Maria-Elisabeth Lange-Ernst Heilfasten = gesund

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Maria-Elisabeth Lange-Ernst Heilfasten = gesund
Maria-Elisabeth Lange-Ernst
Heilfasten = gesund & schlank
Maria-Elisabeth Lange-Ernst
Heilfasten = gesund & schlank
Wie Sie richtig fasten
Entschlacken und Abnehmen
für Gesundheit und Vitalität
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-86910-317-4
Die Autorin: Maria-Elisabeth Lange-Ernst ist Vorsitzende des Verbandes Deutscher
Medizinjournalisten und des Kollegiums der Medizinjournalisten sowie Chef­
redakteurin vom „Medizinjournalist“. Sie veröffentlichte eine große Zahl von
Büchern und Artikeln zu ernährungswissenschaftlichen, medizinischen und ge­­
sundheitspolitischen Fragen unserer Zeit. Überdies hat sie den Verein „Lust auf
Gesundheit e.V.“ ins Leben gerufen und engagiert sich für eine bessere Aufklärung
und Prävention im gesamten Bereich Gesundheit.
3., aktualisierte Auflage
© 2011 humboldt
Eine Marke der Schlüterschen Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,
Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover
www.schluetersche.de
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Lektorat:
Dagmar Fernholz, Köln
Covergestaltung:DSP Zeitgeist GmbH, Ettlingen
Innengestaltung:akuSatz Andrea Kunkel, Stuttgart
Titelfoto:
Chris Ryan/Matton
Satz:
PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig
Druck:
Grafisches Centrum Cuno GmbH & Co. KG, Calbe
Hergestellt in Deutschland.
Gedruckt auf Papier aus nachhaltiger Forstwirtschaft.
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Inhalt
Essen und Übergewicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Wie entsteht Übergewicht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essen aus Hunger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Essen aus Appetit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergewicht und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übergewicht, Fettsucht und Fettleibigkeit . . . . . . . . Wie kann man Übergewicht loswerden? . . . . . . . . . . . Diät – reicht das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abführmittel gegen Verstopfung und Übergewicht? .
Appetitzügler – eine „Essbremse“? . . . . . . . . . . . . . 10
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Gesund und schlank durch Heilfasten . . . . . . . 36
Die Geschichte des Fastens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was passiert beim Heilfasten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Umstellungs- und Entrümpelungsprozess . . . . . Das Fasten kann viele Erkrankungen beeinflussen . . . . Wann ist das Fasten ungeeignet? . . . . . . . . . . . . . . . 38
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Die Kurzfastenkur zu Hause . . . . . . . . . . . . . . . . Fasten mit dem Partner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fasten in einer Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie belastbar sind Sie während des Fastens? . . . . . . . . Der Schlaf während der Fastenwoche . . . . . . . . . . . . . Die Kleidung während des Fastens . . . . . . . . . . . . . . . Wie reagiert der Körper während der Fastenwoche? . . Wie reagiert die Haut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61
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Inhalt
Wie reagiert die Lunge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Wie reagieren der Mund- und Rachenraum? . . . . . . 76
Wie reagieren Nieren- und Harnwege? . . . . . . . . . . 78
Wie reagiert die Scheide? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Wie reagiert die Psyche? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Körperliche Bewegung in der Fastenwoche . . . . . . . . . 80
Das „Rödern“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Fasten im Urlaub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
Einkaufstipps für die Kurzfastenkur . . . . . . . . . . . . . . . 90
Die Fastenwoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Der Vorfastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Der erste Fastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Der zweite Fastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Der dritte Fastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Der vierte Fastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Der fünfte Fastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
Das Fastenbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100
Der erste Aufbautag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Der zweite Aufbautag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Rezepte für die Kurzfastenkur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Für den Entlastungstag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Für die Fastentage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
Was hat die Kurzfastenkur gebracht? . . . . . . . . . . . . . . 114
Die Ernährung nach der Kurzfastenwoche . . . . . . . . . . 117
Die Heilfastenkur unter ärztlicher Aufsicht . . 122
Was erwartet Sie in einer Fastenklinik? . . . . . . . . . . . . 128
Der Vorfastentag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Inhalt
Der Abführtag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Die Vollfastentage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Der Heilfastenalltag in der Klinik . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Die Dauer der Fastenkur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Die Fastenkrisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
Das Fastenbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Die Fastenkur: Beantragung und Kostenübernahme . . 155
Was hat die Heilfastenkur gebracht? . . . . . . . . . . . . . . 156
Die Zeit nach der Fastenkur . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Gemeinsam geht es leichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Leckere Rezepte für die dauerhaft schlanke Linie . . . . . 158
Frühstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
Vorspeisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Salate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Suppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Fleischgerichte mit wenig Kalorien . . . . . . . . . . . . . 167
Fisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170
Wild und Geflügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Gemüse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
Süßspeisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Ideal- und Übergewichtstabelle für Männer . . . . . . . . 177
Ideal- und Übergewichtstabelle für Frauen . . . . . . . . . 179
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Essen und Übergewicht
Der menschliche Körper ist heute noch genauso „konstruiert“ wie vor grauer Vorzeit, denn das Konzept „Mensch“
ist erstaunlich gut und für die unterschiedlichsten Le­­
bensumstände und die Bewältigung vielfältiger Situationen gemacht. Vor 100000 Jahren und mehr war allerdings der Mensch als Sammler und Jäger einem harten
Existenzkampf ausgesetzt, der seine körperlichen Kräfte
vollauf be­­anspruchte. Es galt für ihn, die tägliche Nahrung
zu be­schaffen oder den un­­terschiedlichsten Gefahren ent­
gegenzutreten und blitzschnell die Flucht zu ergreifen.
Heute haben sich die Gefahren und Belastungen für die
Menschen in ihrem Alltag grundlegend verlagert. Eine
technisierte Umwelt hat uns Menschen in den hoch zivilisierten Ländern eine veränderte Situation beschert. Das
menschliche Herz, der Magen, die
Verringerte körper- Leber, der Darm, die Nieren und die
liche Arbeit, bequeDrüsen arbeiten aber wie eh und je
mere Lebensweise
und unterliegen den fein abgestimmund Überangebot an
ten Gesetzen des Zusammenspiels
Nahrungsmitteln kann
Übergewicht fördern. oder des Kommandos von Nerven
und Hormonen. Der Mensch von
heute braucht weniger seine Muskelkraft, um sich zu er­­
nähren. Die meisten von uns sind gezwungen, am Schreibtisch eines Büros, auf dem Fahrersitz des Autos, am Arbeits-
Essen und Übergewicht
platz – mithilfe von Maschinen – ihre Erfolgserlebnisse,
Ärgernisse und Stresssituationen zu bewältigen. Außerdem
haben wir heute ein überreichliches Nahrungsangebot, das
wir uns jederzeit leicht beschaffen können. Es ist darum
verständlich, dass durch unsere veränderte Lebenssituation, dass heißt durch verringerte körperliche Arbeit, die
bequemere Lebensweise und das Überangebot an Nahrungsmitteln, Übergewicht entstehen kann.
Vor Übergewicht wird gewarnt, alle haben wir davon ge­­
hört und gelesen – aber die alarmierenden Zahlen (39 Millionen Menschen in Deutschland!) werden gelassen hingenommen, als wäre das Übergewicht
eine unabänderliche Hypothek unse- Jeder zweite Bundesbürger schleppt
rer Lebenssituation, die wir zu tragen
mehr oder weniger
haben. Jedes zweite bis dritte Schulüberflüssige Pfunde
kind wiegt bereits zu viel. Durch alt- mit sich herum.
hergebrachte Ernährungsgewohnheiten wird ein Pfund auf das andere gepackt. „Kind, du musst
doch etwas essen, damit du groß und stark wirst“, heißt es
seit Generationen, und das Kind isst, um der Mutter einen
Gefallen zu tun, obwohl es häufig keinen Hunger hat und
gar nicht so schnell „groß“ und „stark“ werden möchte.
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Essen und Übergewicht
Wie entsteht Übergewicht?
Der Hunger ist ein elementares Bedürfnis, ein Alarmzeichen unseres Körpers, ihm Brennstoffe zuzuführen.
Er signalisiert: Neue Energie ist nötig! Das Hungergefühl
spürt der Mensch durch Leerbewegungen des Magens – er
knurrt! Es wurde lange Zeit angenommen, dass der Magen
für das quälende Hungergefühl verantwortlich zu machen
sei. Das trifft nur bedingt zu – denn wenn wir, ohne den
Magen zu füllen, eine Nahrungszufuhr unmittelbar in die
Blutgefäße bekommen (beispielsweise in Form eines Tropfes), hört der Magen auf, Hunger zu melden – das „Knurren“ lässt für eine Weile nach. Das Hungergefühl wird also
aus den Geweben des menschlichen Körpers signalisiert.
Es geht von einem bestimmten Teil des Zwischenhirns aus,
das durch den Blutstrom von mangelhaft ernährten Körperteilen in Erregung versetzt wird. Dieser Vorgang verläuft so lange verlässlich, bis der Mensch in ihn eingreift
und ganz natürliche Abläufe stört.
Im Zwischenhirn befindet sich – entwicklungsgeschichtlich gesehen – die älteste menschliche „Schaltzentrale“, die
alle Sinneseindrücke, wie Lust- und Unlustgefühle, aufnimmt und an die entsprechenden Regionen des Großhirns
weiterleitet. Hier befindet sich die Schalt- und Steuerungszentrale für das vegetative Nervensystem; es handelt sich
um das von unserem Willen nicht beeinflussbare, unab-
Wie entsteht Übergewicht?
hängige Nervensystem, mit dessen Hilfe sowohl der Hunger als auch das Sättigungsgefühl signalisiert werden.
Essen aus Hunger
Das Steuerungssystem im Zwischenhirn – es wurde ur­­
sprünglich für alle Situationen des Menschen konstruiert,
der weitgehend vom Jagdglück, seiner körperlichen Kraft
und Ausdauer sowie vom Wetter abhängig war und häufig
länger andauernde Mangelzeiten überstehen musste – stoppt
nicht. Der Mensch sollte Vorräte in Zeiten des Überangebotes von Nahrungsmitteln für Notzeiten in seinem Körper
horten, um überleben zu können, um aus sich selbst zu zehren. Bei einem Hungerzustand (Inanition) – also bei völligem Nahrungsentzug – gehen alle wesentlichen Körperfunktionen weiter. Der Stoffwechsel- und Energieverbrauch
des Menschen ist nur um acht bis höchstens 15 Prozent
niedriger als bei mittlerer Ernährung. Der Körper bestreitet
dann notgedrungen seinen Energiehaushalt aus den eigenen
Reserven – er zehrt von der eigenen
Substanz – und es kommt zu einer Hat der Mensch
neun Kilogramm Fett
Gewichtsabnahme. Zuerst werden die
im Körper „depoFettdepots aufgezehrt, später – bei
niert“, kann er etwa
länger andauerndem Hungern – die einen Monat ohne
Kohlehydrate aus der Leber, dem Nahrung überleben.
Muskelgewebe, aus den Knochen, der
Haut, dem Blut und dem Darm. Der Zeitraum, einen völligen Nahrungsentzug zu überstehen, ist also abhängig von
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Essen und Übergewicht
den Fettdepots des Körpers und dem Bedarf an Energie. Als
Erfahrungswert werden 30 Tage genannt, die der Mensch
durchschnittlich ohne feste Nahrung überstehen kann.
Neun Kilogramm körpereigenes Fett enthalten 80000 Kilokalorien, den Energiebedarf von 30 Tagen. Weil der Mensch
in der Lage ist, sich in Zeiten des Überflusses an Nahrungsmitteln eine körpereigene „Speisekammer“ anzulegen,
haben Kriege, Missernten und Seuchen – die uralten Plagen
des Menschengeschlechts – uns nicht auszurotten vermocht.
Essen aus Appetit
Wenn sich der Mensch von heute auf das natürliche Regulativ besinnen könnte, das in ihm schlummert, käme es
weit weniger zu Übergewicht, zum Missverhältnis zwischen dem tatsächlichen Nahrungsbedarf und der Nahrungszufuhr. Die Appetitlosigkeit (Anorexie) stoppt in den
meisten Fällen bei fieberhaften Erkrankungen die Nahrungsaufnahme. Diese zweckmäßige Reaktion des Körpers
zeigt, dass die ganze Kraft des Organismus nötig ist, um die
Infektion zu bewältigen, dass er sich nicht zusätzlich mit
der Verarbeitung von Nahrungsmitteln beschäftigen kann.
Der fiebernde Körper reagiert mit einer natürlichen Ratio­
nalisierung. Er greift auf Reserven zurück – er hat etwas
„zum Zusetzen“. Der Fiebernde braucht in der Regel nur
kalorienarme Getränke wie Obstsaft, Tee oder Wasser. Die
Schaltzentrale signalisiert ausschließlich: Durst! Nun ist es
Wie entsteht Übergewicht?
aber üblich, dem Kranken feste Nahrung anzubieten, ihm
schmeichelnd und bittend Häppchen für Häppchen aufzudrängen. Ebenso unsinnig ist es, auf dieselbe Weise mit
einem appetitlosen Kind zu verfahren und mit einem „Bissen für Papa und einem für Mama“ und dem Märchen vom
Suppenkasper das leidige „Essenmüssen“ herauszufordern.
Wenn ein Kind wirklich nicht essen mag, sollte es in Ruhe
gelassen werden – der Appetit stellt sich in den meisten
Fällen ganz natürlich wieder ein. Ebenso geht es dem
Erwachsenen, der am Abend zuvor ein reichliches Essen zu
sich genommen hat und am Morgen darauf noch keinen
Hunger verspürt. Warum soll er frühstücken, nur weil man
zu bestimmten Zeiten gewohnheitsgemäß essen muss? Der
Hunger meldet sich vielleicht erst um
die Mittagszeit, und das ist eine ganz Sättigung und
Höchstleistung im
natürliche Reaktion auf die reichliche
körperlichen oder
Abendmahlzeit. Wenn der verliebte
geistigen Bereich
Sohn vor sich hinträumt und absolut gehen nicht unbedingt
nicht essen mag, ist das keine Tragö- Hand in Hand.
die. Bei ihm geht die „innere Uhr“
eben anders, der täglich gewohnte Ablauf von Mahlzeiten
ist ihm völlig egal, gemessen an dem, was ihn so intensiv
beschäftigt. Auch Glück kann für eine Weile satt machen.
Überanstrengungen können vielfach den Magen verschließen. Nach sportlichem Training ist die erste Reaktion der
Durst – nicht der Hunger; er stellt sich oftmals erst viel spä-
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Essen und Übergewicht
ter ein, und es wäre falsch, nicht auf die „innere Uhr“ zu
hören. Margot Fonteyn, eine begnadete Ballerina des RoyalBalletts, die sich ihre Ausdruckskraft und Elastizität er­­
staunlich lange erhielt, antwortete auf die Frage, wie es
möglich sei, eine gleichbleibende Leistung zu erbringen,
schlicht: „Ich bin am besten, wenn ich hungrig bin!“
Die Steuerungszentrale im Zwischenhirn signalisiert aber
nicht nur Hunger, wenn ein Energiebedarf vom Blutstrom
angemeldet wird, sondern auch Lust – ein Gefühl, das mit
der Nahrungsaufnahme eng verknüpft ist.
„Ich habe Appetit auf dieses und jenes“ – wer kennt diesen
Zustand nicht, wenn die verlockende Auslage einer Konditorei, die verführerische Anzeige eines Lebens- oder Ge­­
nussmittelerzeugers Erinnerungen oder Neugierde erwecken! Nicht der Hunger macht uns
Essen aus Lust –
„schwach“: Lust ist geweckt – das
das ist Appetit!
Auge signalisiert Angenehmes – die
Verführung ist gelungen: Wir schlemmen aus Lust! Mit
dem Appetit (lat. Begierde) ist das lebhafte Fließen von Verdauungssäften verbunden, die für die Verarbeitung der
Nahrung notwendig sind.
Warum aber essen wir zu viel, warum wehrt sich das ve­­­
getative, von unserem Willen unabhängige Nervensystem
nicht gegen sinnlose Überernährung, die unser Körper nicht
Wie entsteht Übergewicht?
braucht? Könnte die „Schaltzentrale“ nicht mit Ablehnung
melden: „Hör auf, es ist längst genug!“
Der russische Psychologe und Nobelpreisträger der Medizin
Iwan Petrowitsch Pawlow (1849–1936) bewies mit seinem
berühmten Hundeexperiment die sogenannten bedingten
Reflexe. Er fütterte in seinem Laborversuch Hunde überreichlich. Beim Anblick der gefüllten Fressnäpfe erhöhte
sich die Speichelproduktion der Versuchstiere beträchtlich. Der Wissenschaftler tat aber noch ein Übriges: Immer
wenn den Hunden die vollen Fressnäpfe vorgesetzt wurden, ließ er eine Klingel ertönen. Diese „Begleitmusik“
machte sein Experiment so interessant, denn nach kurzer
Zeit verstärkte sich beim Ertönen der Klingel die Speichelproduktion der Hunde auch dann, wenn ihnen überhaupt
kein Futter angeboten wurde. Pawlow hat mit diesem
Experiment bewiesen, dass die Natur zu überlisten ist.
Mit dem menschlichen Appetit verhält es sich häufig
ebenso. Wir brauchen nur das Ertönen der Klingel durch
die Erinnerung an genüssliche Essensfreuden zu ersetzen, und schon vermehrt sich der Speichelfluss. Automatisch beginnt auch die Produktion von Magensaft, und die
Begierde, uns einen bestimmten Genuss zu gönnen, wird
übermächtig. Dabei ist das Hungergefühl nicht ausschlaggebend, nur dieser – durch die Erinnerung – ausgelöste
Reflex. Das Baby schreit und bekommt sein Fläschchen;
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Essen und Übergewicht
es lernt sehr zeitig, dass Unlustempfinden durch Nahrung
verdrängt werden kann. Aber hat der kleine Schreihals
wirklich auch Hunger? Möchte er nicht nur einfach hochgenommen werden oder einen trockenen Popo haben?
Die alte Redensart gilt heute wie eh und je: „Es wird kein
Fresser geboren – er wird erzogen.“ Die falsch verstandene
Liebe von Müttern päppelt schon den Säugling, das Kleinkind bedenkenlos in das Übergewicht hinein. Wohlbefinden und Geborgenheit, zärtliche Zuwendung werden aber
nicht durch zusätzliche Butterflöckchen oder Schokoladenpudding vermittelt! Noch heute gilt der Satz: „Bei Mutter
hat es am besten geschmeckt“ – also eifern Töchter und
Schwiegertöchter diesem Vorbild seit Generationen nach;
mit deftigen Menüfolgen und überlieferten Kochrezepten
wird – weil die Liebe bekanntlich durch den Magen gehen
soll – noch heute so manche Sünde wider die modernen
Ernährungserkenntnisse begangen. Mit der gut gemeinten
Absicht, es ebenso wie die Mutter zu machen, wachsen die
Fettpolster und das Übergewicht und zugleich die Voraussetzung für Stoffwechselstörungen, für Gicht und Erkrankungen der Gefäße, für eine verringerte Lebenserwartung, kurz: für einen kranken Körper. Wir vergessen, dass
Zuckerkringel und Schweinshaxen, Gänsebraten, Schmalzgebackenes und Speckknödel bei unseren Groß- und Ur­­
großeltern längst nicht überall und täglich auf den Tisch
kamen. Viel eher bildeten Mehlsuppen, Brot und Grütze,
Wie entsteht Übergewicht?
Mus und Brei die kargen Mahlzeiten – und das bei körperlich harter Arbeit.
Ein Mann verbraucht heute durchschnittlich 2500 Kalorien, eine Frau 2000, doch er nimmt stattdessen 3500 und
die Frau 2800 Kalorien zu sich – das sind statistisch
betrachtet rund 40 Prozent zu viel! Diese um 40 Prozent
überhöhte Energiezufuhr schafft im Laufe der Zeit das lästige Übergewicht. Ernährungswissenschaftler empfehlen einen täg- Eine um etwa
40 Prozent überhöhte
lichen Fettverzehr des Menschen von
Kalorienzufuhr ist
höchstens 60 Gramm – damit sind
für das Übergewicht
Streich- und Kochfett und die ver- verantwortlich.
steckten Fette in Wurst, Käse und
Fleisch gemeint. Der tägliche Fettverzehr liegt aber durchschnittlich bei 120 Gramm. Wer denkt daran, dass diese
60 Gramm Fett zusätzlich ein Übergewicht von 1,5 Kilogramm pro Monat verursachen können? Auch wenn es am
Ende weniger ist, so bleibt doch einiges an Hüften, Bauch
und Schenkeln, an Herz und Leber hängen.
Die häufigsten Ursachen des Übergewichts sind demnach:
▪▪ Das wachsende Nahrungsangebot bei verringerter körperlicher Arbeit.
▪▪ Die „Entthronung“ des Hungers durch den Appetit.
▪▪ Die Überfütterung im Säuglings- und Kindesalter.
▪▪ Die Tradition („Bei Mutter schmeckt es am besten!“).
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Essen und Übergewicht
Die Fragen um den Mechanismus von Hunger und Sättigung sind durch vielerlei Umwelteinflüsse unserer Zeit
verändert worden. Die Erkenntnis, dass unzählige Menschen versuchen, Missempfindungen oder Depressionen
durch vermehrtes Essen zu verarbeiten, ist keinesfalls neu.
Der „Kummerspeck“ ist darum nicht zu belächeln, da
ernsthafte Probleme mit ihm verbunAppetit entsteht
den sind; Schokolade und Knabberaufgrund von Stress,
gebäck als Liebesersatz, das bringt
Kummer, aber auch
wohl kaum die rechte Befriedigung.
von Depressionen.
Eine Familie, die Abend für Abend
regungslos auf den Fernseher schaut, macht sich vor, den
Alltagstrott abzuschalten oder sich abzulenken – sie „schaltet“ aber auch allzu oft die zwischenmenschlichen Beziehungen „ab“. Man schweigt vor sich hin und benutzt den
Mund nur zum Knabbern zusätzlicher Kalorien anstatt zum
Gespräch über Freuden und Ängste, Hoffnungen und Pläne.
Dass Stress auch Appetit machen kann, ist dem Betreffenden vielleicht nicht so klar.
Die mögliche Wechselbeziehung zwischen Stress, Überbeanspruchung und Esslust ist einleuchtend. Stresssituationen
ist der Mensch seit Tausenden von Jahren ausgesetzt, sie
gehören zu seinem Leben und haben ganz sicher nicht
nur negative, sondern auch positive Seiten. Sie fordern den
Menschen heraus, seine Belastbarkeit, sein Reaktionsvermögen zu erproben und sich zu bestätigen. In den Urzeiten
Wie entsteht Übergewicht?
des Menschen gab es den Stress bei der Jagd, wenn es für
den Mann galt, hungrig ein waidwundes Tier zu verfolgen,
oder wenn er überraschend einem Bären gegenüberstand
und wehrlos ohne Waffe war. In Blitzesschnelle musste er
entkommen, um sein Leben zu retten. Der Steinzeitmensch
war bedrohlichen Situationen – außerhalb der schützenden
Höhle – auch durch Kälte und viele Witterungseinflüsse
ausgesetzt, die ihm ständig alle Kräfte abverlangten. Unser
heutiger Stress wird kaum von lebensbedrohlichen Situationen ausgelöst, die ein vorübergehendes Aufgebot aller
Kräfte von uns fordern: Ärger im Büro, verstopfte Straßen,
der Steuerbescheid, Familienstreitigkeiten genügen schon.
Auf diese Situationen reagiert der menschliche Körper
wie seit Urzeiten: Das Nebennierenmark bekommt vom
Gehirn den Befehl, Adrenalin in die Blutbahn auszuschütten. Bluthochdruck und Herzschlag steigen, um alle körpereigenen Kräfte mobil zu machen. Gleichzeitig wird der
Verdauungsapparat weitgehend ausgeschaltet, um keinerlei notwendige Energie zu vergeuden. Das alles geschieht
aber nicht mehr, um etwa vor einem Bären zu fliehen, um
höchster Lebensgefahr zu entkommen, sondern weil die
Ampel gerade „rot“ zeigt, die U-Bahn davonfuhr oder der
Jüngste einen „Sechser“ in Mathematik heimbrachte.
Der Steinzeitmensch reagierte seinen Stress – den Adrenalinschub – im Kampf oder bei der Flucht kurzfristig ab.
Was aber tun wir Menschen von heute? Der Büroangestellte
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Essen und Übergewicht
kann nicht einfach um den Häuserblock rennen, wenn er
Ärger mit dem Vorgesetzten hat – er trinkt eher nach Feierabend einen Schnaps oder ein Bier in der nächsten Kneipe.
Manche Hausfrau baut ihren Ärger über die Klatschgeschichten der Nachbarin weniger mit einer anstrengenden
Hausarbeit ab; sie kocht sich Kaffee und verwöhnt sich mit
einem Stück Kuchen, anstatt zum Beispiel alle Fenster ihrer
Wohnung zu putzen, was ihr zweifellos in ihrem „drive“
fantastisch gelingen würde.
Nun hat aber der außerordentliche Energieverbrauch gar
nicht stattgefunden, das Gehirn aber befiehlt trotzdem
über das Nervensystem und den Magen: Hunger! Die
Stressgeplagten essen daraufhin, getäuscht vom Irrtum
eines uralten „Computers“, unnütze
Der gestresste Körper
Kalorien in sich hinein.
ist darauf eingestellt,
einen außerordentlichen Energieverbrauch
schnell zu ersetzen.
Dabei gilt es nur, die Zusammenhänge richtig zu erkennen und auf
sich anzuwenden. Auf die lebenserhaltende Funktion der Nahrungszufuhr für den Urmenschen lässt sich zum Beispiel auch die Unsitte der Festessen
zurückführen. Einst war die Jagdbeute ein willkommener
Anlass, fressend und schmatzend zu feiern, bis die Bäuche
der ganzen Sippe voll waren. Niemand wusste schließlich,
wann er wieder reichlich zulangen konnte. Heute gibt es
in unseren Breiten diese Unsicherheit nicht mehr; jedoch
Übergewicht und seine Folgen
sind Festessen zu allen nur erdenklichen Anlässen gang
und gäbe, und ein reich bestücktes kaltes Büfett ist in Windeseile abgeräumt, als befänden wir uns bereits in oder
unmittelbar vor einer Hungersnot!
Übergewicht und seine Folgen
Übergewicht, Fettsucht und Fettleibigkeit
Als Übergewicht bezeichnet man ein hohes Körpergewicht
in Relation zur Körpergröße. Die gebräuchliche Bezeichnung „Übergewicht“ ist dann unzutreffend, wenn sie nur
oberflächlich aussagt, dass der betreffende Mensch schwerer ist als der Normalgewichtige.
Besorgte Ernährungswissenschaftler und Ärzte weisen ihre
Patienten in Praxen und Kliniken auf die Folgekrankheiten
hin, die in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem
Übergewicht stehen, ebenso informieren diverse Medien
regelmäßig darüber.
Es handelt sich bei den Folgekrankheiten um Typ-2-Diabetes, der seit Jahren als Volkskrankheit gilt, aber auch um
Rheuma und Gicht, die auf dem Vormarsch sind und häufig bereits jüngere Jahrgänge und Menschen im „besten
Alter“ quälen. Übergewicht hat Bluthochdruck zur Folge,
ebenfalls Magen- und Darmerkrankungen sowie Leber-
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Essen und Übergewicht
und Gallenstörungen und Hauterkrankungen. Übergewicht
senkt die Lebenserwartung beträchtlich. Nach neuesten
Erhebungen der Lebensversicherungsgesellschaften hat
derjenige optimale Aussichten, gesund alt zu werden, der
sein Normalgewicht, besser noch
Pro Jahr werden von sein Idealgewicht anstrebt und erhält.
den gesetzlichen Die Hungerjahre der Kriegs- und
Krankenkassen
Nachkriegszeit mit ihren Strapazen
80 bis 100 Milliarden
bei der täglichen NahrungsbeschafEuro für die Behandfung,
den kargen Rationen, vor allem
lung ernährungs­
an
Fett,
Weizenprodukten und
bedingter Folgekrankheiten ausgegeben. Zucker, hielten die Menschen er­­
staunlich elastisch, gesund und leistungsstark. Der Diabetes ging damals schlagartig zurück,
um dann wieder mit dem überreichen Nahrungsangebot
und der uns allzu verständlichen „Fresswelle“ in den
1950er-Jahren rapide anzusteigen.
Die häufigsten Folgekrankheiten von Übergewicht:
▪▪ Diabetes mellitus
▪▪ Rheuma
▪▪ Gicht
▪▪ Bluthochdruck
▪▪ Magen- und Darmerkrankungen
▪▪ Leber- und Gallenstörungen
▪▪ Hauterkrankungen
▪▪ Fettleibigkeit und Fettsucht
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Übergewicht und seine Folgen
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Übergewicht, Fettsucht und Fettleibigkeit häufig verwechselt.
Unter Fettleibigkeit (Adipositas) versteht man eine ungesunde Fettansammlung im Körper – unter Fettsucht da­­
gegen die krankhaft bedingte Neigung des Organismus zu
übermäßigem Fettansatz.
Die Fettleibigkeit ist
ein Zustandsbild.
Die Fettsucht ist
durch das Versagen
des Stoffwechsels
gekennzeichnet.
Für die Beurteilung der Fettleibigkeit ist die tägliche Gewichtskontrolle
wichtig. Am einfachsten ist die Regel,
dass ein Mensch so viel an Kilogramm
nicht überschreiten soll, wie er an
Körpergröße in Zentimetern über einen Meter misst. Frauen
und Schmalwüchsige mit leichtem Körperbau haben ein bis
zu zehn Prozent ge­­ringeres, Männer mit kräftiger Konstitution ein bis zu zehn Prozent höheres Körpergewicht.
Die krankhafte Fettsucht des Körpers kann durch Wasseransammlungen im Gewebe, durch eine große Geschwulst,
Hormonstörungen und andere Stoffwechselstörungen be­­
dingt sein. Bei der Fettleibigkeit hingegen vermehrt sich
das Fett überall dort, wo auch bei jedem normalen Körper Fettgewebe anzutreffen ist. Auch bei extremer Fett­
leibigkeit bleiben ganz bestimmte Körperstellen von der
Fettablagerung verschont: zum Beispiel die Augenlider, die
Ohrmuschel und die Handgelenke. Das Fett sammelt sich
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Essen und Übergewicht
jedoch an den inneren Organen, zum Beispiel am Herzen
oder an der Leber.
Bis vor Kurzem teilte die Medizin die Fettleibigkeit in zwei
Kategorien ein – nämlich in die endogene Fettsucht und in
die exogene Fettsucht, das heißt in die durch übermäßiges
Nahrungsangebot und in die durch hormonelle Störungen hervorgerufene Fettsucht. Diese Begriffsbestimmung
wurde fallengelassen, denn übermäßiger Fettansatz beruht
vordringlich auf überreichlicher Ernährung, vor allem
mit Fett und Kohlehydraten. Was nicht in Energie umgewandelt wird, das speichert der Körper – nach uraltem
bewährtem Prinzip – raumsparend als Fett. Wenn auch
eine ganz bestimmte erbliche Veranlagung in manchen
Fällen nicht zu verwerfen ist, so müssen die Grundstoffe
zur Kalorieneinlagerung mit der Nahrung aufgenommen
werden. Auch für den extrem Fettsüchtigen haben die
Energiegesetze Gültigkeit! Die häufig angenommene und
auch als Entschuldigung für die Fettleibigkeit genannte Störung der Drüsen und ihrer inneren Sekretion trifft nur für
einen verschwindend geringen Teil der Fettsüchtigen zu.
Wichtig ist der Erfahrungswert: Wenn erst einmal Fettansammlungen aufgetreten sind, dann geht dieser Vorgang
unaufhörlich weiter.
Man spricht in den sogenannten hochzivilisierten Ländern
von der „Wohlstandsfettleibigkeit“ – sie beruht auf körper-
Übergewicht und seine Folgen
licher Minderbeanspruchung und andererseits luxuriöser
Überernährung. Die Folgebeschwerden der Fettleibigkeit
sind häufig Herzerkrankungen, denn das Herz muss durch
die Gewichtszunahme eine entscheidende Mehrarbeit leisten. Infolge der Fettanhäufung neigt
die Haut verstärkt zum Schwitzen Die Lebenserwartung
der Fettleibigen liegt
und dadurch zu Ausschlägen besondeutlich niedriger
ders in den Hautfalten. Durch ihre
als die der Normal­
Vergrößerung übt die Leber „Druck“ gewichtigen.
aus. Es kommt allmählich zu einer
allgemeinen Muskelschwäche, die durch den Mangel an
körperlicher Tätigkeit noch gefördert wird. Die Verkalkung
von Blutgefäßen setzt verfrüht ein, auch die sexuelle Potenz
verringert sich oder erlischt in vielen Fällen. Der Schweregrad des Diabetes, der Bluthochdruck, die Gefährdung
durch Herzinfarkt und Gehirnschlag nehmen zu.
So sind die Ursachen des Übergewichts und auch der Fettleibigkeit so wahr wie die Folgekrankheiten, die durch
Un­­wissenheit, verbunden mit den naturgegebenen Eigenschaften des Menschen aus grauer Vorzeit zum großen Problem geworden sind. Diesem Problem stehen unzählige
Menschen hilflos gegenüber.
Dennoch: Übergewicht und Fettleibigkeit sind kein Schicksal, das wir zu ertragen haben! Es liegt in unserer Hand,
durch die ei­­gene Vernunft und medizinische Maßnahmen
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Essen und Übergewicht
überflüssige Pfunde abzubauen. Selbst Ernährungssünden, die Eltern an Kindern begangen haben, sind zu korrigieren. Wissen wir über die Zusammenhänge zwischen
Ernährung einerseits und Energieverbrauch andererseits
Bescheid, ist der Anfang gemacht.
Wie kann man Übergewicht loswerden?
Um die herben Enttäuschungen, die mit den Bemühungen,
endlich dauerhaft abzunehmen, einhergehen, zu verstehen, dürfen wir eine Tatsache nicht vergessen: das Schönheitsideal.
Das Verständnis für das Menschliche im Wandel der Jahrhunderte erleichtert es uns, diesen Trend zu verstehen. Als
ein unbekannter Künstler der Steinzeit die „Venus von Willendorf“ schuf, war offensichtlich – neben ausgeprägten
Geschlechtsmerkmalen – das große Frauenhinterteil das
Schöne schlechthin. Die Griechen
Im Barock waren
empfanden den sportlich-schlanken
üppige
Frauenkörper als schön. Viele SkulpKörper gefragt.
turen und mancher Torso zeigen knabenhaft-herbe Weiblichkeit. Im Mittelalter dominierten die
Zerbrechlichkeit und das Zarte. Der Frauenkörper – wohlproportioniert, aber eher mager – war das Idealbild dieser
Wie kann man Übergewicht loswerden?
Zeit. Unzählige Bildtafeln oder Nähanweisungen für die
Gewänder zeigen es uns auf.
Der Barock fand zu üppigen Formen, zum Leben in Fülle
zurück. Der bekannteste Maler dieser Zeit, Peter Paul
Rubens, hielt üppige Frauengestalten auf seinen Gemälden für die Nachwelt fest. Ihre Formen – das Modediktat
jener Zeit – müssen wir heute, bei nüchterner Betrachtung, als schlicht „zu fett“ abwerten. Schlankheit war
nicht gefragt. Das zarte, rosig angehauchte Doppelkinn galt
als ein Attribut der Erotik. Auf den Bildern jener Epoche
schwenken fröhliche Menschen gefüllte Weinbecher, auf
den Tischen türmen sich kunstvoll dekorierte Köstlichkeiten. Die Gemälde zeigen auch tanzende Paare, die Bewegungen sind verhalten, die Tanzmusik jener Zeit, ob Gigue
oder Sarabande, ist betont ruhig. Die Mieder und engen
Hosenbänder über gewichtigen Bäuchen vertrugen keine
Hektik. Noch eine Gestalt aus der Epoche des Überflusses
darf nicht unerwähnt bleiben: Mit hohem Doktorhut und
bedeutend wirkender Brille auf der spitzen Nase – belächelt und geachtet zugleich – zeigen Bilder den Medikus.
Was aber lugte aus seiner Instrumententasche oder aus der
Tasche seines schwarzen Gewandes vor? Die Klistierspritze,
also das Instrument für einen Einlauf. Sie war das unumgängliche Regulativ des Prassens und üppiger Tafelrunden,
und sie heilte fast alle Erkrankungen dieser genüsslichen
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Essen und Übergewicht
Zeit – ob nun das böse Zipperlein oder Koliken, Müdigkeit,
schlechte Träume oder Hartleibigkeit.
In der Folgezeit tendierte die Mode wieder zur zarten
Taille, der Busen war einmal üppiger und dann wieder
knabenflach, mal bedeckte ein imponierender Vollbart
die Leibesfülle, dann konnte der Frack nicht eng genug
geschnitten sein.
Das 20. Jahrhundert prägte die Formel: Schlank gleich jung.
Wir unterwerfen uns diesem Diktat um des Bikinis, nicht
um der Gesundheit willen. Unsere Zeit brachte aber auch
breiten Kreisen der Bevölkerung das Wissen um die Wechselbeziehung zwischen Normal- oder Idealgewicht einerseits und Gesundheit andererseits nahe. Die neue Formel
heißt darum: Schlank gleich gesund.
Heute gilt:
Im Widerspruch dazu stehen aber die
schlank = jung
„Verführer“ unserer Zeit. Die große
= gesund
Reisewelle machte uns mit unzähligen Tafelgenüssen fremder Länder bekannt. Die Fülle von
raffinierten Rezepten in den Illustrierten und Kochbüchern
in den entsprechenden Einklang zu unserem Idealgewicht
zu bringen, erfordert eine Menge an Einsicht. Der franzö­­
sische Meisterkoch Nummer eins, Paul Bocuse, hat darum
die viel beachtete „Nouvelle Cuisine“ erfunden – und diese
stammt gerade aus der Heimat der getrüffelten Gänseleberpastete.
Wie kann man Übergewicht loswerden?
„Iss die Hälfte!“, „Hör auf, wenn es am besten schmeckt!“
oder „Morgens wie ein König, mittags wie ein Bürger,
abends wie ein Bettler“ sind Schlagworte, die ganz sicher
ihren Sinn haben und verdeutlichen, was wir wieder lernen müssen: Das Regulativ zwischen Lust und Appetit,
Hunger und Tischsitten sollten wir anwenden. Es liegt in
uns selbst, wir müssen nur auf uns hören.
Auch die Ärzte haben es häufig schwer, ihren Patienten
einen Ernährungsplan mitzugeben, der ihnen den Weg
zum Normalgewicht ebnet. Es gibt
Jeder Mensch
viele Menschen, die sich mit einem
hat individuelle
Übergewicht in Grenzen wohlfühEssensbedürfnisse
len, die ausgeglichen und fröhlich und -wünsche.
sind und keinen Stress kennen. Es
gibt individuelle Bedürfnisse und Wünsche, Verhaltensweisen, die bei der Betrachtung des Menschen als Ganzem
psychologische Zusammenhänge verständlich machen.
Ärzte, Ernährungswissenschaftler und auch dieses Buch können helfen und raten; jedem von uns ist es aber an­­heimgestellt,
auf seinen Körper zu hören und nach den Er­­kenntnissen zu
leben, die eine moderne Medizin anbieten kann.
Diät – reicht das?
Wenn der Rock- oder Hosenbund kneift und die Waage
alarmierend und unbestechlich ausschlägt, nehmen wir
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Essen und Übergewicht
uns mutig vor, weniger zu essen und zu trinken – Diätvorschläge werden studiert! Der Fächer der Diät- und Abmagerungsmethoden ist breit. In den 1950er-Jahren kam die
sogenannte Reiskur auf; bekannt ist weiterhin die Eierkur
(sechs hart gekochte Eier täglich), und es heißt, dass der
alleinige Genuss von Pellkartoffeln oder Quark Erfolg verspricht. Die Chance, mit dem Verzehr von Gemüse und
Salat das Übergewicht zu reduzieren, wird hochgelobt,
ebenso die Beschränkung auf mageres Fleisch oder ausschließlich reichlich Fettem in sehr kleinen, aber sättigenden Portionen. Angeblich ist es auch möglich, mit einem
Liter trockenem Wein und fünf Brötchen pro Tag Über­
gewicht drastisch loszuwerden.
Amerikanische Ernährungsspezialisten behaupteten, dass
nicht das Nahrungsmittel als solches Übergewicht verursacht, sondern dessen Verzehr in Verbindung mit ganz
bestimmten an­­deren. „Wie schön“, frohlockten die Übergewichtigen und stellten er­­nüchtert
Enttäuschungen
fest, dass auf die Dauer zum Beispiel
sind bei Diäten leider
Tiroler Speck, saftiger Braten und
nicht die Ausnahme,
Steaks auch ohne Beilagen keine
sondern die Regel.
Gewichtsabnahme garantieren können. Es wurde um viele dieser Methoden still. Hier und da
bietet die eine oder andere Zeitschrift abgewandelt „absolut sichere“ Diätvorschriften an. Die Leser und vor allem
die Leserinnen halten unentwegt Ausschau nach einer
Wie kann man Übergewicht loswerden?
erfolgreichen Methode, mühelos schlank zu werden und
zu bleiben! Herbe Enttäuschungen schleichen sich ein,
wenn die Polster nicht schwinden oder sich allzu schnell
wieder einstellen. Gewiss ist es in manchen Fällen möglich – durch eiserne Energie und mithilfe einer Diät –, dem
Wunschziel Idealgewicht näherzukommen. Jedoch ist die
Ernüchterung groß, wenn die Waage nach kurzer Zeit
erbarmungslos erneut das Zuviel an Pfunden anzeigt.
Befragungen von 20000 Abmagerungswilligen in den Vereinigten Staaten, die ihre Diät erfolgreich abgeschlossen
hatten, ergaben, dass sich bei 95 Prozent der Befragten die
mühsam abgehungerten Pfunde nach kurzer Zeit wieder
ansammelten.
Abführmittel gegen Verstopfung und Übergewicht?
Viele Hersteller von Abführmitteln versprechen durch die
Einnahme ihrer Produkte eine geregelte Verdauung und
einen Gewichtsverlust – und nutzen so ein Problem der
zivilisierten Länder zu ihrem Vorteil: Nahezu 20 Millionen Deutsche leiden unter Verstopfung! Was auf natürliche
Weise nicht erreichbar ist, wird mit Medikamenten versucht. Da alle Pulver und Tabletten auf „natürliche Weise“
hergestellt werden und zudem angeblich bei „längerem
Gebrauch“ keine Gewöhnung noch schädliche Nebenwirkungen zeigen und vielfach rezeptfrei zu kaufen sind,
glaubt man, sie ungestraft anwenden zu können.
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Essen und Übergewicht
Außerdem ist die Vorstellung verbreitet, dass die Regulierung der Verdauung das Übergewicht reduzieren kann. Die
Nahrung wird ja beschleunigt ausgeschieden, sie verweilt
nur kurz im Darm und hat darum keine Gelegenheit, Fettpolster zu produzieren. So scheint das tägliche Abführmittel abgesegnet zu sein und wird millionenfach geschluckt
nach dem Motto: „Reichlicher Essgenuss ohne Reue!“ Man
isst bedenkenlos kalorienreiche, fettRegulierung der
haltige, schwer verdauliche Speisen.
Verdauung =
Der Teufelskreis ist perfekt, denn das
Reduzierung des
überreiche Nahrungsangebot und
Übergewichtes?
wiederum die Regulierung der Verdauung durch unzulängliche Mittel richten Schäden an.
Professor Dr. Ludwig Demling, ehemaliger Direktor der
medizinischen Universitätsklinik Erlangen, warnt wie
viele seiner Kollegen eindringlich vor der oberflächlichen
­Denkweise der von Darmträgheit Geplagten: „Die ständige
Einnahme von Abführmitteln zerstört die Struktur des
Darms – dessen Funktionen werden geschädigt! Es kann
daher zu schweren organischen Erkrankungen kommen.“
Das Problem Verstopfung kann mit Abführmitteln nur vorübergehend gelöst werden.
Die Unbelehrbaren glauben weiterhin, mit Abführmitteln wird die Nahrung schneller verarbeitet und das Ge­­­
wicht reduziert. Der Irrtum besteht darin: Abführmittel
beschleunigen nur den Verdauungsprozess, der Hunger
Wie kann man Übergewicht loswerden?
stellt sich dementsprechend schneller wieder ein, Abführmittel greifen keine Fettpolster an.
Das kleine Einmaleins gesunder Ernährung –
und damit einer geregelten Verdauung:
Ballaststoffreiche Kost beugt Verstopfung vor. Eine natür­
liche Ernährung ist reich an Frischobst, Frischgemüse, Rohkostsalaten, Kartoffeln, Vollkornbrot, Schrotprodukten.
Natürliche verdauungsunterstützende Hilfen sind unter anderem Buttermilch, Sauerkrautsaft, eingeweichtes Dörrobst, Leinsamen, ein Glas lauwarmes Wasser nach dem
Aufstehen, reines Paraffinöl.
Weitere Hilfen gegen Darmträgheit und Verstopfung sind
ge­­zielte Gymnastik, körperliche Bewegung, Bauchmassagen, Bauchschnellen, Erziehung des Darms zur Pünktlichkeit.
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Ähnlich wie die Abführmittel von heute wirkte die Me­­
thode der Römer: sie reizten, um in ihrem Magen schnellstens Platz für neue Genüsse zu schaffen, den Gaumen, das
Zäpfchen, mit Pfauenfedern, bis sie sich erbrachen. Natürlich schafften sie nicht nur Platz im Magen, sondern entzogen dem Körper auch Nährstoffe, die dieser nicht zu verarbeiten brauchte. Mit ihrer eigenwilligen Methode schlugen
sie dem normalen Verdauungsprozess ein Schnippchen.
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Essen und Übergewicht
Pfauenfedern und Abführmittel haben Gemeinsamkeiten:
Beide Methoden überlisten den Körper und greifen auf
unnatürliche Weise in die gesunden Abläufe ein. Die alten
Römer regten die Produktion der Magensäfte an und aßen,
was in sie hineinpasste. Sie beförderten sodann die genossenen Speisen wieder hinaus, noch bevor die Säfte ihren
Verdauungsprozess begannen. Abführmittel beschleunigen
den Durchgang der genossenen Speisen, sie zwingen den
Verdauungsapparat zu einem der­artigen Tempo, dass häufig wichtige Stationen übersprungen werden. Unordnung
im Darm ist die natürliche Folge, denn die Darmflora wird
auf die Dauer geschädigt und in besonders krassen Fällen
sogar vernichtet. Um den VerdauAbführmittel greifen
ungsmechanismus überhaupt in Gang
in die gesunden Abhalten zu können, sind im Laufe der
läufe der Verdauung
Zeit immer höhere Dosen von Ab­­
ein und machen
führmitteln nötig. Obwohl diese Proauf Dauer abhängig.
blematik von vielen Illustrierten im­­
mer wieder behandelt wird und teilweise auch die
verheerenden Folgen nicht verschwiegen werden, wird
unbekümmert mit Pillen, Pulvern und Säften abgeführt. Es
ist ja so praktisch. Wir führen ab oder laxieren im bequemen Glauben an die Unschädlichkeit der Mittel und hören
nicht in uns hinein, auch wenn Magen und Darm – und
manchmal sogar das Herz – Alarm schlagen.
Wie kann man Übergewicht loswerden?
Appetitzügler – eine „Essbremse“?
Die vielen rezeptfreien Präparate, die als hochwirksame
Appetitbremsen angeboten werden, sind Arzneimittel, die
das Verlangen nach Nahrung drastisch herabsetzen. Sie täuschen das Sättigungsgefühl beim
Appetitzügler
Essen frühzeitig vor. Die meisten der
sind schädlich und
Appetitzügler reizen und erregen bei
strikt abzulehnen.
längerem Gebrauch das Zentralnervensystem und bewirken im Verlauf der Einnahme Un­­
ruhe, Schlaflosigkeit und Reizbarkeit. Einige Medikamente
machen ebenfalls süchtig, ein Nebeneffekt, den eigentlich
niemand erwartet hatte.
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