Keine Distanzierung Hahns von Lise Meitner

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Keine Distanzierung Hahns von Lise Meitner
Keine Distanzierung Hahns von Lise Meitner
Einige Anmerkungen zu Ruth Lewin Simes "Whose Legend?"
N.T.M. 8 (2000) S. 77 -84
Vera Morgenweck
Die Verfasser von "Lise Meitner, Otto Hahn und die Kernspaltung: Eine Legende aus
unseren Tagen"1 stimmen der Autorin bei, wenn sie festhält, dass durch beständige
Wiederholung „Wahrheiten“ entstehen können. Bevor sie zur „Wahrheit“ wird, müssen wir deshalb Simes Darstellung Hahns als feigen Chauvinisten entgegentreten.
Weil sie Gelegenheit hatte, im Meitner-Nachlass in Cambridge zu forschen und sie
sich deshalb in Besitz der allein richtigen Interpretation wähnt, findet sie unsere Einwände gegen ihre Darstellung Otto Hahns als „frech". Nachdem sie einleitend unsere
"unzivilisierte Sprache" kritisiert hat, bescheinigt sie uns in nahezu jedem Absatz "Inkompetenz", "Begriffsstutzigkeit", "Hinterlistigkeit" und vieles mehr bis hin zu "Nationalismus" und "moralischer Gleichgültigkeit". Damit sind wir anscheinend noch
schlimmer als der beschriebene Hahn. Die unverhältnismäßig heftige Reaktion lässt
Rückschlüsse auf eine verständliche Verunsicherung zu, denn die Quellenlage, die
für diese Deutung von Hahns Charakter infrage käme, ist keineswegs eindeutig. Die
Autorin fällt über unsere Arbeitsweise ein vernichtendes Urteil:
In ihrem Artikel präsentieren die Autoren keine neuen Sachverhalte. Stattdessen wählen sie
Tatsachen-Schnipsel aus, die ihrem Zweck dienen und missachten den größeren Kontext. Dogmatisch weisen sie gesicherte Fakten zurück und bestehen darauf, dass ihre eigenen unbe2
gründeten Rückschlüsse "wahr" seien. (S. 78)
Unsere Leserinnen und Leser haben sich vor Frau Sime schon ihr eigenes Urteil gebildet. Darunter befinden sich Experten zu diesem Thema, nämlich der Nachfolger
von Fritz Straßmann Prof. Günter Herrmann aus Mainz3, den Sime selbst als zuverlässig zitiert, und der Historiker Jost Lemmerich4 aus Berlin, der - ebenso wie Sime den Meitner-Nachlass erforscht hat. Deren Urteil steht in krassem Gegensatz zu Simes Einschätzung. Es wird im Folgenden versucht, transparenter zu machen, wie es
zu diesen extremen Meinungsverschiedenheiten kommen kann.
"Hahn hatte Angst."
Es geht uns in unserer Erörterung nicht um die Präsentation neuer Sachverhalte,
sondern um den sorgfältigen Umgang mit den bekannten. Sime schreibt in ihrer Replik:
Beispielsweise habe ich geschlossen, dass Hahns politische Angst eine - vielleicht unbewusste
- Rolle gespielt haben könnte, als er sich von Meitner distanzierte und die Entdeckung für die
Chemie allein beanspruchte. (S. 78)
Die durch eigene Aussagen belegte nervliche Angespanntheit bezieht sich nicht nur
auf regimetreue Mitarbeiter im eigenen Haus, sondern vor allem auch auf private
Probleme (tägliche Krankenhausbesuche bei Edith Hahn am anderen Ende der Stadt
1
Morgenweck, Trömel; Eine Legende 2000, S. 65- 76
Sime; Whose Legend? 2000. Zur besseren Lesbarkeit wurden die Zitate von mir übersetzt. Die Seitenzahl bezieht sich auf Simes Artikel, wo das Zitat im Original nachgelesen werden kann.
3
Herrmann an Trömel, 4.7.2000. "Vielen Dank für den Sonderdruck aus N.T.M. 8. Ich gratuliere Ihnen und Frau
Morgenweck-Lambrinos zu diesem Artikel; es ist Ihnen gelungen, das Wesentliche knapp und prägnant herauszuarbeiten."
4
Lemmerich an Trömel 5.7.2000. "Vielen Dank für die Übersendung Ihrer interessanten Studie in N.T.M. Wie
Sie ja wissen, bin ich insgesamt Ihrer Meinung in dieser wichtigen Frage."
2
1
über Wochen hinweg und häufige Behördengänge wegen Meitners Angelegenheiten)
und ist deutlich zu unterscheiden von 'Angst'. Wir wollten nicht verleugnen, dass
Hahn Angst hatte. Wir sagen, wir können aus den Quellen nicht eindeutig das Vorhandensein von Angst ableiten und sagen deshalb nichts dazu. Wir kritisieren, dass
Sime die Angst als "fact" bezeichnet (S. 78). Mögliche Angst hat ihn jedenfalls nicht
davon abgehalten, mutig zu sein. Auch andere haben seinen Mut vor den Nazis bestätigt.5 Simes Interpretation passt nicht zu diesen Aussagen. Sie muss aber darauf
bestehen, um ihre Thesenkonstruktion zu stützen. Das von Sime so oft zitierte "vom
Himmel gesandte Geschenk" der Entdeckung versteht sie so, dass es Hahn als
Schutz vor den Nazis sah, was sicher richtig ist. Aber dann müsste er sich nach der
Entdeckung sicherer fühlen. Sime versteht das aber anders, nämlich als Geschenk,
das zu nichts verpflichtete, das in keiner Beziehung zur Vergangenheit stand und das
nichts mit Meitner oder mit Physik zu tun hatte.
"Wir haben bei der ganzen Arbeiterei die Physik absolut nicht berührt. ..." ... Gab es für Hahn
einen besseren Weg, um sein 'Himmelsgeschenk' zu sichern, als sich selbst von Meitner zu distanzieren und die Entdeckung allein für die Chemie zu beanspruchen? Typischerweise vermeiden die Autoren diese Diskussion. Stattdessen behaupten sie arglistig, dass Meitner selbst die
Entdeckung gänzlich Hahn und Straßmann zugeschrieben hätte. (S. 82)
Diesem verschlungenen Gedankengang zu folgen ist kaum möglich. Die Belege für
unsere "arglistige" Behauptung zählt Sime dabei auf und versucht sie zu entkräften,
weil Meitner der zutreffenden Ansicht war, dass ihre physikalische Erklärung ein
wichtiger Beitrag war, den Hahn nicht hätte leisten können.6 Dies ändert aber nichts
an der auch von Meitner anerkannten Tatsache, dass Hahn und Straßmann den Befund erarbeitet und ihn auch als "Zerplatzen" des Urankerns richtig interpretiert hatten.
Weil der Hahn-Brief vom 7.2.1939 an Meitner in Simes Argumentation eine zentrale
Bedeutung hat, wird hier der gesamte gedankliche Absatz zitiert:
"Wie Du glauben kannst, Siegbahn denkt, Straßmann und ich machten auch die Physik, verstehe ich nicht. Wir haben bei der ganzen Arbeiterei die Physik absolut nicht berührt, sondern
immer und immer wieder nur chemische Trennungen gemacht. Wir kennen doch unsere Grenzen und wissen natürlich auch, daß in diesem besonderen Falle es zweckmäßig war, nur
Chemie zu machen.
Die Wohnungsfrage [Meitners verlassene Dienstwohnung] ist noch nicht geklärt. Es kann
noch viel Verdruß geben, aber freiwillig gebe ich diesmal den Kampf nicht auf. In dieser Sache ist mir die Arbeit über das Uran ein vom Himmel gesandtes Geschenk. Ich fürchte nämlich manchmal, daß Dr. K.[rauch] dem Herrn [Dr. Baur] erst Deine Wohnung, dann ihm allmählich Teile des Instituts geben will. Ich habe bisher keine Beweise dafür, kann mich jetzt
aber doch mit Mattauch und der Uranplatzerei eher wehren."7
Zum Vergleich: Der zweite Absatz wird bei Sime verkürzt zitiert:
Die Wohnungsfrage ist noch nicht geklärt. ... In dieser Sache ist mir die Arbeit über das Uran ein
vom Himmel gesandtes Geschenk. Ich fürchte nämlich manchmal, daß Dr. K. dem Herrn erst
8
Deine Wohnung, dann ihm allmählich Teile des Instituts geben will. (S. 82)
In der Originalfassung gibt es sogar noch eine sachliche Ungenauigkeit:
5
Selbst Sime muss das in einer späteren Schrift zugeben, macht hier aber die Einschränkung, dass er jüdischen
Kollegen helfen konnte, "ohne ein besonderes Risiko für sich selbst einzugehen". Sie belegt dies überzeugend
mit einer Erklärung Herrmann Görings zur Weiterbeschäftigung von 'Nichtariern' während des Krieges von
1942. Diese Darstellung steht in einem bemerkenswerten Widerspruch zu dem Hahn, den sie 2000 als so ängstlich beschreibt, dass er sich von Meitner und der Physik für immer distanzieren musste. ("Die Uranspaltung hat
da die ganze Situation gerettet" 2007, in: Maier, Helmut; Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der
Wissenstransfer, Göttingen 2007, S. 303).
66
Morgenweck, Trömel 2000, S. 66
7
Hahn 1975, Erlebnisse, S. 101
8
Sime, Ein Leben, 2001, S. 329
2
The question of [who will get] your apartment is not settled. O In that regard the uranium work
[fission discovery] is for me a heaven-sent gift. Namely I was fearful sometimes that Dr. K.
9
would first [take over] your apartment, then eventually parts of the institute.
Herr Dr. Baur, um den es eigentlich ging, wird wohl als überflüssig angesehen und
deshalb weggelassen. Ebenfalls werden Hahns kämpferische Aussagen als überflüssig angesehen und deshalb weggelassen. So passt das Zitat besser in das Bild
eines ängstlichen Hahns, der sich vor seinen eigenen Mitarbeitern fürchtet und sich
deshalb aus Selbstschutz von Meitner distanziert. An diesem Vergleich kann beobachtet werden, wie Ruth Lewin Sime historische Forschung betreibt. Wenn sie in dieser Weise mit veröffentlichten Quellen umgeht, die jeder selbst überprüfen kann,
dann liegt die Frage nahe, wie sie die unveröffentlichten Quellen zitiert. Weiter unten
werden wir ein Beispiel dazu sehen.
Die Autorin kam zu dem Schluss, dass die äußeren Bedingungen die Zuschreibung
der Entdeckung verzerrt hätten, insbesondere weil der Ausschluss Meitners nicht
wissenschaftlich gewesen wäre, sondern durch die erzwungene Emigration und die
politischen Umstände bedingt war. Warum sollte Meitners Ausschluss wissenschaftlich gewesen sein? Natürlich wäre die Entdeckung anders verlaufen, wenn die äußeren Bedingungen anders gewesen wären, aber das ist keine neue Erkenntnis. Dessen waren sich auch die Zeitgenossen Meitners bewusst.
Sime bestreitet nicht, dass Hahn und Strassmann nicht nur Barium identifiziert haben, sondern auch die Kernspaltung als solche erkannt haben. Das ist für sie insofern eine neue Erkenntnis, als in ihrem Buch das erste Erkennen der Kernspaltung
Meitner zugeschrieben wird, während ein kopfloser Hahn mit dem Ergebnis nichts
anzufangen weiß. Anscheinend haben zu dieser Sicht noch andere Historiker Zweifel
angemeldet, zumal der Begriff "Zerplatzen" von Hahn selbst stammt, sodass sie sich
in diesem Punkt ein wenig bewegt hat.10
Stattdessen argumentiert sie nun, dass Physik und Meitner so wichtig für den Bariumfund waren, wie die Chemiker Hahn und Strassmann. Auch das ist keine neue
Erkenntnis. Das hat schon Hahn selbst 1939 in seinen Publikationen angemerkt:
"Daß die im Vorstehenden beschriebenen, zahlreichen neuen Umwandlungsprodukte sich in
verhältnismäßig kurzer Zeit mit - wir glauben - erheblicher Sicherheit feststellen ließen, war
nur möglich durch die Erfahrung, die wir bei den früheren, in Gemeinschaft mit L. MEITNER
durchgeführten systematischen Versuchen über die Transurane und die Thorumwandlungsprodukte sammeln konnten."11
Sime meint das allerdings anders. Nach ihrer Ansicht hat Meitner bis zum Dezember
1938 mittels schriftlicher Anweisungen mitgearbeitet, woraus sich der Anspruch auf
den Nobelpreis ableitet. Diese These bedarf mehrerer Stützen. Meitners Fragen im
Briefwechsel nach Hahns Ergebnissen werden von Sime als Anregungen für Hahns
Versuche gedeutet. Und weil in den Briefen nichts Physikalisches zu lesen ist - es
geht nur um Chemie -, wird das Treffen in Kopenhagen im November 1938 in seiner
Bedeutung besonders wichtig, denn alle möglichen physikalischen Erklärungen, die
Meitner zur 'Teamarbeit' beigetragen haben könnte, kann sie dann nur hier gegeben
haben.
9
Sime A Life, 1996, p. 256
In der deutschen Ausgabe von 2001 wurde diese neue Erkenntnis nicht eingearbeitet. Die schlimmsten Bemerkungen sind hier zwar heraus gekürzt, aber auch hier muss sich Hahn immer noch von Meitner erklären lassen,
was er selbst mit "Zerplatzen in Ba" meint.
11
Hahn, Straßmann, 1939, Bariumisotope, S. 95.
10
3
"Hahn machte aus seinem Besuch in Kopenhagen ein Geheimnis."
Der Kopenhagen-Besuch ist wichtig, weil Hahn ihn wiederholt erwähnt hat, weil er mit Meitner
gesprochen hat, und der Besuch scheint den Weg der Radiumexperimente beeinflusst zu haben. Hahn versuchte später, die Kopenhagen-Physiker von den neuen Experimenten abzutrennen durch seine vage Bemerkung „Aus irgendwelchen Gründen...“. Aber Physiker (Flügge
1949) und Wissenschaftler, die später die Geschichte studiert haben (Herrmann 1990 p. 491),
betrachteten diese Verbindung als offensichtlich. (S. 80)
Wie man diese Bemerkung als Versuch interpretieren kann, sich von den Kopenhagen-Physikern zu trennen, ist nur verständlich, wenn man davon ausgeht, dass die
Autorin Hahns Aussage in einen falschen Kontext gestellt hat. Diese Aussage hat
einen rein labortechnischen Hintergrund. Das wurde von Sime völlig missverstanden.
Wie sehr Hahn die Zweifel in Kopenhagen beeindruckt haben, geht daraus hervor,
dass er diese Tagung auch später immer wieder erwähnt hat. Wir stellen jedoch infrage, dass die im Notizbuch vermerkten „langen Gespräche mit Lise“ unter vier Augen in einem erkennbaren Zusammenhang mit den Experimenten im November –
Dezember stehen. Sie können nach den aufreibenden Ereignissen (Meitners Flucht,
Erkrankung Edith Hahns, Auseinandersetzung mit den Behörden wegen Meitners
Angelegenheiten, Treffen Hahns in Wien mit Meitners Familie, Reichskristallnacht,
Verhaftung des Vaters von O.R. Frisch) rein privater Natur gewesen sein, da für die
Arbeit am Nachmittag auf der Tagung noch ausreichend Zeit vorgesehen war. In diesem Fall wäre es auch erklärlich, dass Hahn diese langen Gespräche in seinen Biographien nicht erwähnt hat. Nicht jeder Winkel im Leben von Prominenten ist für die
Öffentlichkeit bestimmt.
Es ist anzunehmen, dass die Physiker in Kopenhagen Hahn beschworen haben, noch sorgfältiger als bisher nach dem Radium zu testen. (S. 80)
Hahns Sorgfalt war sprichwörtlich (Karl-Erik Zimen: "Wir mussten alles zehnmal machen"). Allein die Zweifel können ausgereicht haben, dass Hahn selbst bereit war,
sich alles noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Aber: Ob er beschworen wurde
- ob durch Bohr, durch Meitner oder durch alle Physiker zusammen -, oder ob er sich
durch vorhandene Zweifel selbst genötigt sah, wird man nicht beantworten können.
Wer meint, hier eine eindeutige Antwort geben zu müssen, der muss erdichten.
Das Eigentümliche an Hahns Kopenhagen-Erinnerungen ist, dass er nie erwähnt hat, dass er
Meitner dort getroffen hat. Die Autoren behaupten, dass Hahn sie nicht erwähnt hat weil sie,
anders als die anderen Physiker, Hahns irrige Auffassung, es liege Radium vor, akzeptierte. Als
‚Beweis’ zitieren die Autoren einige von ihren Fragen nach Radium. (S. 80)
Wir zitieren nicht „einige“ der Fragen Meitners nach Radium, sondern alle. Es gibt
nicht mehr als zwei Fragen und die lassen keine „vehementen Zweifel“ erkennen. In
diesen Fragen dokumentiert sich eine offene und abwartende Haltung, die Zweifel
natürlich mit einschließt. Das können aber auch Zweifel an den eigenen Arbeiten mit
Droste sein. Es war ja erst wenige Wochen zuvor die Existenz von Curies 3,5hKörper, den sie seinerzeit als "Dreckeffekt" klassifiziert hatte, von Hahn und Straßmann bestätigt worden. Und wenn Hahn sagte, dass es sich um Radiumisomere
handelt, etwas anderes sei ausgeschlossen, dann war das für Meitner ein gewichtiges Argument. Sime müsste selbst wissen, dass Meitner Hahns chemischem Urteil in
höchstem Maß vertraute.
Und in jedem Fall ist es absurd, dass die Autoren behaupten, dass Meitner, eine der führenden
Kernphysiker der Zeit, würde einen Prozess mit langsamen Neutronen akzeptieren, der für alle
anderen Physiker unakzeptabel war. Die Idee ist noch absurder, weil Meitner selbst nur wenige
Monate zuvor die Energien für einen einfachen Prozess in Thorium berechnet hatte und zeigte,
dass langsame Neutronen eine Alpha-Emission in Thorium nicht indizieren kann. Es scheint,
dass die Autoren wieder die Physik ignoriert oder nicht verstanden haben. Sie haben die Unverschämtheit meine Schlussfolgerungen als „fiktiv“ zu bezeichnen, wo sie selbst doch ein offensichtlich erfundenes Argument fabriziert haben, ohne jeden Respekt vor den Tatsachen. Ich
4
habe keinen Grund meine Schlussfolgerung zu ändern, dass Meitner genauso skeptisch über
das Radium war wie alle anderen Physiker, die in Kopenhagen mit Hahn gesprochen haben.
(S. 80)
Immerhin ist sie nun nicht mehr die Skeptischste gewesen, wie es Sime in ihrem
Buch nachdrücklich beschreibt, sondern ist jetzt genauso skeptisch. Damit sind wir
jetzt einer Meinung. Dass langsame Neutronen eigentlich keine Alpha-Teilchen abspalten können, war auch Hahn bekannt. Was aber noch seltsamer war, und auch
dessen war sich Hahn bewusst, war die notwendige Annahme von gleich zwei AlphaTeilchen, die aus dem Uran herausgeschlagen werden müssten, um beim Radium zu
landen, was als scheinbares Ergebnis nun einmal vorlag. Er machte den Vorschlag,
dass nicht beide Teilchen gleichzeitig abgespalten werden, sondern, dass zunächst
Thorium entstehen sollte, welches selbst ebenfalls wieder ein Alpha-Teilchen emittiert, womit man dann beim Radium wäre. Diese Idee war aber auch nicht anders,
denn als Arbeitshypothese zu verstehen. Meitners Thorium-Ergebnisse waren ihm
natürlich bekannt. Und so erklären sich Meitners Fragen nach dem Thorium, welches
Hahn und Straßmann suchten, als verständliches persönliches Interesse. Durch die
falsche Beurteilung der Substanz von Curie mit 3,5h Halbwertzeit könnte sie auch
verunsichert gewesen sein. Sie schreibt ja auch: "Aber ich möchte für mich gern wissen, wie eure Versuche laufen."12
Es ist bezeichnend, dass die Autoren Strassmann ignorieren, der bei den Experimenten doch
näher dran war wie jeder andere – manchmal sogar näher als Hahn. In seinen Memoiren betont
Strassmann wiederholt, dass Meitners Zweifel den Impetus für die Experimente gaben. „Ich bin
noch heute überzeugt...“. Strassmanns Erinnerungen sind übereinstimmend mit den Fakten des
Kopenhagentreffens, obwohl ihm nie gesagt wurde, dass Hahn Meitner dort getroffen hatte.
(S. 80 f)
Welche Fakten kennen wir von dem Kopenhagen-Treffen? Wir wissen, dass Hahn
am 13. und 14.11.1938 in Kopenhagen am Bohrschen Institut war. Dort traf er verschiedene Physiker. Es gab lange Gespräche.13 Genannt werden Bohr, Meitner und
Otto Robert Frisch. In seinen Erinnerungen spricht Hahn von den erheblichen Zweifeln an seinen Radium-Ergebnissen und seinen Erklärungs-Vorschlägen. Namentlich
nennt er Bohr. Flügge nennt aus seiner Sicht die Bedenken, die er und Droste gegen
die vererbbaren Isomerien anzumelden hatten.14 Hahn bestand jedoch darauf, dass
sein Befund nichts anderes als Radium sein kann.15
Welche Fakten kann man der Straßmann-Erinnerung entnehmen? Dass es in den
1970er Jahren Straßmanns Überzeugung war, das es Meitners Zweifel waren, die
zur nochmaligen Überprüfung der Radiumergebnisse veranlassten.16 Dies stimmt
aber nicht mit den Hahn-Erinnerungen überein. Somit steht die Hahn-Erinnerung von
1945 der Straßmann-Erinnerung von 1974 gegenüber. Und woher weiß Sime, dass
ihm nie gesagt wurde, dass Hahn Meitner dort getroffen hatte? Die Tatsache, dass er
die Zweifel Meitner zuschreibt, spricht eher für die Annahme, dass es ihm gesagt
wurde.
Ich habe nie behauptet, das Hahns und Meitners Treffen „konspirativ“ war, aber es ist kein
Zweifel daran, dass ihr Treffen in Berlin ein Geheimnis war, eine Tatsache, die die Autoren hätten verstehen müssen, wenn sie die gesamte Korrespondenz gelesen hätten oder meiner Arbeit
(Sime 1996, pp.227-228) und der anderer respektabler Historiker (Herrmann 1990, p.489-490)
mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Meitner erwähnte es nur einmal: „Du wirst oder hast
schon einen Brief von O.R. bekommen. Ich wage nicht anzunehmen, daß du ja sagst, aber was
ein 'ja' mir bedeuten würde, kannst du dir kaum vorstellen.“ (Sime 1996, p. 450, 4.11.1938). Ich
habe den gesamten Briefwechsel gelesen und kann attestieren, dass eine solche codierte Spra12
Krafft 1981, S. 237
Sime, A Life, p. 450, Sime, Ein Leben, S. 558 Eintragungen in Hahns Taschenkalender vom 13. u. 14.11.1938
14
Flügge, Vor 10 Jahren, S. 83-84
15
Hahn, Erlebnisse, S. 58
16
Krafft 1981, S. 210
13
5
che für Meitner ungewöhnlich war und, dass beide das Treffen in ihren Briefen nicht mehr erwähnt haben. (S. 81)
Als Literatur nennt Sime, außer ihrem eigenen Werk, Günter Herrmanns Schrift von
1990. Dort steht zu dem Kopenhagen-Treffen Folgendes:
"Maßgebend für Hahn sind wohl vor allem die Bedenken, die er am 13. und 14. November 1938 in
Kopenhagen hört, wo er Niels Bohr zu einem Vortrag besucht; dabei trifft er auch Lise Meitner und
deren Neffen Otto Robert Frisch, der als Experimentalphysiker in Bohrs Institut arbeitet. Aber auch in
Berlin werden Bedenken laut [Flügge und Droste], mit theoretischen Argumenten und weil prompte α17
Teilchen einer (n, α)-Reaktion beim Bestrahlen von Uran mit Neutronen nicht beobachtet werden."
Zunächst: Günter Herrmann als Historiker zu bezeichnen ist stark verkürzend. Er hat
wissenschaftshistorische Abhandlungen zur Entdeckung der Kernspaltung geschrieben, aber als Nachfolger Fritz Straßmanns am Institut für Kernchemie in Mainz ist er
vor allen Dingen Kernchemiker und damit in höchstem Maß befähigt, die fachwissenschaftlichen Primärquellen zu beurteilen. Was aber wollte Sime mit Herrmanns Darstellung belegen, was im Gegensatz zu unseren Aussagen stünde?
Wieder einmal nicht beachtet hat Sime einen Artikel Herrmanns in der 'Frankfurter
Allgemeinen Zeitung' vom 4. Dezember 1996 mit dem Titel "Lise Meitner ohne Verbitterung gegen Otto Hahn"18. Es war eine Reaktion auf die Rezension von Gabriele
Metzler "Verjagt und verbittert" vom 7. November in der gleichen Zeitung. Simes
Hauptthesen werden durch Günter Herrmann in wenigen prägnanten Worten widerlegt. In unserem Besitz ist eine Kopie mit seiner eigenhändigen Randnotiz: "To: Ruth
Lewin Sime. From: G. Herrmann", die belegt, dass er Frau Sime von seinem Artikel
in Kenntnis gesetzt hat. Es ist bemerkenswert, wie vier Jahre später die Einwände
von Fritz Straßmanns Nachfolger ignoriert und ins Gegenteil verdreht werden!
Codierte Sprache war in den Briefen nichts Ungewöhnliches, da sich die Briefeschreiber der Postzensur bewusst waren. Da werden ständig Namen abgekürzt oder
umschrieben. Ein weiteres Beispiel sieht man im Text weiter oben, den Hahn-Brief
vom 7.2.1938. Im Verhältnis zum gesamten archivierten Briefwechsel machen die
Briefe aus der Zeit der Naziherrschaft nur einen kleinen Teil aus. Wenn nach dem
Krieg nicht mehr verschlüsselt wurde, kann man nicht daraus schließen, dass ein
verschlüsselter Brief während der Naziherrschaft untypisch für Meitner sei. Es ist
verständlich, wenn man den Nazibehörden das Treffen nicht gerade unter die Nase
binden will. Wenn in den Briefen nichts darüber auftaucht, dann kann man aber nicht
unbedingt daraus schließen, dass das Treffen auch vor Freunden und vertrauenswürdigen Bekannten geheim gehalten wurde. Im Gegenteil, Straßmanns viel spätere
Erinnerung an Meitners Zweifel deutet eher darauf hin, dass er informiert war. Ebenso wie auch Hahn über die versteckte Jüdin in Straßmanns Wohnung informiert war.
Das Geheimnis war eine Tatsache. In meinem Buch betrachte ich es nicht als wichtig, außer als
eine mögliche Erklärung für Hahns späteres ‚Vergessen’. (S. 81)
Es ist gewagt, ein vermutetes „Geheimnis“ zur Tatsache zu erklären. Falls Hahn etwas „vergessen“ haben sollte, dann gibt es viele Erklärungsalternativen.
[Die Autoren] behaupten, es sei keine Gefahr gewesen, Juden im Exil zu treffen, man würde sich
damit allenfalls unbeliebt gemacht haben. (S. 81)
Dänemark war zu dieser Zeit unabhängig und deutsche Gäste konnten sich dort treffen, mit wem sie wollten, ohne behelligt zu werden.
Der Gedanke, bei den Nazis 1938-39 unbeliebt zu sein, sei nichts, worüber man sich aufregen
müsse, ist so bemerkenswert begriffsstutzig, dass es nach moralischer Gleichgültigkeit riecht. In
einem Versuch Hahns „Furchtlosigkeit“ zu demonstrieren, listen die Autoren naiv seine AntiNazi-Proteste auf, ohne sich vorzustellen, dass er protestiert haben könnte, obwohl er Angst
hatte, oder dass ein Anti-Nazi möglicherweise verletzbar sein könnte, an sich ein Grund für wei17
18
Herrmann, Vor fünf Jahrzehnten, 1990, S. 479
Herrmann, Lise Meitner ohne Verbitterung, 1996
6
tere Angst. Insgesamt habe ich herausgefunden, dass Hahn vorsichtig war, sogar von ängstlicher Natur; dass er um das Institut fürchtete; dass er von Meitner verlangte, dass sie sofort
nach dem Anschluss das Institut verlassen solle (und später änderte er seine Meinung) (Sime
1996, 184-186); und dass er zunehmend ängstlich war, um seine eigene Position, als sich die
politische Situation verschlechterte (Herrmann 1990, p. 490). (S. 81)
Liest man an der zuletzt genannten Literaturstelle nach, so findet man eine Darstellung, die sich auf Hahns Erinnerungen von 1945 und seinen Taschenkalender stützt.
Als ergänzende Quelle wird nur eine Erinnerung von Leslie G. Cook von 1989 genannt.
"Dies alles geschieht in einer sehr bewegten Zeit, wie besonders in Hahns autobiographischer Niederschrift von 1945 und, dramatisch verkürzt, in seinem Taschenkalender von 1938 deutlich wird. Hahn
hatte sich auch schon vorher, als Lise Meitner noch in Berlin war, völlig abgekapselt; niemand im Institut erfährt, was sich nun anbahnt. Es ist die Zeit der Reichskristallnacht. Einige der ältesten Mitarbeiter
des Instituts sind entschiedene Anhänger der Nationalsozialisten, andere, wie Fritz Straßmann, entziehen sich diesem Sog und nehmen dafür Nachteile in Kauf. Ein präsumtiver Nachfolger für den als
politisch unzuverlässig geltenden Hahn ist schon im Haus. In dieser Atmosphäre muß Lise Meitners
19
Eigentum gesichert werden."
Was will Sime damit belegen? Dass vor Straßmann das Treffen mit Meitner verheimlicht wurde?
Mit ihrer rosigen Sicht der Nazi-Periode gelingt es den Autoren nicht, zu verstehen, dass Meitners hastige Flucht aus Deutschland höchst illegal war, „unerwünscht“ von niemand anderen als
dem Reichsführer-SS, Himmler! – und darum sehr beängstigend, nicht nur für Meitner, sondern
auch für Hahn. Hahns Angst, weil die Nazis sich in seinem Institut breitmachten und dem Eindringen von Nazis von außen sind evident in seinen Briefen an Meitner und in seinen Erinnerungen von 1945. (S. 81)
Der Paragraph, der Freizügigkeit gewährt, hatte auch während der Naziherrschaft
Geltung. Illegal war der Erlass Heinrich Himmlers. Freilich sahen die Nazibehörden
das von ihrem Standpunkt aus anders. Deshalb war es natürlich gefährlich für Meitner, solange sie sich noch im deutschen Hoheitsbereich aufhielt. Nach der gelungenen Flucht bestand allerdings kein Grund zur Geheimhaltung und Hahn teilte es allen
Kollegen im Institut offiziell mit. Warum sollten wir uns nicht vorstellen können, dass
Hahn trotz seiner Proteste Angst hatte? Dass er nervös war, hat er doch später
selbst in seinen Erinnerungen beschrieben. Dies hat ihn aber nicht so weit getrieben,
dass er sich von Meitner zum Selbstschutz distanziert hätte, wie Sime glauben machen will.
Sime beteuert, in ihrem Buch jede Anstrengung gemacht zu haben, um Tatsachen
und Rückschlüsse klar zu trennen. Genau das ist leider nicht der Fall. Ihre Rückschlüsse kennzeichnet Sime durch Terme wie: „There can be no doubtO” oder: „We
know...“, die Tatsachen suggerieren. Für Simes Darstellung der Gespräche in Kopenhagen im November 1938 gibt es als einzige Quellengrundlage die lapidare Notiz
in Hahns Tagebuch: "Lange Gespräche mit Lise, Bohr, etc."20 Um was es im "persönlichen Gespräch" "(Face to face, in the strongest possible terms ...)" zwischen Meitner und Hahn ging, kann heute niemand mehr wissen. Wenn Sime ein Szenario entwirft, bei dem Hahn von einer strengen Meitner den Kopf gewaschen bekommt ("a
physicist's nightmare!") mit der "Botschaft" seine Ergebenisse noch einmal ganz genau zu überprüfen,21 dann bezeichnen wir eine solche Ausschmückung als 'fiktiv'.
"Hahn distanzierte sich von Meitner."
19
Herrmann, Vor fünf Jahrzehnten 1990, S. 478
a.a.O., S. 227, Sime, Lise Meitner 2001, S. 290
21
Sime, A Life 1996, S. 228
20
7
In den 1930er Jahren hielten Physiker und Chemiker den Bariumfund für das Endergebnis einer
interdisziplinären Untersuchung, die 1934 begann mit der Suche nach den Transuranelementen. [Beleg:] (Turner, Louis A.: „Nuclear Fission”, Reviews of Modern Physics 12 (1940), pp. 129; Seaborg in Hahn, Otto: A Scientific Biography, Introduction by Glenn Seaborg, Willy Ley,
trans.: MacGibbon & Kee, London 1967, pp. ix-xi; Sime 1996, chi. 7.) Die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass beide Disziplinen zu fast jedem Experiment beigetragen haben und, dass
beide falsche Annahmen gemacht haben. (Später sollte Hahn konsequent die Physik beschuldigen, dass sie die Entdeckung verzögert hätten, ohne zu erwähnen, dass die chemischen Annahmen auch falsch waren. Die Autoren machen hier dasselbe.) (S. 79)
Zunächst zu der Art, wie Sime ihre Thesen belegt. Sie schreibt von den '1930er Jahren' und benennt als einzige Quelle aus dieser Zeit eine Schrift von Louis Turner aus
dem Jahr 1940. Die zweite genannte Quelle ist von 1967 und die Dritte ist ihr eigenes Werk von 1996.
Da Sime hier behauptet, Hahn hätte die falschen chemischen Annahmen nicht erwähnt, muss man davon ausgehen, dass sie die wissenschaftliche Biographie, die
sie selbst gerade als Beleg nannte (Scientific Biography, Introduction by Glenn Seaborg), nur
nachlässig gelesen hat. Hahn schreibt hier nämlich:
„Der Aufstellung dieser Reihen lagen also, wie wir heute wissen, zwei grundsätzliche Irrtümer zugrunde. Der Hauptirrtum war die Annahme der kurzlebigen Fermischen ‚UranIsotope’, bei deren sukzessiver β-Strahlenemission sich die Elemente 93 bis 96 bilden mussten. Der zweite Irrtum war die Annahme, dass diese Elemente ähnliche chemische Eigenschaften wie die der Platinmetalle haben müssten, weil sie mit Schwefelwasserstoff aus saurer
Lösung fällbar waren, also nach der damals allgemein angenommenen Darstellung des Periodischen Systems als höhere Homologe der bekannten Platinmetalle anzusehen waren.“22
Selbstverständlich sind alle Arbeiten im KWI für Chemie fachübergreifend gewesen,
weil mit chemischen Methoden analysiert und mit physikalischen Methoden die Aktivitäten der Präparate gemessen wurden. Die chemischen Befunde mussten besonders bei den 'Transuran-Arbeiten' wiederum mithilfe der theoretischen Physik erklärt
werden.
Aber genau das hat Hahn im Februar geschrieben: „Wir haben bei der ganzen Arbeiterei die
Physik absolut nicht berührt...“ Hier schrieb Hahn zum ersten Mal explizit die Entdeckung nur
der Chemie zu. Warum hat Hahn seine Meinung zwischen Dezember und Februar geändert?
Aus Hahns eigenen Erklärungen habe ich geschlossen, dass er sich politisch selbst schützen
wollte. ... Gab es für Hahn einen besseren Weg als dieses politische „Gottesgeschenk“, um sich
von Meitner zu distanzieren und die Entdeckung für die Chemie allein zu beanspruchen?
(S. 82)
Die Autorin interpretiert in diese Aussage eine Tragweite hinein, die Hahn ihr überhaupt nicht beigemessen hat. Die Aussage bezieht sich eng auf die Experimente im
November – Dezember 1938 und meint, dass ausschließlich chemische Experimente
gemacht wurden. Meitner war ja nicht mehr da. Hahn hat dabei eine Befürchtung
Meitners missverstanden, nämlich, dass ihr Arbeitgeber Manne Siegbahn denken
könnte, dass auch bei den vorangegangenen Transuran-Arbeiten Hahn und Strassmann die Physik gemacht haben könnten. Eine etwas abwegige Annahme, die sich
nur aus ihrer verzweifelten Stimmung (in einem fremden Land mit leeren Händen
dazustehen) erklärt und die Hahn deshalb missverstand: „Ich verstehe nicht, wie Du
denken kannst, wir hätten auch die Physik gemacht. Wir haben doch bei der ganzen
Arbeiterei die Physik absolut nicht berührt.“. Weil Hahn Meitners missliche Situation
nachvollziehen konnte, hatte er sie als Erste über den Bariumfund informiert, damit
sie die Möglichkeit bekommt, eine physikalische Erklärung beizusteuern und es auf
diese Weise „eine Art Arbeit zu dreien“ sein konnte. Beide Aussagen stehen nicht im
22
Hahn, Vom Radiothor zur Kernspaltung, 1962, S. 144 f. Sime nennt selbst in ihrem Buch als Beleg für die
Kopenhagen-Gespräche Hahns Schrift "Die 'falschen' Trans-Urane: Zur Geschichte eines wissenschaftlichen
Irrtums" in Naturwiss. Rundsch. 15/1962, S. 43 - 47, in dem Hahn die Gründe für die versuchte Radiumanreicherung in gleicher Weise beschreibt.
8
Gegensatz. Es ist abenteuerlich, einen Gesinnungswechsel hineinzuinterpretieren.
Die Autorin braucht aber diese Konstruktion, um zu erklären, dass Hahn die Entdeckung als „Geschenk des Himmels“ genutzt hätte, um sich von Meitner zum Selbstschutz zu distanzieren, indem er sie für die Chemie allein beanspruchte. Um die
Konstruktion des „Selbstschutzes“ zu stützen, muss sie voraussetzen, dass Hahn vor
Angst das Treffen mit Meitner vor Straßmann verschwiegen hätte.
Die vorangegangene Zusammenarbeit mit Meitner und die physikalische Deutung
der Kernspaltung wurden von Hahn immer wieder in den entscheidenden wissenschaftlichen Publikationen, in der Nobelpreis-Rede, in den Autobiographien und Jubiläumsaufsätzen gewürdigt. So wurde es auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Der damalige Vizekanzler Willy Brandt vermerkte aus Anlass des Todes von Otto
Hahn am 29.07.1968 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
"Otto Hahn hat als Gelehrter Weltruhm erlangt. Wenn man ihn den Vater der Atomspaltung nannte,
23
legte er Wert darauf, die gemeinsam mit Lise Meitner vollbrachte Leistung hervorzuheben."
Und so hat es auch Meitner gesehen, wenn sie sich auch oft von Hahn noch mehr
Nachdrücklichkeit gewünscht hat. Es ist wahr, dass Hahns Ausdrucksweise oft sehr
knapp und lapidar ausgefallen ist. Etwas Wichtiges beigetragen zu haben impliziert
aber nicht in jedem Fall, dass Meitner sich selbst auch als Entdeckerin angesehen
hat. Nach zeitgenössischer Auffassung betrachtete man eher diejenigen als Entdecker, die bei den entscheidenden Arbeiten mit Hand angelegt haben und die für die
wissenschaftliche Publikation mitverantwortlich waren. Heute mag man das anders
sehen. Auch Straßmann hat sich erst in den 1970er Jahren ausdrücklich dahin gehend geäußert, dass er Meitner als Mitentdeckerin ansehe. Doch dürfen die modernen Auffassungen nicht auf die historische Situation übertragen und daraus moralische Verurteilungen gefolgert werden. Wenn Hahn und seine Zeitgenossen eine andere Auffassung von einer Entdeckung hatten, dann muss das respektiert werden.
Auch wenn Meitner durch die Emigration ein möglicher gemeinsamer Nobelpreis
entgangen ist, so geht doch aus den Äußerungen der Zeitgenossen hervor, dass allen klar war, das sie dabei gewesen wäre, wenn die politische Situation anders gewesen wäre.24 Meitner ist in den 1950er und 1960er Jahren auch in Deutschland vielfach geehrt worden, auch weil diese Tragik durchaus empfunden wurde. Ob es dann
zu einem Chemie-Nobelpreis gekommen wäre, kann man auch fragen, denn es ist
auch nicht ausgeschlossen, dass das Nobelkomitee Hahn ehren wollte für seine gesamten Verdienste für die Chemie, von denen die Kernspaltungsentdeckung nur der
Höhepunkt war.
Die Autoren behaupten ohne Beweis, dass die Transuranarbeiten weitgehend abgeschlossen
waren, als Meitner im Juli 1938 ins Exil ging. Offensichtlich wollen sie die Leser glauben lassen,
Meitners Arbeit wäre in Berlin vollendet gewesen, oder sie verstehen vielleicht nichts von Physik. (S. 79)
Mit der Aufstellung der drei isomeren Zerfallsreihen waren die Transuran-Arbeiten zu
einem vorläufigen Abschluss gekommen, sodass die ausführlichen Publikationen in
der ,Zeitschrift für Physik’25 und in ,Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft’26 von 1937 die bis dahin erarbeiteten Ergebnisse zusammenfassten. Danach
wurden die Arbeiten über die Folgeprodukte der Uranbestrahlung eingeschränkt. Im
Sommer 1938 folgte dann noch eine Mitteilung über eine neu gefundene 6023
Zitiert in: D. Hahn, Erlebnisse und Erkenntnisse, S. 260
Max von Laue in "Mitteilungen aus der Max-Planck-Gesellschaft, Jahrgang 1957 zitiert von Straßmann, Kernspaltung 1978, S. 23 "Es ist von unerhörter Tragik, daß sie ein halbes Jahr vor dem entscheidenden Dezember
1938 aus Deutschland fliehen mußte. Denn sie wäre sonst zweifellos in der einen oder anderen Form an der
Entdeckung der Uranspaltung mitbeteiligt."
25
Meitner, Hahn, Straßmann, Umwandlungsreihen des Urans, Zeitschrift für Physik 1937, S. 249
26
Hahn, Meitner, Straßmann, Über die Trans-Urane, Ber. Dt. Chem. Gesellsch. 1937, S. 1374
24
9
Stunden-Aktivität, die letzte gemeinsame Publikation. Hahn und Meitner befassten
sich daneben wieder mit eigenen Arbeiten. Aktualität bekam das Thema erst wieder
durch die Curie-Publikation im Herbst 1938.
Die Literatur zeigt jedoch, dass die Uranuntersuchungen voller ungelöster Fragen waren. [Beleg:] Quill, Lawrence L.: “The Transuranium Elements”, Chemical Reviews, 23 (1938), pp. 87 –
155.; Meitner, Lise: American Institute of Physics Oral History Project (1963a): Interview by
Thomas Kuhn, 12 May 1963, Tape 65a; Hahn-Meitner-Briefe September-October dokumentieren ihren Einsatz für ihre Kollegen und die unvollendete Arbeit, die sie in Berlin zurückgelassen
hatte. Das gilt auch für die Curie-Arbeit nach der Meitner genau dann fragte, als Hahn und
Strassmann begannen danach zu suchen, wie die Korrespondenz zeigt. (S. 79)
Wenn wir feststellten, dass Hahn-Meitners Transuran-Arbeiten weitgehend abgeschlossen waren, dann wollten wir damit nicht ausdrücken, dass die Frage der Uranreaktionen allgemein für die Wissenschaft abgeschlossen war, sondern, dass Hahn
und Meitner selbst entschlossen waren, sich auch wieder anderen Arbeiten zuzuwenden.
Die Korrespondenz zeigt, dass Meitner auf die neue Curie-Arbeit durch Hahn aufmerksam gemacht worden ist.
Die Briefe enthalten Fragen Meitners über den neuesten Stand, weniger als "Einsatz
für die Kollegen", sondern weil sie einen Vortrag halten sollte. Es sind keine Instruktionen für Hahn. Die Leserinnen und Leser sollten sich selbst ein Bild machen und
den Briefwechsel nachlesen. Die relevanten Stellen für die wissenschaftlichen Fragen sind in Fritz Kraffts Buch ediert.27
Es ist unzweifelhaft interessant und wichtig, die gesamte Korrespondenz bis zum
Lebensende von Hahn und Meitner gelesen zu haben. Jedoch für die Betrachtung
des hier fraglichen Zeitraumes 1938-39 ist die Korrespondenz ediert und die der 50er
und 60er Jahre nur insofern wichtig, als sie belegt, dass Meitner Hahn gegenüber
nicht die geringste Bitterkeit entgegen brachte, sondern im Gegenteil eine sehr herzliche Freundschaft.
Was [die Autoren] aber wirklich disqualifiziert ist ihre intellektuelle Unehrlichkeit. Ich kann ihre
Motive nicht verstehen, aber ihr Artikel hat nur einen offensichtlichen Zweck: zu zeigen, dass
Meitner nicht zur Entdeckung der Kernspaltung beigetragen hat. Um das zu tun, versuchen sie
(so wie es Hahn getan hat) sie und die Physik von den Endexperimenten, die zum Barium führten, zu trennen. (S. 79 f)
Ganz ehrlich: Unser Artikel hat den alleinigen Zweck zu zeigen, dass Hahn sich nicht
von Meitner distanziert hat. Weder aus Angst noch aus anderen Gründen. Auch hier
zeigt sich, wie nachlässig Sime Texte rezipiert. Daraus entsteht ein völliges Unverständnis.
Streit um die Zuschreibung der Entdeckung
In dem Abschnitt „Wer entdeckte die Kernspaltung?“ zeigen wir, dass es keine verbindlichen Regeln dafür gibt, was als Entdeckung gelten darf. Je nach Auffassung,
ob man nur die experimentellen Arbeiten betrachtet, oder ob man die theoretische
Deutung miteinbezieht, kann man Hahn und Strassmann allein, oder Hahn, Strassmann, Meitner und Frisch als Entdecker bezeichnen. Wir erörtern, dass beide Auffassungen ihre Berechtigung haben, wie die Wissenschaftsgeschichte zeigt. Frau
Sime aber - als hätte sie unsere Schrift nicht gelesen - schreibt, dass wir die „traditionelle enge Zuschreibung“ vertreten. Es wirft sich die Frage auf, ob sie mit den
deutschsprachigen Quellen in gleicher Weise vorgeht, wie mit unserem Artikel. Missverständnisse können dann nicht ausbleiben und werden so erklärlich.
27
Krafft, Im Schatten der Sensation, 1981, S. 234 - 310
10
Berechtigen Meitners Arbeit in Berlin und ihre fortwährende Zusammenarbeit durch
die Korrespondenz als Mitentdeckerin zu gelten?
Strassmanns Antwort ist unzweideutig bejahend. (S. 81)
Unzweideutig schreibt er dazu auch: „Meine Meinung...“. Das impliziert, dass das von
vielen seiner Zeitgenossen anders gesehen wird, was er auch akzeptiert. Die Autorin
hält es inzwischen für möglich, den Umfang von Meitners Beitrag zur Entdeckung zu
diskutieren, aber sie findet es unakzeptabel zu schließen, Meitner hätte überhaupt
keinen Beitrag geleistet. Wenn die Autorin behauptet, wir würden schließen, dass
Meitner überhaupt keinen Beitrag geleistet hätte, dann fragt man sich, ob sie entweder einige Sachverhalte konsequent aus ihrer Wahrnehmung ausblendet, oder versucht die Leserinnen und Leser zu täuschen, obwohl man in unserem Artikel im gleichen Heft nachlesen kann, was wir wirklich geschrieben haben.
In einem Versuch, Meitners Reputation noch weiter zu vermindern, bestritten eine Reihe von
deutschen Wissenschaftlern Meitner und Frischs Priorität an der theoretischen Interpretation in
einer offensichtlich nationalistischen Art, mit hässlichen Implikationen. ... Die Autoren schließen
sich dieser Gruppe an, wenn sie behaupten, dass Flügge und Droste zu den „selben“ Schlüssen gekommen waren, fast zur selben Zeit wie Meitner und Frisch. Wieder scheint es, dass die
Autoren die relevanten Publikationen weder gelesen noch verstanden haben. Flügge und Droste beschäftigten sich nur mit den Energien der Kernspaltung, während Meitner und Frisch nicht
nur die freiwerdende Energie berechnet haben, sondern sie lieferten auch eine theoretische
Basis für den Spaltprozess. Sie sprachen aus, dass alle früheren 'Transuran'-Elemente Bruchstücke der Spaltung sind, erklärten ihr verwirrendes Kernverhalten, sagten die Spaltung von
Thorium voraus und deuteten den beobachteten Resonanzeinfang der langsamen Neutronen
durch Uran als eine potentielle Quelle für das Element 93. (S. 82 f)
Natürlich stand es Flügge und Droste nicht zu, etwas über die vermeintlichen Transurane auszusagen, wenn sie sich auch aufgrund ihrer Berechnungen ihren Teil dazu
gedacht haben mögen. Ihre Zweifel deuteten sie an, indem sie in ihrer Publikation die
"Transurane" in Anführungszeichen setzten. Wenn aber Sime bestreitet, dass diese
Schrift eine theoretische Basis für den Spaltprozess wäre, dann hat sie entweder nur
den Titel gelesen oder sie nicht richtig verstanden. Meitner und Frisch nennen den
gleichen Energiebetrag wie Flügge und Droste, der frei werden muss, um die Potentialschwelle zu überwinden, ohne aber nachzuweisen, dass er tatsächlich frei werden
kann. Als Erklärung verwenden sie das anschauliche Tröpfchenmodell des Kerns.
Flügge und Droste wählen in ihrer Publikation den rechnerischen Weg. Sie berechnen für alle infrage kommenden Spaltpaare die freiwerdende Energie und zeigen,
dass sie durchaus in der Größenordnung der Potentialschwelle liegen. Einige Kombinationen, wie z. B. Barium und Krypton, zeigen dabei ein Maximum an freiwerdender Energie, sodass diese Spaltprodukte begünstigt gebildet werden.28 Diese Arbeit
bietet die theoretische Grundlage für die gezielte Suche nach Spaltprodukten, ebenso wie die Überlegungen von Meitner und Frisch. Von daher ist die Feststellung berechtigt, dass Flügge und Droste fast zeitgleich zu nahezu gleichen Ergebnissen wie
Meitner und Frisch kamen. Der Versuch, uns wegen dieser nüchternen Aussage in
die nationalistische Ecke stellen zu wollen, ist unsachlich (oder - um einmal Simes
Sprachgebrauch zu verwenden - "unverschämt").
Gleichgültig, welche Gründe für das Nobelkomitee letztlich ausschlaggebend waren,
Hahn kann für die Entscheidung nicht verantwortlich gemacht werden, auch nicht
indirekt. Es ist merkwürdig, dass dies noch mal betont werden muss. Dass Meitner
zur Zeit der Entdeckung in Berlin nicht mitarbeiten konnte, ist nicht Hahns Verschulden. Und, dass Hahn und Meitner korrespondiert haben, konnte das Nobelkomitee
nicht wissen, selbst wenn sie das hätten berücksichtigen wollen. Wer sich die Briefe
allerdings in ihrer gesamten Länge anschaut, der wird zu dem Urteil kommen, dass
28
Flügge, Droste; Energetische Betrachtungen, S. 274 - 280
11
die Korrespondenz privater Natur war. Die wissenschaftlichen Fragen machen bis
Dezember 1938 nur einen kleinen Teil aus, der erst nach der Entdeckung einen wirklich großen Anteil einnimmt. Es ist zweifelhaft, ob Sime sich mit ihrer Ansicht bei dem
damals zuständigen Nobelkomitee durchgesetzt hätte.
Streit in Stockholm
Die Autorin weist darauf hin, dass Meitner Fragen erhob zu Hahns Verhalten und im
Grunde zu seinem Charakter (gemeint sind die Briefe von 1945 und 1946), weil Hahn
selbst unerbittlich verleugnet hätte, dass Meitner und die Physik zu der Entdeckung
beigetragen haben. Sie zitiert immer die Meitner-Briefe von 1946 und verschweigt die
zahlreichen späteren. In diesen Briefen geht es nicht nur um eine eventuelle Nichterwähnung Meitners in Stockholm (wegen einer Leugnung der Physik hat sich Meitner nie beklagt), sondern sie wirft ihm und den Kollegen vor allem das passive Verhalten unter dem Nazi-Regime vor. Hahn fand das ungerechtfertigt und fühlte sich
anscheinend trotz seiner Geduld irgendwann etwas genervt. Meitner wiederum regte
es immer mehr auf, dass ihre Freunde in Deutschland die gut gemeinten Ermahnungen zur Besinnung nicht hören wollten. Das führte offensichtlich auch zu Spannungen während des Aufenthalts der Hahns in Stockholm anlässlich der Preisverleihung.
Hinzu kam, dass Hahn in der Öffentlichkeit als Star wahrgenommen wurde und sie
selbst sich in einer Bildunterschrift als seine Schülerin bezeichnet fand. In ihrer unbefriedigenden Situation in Stockholm, auch die Hoffnung auf den Physik-Preis wurde
wieder einmal zerschlagen, musste sie das als besonders verletzend empfinden. Ihre
Briefe deuten auf eine Phase der Niedergeschlagenheit ("Ich fühle mich wie eine
aufgezogene Puppe..."29). In dieser emotionalen Situation war Meitner besonders
empfindlich und in der Sicht eingeschränkt. So sind die Briefe an Freunde entstanden, wo sie klagt, dass Hahn sie überhaupt nicht erwähnt hätte. Aber er hat die Zusammenarbeit mit Meitner detailliert in der Nobel-Rede vor der Schwedischen Akademie der Wissenschaften beschrieben30 und entgegen Meitners Vorwurf hat er die
Zusammenarbeit auch in einer Pressekonferenz erwähnt. ("Wertvolle Zusammenarbeit mit Meitner" ... in Morgon Tidningen 6.12.1946)31. Was die Journalisten letztlich in die Zeitung bringen, ist nicht in Hahns Verantwortung. Folgender unveröffentlichte Hahn-Brief vom 16.06.1948, den Sime in ihrem Buch in einem anderen Zusammenhang zitiert32, wird von Jost Lemmerich in einem Vortrag sehr viel ausführlicher zitiert. Er enthält Hahns Antwort auf die Anschuldigungen Meitners, er hätte sie
in Stockholm nie erwähnt. Diesen Absatz hat Sime den Leserinnen und Lesern vorenthalten:
"Als Du mir hier in Göttingen sagtest, ich hätte bei meinen Interviews in Stockholm nichts
über unsere langjährige erfolgreiche Zusammenarbeit gesagt, habe ich mir nachher die Mühe
genommen und habe in ein paar aus Schweden mitgebrachten Zeitungen nachgesehen und
Dir kurz darüber berichtet. Du willst es aber nicht glauben und sprichst von einer Wiedergabe meines Nobel-Vortrages. Tatsache ist, daß der betreffende Passus z.B. in der "Morgon
Tidningen" vom 6. Dez. 46 steht. Da Dr. Fraser [33] nicht gewollt hatte, daß ich ohne seine
Anwesenheit mit allen möglichen Presseleuten Interviews hätte, hatte er eine einmalige Pres29
Sime, A Life 1996, S. 230
Hahn, Mein Leben, S. 247 - 264, Hier ist dauernd die Rede von Meitner und er spricht immer von "wir".
31
Morgon Tidningen, 06.12.1946
32
Sime, A Life 1996, p. 356 , Sime 2001 Ein Leben S. 461
33
Dr. Fraser war als wissenschaftlicher Betreuer der britischen Zivilverwaltung für die Wissenschaftler zuständig, um zu überwachen, dass sie nichts Verbotenes erforschen. So durfte Hahn nur mit britischer Reisebegleitung
nach Stockholm fahren.
30
12
sekonferenz mit Aussprachen in seiner Gegenwart veranstaltet. Auf diese Konferenz resp.
meinen dort gehaltenen kleinen Vortrag bezieht sich die Notiz in der Zeitung. Von einem Einzelinterview in der betreffenden Zeitung, zumal ganz am Anfang meines Aufenthalts, ist mir
nichts bekannt."34
Dieses Beispiel zeigt, wie Sime durch selektives Zitieren die Quellen nach ihren Vorstellungen auswertet. Damit sei nicht gesagt, dass jeder Brief in voller Länge zitiert
werden müsste. Es ist in der Verantwortung der Historikerinnen und Historiker, die
Auslassungen so vorzunehmen, dass der Sinn der Aussage erhalten bleibt. Wenn es
um die Darstellung der Auseinandersetzungen Hahns und Meitners über die Erwähnungen Meitners in Stockholm geht, so darf der oben genannte Absatz aus Hahns
Brief keinesfalls ausgelassen werden. Sime kennt diesen Brief, und wenn sie Hahns
Erwiderung zu diesem Thema weglässt, dann muss ihre Darstellung nicht nur als
fiktiv, sondern auch als manipulativ bezeichnet werden. Dies ist eine Täuschung der
Leserinnen und Leser, die ihr vertrauen müssen, weil sie unveröffentlichte Quellen
nicht überprüfen können. Den Hinweis, dass die Nachlässe in Berlin und Cambridge
mittlerweile für jedermann zugänglich sind, muss man als gehässig empfinden. Sime
hofft wohl darauf, dass nicht jede Leserin und nicht jeder Leser mit Forschungsgeldern für Reisen unterstützt wird, um ihre Darstellungen zu überprüfen.
Schluss
Frau Sime kann sich unsere "fast irrationale Feindlichkeit gegenüber ihrer Arbeit" nur
so erklären, dass wir eine kritische Untersuchung Hahns als Sakrileg ansehen würden. Einer differenzierten Darstellung einer Persönlichkeit kann niemand feindselig
gegenüberstehen, der sich der historischen Forschung verpflichtet fühlt. 'Kritisch'
heißt aber immer, an der historischen Wahrheit orientiert. Die Wahrheit kann sich als
relativ unspektakulär, wenn nicht gar banal herausstellen. Sie kann natürlich auch
sensationell übel riechend sein. Wenn durch neue Untersuchungen neue Sachverhalte eine Neubewertung einer 'Ikone' oder gar eine Umschreibung der Geschichte
erfordern, dann ist die Aufmerksamkeit der Medien gewiss, was für den kommerziellen Erfolg eines Buches entscheidend ist. Dies konnte man beobachten, als Simes
Buch auf den Markt kam. Ein erstes Raunen ging 1996 durch die deutsche Presse,
als die Originalausgabe herauskam ("Klaglos im Keller"35, "Verjagt und verbittert"36)
und ein zweites Mal 2001 bei Erscheinen der deutschen Ausgabe ("Verdrängte
Wahrheit. Neue Fakten über Forscherdenkmal Otto Hahn"37), um einige Beispiele zu
nennen.38
34
Hahn an Meitner 16.06.1948, Meitner Nachlass CAC Cambridge, zitiert von Jost Lemmerich, Vortrag vom
18.03.1999 auf einer Physikertagung in Heidelberg. Wir danken Herrn Lemmerich für die Zusendung des Manuskipts.
35
Der Spiegel: Klaglos im Keller, Nr. 21/96, S. 208
36
Metzler, Gabriele: Verjagt und verbittert, Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.11.1996, S. 15
37
Jens, Tilman; Aspekte-Sendung vom 26.10.2001
38
Bei der Überarbeitung dieses Manuskripts sind seither über zehn Jahre vergangen. Mittlerweile ist Simes
Meitner-Biographie wegen der umfassenden Darstellung, die viele unveröffentlichte Quellen erstmals ediert, zu
Recht zu einem Standardwerk geworden. Um so enttäuschter muss man als Leserin oder Leser sein, wenn sich
beim Überprüfen die Unverlässlichkeit dieser an sich so fleißigen Arbeit herausstellt. Die Ursache für das Misslingen einer verlässlichen historischen Darstellung sehe ich in der Voreingenommenheit der Autorin. Schon von
den ersten Seiten an wird man misstrauisch, wenn Simes Aversion gegen Otto Hahn deutlich wird. Durchweg
werden die Quellen nach dieser Schablone ausgewertet, sodass die Schlussfolgerungen geradezu grotesk anmuten. Welche Blüten Simes historische Forschung inzwischen getrieben haben, kann man im Wikipedia-Artikel
über Lise Meitner nachlesen, wo man erfährt, dass darüber diskutiert wird, ob Hahn Lise Meitner bewusst ausgebootet hat, um den Nobelpreis nicht mit ihr teilen zu müssen. Der historische Hahn hätte eine differenzierte
Darstellung verdient, und Lise Meitner eine Biographie, die man in jeder Hinsicht ernst nehmen könnte.
13
Wie wir zeigen konnten, ist Simes Behauptung, Hahn hätte sich von ihr distanziert,
um sich und seinen Posten im Institut zu schützen, nicht haltbar. Die Quelle, die als
Beleg angeführt wird, hat Sime in ihrer Bedeutung missverstanden. So werden einige
Begebenheiten (Kopenhagen) überbewertet, um die eigene Konstruktion zu stützen.
An anderer Stelle werden wichtige Briefe nur teilweise zitiert. Das ist fatal, wenn diese Quellen nicht veröffentlicht sind, und die Leser keine Möglichkeit haben, sich
selbst einen Eindruck zu verschaffen.
Einen interessanten Eindruck von Simes Arbeitsweise erhält man in dieser Schrift,
wenn man die geballten Anschuldigungen gegen uns liest. Die eigenen Schwächen
an anderen zu bekämpfen ist eine bekannte Abwehrreaktion, die Psychologen als
Projektion bezeichnen. Befangen in ihrer eigenen Wahrnehmung bildet sie ihr eigenes Männerbild auf Hahn ab und so kommt es zu eklatanten Missdeutungen seiner
Äußerungen. Es ist beeindruckend, wie Ruth Lewin Simes überempfindliche Reaktion auf unsere Anmerkungen zu einer unfreiwilligen Bestätigung unserer Kritik wurde.
In dieser Schrift kann genau beobachtet werden, wie Sime Texte rezipiert. Mehrere
Beispiele hierfür wurden aufgeführt:
1. Sime behauptet, Hahn hätte die falschen chemischen Annahmen nicht erwähnt.
Dabei erwähnte er sie in mehreren Schriften, die sie selbst als Quellen angibt.
2. Sime behauptet, Hahn hätte Meitner in Stockholm nicht erwähnt. Den unveröffentlichten Brief, indem Hahn Meitner nachweist, dass er sie erwähnt hat, zitiert Sime in
einem anderen Zusammenhang ohne den entsprechenden Absatz.
3. Sime zitiert Günter Herrmann als für sie respektablen Historiker als Beleg für die
'Botschaft', die Hahn bei dem "geheimen" Treffen in Kopenhagen von Meitner mitbekam. Sie ignoriert, dass sie bereits vier Jahre zuvor von Günter Herrmann durch seinen Artikel in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' darauf hingewiesen wurde, dass
es keine Überlieferung über den Inhalt der Gespräche gibt, so wie auch seine weiteren Einwände nicht beachtet wurden.
4. Wir kritisieren, dass Sime mit ihren Schriften versucht, eine Legende über einen
feigen und chauvinistischen Hahn in der Geschichte zu platzieren. Sime schreibt:
Zunächst muss ich sagen, dass ich weder von einer 'Lise Meitner-Legende' weiß, noch habe ich
versucht, eine zu kreieren. (S. 77)
5. Wir erörtern zu Entdeckerfrage, dass man je nach Sichtweise Hahn und Straßmann allein, oder Hahn, Straßmann, Meitner und Frisch als Entdecker bezeichnen
kann. Sime schreibt:
... die Autoren haften an der traditionellen engen Zuschreibung ... (S. 78)
Es ist möglich den Umfang von Meitners Beitrag zur Entdeckung zu debattieren, aber ich finde
es ist unakzeptabel zu behaupten, dass Meitner überhaupt keinen Beitrag geleistet hätte.
(S. 82)
6. Wir zeigen anhand zahlreicher Belege, dass Hahn sich nicht von Meitner distanziert hat. Sime schreibt:
Ich kann ihre Motive nicht verstehen, aber ihr Artikel hat nur einen offensichtlichen Zweck: zu
zeigen, dass Meitner nicht zur Entdeckung der Kernspaltung beigetragen hat. (S. 79 f)
Man könnte noch zahlreiche weitere Beispiele aufführen. Wenn so dramatisch aneinander vorbei geredet wird und Quellen so nachlässig gelesen und zitiert werden, ist
eine sachliche Debatte natürlich nicht möglich. Erhebt man Einwände gegen Simes
Thesen, so kann man damit rechnen, als "Hahn-Fan" abgestempelt zu werden, wodurch die Autorin sich der Notwendigkeit einer Auseinandersetzung entzieht.
Wir erkennen an, dass Sime umfangreiche Recherchen betrieben hat. Allerdings
werden hier neue Interpretationen bekannter Quellen eingebettet zwischen bisher
unbekannte Quellen aus anderen Bereichen, etwa die gut beschriebene Flucht Meitners, und als neue „Erkenntnisse“ über den schlechten Charakter Hahns präsentiert.
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Freilich hakt das neue Deutungskonzept an allen Ecken, sodass die Autorin Stützen
konstruieren muss, etwa das „Geheimnis“ von Kopenhagen, oder „vehemente Zweifel“, oder „Hahns Distanzierung von Meitner als Selbstschutz“, die wir als Fiktion bezeichnen, weil diese Interpretationen sich aus den Quellen nicht ohne Weiteres ableiten lassen, von Sime aber als „facts“ präsentiert wird. Obwohl sich die Autorin der
Komplexität der Vorgänge bewusst ist, neigt sie zu monokausalen Erklärungen, die
den Kern der Situation aber nicht treffen können. Der interessante und vielversprechende Versuch, die wissenschaftlichen Ereignisse in den Lebenskontext der Beteiligten zu stellen, ist leider zu oft ins romanhafte abgeglitten, ohne dies klar als Rückschluss zu kennzeichnen.
Die Deutung von Hahns Charakter als feigen Chauvinisten basiert auf zwei Briefen,
die Meitner im Dezember 1946 und Januar 1947 an ihre Freunde Aminoff und Franck
geschrieben hat. Auch war es nicht Hahn, sondern Heisenberg, der Meitner in den
50er Jahren als „Mitarbeiterin“ bezeichnet hat. Aus ihrem Brief an Hahn geht aber
nicht hervor, dass sie ihn dafür verantwortlich macht. Hahn selbst hat sich nie so
ausgedrückt. Wäre es so, warum hat Meitner sich nicht konsequenterweise von Hahn
und seiner Familie zurückgezogen? Die Briefe aus den 1950er und 1960er Jahren
sprechen aber eine sehr warme und freundschaftliche Sprache. Sime, die den gesamten Briefwechsel gelesen hat, bleibt ihren Lesern eine Erklärung dafür schuldig,
bzw. wurden diese Briefe von ihr erst gar nicht ediert, weil sie nicht in ihr Konzept
passen. Ihre Interpretation Hahns steht so sehr im Kontrast zu den Quellen und allen
Aussagen der Zeitgenossen, einschließlich Meitners selbst, sodass wir ihr entgegentreten müssen. Auch wir befürworten eine differenzierte Betrachtung der wissenschaftlichen „Ikonen“. Allerdings ist die Versuchung groß, moderne Maßstäbe und
Wertvorstellungen an die historische Situation anzulegen. Kommt dann noch ein hohes Maß an Voreingenommenheit hinzu, dann führt das zu verzerrten Einschätzungen und Rückschlüssen, wie das bei der Meitner-Biographie von Ruth Lewin Sime
geschehen ist.
Literatur
Der Spiegel: Klaglos im Keller, Nr. 21/96, S. 208
Flügge, Siegfried; v. Droste, Gottfried; Energetische Betrachtungen zu der Entstehung
von Barium bei der Neutronenbestrahlung von Uran, Zeitschrift für Physikalische
Chemie 42 (1939), S. 274 - 280
Flügge, Siegfried; Zur Entdeckung der Kernspaltung vor zehn Jahren, Zeitschrift für
Naturforschung 4a (1949), S. 82 - 84
Hahn, Dietrich (Hrsg.): Otto Hahn, Erlebnisse und Erkenntnisse, Düsseldorf 1975
Hahn, Otto; Straßmann, Fritz: Nachweis der Entstehung aktiver Bariumisotope aus
Uran und Thorium durch Neutronenbestrahlung: Nachweis weiterer aktiver Bruchstücke bei der Uranspaltung, Naturwissenschaften 27 (1939), S. 89 ff
Hahn, Otto; Vom Radiothor zur Uranspaltung, Braunschweig 1962
15
Herrmann, Günter: Vor fünf Jahrzehnten: Von den "Transuranen" zur Kernspaltung,
Angewandte Chemie 102 (1996)
Herrmann, Günter: Lise Meitner ohne Verbitterung gegen Hahn, Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.12.1996
Jens, Tilman; Aspekte-Sendung vom 26.10.2001 (ZDF)
Krafft, Fritz: Im Schatten der Sensation. Leben und Wirken von Fritz Straßmann,
Weinheim, 1981
Metzler, Gabriele: Verjagt und verbittert, Frankfurter Allgemeine Zeitung 04.11.1996,
S. 15
Morgon-Tidningen: “Hahn lurade nazisterna, publicerade upptäckter”, gezeichnet
“Jackson”, Stockholm, 6.12.1946.
Sime, Ruth Lewin: Lise Meitner - A Life in Physics, Berkeley 1996
Sime, Ruth Lewin: Lise Meitner - Ein Leben für die Physik, Frankfurt.a.M 2001
Straßmann, Fritz: Kernspaltung - Berlin, Dezember 1938, Mainz 1978
16

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