realität aber ist lediglich etwas vermeintlich Absolutes. Sie gilt nur situativ, flackert momentan auf – und erlischt wieder. Vieles, das real scheint, ist gar nicht wirklich wahr. Und manches, das wahr ist, ist nicht real. Morrie wusste wohl darum. Seine ALS aber war für ihn unbedingt real. Klar! Einerseits war sie es tatsächlich. Andererseits aber nicht. Morrie aber nahm von Anfang an sein vermeintliches Schicksal an – ohne Wut oder Empörung. Aber auch ohne Hoffnung. Oder handelt es sich dabei um eine weise Gelassenheit? Ihm jedenfalls schien alles klar. Als gäbe es nur einen Weg, mit Krankheit und Alter umzugehen. Ist aber das Anerkennen der Realität stets ein Zeichen geistiger Gesundheit? Er wusste, wie diese Krankheit normalerweise verläuft. Ergebenheit wäre auch ein Ausdruck für die Haltung, mit der er ihr begegnete, Defaitismus ein weiterer. Dass die Anerkennung der vermeintlichen Realität für eine Normalität unabdingbar ist, ist bekannt, dass dies fliessend in Depression übergehen kann, wissen Psychotherapeuten zur Genüge. Sie wissen nicht nur um die Bedeutung der Realitätswahrnehmung, sondern auch darum, dass ein «zuviel an Normalität» ungesund machen kann. Die Verleugnung der Realität hat aber auch ihr Gutes. Ohne diese partielle Verleugnung können viele weder hoffen, noch versuchen, ihr Trauma oder ihre Krankheit zu bewältigen. Es ist bekannt, dass die «gute» Haltung zwar nicht die Krankheit heilen, wohl aber den Umgang mit ihr erleichtern kann. So sehr, dass in manchen Fällen sogar die Symptome schwinden. Diesen Weg aber versuchte Morrie nicht einmal. Warum? Die Anerkennung der Realität geht oft mit einem stillschweigenden Einverständnis mit einer emotional als furchtbar erlebten Normalität einher. Mir jedenfalls kamen bei Morries Auffassung viele Traumatisierte in den Sinn. Auch aus der Erfahrung mit vielen meiner MS-Klienten wusste ich, dass hinter mancher MS-Biographie eine Traumatisierung steckt, die nicht wahrgenommen werden darf und sich später organisch äussert. Auch manche Krebskranken leugneten deren eigene vergangene oder aktuelle emotionale Realität – ohne sonst psychisch auffällig zu sein. Dafür aber sind sie körperlich krank. War etwas derartiges möglicherweise auch bei Morrie der Fall? 28 | à jour 46 Hier nähern wir uns einem Paradox, das uns nicht nur bei der MS resp. ALS, sondern bei vielen anderen Zivilisationskrankheiten begegnet: Wer der normalen Realität «widerspricht», gilt oft als geisteskrank, wer aber als chronisch Erkrankter der Normalität folgt, kann nicht mehr aus eigener Kraft genesen. Er delegiert seine Heilung an Experten. Jede Genesung aber bedarf der aktiven Mitarbeit am Heilungsgeschehen. Ohne sie gibt es keine Selbstheilung. Genau darum geht es oft bei der Psychotherapie aller chronischen Krankheiten. Den Kranken dabei helfen, ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Man kann sich zwar in die Hände der Experten begeben, die einen kurieren sollen – mit der Selbstheilung ist es dann aber vorbei. Viele Bewegungs-Kranke stecken in diesem Dilemma. Sie versuchen in ihrem gläsernen Sarg wenigstens ihren Verstand zu retten – und bleiben darum körperlich krank. Jedenfalls begab sich der sonst so kritische Morrie widerspruchslos in die Hände der Fachleute; ohne eine Zweitmeinung einzuholen und ohne alternative Heilmethoden zu suchen. Als ginge er mit seinem Schicksal, das ihn geradewegs in den Tod führen müsste, einig. Warum nur tat er dies? Als sich Mitch die Frage stellte, warum wohl Morrie einen Narren an ihm gefressen habe, wurde ihm etwas klar: weil Mitch heute noch so war, wie es Morrie als Kind gewesen war: Morries Gefühle waren, als er noch ein Kind war, keineswegs gefragt. Selbst über den Tod seiner geliebten Mutter durfte er zuhause nicht sprechen. Einsam, gezwungenermassen sprachlos, ohne Liebe, war damals seine Welt. Morrie wusste, wovon er später sprach: er hatte die Bedeutung der Gefühle und der Liebe erfahren – ohne sie leben zu können. Das Wissen um deren Bedeutung aber gab er später weiter. Real aber wurde er früh zum Opfer von Egozentrismus und Egoismus. Und die Folge? Er konnte keine gute «Liebe zu sich selbst» entwickeln. Sein körperliches Unbewusstsein wusste nur um die Pervertierung der Liebe. Morrie hatte nie gelernt, sich auf eine gute Art selber zu lieben. Ich vermute darin einen wichtigen Grund seiner ALS. Dieser Grund ist keineswegs zwingend, aber sehr wahrscheinlich. Die mangelnde Selbstliebe steht nämlich meiner Erfahrung nach am Anfang von manchen anderen chronischer Krankheiten. Ohne Selbstliebe ist auch keine Selbstheilung möglich. Auch die wenigen anderen ALS-ler, von denen ich Genaueres weiss, liebten sich nicht. Manche liebten ihren Geist, ihre Unabhängigkeit im Denken. Genauso hielt es Morrie. Den Preis, den sie dafür zahlten, erkannten sie nicht. Ohne Selbstliebe wurde selbst der Selbstschutz selbstzerstörerisch. Nichts anderes findet bei den Autoimmunerkrankungn des Types ALS und MS statt. Rheuma und ähnliches gehört auch dazu. Was aber steckt hinter der mangelnden Selbstliebe? Meine Erfahrungen mit MS-lern, mich einbeschlossen, sagt mir: Fast alle haben das Ausbleiben der Liebe erlebt, durften dies aber nicht wahrhaben. Sie wendeten also die unsagbare Enttäuschung an ihren Lieben gegen sich selbst. Statt darüber zu trauern, opfern sie sich und greifen unbewusst sich selber an. Ein weiteres Beispiel Einer der mir bekannten Menschen, die erst kürzlich nach kurzer Krankheit an ihrer ALS verstarben, war ein reputierter Historiker, Professor, Querdenker. Sein Name: Tony Judt. Er war Jude und Antizionist, ein ehemals glühender Verehrer des jüdischen Staates, Freiwilliger in einem seiner Kriege und später einer seiner scharfsinnigsten Kritiker. Er war Israel sehr zugetan. Umso mehr muss ihn seine eigene Kritik geschmerzt haben. Das aber drückte er nicht aus. Er blieb m.E. auf seinem Schmerz sitzen. Wer so scharf kritisiert und die Liebe geliebter Anderer riskiert, ohne sich selber zu lieben, wird krank. Judt bekam zuerst Krebs. Aber das reichte nicht. Davon genesen, bekam er ALS. Eines von Judts grössten Vorbilder war Arthur Koestler. Koestlers grosse Liebe war der Kommunismus. Als einer der ersten Intellektuellen wandte er sich, nach schmerzlichen Erfahrungen, enttäuscht von ihr ab. Er wurde zu einer ihrer grössten Kritiker. Später brachte er sich, gemeinsam mit seiner Frau, um. Judt, ebenfalls ein «enttäuschter Liebhaber», bereitete seinem Leben erst durch seine ALS ein definitives Ende. Schon die MS ist m.E oft ein Selbstmord auf Raten – die ALS vermutlich erst recht. Es hat den Anschein, als ob bei einer Disposition zur Autoaggression, scharfe Kritik zu äussern, tödlich für einen selbst enden kann: Wenn PRAXIS keine Selbstliebe korrigierend wirkt. Ebendrum ist ein erlittener Liebesverrat für manche zumindest depressionsfördernd. Das ist zwar eine unschöne Botschaft, gleichzeitig aber ist damit der Rahmen eines entsprechenden Therapie-Programms abgesteckt. Das Dilemma mit der Individuation Bei einer vorliegenden autoaggressiven Tendenz führen manche unverstandene Bewegungen in Richtung Autonomie zu einer (Selbst-)Bestrafung. Sie führt manchmal zu einem realen Ausschluss. Wer das als «ist ja nur psychisch» missversteht, weiss nichts vom Umschlag von Psychischem (über eine selfullfilling prophecy) zu einer materiellen Realität. Dies haben auch Judt und Koestler erfahren. Boszormenyi-Nagy berichtete auch darüber. Die offizielle Psychoanalyse wollte von ihm nichts mehr wissen, von Judts Thesen das offizielle Israel nichts, bei Koestler war es das offizielle Moskau. Aber nicht nur das offizielle Moskau oder Israel oder die klassische Psychoanalyse sahen nicht vor, dass es ein reales Problem werden könnte, zugleich eigenständig, kritisch und zugehörig zu sein. Alle drei verloren ihre Liebe und konnten sie nicht für sich gewinnen. Manche, die an der Autonomie schnupperten – und Morrie war sicher einer von ihnen – setzen sich dem Dilemma von Selbstliebe vs. Liebesverlust aus. Das Drama vieler MS- und ALS-ler ist aus genau diesem Stoff gewoben, ihr Schicksal ist dabei so tragisch, wie trivial: es besteht im Liebesverlust, der als solcher nicht wahrgenommen werden kann. Manche MS/ALS bricht dann aus, wenn sich diese Erfahrung wiederholt. Ein Ausweg aus diesem Dilemma besteht vordergründig im Verzicht auf die ganze Liebe. Ein wesentlicher Teil von ihr, die Selbstliebe, bleibt dann auf der Strecke. Den verbliebenen Rest richten sie voll auf «die Anderen». In Form von Verständnis, Mitgefühl und Empathie. So auch tat es der liebenswerte Morrie – und vernachlässige dabei die Liebe zu sich selbst. Als Mitch Morrie fragte, was er denn aus heutiger Sicht anders machen würde, gab Morrie, der grosse Vermittler, zur Antwort: Ich hätte gerne mehr von meinen eigenen Gedanken veröffentlicht. Von Morrie gibt es fast keine Schriften. Der liebenswerte Morrie hatte sich selber zu wenig Raum genommen. Meiner Erfahrung nach laufen manche Empathiker Gefahr, sich selber zu «vergessen». Auf die zu Skrupulösen trifft das ebenfalls zu. Zu den Skrupulösen gehören meiner Erfahrung nach viele MS-ler, aber auch manche Psychotherapeuten. Direkt krankheitsverursachend ist das nur in den selteneren Fällen. Manche Psychotherapeuten stossen sich gleichwohl an der vorhin vorgebrachten These. Sie befürchten, dass bei mehr Selbstliebe ihrerseits die verlorenen Machtkämpfe auf dem Gesundheitsmarkt wieder aufflammen könnten. Bekannt ist, dass manche von ihnen darauf verzichten, offensiv und selbstbewusst aufzutreten. Auch dieses gehört ebenso zur Selbstliebe, wie das Stellen wichtiger Forderungen. Diese dürften selbst dann vertreten werden, wenn dadurch jemand psychisch «verletzt» würde. Ihr friedfertiges Selbstbild aber verhindert dies – sehr zu ihrem Nachteil. Wer allzu friedfertig auftritt, wird eben meist ausgeschlossen und darf nicht nach verlorener Schlacht, seine Würde behalten. Sowohl PsychotherapeutInnen als auch die MS/ALS-ler haben, siehe Morrie, schon früher ihre Selbstliebe eingebüsst und darum wichtige Schlachten verloren. Das Dilemma für sich einzutreten und damit genau die Liebe jener Mächtigen zu gefährden, von denen man sich abhängig wähnt, ist den MSlern wohlbekannt. Auch Morrie war dieses Thema biographisch vertraut. Was also können wir von Morris Beispiel lernen? Als ich Mitch Buch las, war ich erschüttert. Einerseits war Morries Tod allen ein Graus. Andererseits verneigte ich mich vor ihm: wenige bringen so viel Würde, Selbstachtung und Mut auf. ALS-ler würden oft gern mit den MS-lern tauschen. Deren Leben ist durch ihre Krankheit nicht so unmittelbar bedroht, wie dies bei Morrie, bei seinem klaren Bewusstsein, der Fall war. Der gläserne Sarg ist den MS-lern zwar vertraut, den Tod alles Lebendigen aber teilen sie mit allen übrigen. Von Morrie hingegen lernte ich auch Weisheit und Gelassenheit. Diese kann man weder in den Schulen, noch in den Universitäten lernen. Es wird gemunkelt, dass man dies auch kaum in den therapeutischen Ausbildungsstätten lernt. Neben dem Entsetzen über Morries Tod, beschlich mich zusehends auch das Gefühl tiefer Dankbarkeit dafür, dass ich auch als MS-ler vermutlich noch viele Jah- re vor mir oder dafür, dass ich mein Leben eigenständiger und bewusster zu gestalten gelernt habe. Dahinter verblasst die Schärfe der Analyse von Morries Person und seiner etwaigen Beteiligung an seinem Schicksal. Auch das erschreckte Erstaunen über seine ausgebliebenen Selbstheilungsversuche schwand zusehends. Morries Würde machte dies tausendfach wett. Zurück bleibt ein wohlig-warmes Tuch, das sich sanft über die scharfe Klinge des Verstandes legt. Dr. phil. Jaron Bendkower Psychotherapeut, Soziologe, Supervisor CH-8713 Uerikon [email protected] Lesen Sie nachfolgend das Interview mit Jaron Bendkower. Die Fragen hat Annette Conzett gestellt. Interview Annette Conzett: Sie sagen, dass Ihr Buch «Mit Multipler Sklerose mitten im Leben» einen Heilungsansatz jenseits des «Medicozentrismus» sucht, es salutogen und resilient ausgerichtet ist – und nicht pathogenetisch. Weiterhin betonen Sie, dass die seelische Heilung von der körperlichen Genesung zu unterscheiden sei und Sie die seelische/psychische Heilung als die Wichtigere ansehen. Jaron Bendkower: Mir ist es wichtig, den psychologischen Beitrag zu einem interdisziplinären MS-Therapie-Weg anzugehen. Ohne diese Interdisziplinarität kann m.E. keine MS-Therapie weiterkommen. Können Sie mir zunächst einige Stichworte zur MS geben? Die MS hat typische Symptome: Immobilität, Lähmungen, Erschöpfung, Sensibilitätsstörungen, manche Nervenbahnen des Erkrankten leiten nicht mehr. So verkümmern die entsprechenden Muskeln. Psychotherapeutisch betrachtet ist MS eine ins Somatische verschobene depressive Verarbeitung einer chronischen Belastung. Sie ist m.E., anders als oft gesagt wird, keine eigenständige somatische Krankheit. Wenn diese MS-Dynamik aber lange andauert, verselbständigt sie sich. Die körperlichen und psyà jour 46 | 29 PRAXIS Nur zwei genasen auch körperlich, aber sie alle heilten seelisch. Und wie?! Die Anzahl «untersuchter» Personen erlaubt natürlich keine epidemiologisch relevante Aussage. Zudem hatten nicht alle MS, auch Krebs und Paraplegie waren darunter. Ich untersuchte ihren Weg nicht aus akademischem Interesse, sondern weil ich selber chronisch erkrankt war und gesunden wollte. Also wollte ich herausfinden: wie sie es machten. Ist ihnen allen etwas gemeinsam? Und wenn ja: was? chischen Folgeschäden müssen meist länger behandelt werden, als diejenigen der MS selber. Was als typisch für die MS gilt, sind vor allem die muskulären Kompensationen. Sie verzerren den gewohnten Bewegungsablauf ins Groteske. Darum sind bei der MS, neben der eigentlichen MS-Therapie, zusätzlich Physiotherapie, Hippotherapie, Bodyscan, Yoga, Feldenkreis, Krafttraining, Konditions- und Koordinationstraining usw. so wichtig. Wer erkrankt denn? Es liegen keine Befunde über eindeutig «zwingende» Gründe vor. Es geht um einen Mix von familiärem und genetischem Erbe, Zufall, Pech, individueller Konstitution. Wichtig ist es, mit dem Klienten herauszufinden, was er angesichts der einmal eingetretenen Umstände noch ändern kann – und was nicht. Dazu gehört es, da wo nötig, Trauerarbeit zu leisten und die Haltung zu sich selbst zu modifizieren. Ebenso wichtig ist es aber zu sehen, welche Möglichkeiten sich einem gerade aus seinem bisherigen Leben ergeben. An diesem Punkt geht jede MS-Psychotherapie in ein Um-Lernen über. Der Transfer in den Alltag spielt dabei eine grosse Rolle. Alleinige Erkenntnisse, ohne sie in Taten umsetzen zu können, gelten hier nicht. In Ihrem Buch beschreiben Sie, dass fünf Menschen genesen konnten. Können Sie mehr darüber sagen? 30 | à jour 46 Und gibt es da einen gemeinsamen Nenner? Ja. Was mich bei den fünf am meisten beeindruckte, war 1) ihre Zuversicht, 2) ihre salutogenetische und resiliente Haltung, 3) ihre Bereitschaft, ihr Leben real zu ändern und 4) ihre Unabhängigkeit vom Mainstream. Doch es gab hinter allem einen weiteren entscheidenden Punkt: ihr fester Wille zu gesunden und der Wille, ihn nicht anderen zu überantworten, und – statt Pillen zu schlucken – selber viel dafür zu tun. Vielen Patienten, die ich kennenlernte, mangelte es an diesem absoluten Heilungswillen und der Überzeugung, dass sie es schon schaffen können. Das gilt sowohl für die (psycho-) somatischen Erkrankungen wie für die psychischen. Darin liegt m.E. die grösste therapeutische Herausforderung: den Heilungswillen, dort wo er «verschüttet» ist, wieder «freizuschaufeln». Ohne ihn aber dem Patienten von aussen «einhauchen»zu wollen. Das ginge eh nicht. Sie sagen, dass die seelische Heilung auch die Genesung fördert und von den beschriebenen fünf Königsweg-Menschen zwei auch körperlich gesundeten? Genauso war’s. Heute mehren sich die Ergebnisse, dass es generell so ist. Die seelische Heilung erweist sich oft als Voraussetzung einer körperlichen Genesung. Für die körperliche Genesung bedarf es aber eines interdisziplinären Ansatzes. Doch für diese Genesung kann es keine Garantie geben. Körperliche Genesung ist kein Menschenrecht. Das tief zu wissen, gehört auch zur seelischen Heilung. Wie reagiert denn Ihre Klientel auf Ihre Einstellung dem Heilungsgedanken gegenüber? In den Therapien spreche ich so gut wie nie direkt darüber. Ebenso wenig von «Krankheiten». Ich spreche allenfalls davon, dass jeden von uns Spannungen durchziehen. Meistens nur vorübergehend. Anhaltende und wiederkehrende biographische Erfahrungen verdichten sich oft und führen zu psychischen Strukturen. Dann gerinnen sie zu festen Grössen. Dies kann psychische Symptome zur Folge haben, oder auch physische. In beiden Fällen weisen die Symptome auf Konflikte hin. Psychische Symptome wären z.B. Zwangsstrukturen, physischer Krebs oder MS. Dazwischen liegen z.B. Burnouts. Doch das ist ein wichtiger theoretischer Aspekt, der nicht in die Klientenarbeit gehört. Wenn ich mit Klienten über Symptome spreche, versuche ich mich darauf zu beschränken, was direkt den Patienten betrifft. Und betone den adaptiven Aspekt eines jeden Symptoms. Meist kann der Patient daraus lernen, sich selber besser zu verstehen – und sich selber dadurch mehr zu lieben. Sie betonen auch immer wieder die Bedeutung des sich lieben lernens. Was verstehen Sie darunter? Dies ist eben entscheidend für die seelische Heilung: Würde, Selbstachtung und das «lieb mit sich sein». Konkret heisst das: verständnisvoll, geduldig, nachsichtig, sich nicht überfordernd. Wie reagiert die Medizin auf eine Genesung, die dank seelischer Heilung entstand? Was ich von der Medizin an Feedbacks erhielt, lautet in etwa: «Die MS ist doch ein somatisches und kein psychotherapeutisches Problem. Sie nicht-medizinisch angehen zu wollen stellt unsere medizinische Heilkunst in Frage.» Das hatte ich gar nie vor. Erst der Umgang mancher Ärzte (nicht aller) mit den chronischen Krankheiten, belehrte mich eines besseren. Erschrocken war ich lediglich über die Haltung der MSGesellschaften: sie schwiegen das nach ihrer Meinung zu wenig medizinische Buch konsequent tot. Da begriff ich definitiv, dass ich, naiv wie ich damals war, in ein Wespennest gestochen hatte. PRAXIS Haben Sie selber denn keine Zweifel? Klar hatte ich viele Zweifel. Sie legten sich aber mit den gemachten persönlichen Erfahrungen und den vielen Büchern, die ich darüber las. Eines Ihrer Themen auf der psychischen Ebene betrifft die Selbstheilung. Sie betonen, dass die MS selbst die Folge einer unguten Selbstheilung ist. Dem MS-Prozess ging fast immer der Versuch voraus, wieder klar zu kommen - allerdings ohne den seelischen Konflikt zu lösen. Erst der zweite Versuch – oft in der Therapie - schliesst den seelischen Konflikt mit ein. Geschieht das nicht, bleibt der MS-Modus erhalten und die Selbstheilung unvollständig. Darum auch ist der rein somatische Therapieweg zum Scheitern verurteilt. Der rein somatische Weg verleiht der MS das Stigma «unberechenbar» und «unheilbar» zu sein. Der integrative Ansatz schliesst auch den jeweils anderen Weg mit ein. Aber auch ein rein psychotherapeutischer Weg misslingt, wenn er allein bleibt. Er wird dem komplexen psycho-physischen Geschehen aller chronischen Krankheiten ebenfalls nicht gerecht. Die komplette Selbstheilung erfordert vom Klienten einen Wechsel seiner bisherigen Lebenspraxis. Irgendwann gelangt in einer guten MS-Therapie der Klient an den Punkt, an dem es für ihn nicht unbedingt auch einer körperlichen Heilung bedarf, damit er glücklich wird. Vielleicht gelingt die Genesung dann gleichwohl. Eher jedenfalls, als wenn er sie verbissen anstrebt. Wenn er das realisiert hat, hat er, wenn nicht die körperliche Heilung, so doch seine Gelassenheit gefunden. Wie waren die bisherigen Kommentare zu Ihrem Buch? Diejenigen Leser-Feedbacks, die mich erreichten, waren ausschliesslich sehr positiv. Allerdings weiss ich, dass diejenigen, die eine andere Haltung einnehmen, sich erst gar nicht auf diesen interdisziplinären Heilungsweg begeben. Vermutlich habe ich deshalb von ihnen auch nichts vernommen. Ich habe auch von Ärzten Feedbacks erhalten. Diese Feedbacks waren gemischt. Am Deutlichsten war das beredte Schweigen, das mir von dieser Seite oft entgegenschlug. Dieje- nigen, die mich direkt ansprachen, gemahnten mich zu einer fairen Beurteilung von Stärken und Schwächen der modernen Medizin. Tatsächlich sind die Erfolge der Medizin bei den Akutfällen unbestritten. Sie sind riesig und beeindrucken mich sehr. Ebenso eindeutig aber erscheint mir ihre Unbeholfenheit angesichts der chronischen Krankheiten. Im Übergangsfeld Geist-PsycheSoma haben sie herzlich wenig zu bieten. Es erstaunt mich darum immer wieder, wie sehr sich die Machtverhältnisse zugunsten der institutionalisierten Medizin und deren Vasallen neigen. Unter diesen Umständen erscheint momentan eine zur Interdisziplinarität ausgestreckte Hand so lächerlich wie das Brüllen von Mäusen. Aber das dürfte sich bald ändern. Sie betonen immer wieder auch die Rolle der Kultur für die Bildung einer MS. Welche Rolle spielt sie denn, und welche der Biographie? Die Kultur ist nur einer der Faktoren, die zur MS führen. Die Kultur trägt aber oft zur Stabilisierung der MS bei. Ihr Todesurteil nimmt den Erkrankten oft den letzten Rest an Kraft und verhindert die Mobilisierung der Selbstheilungskräfte. Das Bild der MS in der Öffentlichkeit ist stigmatisierend. Viele MS-ler nehmen dieses Bild in ihr Selbstverständnis auf. Die Politik der IV trägt ebenfalls wenig zur Gesundung bei. Selbst die MS-Gesellschaften bekleckern sich, m.E. auch in dieser Hinsicht, nicht gerade mit Ruhm. Solche politischen Punkte sind alles andere als marginal. Auch die Abwehren sind eben nicht nur individuell. Persönliche und institutionelle Abwehr gehen meist ineinander über. Das gilt für alle chronischen Krankheiten … aber damit wären wir bereits wieder in der therapeutischen Kleinarbeit und die soll an anderer Stelle diskutiert werden. Interview mit Paolo Migone Kodirektor der italienischen Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane Ich glaube, Sie sind ziemlich über das neue PsyG informiert, das in der Schweiz nach dem Vorbild des italienischen Gesetzes verabschiedet wurde. Was können Sie zur Umsetzung des italienischen Gesetzes sagen, das die Psychotherapie regelt? Nur Gutes? Was kann man vom Schweizer Gesetz erwarten? Nur Schlechtes? Das italienische Psychotherapiegesetz – das Gesetz 56/1989, dessen Art. 3 die Ausübung von Psychotherapie auf Ärzte und Psychologen beschränkt, die eine vierjährige Ausbildung an einer anerkannten Schule absolviert haben – hat die Probleme nicht gelöst, die es lösen sollte (für einen ausführlichen Rückblick auf die Begebenheiten, die zum Gesetz 56/1989 geführt haben, und für eine ausführliche Bibliografie siehe Artikel von G. Borsci in der Nr. 2/2005 von Psicoterapia e Scienze Umane). Man entschied sich für ein Gesetz, das erfolglos dem Mythos der staatlichen Kontrolle über die Qualität der Psychotherapie nachjagt. Die Ministerkommission, die für die Anerkennung der Psychotherapieschulen verantwortlich ist, hat bereits fast 400 davon zugelassen. Das sind so viele, dass die Lage paradoxerweise fast gleich ist wie à jour 46 | 31 PRAXIS vor der Einführung des Gesetzes 56/1989: eine Flut von unterschiedlichen Schulen, deren Qualität nur über formale Kriterien (Stundenzahl, Schulräume mit bestimmter Fläche, Vorhandensein einer theoretischen Orientierung mit allfälligen internationalen Bezügen usw.) gewährleistet ist, ohne konkrete Qualitätskontrolle. Andererseits konnte es in einer bürokratischen Logik nicht anders sein, einer Logik, die nicht auf die Würde der einzelnen Berufsleute abstützte, die definitionsgemäss ehrlich sind und deren Anteil sicher weit über der eher geringen Zahl von Unehrlichen liegt, die straf- und zivilrechtlich verfolgt werden können und die es immer auf allen Breitengraden geben wird. Als man in England Balint beschuldigte, mit seiner Schulungsmethode «Wilde» heranzubilden, antwortete er, dass er nicht beabsichtige, die 95% ehrlichen Menschen den 5% Unehrlichen, die sich gerade als solche sehr gut tarnen können, zu opfern. Ausserdem werden die Ärzte- und Psychologenzünfte, die behaupten, den Markt zu kontrollieren, von immer neuen Hilfsberufen überflutet, welche die immer breitere Palette von Bedürfnissen der Bevölkerung abdecken sollen. Dazu nur ein Beispiel: Der Beraterberuf war vor dem Gesetz 56/1989 fast unbekannt; heute ist er sehr verbreitet. Er ist gerade wegen dieses Gesetzes, das die Psychotherapie auf Ärzte und Psychologen beschränkt, aufgekommen. Dasselbe geschieht bei den klinischen Pädagogen, den philosophischen Beratern und so weiter in einer fast unendlichen Reihe von Hilfsberufen, welche die Berufsverbände in einer Art Jagd auf jene, die sie für «Wilde» halten, vergeblich zu bekämpfen versuchen, wobei sie fast immer die angestrengten Rechtsstreitigkeiten verlieren. Die Ausbildung in Psychotherapie wird immer mehr an den Erwerb eines Master in Psychologie geknüpft. Reichen Ihrer Meinung nach die heutigen Master in Psychologie als Grundausbildung für den Zugang zur Fachausbildung in jeder Hinsicht und für alle Fälle aus? Meiner Meinung nach stossen die heutigen Master an viele Grenzen, und auf jeden Fall ist die akademische Struktur in diesem Bereich nicht in der Lage zu professionalisieren, zumindest was Italien anbelangt. 32 | à jour 46 Was hielten Sie von unserem Projekt in «Psychotherapie-Wissenschaft», als es Ihnen vorgelegt wurde? Erachten Sie es als valable Alternative? Es scheint mir eine valable Initiative zu sein, die im Grunde Freuds Haltung widerspiegelt. Ich bin jedoch nicht der Meinung, dass es sich dabei um eine eigenständige «Wissenschaft» handelt, sondern um eine empirische Disziplin, wie übrigens auch die Medizin, die sich verschiedener Wissenschaften bedient. Welche für die psychotherapeutische Praxis relevanten Erkenntnisse lassen sich Ihrer Meinung nach dem heutigen Stand der psychotherapeutischen Forschung entnehmen? Einer der relevantesten Aspekte, der aus der psychotherapeutischen Forschung hervorgeht, ist wohl die Möglichkeit, viele Querschnittfaktoren aufzuzeigen, die allen Psychotherapiearten gemeinsam sind. Auf diese Weise bleibt eine fruchtbare Verbindung zwischen empirischer Forschung und klinischer Untersuchung bestehen. Welche Ansichten auf die heutige und die künftige Psychotherapie möchten Sie mit unserer Leserschaft teilen? Mir fällt ein paradoxer Aspekt auf: Einerseits kann man sagen, dass die Psychotherapie eine sehr junge Disziplin ist, deren Grundlage noch in Myriaden von verschiedenen Modellen und Sprachen zersplittert ist (was auch positive Seiten haben kann, weil es Bereicherung und Vielfältigkeit der Forschungsansätze bedeutet). Andererseits hat man stark den Eindruck, dass es seit einigen Jahrzehnten nichts Neues mehr gibt, d.h. dass gegenüber den klassischen theoretischen und klinischen Erkenntnissen keine Fortschritte mehr gemacht wurden. In den 1950er und 1960er Jahren hatte die Debatte innerhalb der psychoanalytischen Bewegung beispielsweise einen beachtlichen Entwicklungsstand erreicht, und so viele Aspekte der so genannten zeitgenössischen Psychoanalyse, die als Neuheit präsentiert werden, erscheinen als déjà-vu. Paolo Migone Kodirektor von Psicoterapia e Scienze Umane www.psicoterapiaescienzeumane.it Via Palestro, 14 43123 Parma, Italien Tel./Fax +(39) 0521960595, E-Mail [email protected] Biographie Paolo Migone Paolo Migone absolvierte seine Ausbildung zum Facharzt für Psychiatrie sowohl in Italien als auch in den Vereinigten Staaten, wo er vier Jahre lang arbeitete und sein Diplom in Psychoanalyse erwarb. Er ist Kodirektor der Zeitschrift Psicoterapia e Scienze Umane (www.psicoterapiaescienzeumane.it), die von Pier Francesco Galli 1967 gegründet wurde und die am meisten verbreitete italienische Zeitschrift dieses Fachgebiets ist. Er lebt in Parma, und neben seiner klinischen Tätigkeit lehrt er an privaten und öffentlichen Einrichtungen in Italien und der Schweiz. Er ist Autor zahlreicher Publikationen, darunter an die hundert Buchkapitel und einige Bücher wie Terapia psicoanalitica (Mailand: FrancoAngeli, 1995; Neuauflage 2010). Er wurde zum Fellow der American Academy of Psychoanalysis, zum Mitglied der Rapaport-Klein Study Group und zum Research Associate der American Psychoanalytic Association ernannt und sitzt im nationalen Vorstand der Associazione Italiana per lo Studio dei Disturbi di Personalità (AISDP), die der International Society for the Study of Personality Disorders (ISSPD) angegliedert ist. Er gründete die italienische Sektion der Society for Psychotherapy Research (SPR) und war Initiator der italienischen Sektion der Society for the Exploration of Psychotherapy Integration (SEPI). Er wurde zum Mitglied des Editorial Board von Psychological Issues ernannt und sitzt in der Redaktion von etwa zehn Fachzeitschriften (sowohl italienische als auch ausländische). Er wurde als Referent an Kongresse der International Psychoanalytic Association (IPA) eingeladen usw. Er interessiert sich vor allem für die Theorie der Psychotherapietechnik, den Vergleich zwischen Ansätzen, die Geschichte der Konzepte in der Psychotherapie und die Bildungsprozesse in den Hilfsberufen. Etwa achtzig seiner Arbeiten sind als Volltext auf der Website www.psychomedia.it/pm/modther/ probpsiter/ruoloter/rt-rubri.htm abrufbar. LITERATUR Chronische Bauchbeschwerden Grundlagen – Diagnostik – Therapie Peter Buchmann und Lukas Degen (Hrg.) Huber Verlag, Bern. 2010. Seiten 243 Das Buch wird vom Verlag mit folgenden Worten angepriesen: Erfolgreiche interdisziplinäre Ansätze bei einer schwierigen Krankheitsgruppe. Diese 26 Aufsätze richten sich vor allem an Grundversorgerinnen in ihren Praxen. Auch wir PsychotherapeutInnen können von einer solchen medizinischen Studie profitieren, da es oft nicht klar ist, ob jetzt eine somatopsychische oder psychosomatische Beschwerde vorliegt, wenn eine Patientin unseren Behandlungsraum betritt. Die meisten von uns kennen Bauchschmerzen im Kindesalter. Manchmal traten sie vor einer Probe auf, manchmal weil eine Glasscheibe der Nachbarin in die Brüche ging etc. Diese Schmerzen in der Mitte des Leibes verliessen uns meist erst dann wieder, wenn die Situation geklärt und die Notenwahrheit da war. Wirklichkeit entsteht bekanntlich meist in der Aufmerksamkeits-Fokussierung. Hier bekommen wir flotte Fallvignetten zu lesen, die als Einzelstudien neben ausgeklügelten empirischen Forschungen und Praxisberichten gut aus der Hausarztmedizin stehen können. Das Phänomen des Schmerzes, das wissen die meisten von uns aus Erfahrung, gehört immer schon in die interdisziplinäre Diagnostik und Behandlung hinein. Viele der Beteiligten, ob Betroffene oder Heilende, erfahren eine Ohnmacht vor dem chronischen Schmerz. In beiden Lebensbereichen, dem der Ärztin und dem der Patientin (männliches Geschlecht immer mit einbezogen) prägen die Erlebnisse chronischer Bauchbeschwerden den Alltag und die Nächte. Was mich aufschreckte war der epidemiologische Befund mehrerer Studien über chronische Bauchschmerzen. Hier wird von einer Leidensgruppe von über 30% der jeweiligen untersuchten Bevölkerung ausgegangen. Was stimmt da nicht in unserer Welt? Was bereitet so vielen von uns Bauchschmerzen, die nicht mehr verschwinden wollen oder können? Dieses von Bruder Rudolf Buchmanns (langjähriges ASP und Charta Vorstandsmitglied) mit herausgegebene Buch, kommt in vier Teilen daher. Der erste Teil behandelt die Grundlagen und generellen Abklärungen dieser Krankheit. Teil zwei vertieft sich in die spezielle Diagnostik und in die allgemein angewandten therapeutischen Ansätze. Die spezifische Diagnostik und Therapie ist als dritter Teil der längste und reichhaltigste dieser spannenden Sammlung. Am Schluss, nach über zweihundert Seiten, werden die therapeutischen Ansätze, die zur Behandlung angewendet werden, im Bereich der Evidenz und Komplementärmedizin bewertet. Als medizinischer Laie kann ich sehr viel von den medizinischen FachkollegInnen und den Ernährungswissenschaftlerinnen lernen. Die traditionelle chinesische Medizin, die phytotherapeutische Komplementärmedizin und die klassische Homöopathie sind stark vertreten. Diese Verfahren zeigen gute Linderungsund/oder Heilerfolge. Unser Fachgebiet der Psychotherapie kommt mit zwei besonderen Beiträgen im Buch vor. Das ist einmal das Kapitel von Rudolf Buchmann über psychosozi- ale und lebensgeschichtliche Ursachen chronischer Bauchbeschwerden. Für ihn ist Psychotherapie Entdeckung und nicht Behandlung. Die Beachtung der aktuellen kontextuellen Lebenssituation, eingebettet in die je eigene lebensgeschichtliche Genese einer Beschwerde, hier Bauchschmerzen, ist zentral, damit die Auslöser des Schmerzes nicht durch eine SymptomBeseitigung verschwinden. Der Verlust der Bewandtnis-Zusammenhänge führt schlussendlich in die Gefahrenzone der Schmerzchronifizierung. Der erfahrene St. Galler Psychoanalytiker führt uns, via seine drei eindrücklichen Fallvignetten, in seine Betrachtungsweise der doppelten Wahrnehmung ein. Dadurch, dass die Patientin in dieser Fallvignette (Die unbewusste Wut von Frau R.) quasi zufällig auf die Verbindung stösst und ganz aus ihrem Erleben und ihrer Selbstbeobachtung zur Erkenntnis kommt, ist sie auch überzeugt, dass es ihre Wahrheit ist. Im Anschluss daran können wir gemeinsam Quellen und Verläufe der doppelten Wahrnehmung – Körpersensation und Gefühle, Verhaltensmuster etc. – nachgehen. Von einer doppelten Wahrnehmung spreche ich, weil das Geschehen ein und dasselbe ist. Nur der Blick auf das Geschehene sieht einmal das Colon irritabile und einmal die abgrundtiefe Wut. Es gibt also mindestens zwei Blickweisen auf ein Leiden in einem Menschen, der oder die immer Eins ist. Der Psychosomatiker, Prof. Wolf Langewitz vom Universitätsspital Basel, geht in seinem Kapitel über die psychotherapeutische Intervention bei Reizdarmsyndrom vorerst dem nach, was die Patientinnen von Ärztinnen wissen wollen. Warum gerade jetzt? Und wie geht es mit dem Bauchweh weiter? Neben einfühlsamen Fallbeispielen beschäftigen den Wissenschaftler auch die empirischen Arbeiten zur psychotherapeutischen Intervention bei Reizdarmsyndrom. Seine Zusammenfassung der Ergebnisse zeigen auf, dass «erfolgreiche» Therapien knapp die Hälfte der Patientinnen erreichen. Für wen welche Therapie am ehesten in Frage kommt, ist nicht empirisch belegt. Zu erwarten ist, dass Patientinnen mehr als ein Therapieverfahren ausprobieren werden, bis sie den Zugang gefunden haben, der zu ihnen passt. Drei dieser Verfahren werden kurz dargestellt. Das sind: Psychodynamià jour 46 | 33 LITERATUR sche Kurztherapie, Kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze und die Hypnotherapie. Als Arzt plädiert Langewitz für eine gute Passungstriage der Gastroenterologin, um herauszufinden, welche Psychotherapeutin am ehesten oder gut genug zum Modell der Patientin passt. Diese Berichte aus dem beruflichen Alltag unterstützen den Wunsch der Passung von Patientin und Therapieansätze und ermutigen uns mit unserm Bauchweh ganzheitlich umzugehen. Die Adressen der sechs Autorinnen und der zwanzig Autoren sowie ein benutzerinnenfreundliches Sachregister schliessen dieses komplexe Buch ab. Anima e Psiche Riflessioni per una scienza psicoterapeutica Nicola Gianinazzi – Lugano 2011 Istituto Ricerche di Gruppo Seele und Psyche Dieses E-Book besteht aus zwei Hauptteilen, die ich in dieser kurzen Präsentation miteinander in Zusammenhang bringen möchte. Der erste Teil dient als theoretische Grundlage und beinhaltet Erwägungen zur Episte- 34 | à jour 46 mologie der Psychotherapie und vor allem zum Zusammenhang, der zwischen der Psychotherapie und anderen Humanwissenschaften wie Philosophie und Theologie einerseits und Pädagogik und Soziologie andererseits bestehen kann oder könnte. Diese meine Erwägungen sind zum Teil Grundlage und zum Teil Ergebnis meiner persönlichen und vor allem beruflichen Erfahrungen; sie beeinflussen diese und ermöglichen mir, sie rückblickend bestmöglich zu verstehen. Der zweite Teil befasst sich mit verschiedenen praktischen Bereichen und Erfahrungen, teilweise in der Beratung, aber vor allem in der Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen sowie in der Aufsicht in verschiedenen institutionellen Teams. Auch wenn der erste und der zweite Teil manchmal zusammenhanglos scheinen mögen, glaube ich, dass sich das als weniger widersprüchlich erweist, wenn zwei oft vergessene, aber mir sehr wichtige Aspekte berücksichtigt werden: die Katamnese und die Auseinandersetzung mit der Psychotherapie unter diesem Blickwinkel. Es geht einerseits darum, diese – mal zufälligen, mal methodologisch vorgegebenen – katamnestischen Elemente einzubeziehen, die uns Fragen stellen und uns helfen, unsere Arbeit und ihre mögliche oder wahrscheinliche mittel- und langfristige Wirkung möglichst eingehend zu überdenken. Andererseits versucht der erste Teil dieses Buches, ansatzweise auf die Frage zu antworten, was Psychotherapie – ihre Wirkung und ihr Nutzen – ist, wobei dazu auf andere Wissensgebiete, und zwar nicht nur Psychologie, Medizin oder Wirtschaft, zurückgegriffen wird. Dies geschieht im Hinblick auf eine dynamische Bildungspolitik im Bereich der Psychotherapiewissenschaften (PTW) und des Psychotherapeutenberufs. Zusammenfassung Die Diskussion darüber, ob die Psychotherapie mehr wissenschaftlich als mythologisch ist, kann ebenso viel Zeit erfordern wie die Frage der Beweisbarkeit der Existenz Gottes im Mittelalter. Im Bewusstsein darum möchte ich auf diesen Seiten die Erfahrung mit dem analytischen Paar im eigenen Raum-Zeit-Gefäss ins Zentrum rücken, wobei ich diese als Geschichte verstehe, die innerhalb einer psychodynamischen Beziehung entstanden ist. Ich glaube daher, dass man von der Psychotherapie als einer Mythologie von ausserordentlicher Kraft sprechen kann. Es handelt sich also um eine Wissenschaft, die auf Phänomenologie, Hermeneutik und Dialektik beruht und mit vollem Recht in den Bereich der Humanwissenschaften oder – um einen besonders vielsagenden Begriff zu verwenden – der Geisteswissenschaften fällt. Die Naturwissenschaften stellen sich von der Quantenphysik aus Fragen zum Objekt, das sie beobachten, und zur Rolle des Beobachters, wobei sie entdecken, dass sie nicht ganz so objektiv sind, wie sie für sich in Anspruch nahmen. Die Humanwissenschaften und insbesondere die Psychoanalyse – zusammen mit den verschiedenen Schulen der psychodynamischen Psychotherapie – tun dies von Natur aus und lassen einige der Gewissheiten des jüdischen Neurologen Sigmund Freud Geschichte werden. In diesem Sinne kann die psychoanalytische Psychotherapie als hermeneutische Wissenschaft, die der Begegnung zweier Menschen oder einer Gruppe von Menschen mit einem Gruppenanalytiker innewohnt, verstanden und kommuniziert werden. Die Geschichte oder Erzählung, die als Phänomene oder Bedeutungssysteme daraus entsteht, hat viel mit der Geschichte der Menschheit, der Mythologien und Religionen im Besonderen und des wissenschaftlichen Gedankens im Allgemeinen zu tun. Inserate für «à jour» Die ASP-Redaktion behält sich vor, die Annahme von Anzeigen ohne Begründung abzulehnen. Über Annahme und Ablehnung führen wir keine Korrespondenz 1/1 Seite CHF 500.– 1/2 Seite CHF 320.– 1/4 Seite CHF 250.– 1/8 Seite CHF 200.– Reduzierter Tarif für DeKo-Verbände und ASP Mitglieder: 40% Rabatt. Kalender Calendrier 4.6.2011 Delegiertenversammlung, Volkshaus Zürich 4.6.2011 Conférence des délégués, Volkshaus Zurich 18.6.2011 4. Kongress der Schweizer Psy-Verbände in Bern 18.6.2011 4. Congrès commun des groupements psy, Berne 10.12.2011 Delegiertenversammlung, Volkshaus Zürich 10.12.2011 Conférence des délégués, Volkshaus Zurich 17.3.2012 Mitgliederversammlung, Bern 17.3.2012 Assemblée Générale, Volkshaus Zurich 9.6.2012 Delegiertenversammlung, Volkshaus Zürich 9.6.2012 Conférence des délégués, Volkshaus Zurich