Mit dem eigenen Leben

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Mit dem eigenen Leben
Mit dem eigenen Leben Zeugnis ablegen:
Kirche in der nächsten Gesellschaft*
Dirk Baecker
Zeppelin Universität, Friedrichshafen
I.
Die Frage nach der Kirche in der nächsten Gesellschaft ist eine ketzerische Frage. Kann sich
die Kirche der nächsten Gesellschaft von jener der modernen, der antiken und der tribalen
Gesellschaft unterscheiden? Ist die Kirche "historisch"? Ist "Kirche" nicht gerade diejenige
Institution, die sich als Verweis auf und Abglanz von Gottes Reich allem Irdischen und damit
auch Historischem entzieht? Muss man nicht, und nur dies möglicherweise immer wieder
neu, die Botschaft Gottes als ewig gültige Botschaft, wie sie von der Kirche vertreten wird,
vom Wandel des menschlichen Geschicks unterscheiden? Man ahnt die Hintertür, die wir
versuchen, uns zu öffnen. Von einer Kirche zu sprechen, heißt in der Tat, von der
Verkündung eines göttlichen Reiches zu sprechen, das über alle Geschichte und Evolution
hinweg immer dasselbe ist, aber es heißt auch, diese Identität immer wieder neu in ein
Verhältnis zu jenem historisch wandelbaren menschlichen Geschick zu setzen, auf das sich
die Kirche beziehen muss, will sie das Wort Gottes verkünden.1
Wir werden im Folgenden nicht theologisch argumentieren, sondern soziologisch. Wir
beobachten die Kirche im Wandel der Geschichte. Aber wir verfolgen ein kulturtheoretisches
Argument, demgemäß auch die Kirche, wie andere Institutionen der Gesellschaft,2 eine
Einmalerfindung ist, die auf ein spezifisches Problem der Organisation des sozialen
Zusammenlebens der Menschen antwortet und die Art dieser Antwort im historischen Wandel
dieser Organisation variiert. Wir können auch sagen, dass die Kirche in der menschlichen
Gesellschaft eine Funktion erfüllt, die als solche unverhandelbar ist, aber je nach den sozialen
Umständen auf eine andere Art und Weise erfüllt wird. Diese Aussage enthält, wie man sieht,
eine doppelte Zumutung. Wie kann es sein, dass es Institutionen der menschlichen
Gesellschaft gibt, die unverhandelbar sind? Haben wir nicht spätestens in der modernen
*
1
2
Manuskript zum Vortrag in der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 22. Januar 2014. Für
Anmerkungen zu einer früheren Fassung des Textes danke ich Moritz Klenk.
Die Kirche sei eine "komplexe Größe", liest man denn auch bei Siegfried Wiedenhofer, Ekklesiologie, in:
Theodor Schneider (Hrsg.), Handbuch der Dogmatik, Bd 2, 5. Aufl., Ostfildern: Matthias Grünewald
Verlag, 2013, S. 47-154, hier: S. 90, da sie immer beides sei, Geheimnis des Glaubens und empirische
Realität, weder auf das eine noch auf das andere reduzierbar.
Im Sinne von Bronislaw Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur und andere Aufsätze, dt.
Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S. 89ff.
–2–
Gesellschaft gelernt anzunehmen, dass die Menschen die eigenen Herren ihres Geschicks
sind? Haben wir nicht sogar ein theologisches Argument mit auf den Weg bekommen, dass
der Mensch von Gott geschaffen wurde, um dieses Geschick eigenverantwortlich auf sich zu
nehmen? Wie kann es dann sein, dass die Funktion der Kirche, der Familie, der
Verwandtschaft, der Politik, der Hygiene, der Persönlichkeit unverhandelbar ist?3 Und wie
kann es umgekehrt sein, das ist die andere Seite der Zumutung, dass über die Art und Weise
der Auslegung der Funktion der Kirche in der Gesellschaft verhandelt wird, wenn diese doch
göttlich bereits festgelegt ist?
Wir argumentieren im Folgenden soziologisch und kulturtheoretisch. Unsere Referenz ist
nicht der Glaube an Gott, sondern die Beobachtung der menschlichen Gesellschaft. Das ist
unser soziologischer Ausgangspunkt. Wir ergänzen diese Soziologie allerdings durch einen
kulturtheoretischen Vorbehalt, der darin besteht, für diese menschliche Gesellschaft
Einrichtungen, Institutionen, Funktionen anzunehmen, die unverfügbar sind, das heißt durch
keinen typisch modernen Übermut überwunden und abgeschafft werden können. Für diesen
Vorbehalt gibt es viele Varianten, die von der fatalistischen Annahme, letztlich könne der
Mensch keinerlei Einfluss auf sein Schicksal nehmen, bis zu strukturfunktionalistischen
Annahmen reichen, dass die Funktionen zwar fix sind, jedoch sowohl ihre Interpretation und
Gewichtung als auch die Strukturen ihrer Erfüllung zur Disposition stehen. Wir übernehmen
hier eine vorsichtig strukturfunktionalistische Position, die darin besteht, dass die
Institutionen der Gesellschaft, unter ihnen die Kirche, sich an der Hypothese einer Funktion
orientieren, um ihren Ort in der Gesellschaft, ihren Unterschied zur Gesellschaft und ihren
Zusammenhang mit anderen Institutionen der Gesellschaft bestimmen zu können.4 Die
Funktion ist somit zugleich Selbstverhältnis und Fremdverhältnis und erhält daraus, so kann
man mit Alfred North Whitehead sagen,5 ihre prozessuale Spannung.
Die Kirche, man ahnt es, erscheint in diesem Strukturfunktionalismus als eine weltliche
Organisation, die eine spezifische Variante der Unverfügbarkeit verkündet und verwaltet,
nämlich die göttliche Schöpfung. Auch der Vorteil einer solchen Formulierung liegt auf der
Hand. Ohne der Kirche ihren einzigartigen Bezug zur Religion zu nehmen, rücken andere
Organisationen in den Blick, die ebenfalls Unverfügbarkeiten verkünden und verwalten, so
eine Regierung, die sich auch dann auf einen ihr vorausliegenden politischen Willen beruft,
3
4
5
So weitere Beispiele für Institutionen menschlicher Gesellschaften bei Malinowski, ebd., S. 123ff.
So die Position von Niklas Luhmann, Funktionale Methode und Systemtheorie, in: Soziale Welt 15
(1964), S. 1-25.
So zum Verhältnis von self-identity und self-diversity: Alfred North Whitehead, Process and Reality: An
Essay in Cosmology, hrsg. von David Ray Griffin und Donald W. Sherburne, New York: Free Press,
1979, S. xxff.
–3–
wenn sie alles tut, um diesen Willen mitzugestalten (Niccolò Machiavelli), ein Unternehmen,
das die Unverfügbarkeit des Marktes auch dann bestätigt, wenn es ihn mit Produkten, Preisen
und Marketingkampagnen zu beeinflussen versucht (Adam Smith), und ebenso Armeen,
Krankenhäuser, Universitäten oder kulturelle Einrichtungen, die allesamt ihre
Entscheidungen an Verhältnisse zu binden versuchen, die diesen Entscheidungen Grenzen
setzen, während sie ihnen einen Spielraum einräumen.
Die Kirche befindet sich in guter Gesellschaft, auch wenn sie zuweilen darüber streiten
mag, wie gut sie ist. Sie muss damit rechnen, dass andere Organisationen versuchen, sich von
den Unverfügbarkeitsverwaltungspraktiken der Kirche abzugrenzen und die eigenen als
überlegen darzustellen, während sie selbst darauf achtet, dass ihr Bild göttlicher
Unverfügbarkeit nicht mit den Bildern eines repräsentativen Volkswillens, eines
kalkulierbaren Marktes, eines strategisch und taktisch operierenden Gegners, einer durch
keine Medizin zu vermeidenden Sterblichkeit, einer sich immer wieder entziehenden
Wahrheit oder einer erhabenen Schönheit verwechselt wird. Die Figur der Verwaltung von
Unverfügbarkeit bleibt nicht auf die Kirche begrenzt. Sie sucht sich in der Gesellschaft viele
verschiedene Adressen. Man kann noch nicht einmal sagen, dass sie ursprünglich religiöser
Natur gewesen sei. Wer will das wissen? Vielleicht ist auch die Religion nur eine und
möglicherweise späte Ausdifferenzierung der Figur Gottes für besondere Zwecke einer
Anbetung, die allen menschlichen Versuchen, dort Bestimmtheit zu schaffen, wo
Unbestimmtheit anerkannt werden will, immer wieder aufs Neue entzogen wird?6 Wer will
wissen, ob Politiker, Militärs und Ärzte von Priestern oder nicht umgekehrt Letztere von
Ersteren gelernt haben?
So oder so erfüllt die Kirche ihre Funktion auf Erden nicht ohne Konkurrenz. Andere
Institutionen versuchen zuweilen ähnliches. Und auch die kirchliche Funktion, einmal
formuliert, kann sich durchaus andere Orte, einen Kirchentag, ein Zeltlager unter
Jugendlichen, einen häretischen Orden, eine Internetplattform, suchen, wo die Vermutung
herrscht, sie besser erfüllen zu können. Deswegen lohnt es sich, Funktion, Institution und
Organisation zu unterscheiden. Die Funktionen sind unverhandelbar, zugleich jedoch in
wesentlichen Hinsichten unbestimmt. An hypothetisch formulierte Funktionen können
Institutionen andocken, die dazu neigen, sich mit den Funktionen zu verwechseln, das heißt
Unverfügbarkeit in Unverhandelbarkeit zu transformieren. Und gleichzeitig können
6
Siehe auch meinen Versuch in Dirk Baecker, Gott rechnet anders: Das Risikokalkül des Kapitalismus und
der Fingerzeig des Unbestimmten, in: Lettre International 84 (Frühjahr 2008), S. 84-88, leicht
überarbeitet unter dem Titel Gott rechnet anders: Zur Differenz von Religion und Kapitalismus, in: Georg
Pfleiderer, Alexander Heit (Hrsg.), Sphärendynamik II: Religion in postsäkularen Gesellschaften, Zürich:
Pano Verlag, 2012, S. 305-332.
–4–
Organisationen entstehen, die sich von Institutionen dadurch unterscheiden, dass sie ihre
eigenen Entscheidungsspielräume zum Gegenstand von Entscheidungen machen.
Viele der Organisationen, die in der Soziologie untersucht werden, haben jahrhundertelang
dazu geneigt, sich für Institutionen zu halten, deren Funktion dem Willen der Menschen
entzogen ist, so neben der Kirche sicherlich auch der Staat, die Armee und die Universität.
Sie alle mussten lernen, sich als Organisationen zu begreifen.7 Und sie alle sind heute in der
Situation, ihre Beobachtung ihrer gesellschaftlichen Umwelt unter dem Gesichtspunkt
engzuführen, dass Funktionen nicht fraglos gegeben sind, sondern immer wieder neu
diskutiert werden müssen, und dass dabei keine Behauptung institutioneller
Selbstverständlichkeit mehr aus dem Dilemma heraushilft, genau das diskutieren zu müssen,
was zugleich als der Diskussion entzogen gelten muss.8 Die Einsicht, dass der menschliche
Wille "frei, wenn auch schwach" sei, ist daher die Geburtsstunde jener Art von Kulturtheorie,
die neben der Autorität Gottes auch eine gottgegebene, dann gottgenommene Autorität der
Menschen anerkennt.9
II.
Schon der Begriff der Kirche, abgeleitet von griechisch kyriakon, "dem Herrn gehörig", und
ekklesía, "die Herausgerufene", ist soziologisch schwer zu bestimmen. Wir beschränken uns
im Folgenden schon deswegen auf die christliche Kirche, weil es religionswissenschaftlich
umstritten ist, ob auch das Judentum, der Islam, der Hinduismus, der Buddhismus und der
Synkretismus eine Kirche kennen. Erst wenn wir, was wir hier tun wollen, die soziale
Funktion der Kirche genauer bestimmen, hat man eine Handhabe, danach zu fragen, welche
spezifischen Leistungen im Judentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus und Synkretismus
den Namen einer "Kirche" verdienen.
7
8
9
Siehe für den Fall der Universität zunächst als Institution, dann als Milieu und schließlich als
Organisation: Niklas Luhmann, Universität als Milieu, hrsg. von André Kieserling, Bielefeld: Haux,
1992.
Siehe zum Begriff der Institution als "Generalisierung", wenn nicht sogar "erfolgreiche Überschätzung"
von Konsens: Niklas Luhmann, Institutionalisierung: Funktion und Mechanismus im sozialen System der
Gesellschaft, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf: Bertelsmann
Universitätsverl., 1970, S. 27-41, Zitat S. 30.
Mit aller historischen und philosophischen Sorgfalt zu finden bei Giambattista Vico, Die neue
Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und
eingeleitet von Erich Auerbach [1924], 2. Aufl., mit einem Nachwort von Wilhelm Schmidt-Biggemann,
Berlin: de Gruyter, 2000, Zitat S. 78.
–5–
Im Christentum hingegen gibt es eine lange Tradition der Organisation von Religion in der
Form einer Kirche, die sich eine, heilige, katholische und apostolische Kirche nennt (so das
Glaubensbekenntnis des Konzils von Konstantinopel im Jahr 381). Nichts kann sie spalten
(Einheit); trotz aller Sünden ihrer Mitglieder ist sie, da "auf Gott geordnet", heilig; sie ist
allumfassend und weltweit bekannt (katholisch); und sie steht in der Kontinuität der Apostel
und deren Verkündung der Erlösung durch Leben, Kreuzestod und Auferstehung von Jesus
Christus.10 Der soziologische Kern dieses Bekenntnisses liegt in einer Rollenasymmetrie von
Priestern (presbyteros, Ältester, dann: Vorsteher, hieros und sacerdos, Geweihter, Mittler
zwischen Menschen und Gott) und Laien einerseits und einem missionarischen Auftrag
andererseits. Kirche ist im genauen Bewusstsein um ihre weltliche Differenz (Stichwort: "das
Salz der Erde") Ordnung einer Gemeinde derart, dass das Wort Gottes überall verkündet
werden kann und muss. Der Gedanke der Anerkennung einer schützenswerten kulturellen
Diversität ist der Kirche fremd, so sehr man dann auch lernt, auf fremde Resonanzen
Rücksicht zu nehmen, wenn es das Wort Gottes zu verkünden gilt.
In der christlichen Ekklesiologie (Dogmengeschichte) wird die Einheit der Kirche als
Einheit der Differenz von Diakonie (diákonos, der Diener), Zeugnis (martyria) und
Gottesdienstgestaltung (leiturgia), die jeweils sowohl als Wesensmerkmale als auch als
Grundvollzüge verstanden werden.11 Sie bestimmen das Wesen der Kirche insofern und nur
insofern, als sie auch vollzogen werden. Wir haben es mit einer aus ihrer Praxis gewonnenen,
um nicht zu sagen operationalen Definition von Kirche zu tun.
Daran schließen wir im Folgenden an. Wir lassen die Funktion der Kirche im Kontext
ihres religiösen Auftrags offen und untersuchen ihre institutionelle Form im Wandel der
Geschichte. Oder anders: Wir betrachten ihre institutionelle Form als Interpretation ihres
religiösen Auftrags durch verschiedene Ausprägungen ihrer Organisation. Wir suchen nach
den Operationen, die als Kirche betrachtet werden, sie von anderem unterscheiden und die
Kirche als diesen Unterschied, den sie macht, reproduzieren.
Kirche entsteht und erhält sich, indem sie als Einheit dreifach bestimmt ist:
.
10
11
Siehe Wiedenhofer, Ekklesiologie, a.a.O., S. 113.
Ebd., S. 109ff.
–6–
Wir wählen hier die Notation des Formkalküls von George Spencer-Brown,12 die den Vorteil
hat, Unterscheidungen anschreiben zu können, die von Beobachtern getroffen werden und
Zustände bezeichnen, die von anderen Zuständen unterschieden werden. Die obige Gleichung
liest sich daher sie folgt: Kirche entsteht und erhält sich, indem Beobachter auf eine Art und
Weise tätig werden, die als Diakonie, Zeugnis und Liturgie verstanden und voneinander
unterschieden werden. Die Form, die wir hier angeschrieben haben, enthält eine unmarkierte
Außenseite, so dass es offen bleiben kann, wovon die Kirche unterschieden wird,
beziehungsweise welche Außenseite sie in der Form einschließt, indem sie sie ausschließt.
Beobachtern steht es frei, auf dieser unmarkierten Außenseite Gott, den Teufel, die
Unvernunft, den Zusammenhalt der eigenen Gemeinde,13 eine vorsichtige Form menschlicher
Weisheit oder anderes zu vermuten.
In der Schreibweise der Form können wir den Akzenten unterschiedlicher Beobachter
Rechnung tragen. In der Form oben steht Diakonie im sogenannten tiefsten Raum, s3, und ist
damit eine dreifach bestimmte Variable: durch ihren Unterschied vom Zeugnis, in s2, durch
ihren Unterschied von der Liturgie, in s1, und durch ihren Unterschied von der unmarkierten
Außenseite der Form, in s0. Der Akzent liegt in dieser Form auf der Frage nach der Diakonie.
Damit erhält die Form der Kirche einen Schwerpunkt, der im Dienst am Menschen gesehen
wird.
Es ist jedoch genauso gut möglich, die Kirche eher als Mission und als Kloster zu sehen,
deren Akzent auf dem Zeugnis vom Kreuzestod Jesu Christi und der Erlösung der Menschheit
durch Gottes Gnade liegt:
.
Und ebenso ist es möglich, den Akzent auf die Gottesdienstgestaltung zu legen und die
Diakonie und das Zeugnis in Abhängigkeit davon zu gestalten, was der Gottesdienst zu
erfordern scheint:
12
13
Siehe George Spencer-Brown, Laws of Form, London: Allen & Unwin, 1969, zitiert nach der
internationalen Ausgabe Leipzig: Bohmeier, 2008. Siehe zur Einführung Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül
der Form, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1993; und Tatjana Schönwälder-Kuntze, Katrin Wille und
Thomas Hölscher, George Spencer Brown: Eine Einführung in die "Laws of Form", 2., überarb. Aufl.,
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009.
Im Sinne von Dirk Baecker, Volkszählung, in: ders. (Hrsg.), Kapitalismus als Religion, Berlin:
Kulturverlag Kadmos, 2003, S. 265-282.
–7–
.
Mathematisch betrachtet sind die Möglichkeiten der Kombinatorik damit noch nicht
erschöpft. Man kann historisch und empirisch auch danach fragen, wann die Kirche ihre
Diakonie eher in den Kontext von Gottesdienst (jeder Dienst eine Einladung zum
Gottesdienst) oder Zeugnis (jeder Dienst ein Beleg des Martyrium Gottes) gestellt hat, wann
die Kirche ihr Zeugnis eher als diakonische oder liturgische Leistung verstanden hat oder
wann die Kirche ihre Liturgie eher als Hinweis auf ein Dienstangebot oder als Hinweis auf
Gottes Martyrium ausgestaltet hat.
Die mathematisch freie Kombinatorik findet ihre alles andere als beliebigen Grenzen in
der mitlaufenden Vermutung dessen, was die Kirche einschließt, indem sie es ausschließt.
Auch der innerkirchliche Streit darum, welcher Akzent im Rahmen welcher Unterscheidung
jeweils präferiert werden sollte, wird erheblich dadurch motiviert sein, was die Kirche
einschließt, indem sie es ausschließt. Droht draußen der Teufel, werden jeder Gottesdienst,
jedes Zeugnis und jede Diakonie zum Exorzismus. Etabliert sich weltlich der Wohlfahrtsstaat,
selbst nur ein spätes Produkt christlicher Barmherzigkeit (Caritas) und Nächstenliebe, werden
jede Diakonie und jeder Gottesdienst zum Hinweis auf ein nur in der Kirche zu leistendes
Zeugnis. Und so weiter. Wir wollen die Beispiele nicht überstrapazieren beziehungsweise die
zu leistende empirische und historische Arbeit hier nicht vorwegnehmen.
Wir arbeiten im Folgenden mit der Form [Kirche'], die wir auch die eher diakonische
Kirche im Unterschied zur eher zeugnisablegenden und eher liturgischen Kirche nennen
können. In allen drei Formen, [Kirche'], [Kirche''] und [Kirche'''], ist jedoch immer auf alle
drei Variablen oder Teilfunktionen zu achten. In der Gewichtung ist man frei und kann man
auf die Wahrnehmung der Umwelt reagieren. Gemäß der These, der wir hier folgen, müssen
jedoch alle drei Variablen besetzt sein, und sei es nur in der Form, dass ein verdurstender
Wanderer an der Pforte eines Klosters nicht abgewiesen wird oder dass auch der mit seinen
Klienten emphatisch verbundene Diakon das Kreuz des Herrn nicht aus den Augen verliert.
III.
Unsere Frage hier ist jedoch nicht nur die Frage nach der ekklesiologischen Einheit der
Kirche. Tatsächlich stellen wir diese Frage nur, um der Leitfrage, wie es um die Kirche einer
–8–
nächsten Gesellschaft bestellt sein mag, nachgehen zu können. Wir müssen daher zusätzlich
zu unseren bisherigen Überlegungen die Rede von einer "nächsten Gesellschaft" begründen.
Wir verfolgen mit dieser Rede die Hypothese, dass es sich lohnt, aktuelle Tendenzen der
gesellschaftlichen Entwicklung, ihres Strukturwandels und ihrer kulturellen Umbrüche vor
dem Hintergrund der Vermutung zu beobachten, dass wir Zeugen des Endes einer modernen
Gesellschaft und der Heraufkunft einer nächsten Gesellschaft sind. Diese Vermutung ist darin
begründet, dass es Kulturwissenschaftlern und Soziologen in den vergangenen 50 Jahren
gelungen ist, von einer relativ robusten Unterscheidung der Menschheitsgeschichte in vier
und nur vier Medienepochen auszugehen. Die nach wie vor enorme Varianz der Strukturen
und Kulturen menschlicher Gesellschaften ist demnach danach zu ordnen, mit welchem
dominanten Verbreitungsmedium der Kommunikation die Gesellschaft es jeweils zu tun hat:
Sprache, Schrift, Buchdruck und Computer.
Man muss hier bewusst vorsichtig und dennoch nicht allzu verzagt formulieren. Mit dieser
Vermutung einer medienepochalen Ordnung der Gesellschaft geht die Einsicht in eine
historische Abhängigkeit aller Vokabeln, Begriffe, Ideen und Überlegungen, von Wahrheiten
zu schweigen, einher, auf die man sich dennoch verlassen muss, um die Vermutung
formulieren und ihr nachgehen zu können. Die erkenntnistheoretisch korrekte Form unserer
Hypothese lautet daher, dass die Unterscheidung der vier Medienepochen nichts anderes ist
als eine Form der Beobachtung der aktuellen Unruhe der Gesellschaft. Als diese bewährt sie
sich oder bewährt sie sich nicht. Mit dieser erkenntnistheoretisch korrekten Form soll die
historische Brauchbarkeit und Validierbarkeit der Hypothese nicht bestritten sein; aber sie
soll doch streng in die Perspektive einer spezifischen Beobachtung der Gegenwart gestellt
und so auch relativiert werden. Wer einen historisch differenten Blickpunkt wählt, etwa die
Gesellschaft vor der Kartoffel und nach der Kartoffel, vor dem Schießpulver und nach dem
Schießpulver oder vor der Emanzipation der Frau und nach der Emanzipation der Frau
beobachtet oder gar aus der Perspektive der Ewigkeit heraus beobachtet, bekommt unter
Umständen keinerlei Medienepoche zu sehen.
Die "nächste Gesellschaft" ist ein Stichwort, das von Peter Drucker ausgegeben worden
ist, um die These aufstellen zu können, dass sich mit der Einführung des Computers und des
Internets andere soziale Probleme stellen, andere institutionelle Lösungen gefunden werden
müssen, mit anderen Theorien gearbeitet und mit einem anderen Management von
Organisationen gerechnet werden muss, als dies zuvor der Fall war.14 Kulturwissenschaftler
und Soziologen haben diesen Umbruch als einen Umbruch von der modernen zu einer
nächsten, einer Computer-, einer Wissens- oder einer Netzwerkgesellschaft beschrieben und
14
So Peter F. Drucker, Managing in the Next Society, New York: St. Martin's Griffin, 2003.
–9–
mit der These gearbeitet, dass die Einführung des Computers und des Internets für die
Gesellschaft eine mindestens so große Herausforderung bedeutet wie zuvor die Einführung
des Buchdrucks für die daraus entstehende moderne Gesellschaft, die Einführung der Schrift
für die daraus entstehende antike Gesellschaft und die Einführung der Sprache für die daraus
entstehende tribale Gesellschaft.15
Entscheidend ist, dass hier nicht nur eine Geschichtstheorie entworfen wird, sondern eine
Evolutionstheorie der Gesellschaft. Jedes neu auftretende Verbreitungsmedien der
Kommunikation unterbricht die zuvor etablierten Strukturen der Gesellschaft, so dass die
Gesellschaft in langwierigen evolutionären Prozessen neue Strukturen erst aufbauen muss,
soll es nicht, was zunächst versucht wird, bei der Ablehnung der neuen Verbreitungsmedien
bleiben. Wir haben es daher mit einer "katastrophentheoretischen" Deutung der Geschichte
menschlicher Gesellschaften im präzisen systemtheoretischen Sinne des Wortes zu tun: Ein
neues Verbreitungsmedium der Kommunikation erzwingt einen Wechsel des
Reproduktionsmodus des Systems, der als Katastrophe erlebt wird (kata strephéin, "nieder
wenden", eine Wendung zu einem Ende, die sich, bisher zumindest, als Wende zu einem
neuen Anfang herausstellte).16
Wer spricht, kann sich genauer ausdrücken, verliert jedoch die Evidenz des
Anschaulichen. Wer schreibt, kann sich anders erinnern und bereits jetzt etwas für eine
Zukunft tun. Wer druckt, ermöglicht das massenhafte Lesen. Und wer elektronisch
kommuniziert, ermöglicht instantane Verknüpfung von jedem mit allem.17 Katastrophen sind
dies insofern, als die Sprache nicht durch die Physis der Körper kontrolliert werden kann, die
Schrift nicht durch das im Gespräch geäußerte Wort, der Buchdruck nicht mehr durch die
Autorität der Schrift und der Rechner nicht mehr durch die kritische Öffentlichkeit des
Buchdrucks.18 Es entstehen neue Formen der Verbreitung von Kommunikation, die nicht
mehr durch die alten Formen der Differenzierung der Gesellschaft in Horden, Stämme,
Schichten und Funktionssysteme kontrolliert werden können und neue Formen erfordern, die
15
16
17
18
Hierzu gibt es viel Literatur. Wir nennen nur: Marhall McLuhan, Die Gutenberg-Galaxis: Das Ende des
Buchzeitalters, dt. Düsseldorf: Econ, 1968; Alvin Toffler, Der Zukunftsschock, dt. München: Scherz,
1970; Jack Goody, Ian Watt und Kathleen Gough, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, dt. Frankfurt
am Main: Suhrkamp, 1981; Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit: Eine historische
Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 1991; Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, dt. Opladen: Leske +
Budrich, 2001.
Der Begriff der Katastrophe und die Beschreibung der Systemdynamik stammen von René Thom,
Modèles mathématiques de la morphogenèse, 2. Aufl., Paris: Bourgeois, 1980.
So die Beobachtung von Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle, dt. Düsseldorf: Econ, 1968.
Vgl. ausführlicher Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2007.
– 10 –
es ermöglichen, den jeweiligen Sinn und Überschusssinn der Kommunikation erfassen und
dann unter Umständen annehmen oder ablehnen zu können.19
Genauer noch wird es möglich, die jeweils entstehende Differenzierungsform der
Gesellschaft als Form der Bewältigung der vorausgehenden Medienkatastrophe zu erklären:
Stämme ordnen den Überschusssinn der Sprache durch Grenzen, die Männern auf der Jagd
und Frauen im Dorf, Kindern beim Spielen und Alten bei der Beratung je unterschiedlich zu
reden erlauben (und die anderen daran hindern, sich unangemessen zu beteiligen); soziale
Schichten ordnen den Überschusssinn der Schrift durch die Frage ihrer Zweckmäßigkeit, die
für Sklaven, Bauern, Krieger, den Adel und Priester je unterschiedlich beantwortet werden
kann; Funktionssysteme unterwerfen die Dynamik kritischer Öffentlichkeiten den
Rationalitäten verschiedener Themenbereiche (Politik, Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft,
Religion, Recht, Erziehung); und Netzwerke, so denken wir heute, ordnen den Überschuss
instantaner Verbindungen unter dem Gesichtspunkt jederzeit variierbarer Ausschlusskriterien.
Wir formulieren hier bewusst knapp. Selbstverständlich handelt es sich jeweils um
Begriffe, Überlegungen und Thesen, die differenziert ausgearbeitet werden müssen.
Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht die Ausarbeitung, sondern die
Pointierung einer Perspektive. Die soziologische Beobachtung von Medienepochen nimmt
nicht nur mit den Ökonomen an, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte die
Transaktionskosten einer Kommunikation segensreich gesunken sind, sondern zusätzlich,
dass jede sogenannte Vereinfachung von Kommunikation die Ablehnung durch soziale
Strukturen herausfordert, die gerade eben entstanden waren, um die vorherigen
Vereinfachungen ausnutzen und kontrollieren zu können. Sinkende Transaktionskosten
bedrohen etablierte Strukturen, die ihrerseits als Lösungen früherer Probleme unverzichtbar
waren.
Der Reiz dieser Überlegung liegt überdies darin, dass sich die vier Medienepochen nicht
ablösen, sondern überlagern. Selbstverständlich hat die nächste Gesellschaft es nach wie vor
mit den Problemen zu tun, wie man mit Leuten umgeht, die ihre Zunge nicht im Zaum halten
können, die das, was sie aufschreiben, bereits für das halten, was auch Gültigkeit hat, die das
Gelesene, nur weil es schwarz auf weiß steht, für die Wahrheit halten, und die bereits den
Kontakt für eine Begegnung (einen "Freund" für einen Freund) halten. Die menschliche
Gesellschaft ist historisch ungleichzeitig aufgestellt. Nicht nur von Region zu Region der
aktuellen Weltgesellschaft (Ost und West, Nord und Süd, Stadt und Vorstadt, Berg und Tal),
sondern auch von Organisation zu Organisation, Familie zu Familie, Funktionssystem zu
19
So Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1997, Kap. 2,
insbes. Abschn. XIV, S. 405ff.
– 11 –
Funktionssystem gibt es vorauseilende und nachhängende, begeisterte und leidende,
einfallslose und kreative, geknechtete und innovative Formen des Umgangs mit den alten und
den neuen Medien. Unsere Gesellschaft kennt Milieus, in denen nur das Wort unter vier
Augen zählt, genauso wie Milieus, die noch an der einen Schrift hängen, und Milieus, die
ohne die Präsenz von Computern in Panik geraten.
IV.
Diese Heuristik der Medienepochen legen wir unserer Suche nach der Form der Kirche in der
nächsten Gesellschaft zugrunde.
Wir variieren die unmarkierte Außenseite der Form der Kirche, indem wir behaupten, dass
die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche (und das schließt, wie wir wissen,
konkurrierende Versionen dieser Einheit zwar dogmatisch, aber nicht reformatorisch aus) sich
als Einmalerfindung der menschlichen Geschichte in jeder dieser Medienepochen je
unterschiedlich erhält, dabei jedoch, um sich als Einheit zu erhalten, nichts anderes tut, als die
Variablen der Diakonie, des Martyriums und der Liturgie neu und anders zu bestimmen. Das
heißt, unsere Form der Kirche definiert sowohl deren Einheit als auch deren Spielmaterial.
Alles kann sich ändern, aber es muss sich als Bestimmung der Variablen Diakonie, Martyrium
und Liturgie durch neue Werte ändern, weil andernfalls die Einheit der Kirche im Differenz
zu anderen Institutionen der Gesellschaft verloren ginge.
Die Frage, warum es ausgerechnet die Variablen Diakonie, Martyrium und Liturgie sind,
die beibehalten werden müssen, lassen wir hier offen beziehungsweise überlassen wir den
Theologen. Uns genügt es, zu wissen, dass sich die Selbstbestimmung der Kirche im Rahmen
dieser Variablen abgespielt hat und noch immer abspielt. Uns genügt es, dies zu wissen, weil
auch der Versuch, auf die Außenseite zu wechseln und Kirche etwa nur noch als Exorzismus
(oder Inquisition) oder nur noch als Bibelgespräch (oder Pietismus) zu betreiben, davon lebt,
für den Moment den Dienst am Menschen und die Gestaltung eines Gottesdienstes nicht für
dringlich zu halten.
Wir fragen nach der Kirche der nächsten Gesellschaft, indem wir sie von der Kirche der
tribalen, antiken und modernen Gesellschaft unterscheiden. Und wir orientieren uns an der
Form der primär diakonischen Gesellschaft.
Für die tribale, rein mündlich verfasste Gesellschaft, die Stammesgesellschaft, können wir
es uns relativ einfach machen, weil die Kirche hier nicht ausdifferenziert ist, sondern in ihren
Leistungen eines Dienstes am Menschen mit dem Stamm, der Reziprozitätsregeln
unterworfen ist, identisch ist, in der Form der Magie jederzeit Zeugnis von den guten und
– 12 –
bösen Geistern ablegt und nur mit der Rollenasymmetrie des Schamanen zum Rest des
Stammes sowie in den ausgezeichneten Momenten des Vollzugs von Ritualen Ansatzpunkte
dafür ausweist, den Alltag des Stammeslebens und den Gottes- oder Götterdienst aus
gleichsam nach beiden Seiten gültigen hygienischen Gründen voneinander zu
unterscheiden.20
Wir erhalten die folgende Form für die tribale Kirche, die, wie gesagt, vom Stamm kaum
unterschieden werden kann und doch bereits Differenzierungsmerkmale aufweist, von denen
man vermuten kann, dass sie in erster Linie der Kontrolle von mündlicher Sprache dienen:
.
Magie und Ritual, eigentlich auch die Reziprozität, verdichten das Reden auf die
Verwendung bestimmter Floskeln, von denen man nur um den Preis der Kontamination der
Welt (das heißt des Heraufbeschwörens der Rache der Geister) abweichen darf und die doch
zugleich einen Raum alltäglicher Rede auszudifferenzieren erlauben, in dem man etwas
ausprobieren und auf wechselnde natürliche und soziale Umstände reagieren kann.
[Kirchetribal] ist in erster Linie die Kontrolle von Sprache mit Blick auf Götter, Geister, Ahnen
und Älteste, die nur durch bestimmte Sprachen erreicht werden können, die Verletzung von
Regeln ahnden können und nicht zuletzt durch geschützte Geheimnisse auch Dinge und
Sachverhalte bezeichnen, die nicht besprochen werden können (Tabus). Stämme sind die
soziale Form der Kontrolle mündlicher Sprache durch Moral, Geheimnisse und Freiräume
(Exzesse).
Von einer Kirche im engeren Sinne, das heißt mit einem in der Gesellschaft
ausdifferenzierten Verständnis von Diakonie, Martyrium und Liturgie in der Einheit ihrer
Differenz, kann man erst in der antiken Gesellschaft sprechen. Auch entsteht jetzt erst ein
Christentum, das sich die Form der Kirche gegeben hat. Auch mit Blick auf diese
menschheitsgeschichtlich späte Entstehung des Christentums ist es jedoch nicht überflüssig,
dessen Momente einer Ausdifferenzierung kirchlicher Leistungen bereits in der tribalen
Gesellschaft und in den Mysterienkulten früher Hochkulturen erkennen zu können. Überdies
stellt sich ab jetzt auch die Frage, wie die weiterhin existierenden tribalen Gesellschaften auf
eine missionierende christliche Kirche reagieren. (Man kann sich vorstellen, dass die Mission
20
Die Formulierung verdankt sich Mary Douglas, Purity and Danger: An Analysis of Concepts of Pollution
and Taboo, New York: Praeger, 1966, dt. 1974.
– 13 –
der Kirche hier eine sowohl vernichtende, aus dem "Naturzustand der Sünde" befreiende als
auch eine transformierende, die "Schrift" verbreitende Rolle gespielt hat.)
In der antiken Gesellschaft entsteht die Kirche als Gemeinde, das heißt bewusst
antistratifikatorisch zum einen und doch bereits hierarchisch nicht im Medium sozialer
Schichten, sondern im Medium einer sich herausbildenden Organisation zum anderen.
Diakonie ist ganz selbstverständlich Sorge der Gemeindemitglieder füreinander, und dies
unter Rückgriff auf die Idee der geschwisterlichen Liebe weitgehend unabhängig von den
realen Bindungen der Familie. Zeugnis wird abgelegt, indem man den Erzählungen der
Apostel und, nach deren Tod, der Kirchenväter lauscht. Zeugnis wird auch abgelegt, indem
man zu Zeiten der Christenverfolgung zum Martyrium, zum Erleiden jenes erlösenden
Schmerzes bereit ist, den auch Jesus Christus am Kreuz erlitten hat. Vom Ritual der
Stammesgesellschaft ebenso wie aus der Idee der Sammlung des Volkes Israel übernimmt
man die Gewohnheit, den Gottesdienst als Versammlung zu verstehen, die die Kirche im
Zeichen der Offenbarung Gottes nach dem Ostern- und Pfingstgeschehen als Subjekt und
Objekt des Glaubens erfahrbar macht:21
.
Man sieht der Form an, wie sehr die antike Kirche von der Reinszenierung der Mündlichkeit,
der Interaktion unter Anwesenden, von einer nostalgischen Rückwendung zu den
Verhältnissen der Stammesgesellschaft lebt und wie sehr sie doch das, worum es geht, nur im
Medium der Schrift realisieren kann. Ohne Erzählungen, die sich auf die Heilige Schrift, das
alte und das neue Testament, die Evangelien der Apostel und deren Briefe, die Psalmen und
die Offenbarung berufen können, hat das Zeugnis keine Chance. Die Kirche macht sich auf
diese Art und Weise zu einem der bedeutendsten Transmissionsriemen der Übersetzung der
Verhältnisse der Stammesgesellschaften in Verhältnisse der Schriftgesellschaft für eine
Population, die entweder durchweg den eher niedrigen Schichten entstammt oder aber auf
Stratifikation kaum Rücksicht nehmen muss.
Kaum einer Institution gelingt es besser, die expandierenden Zeithorizonte der
schriftlichen Kommunikation für ihre Zwecke zu nutzen. Dank der Schöpfungsgeschichte
kann die Kirche weit über jede erinnerte Vergangenheit hinaus bis an den Anfang der
Menschheitsgeschichte, ja der Schöpfung zurückgreifen, auch wenn sich im Laufe der Zeit
21
Siehe dazu insbes. Wiedenhofer, Ekklesiologie, a.a.O., S. 57ff. und 62ff.
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herausstellen sollte, dass die zunächst veranschlagten 5.500 Jahre vor Christus dafür nicht
reichen würden. Auch in Fragen der Beweglichkeit des Zukunftshorizonts konnte es keine
andere Institution mit der Kirche aufnehmen, war sie doch in der Lage, vor dem Hintergrund
der Vorstellung der Ewigkeit Gottes sowohl jederzeit als auch in unergründlicher Ferne mit
der Apokalypse (griech. apokalypsis, Entschleierung, Offenbarung des Endes) zu rechnen. Zu
dieser Vorstellungskraft im Spannungsfeld von Vergangenheit und Zukunft, der das
Christentum in der Schriftgesellschaft vermutlich einen großen Teil seiner Attraktivität
verdankt, kam hinzu, dass man über das Zeugnis und die Liturgie, abgefedert durch die
Diakonie, kaum Schwierigkeiten zu haben glaubte, die Evidenz der Schrift auch in der
Gegenwart zum Ereignis (Epiphanie) werden zu lassen (so sehr die Kirchenkritik bis hin zur
Reformation an diesem Punkt immer wieder neu ansetzt).
Die Dynastien der Fürsten und Könige ahmten dieses durch Prunk und Ahnenreihen zwar
nach, doch da ihnen der Zugriff auf die Zukunft mangels Verkündigung und Heilserwartung
versagt blieb, ganz zu schweigen von den Unwägbarkeiten der Geburts- und
Überlebenswahrscheinlichkeiten des Nachwuchses, blieb schon deswegen eine gewisse
Abhängigkeit der staatlichen von der kirchlichen Macht gewahrt. Auch die Buchführung
durch Banken und später durch Unternehmen konnte mit der rekursiven Verschränkung der
Zeithorizonte in der Kirche nicht mithalten, sondern musste die Moderne abwarten, um auf
komplexere und kleinformatigere Vergangenheiten und Zukünfte zurückgreifen zu können, in
die anspruchsvollere Kredit-, Zins- und Investitionskalküle eingebettet werden konnten. Dies
ist daher auch der Zusammenhang, in dem die Auseinandersetzung um das Zinsverbot der
Kirche gesehen werden muss. Für dieses Verbot ist zu Beginn die Sorge um die
Brüderlichkeit in der Gemeinde ebenso wichtig wie zum Zeitpunkt seiner Aufhebung die
Erkenntnis, dass seine Substitution durch Wucher nicht unbedingt der Verbreitung der
Nächstenliebe dient.22
Bis weit in die Neuzeit hinein bleibt das Bild von der Gemeinde, innerhalb derer sich
Gleiche unter Gleichen in ihrer Bemühung um ein frommes Leben austauschen und
bestärken, als Bild einer wahrhaft christlichen, keine sozialen Unterschiede und keine
Hierarchie kennenden Kirche bestehen. Noch die Monadologie von Leibniz, um nur ein
ebenso prominentes wie mathematisch präzises Beispiel zu nennen, lebt von diesem Bild, in
dem der friedliche Austausch der Monaden untereinander dadurch gewährleistet ist, dass jede
22
Siehe dazu Benjamin Nelson, The Idea of Usury: From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood, 2.
Aufl., Chicago, IL: Chicago UP, 1969.
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Monade noch oben, zu Gott hin, geöffnet ist.23 Und doch kommt auch das Gemeindeleben
nicht darum herum, die Prüfungen durch die sündige und ungerechte Außenwelt zur Kenntnis
zu nehmen und auch innerhalb der Kirche festzustellen, dass so mancher, der die Gelegenheit
dazu hat, der Versuchung nicht widerstehen kann. Es entsteht eine Hierarchie, die die Kirche
wehrhaft macht, aber auch zur Ausbildung von Pfründen führt, deren Ausbeutung die
Ungleichheit zwischen Priestern und Gemeindemitgliedern wachsen lässt.
V.
Der Moment, in dem die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft entstehen
lässt, indem öffentliche Kritik nun massenhaft möglich wird und nur durch eine Art von
Vernunft kontrolliert werden kann, die der Kritik eine zusätzliche, aufklärerische Schärfe
gibt, findet die Kirche gut gewappnet. Dank des Umgangs mit der Schrift und ihrer
Auslegung (nicht zuletzt im scholastischen Vergleich mit den Schriften der Antike) ist sie auf
den Umgang mit Kritik bestens vorbereitet und dank ihrer Konkurrenz mit den Fürstenhöfen
der Welt ist sie auch bereits als Organisation aufgestellt. Ihre Gemeinde glaubt sie durch den
ostentativen Reichtum ihrer Gottesdienstrituale und ihre kommunikativen Techniken der
Erzeugung von Angst vor dem Jüngsten Gericht gut im Griff zu haben.
Doch auch der Rest der Gesellschaft ist gezwungen, auf die Einführung des Buchdrucks zu
reagieren, und er tut dies, so muss man wohl sagen, radikaler und innovativer als es die
Kirche vermag.24 Die Politik stellt sich um auf Demokratie, die Wirtschaft auf
Marktwettbewerb, die Wissenschaft auf Forschung und die Kunst auf Originalität. Man
wüsste kaum, welche dieser Entwicklungen, die, und das half, jeweils Jahrzehnte und
Jahrhunderte in Anspruch nahmen, für die Kirche bedrohlicher war. Die Demokratie setzt
ihre eigene Volksgemeinschaft gegen die Gemeinde der Kirche. Die Wirtschaft bietet
Alternativen zu einem gottgefälligen Leben, die nicht mehr auf Frömmigkeit, sondern auf
Erfolg setzen. Die Wissenschaft erforscht, was die Religion bisher nur glauben konnte, und
findet zuweilen das Gegenteil heraus. Und die Kunst beansprucht für sich jene schöpferische
23
24
Siehe Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie (1714), dt. Stuttgart: Reclam, 1979; und vgl. Michel
Serres, Die Kommunikation der Substanzen, more mathematico bewiesen, in: ders., Hermes I:
Kommunikation, dt. Berlin: Merve, 1991, S. 215-229.
Die Kirche reformiert sich auch, aber dies vorzugweise im Medium der Ablehnung von Innovationen.
Siehe dazu Dirk Baecker, "Nicht hoffen auf ungewissen Reichtum": Innovation in der Kirche, in:
Valentin Dessoy und Gundo Lames (Hrsg.), "Siehe ich mache alles neu" (Off. 21, 5): Innovation als
strategische Herausforderung in Kirche und Gesellschaft, Trier: Paulinus Verlag, 2012, S. 52-65.
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Kraft, die bisher Gott und der Natur vorbehalten war und die die Kunst allenfalls
nachzuahmen und zu lobpreisen hatte.
Noch ungünstiger ist, dass die moderne Gesellschaft den Druck auf das Individuum
erheblich erhöht. Das Individuum muss sich individualisieren. Es muss nicht nur lesen und
kritisieren können, sondern auch jenen eigenen Geschmack und jenen eigenen Sinn
(Eigensinn) entwickeln, die es benötigt, um mit ständiger Kritik konstruktiv umgehen zu
können. Die Kirche glaubt zwar zunächst, ihre bewährte Technik des Zweifels am Glauben
als Medium auch der individuellen Gewissheit anbieten zu können, doch lernt das Individuum
schnell, dass fünf Tage in der Woche hinreichend viele Gelegenheiten bieten, sich auf eine
Art und Weise zu individualisieren, für die man am siebten Tag dann immer noch die Beichte
ablegen und Buße tun kann.
Die Kirche reagiert durch noch mehr Organisation. Alternative Religionen kommen in den
Blick, die kirchlich unaufdringlicher sind. Die Kirche reagiert mit der Ausdifferenzierung von
Formen der Interaktion, indem sie Beichte, Predigt, Trost und Seelengespräch schärfer
unterscheidet und je für sich weiterentwickelt. Doch zunehmend ist es die Organisation
selber, die sich Fallen stellt. Wenn der richtige Glaube (Orthodoxie versus Heterodoxie), das
angemessene klösterliche Leben (Regeln und Gelübde), die Sorge um die Mission (welcher
Umgang mit den Heiden?) und nicht zuletzt die Seelsorge in der Gemeinde allesamt zum
Gegenstand von Entscheidungen werden, kann man jede Entscheidung auch anders treffen.
Immer wieder beschwört die Kirche die Evidenz ihrer Entscheidungen gegenüber der
Kontingenz weltlicher Optionen. Aber in genau dem Maße, in dem sie als Organisation und
nicht nur als Institution sichtbar wird, gerät auch sie unter den Einfluss einer Beobachtung der
Kontingenz ihrer Entscheidungen.
Für ein oder zwei Jahrhunderte vermag sie daraus Nutzen zu ziehen, indem sie sich auf die
Kontingenz der Entscheidungen konkurrierender Konfessionen beruft, sie nach schon früh
bewährtem Muster zu Gegnern erklärt und sich im Konflikt mit diesen mit neuer
Dringlichkeit und Ausschließlichkeit versorgt.25 Doch irgendwann ist die Gesellschaft auch
der Glaubenskriege müde und fällt der Blick nur umso schärfer auf die Gewinne der Kirche
aus der Organisation von Konflikten.
Die ewige Kirche gerät in der modernen Gesellschaft in ein unruhiges Gleichgewicht. Sie
muss sich mit Funktionssystemen messen, die ihre eigenen Götter haben: den Willen des
Wählers, die Bedürfnisse des Kunden, die Leidenschaft des Liebhabers, die Besessenheit des
Wissenschaftlers und die Genialität des Künstlers. Was hat die Kirche dem
25
Siehe zum Streit als Medium der sozialen Integration Georg Simmel, Soziologie: Untersuchungen über
die Formen der Vergesellschaftung (1908), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992, S. 284ff.
– 17 –
entgegenzusetzen? Eine Schöpfungsgeschichte, die der Evolution weichen muss, eine
Apokalypse, die von der Industrialisierung, der Urbanisierung, den Hochrisikotechnologien
überboten wird, eine Epiphanie, die die Massenmedien abwechslungsreicher hinbekommen,
und eine Erlösung, die sich zunehmend wie ein Kindermärchen anhört?
Welche Form nimmt die Kirche in der modernen Gesellschaft an? Die Diakonie wird zur
Fürsorge und Seelsorge im Dienst an der Gemeinde. Das Zeugnis wird zur Bibelkunde. Der
Gottesdienst wird zur Routine, gleichgültig ob er lateinisch oder in der Volkssprache
abgehalten wird:
.
Die Kirche, so muss man sehen, hat in einer säkularisierten Gesellschaft ihre besten Zeiten
hinter sich. Ihr Gemeindedienst steht in Konkurrenz zu anderen Einrichtungen der Fürsorge,
Wohlfahrt und Krankenpflege. Ihre Bibelkunde hat es schwer, sich gegen das Lesen von
Romanen und Zeitungen zu behaupten, ganz zu schweigen vom späteren Radio und
Fernsehen. Ihr Gottesdienst bekommt eine rituelle Funktion bei Einschnitten im menschlichen
Leben wie Geburt, Eheschließung und Beerdigung sowie bei der Markierung eines Sonntags,
der mit Mühe gegen die attraktiveren Beschäftigungen der Wochentage verteidigt werden
muss.
VI.
Es fehlt nicht viel und man hätte die Kirche abschreiben können. Was ist aus ihrer
Einmalerfindung geworden, worin besteht ihre angeblich unverzichtbare Funktion? Eine
Zeitlang glaubte man noch, man könne ihr die Pflege jener Transzendenz zuschieben, die –
im Zeitalter der Vernunft und erst recht der Unmenschlichkeit – niemand mehr haben
wollte.26 Aber seit der Einsicht, dass wir die Moderne hinter uns haben,27 scheinen die
26
27
Siehe mit dem Codierungsvorschlag Transzendenz/Immanenz und den Verweisen auf Unbeobachtbarkeit
und Nichtnegierbarkeit Niklas Luhmann, Die Funktion der Religion, Frankfurt am Main: Suhrkamp,
1977; ders., Die Sinnform Religion, in: Soziale Systeme 2 (1996), S. 3-33; ders., Die Religion der
Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.
Mit Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie, dt.
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuchverlag, 1998, hat sie eh nur als semantische Illusion
stattgefunden.
– 18 –
Karten wieder neu gemischt zu werden. Die Transzendenz lauert in der Netzwerkgesellschaft
hinter jedem Kontakt, dessen man sich gerade noch sicher glaubte. Kommunikation im
Medium der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr Kommunikation im Medium einer
selbstsicheren Kritik, einer auftrumpfenden Vernunft, eines Fortschritts trotz aller
historischen Katastrophen, wie es in der Moderne der Fall war, sondern Kommunikation im
Medium eines Ungewissheitskalküls, das man beherrschen muss, wenn man verstehen will,
wie wenig es zu beherrschen gibt.
Doch es naht Abhilfe. Die Wiedergeburt der Religion, die allerorten festgestellt wird,
ereignet sich weniger im Glauben an Gott, Maria oder Jesus Christus und mehr im Glauben
an den Heiligen Geist, doch in diesem Heiligen Geist, so sagt auch Marshall McLuhan unter
Berufung auf seinen Kronzeugen Teilhard de Chardin,28 findet das elektronische Zeitalter ein
würdiges Pendant. Die Pfingstbewegungen sind der beste Beleg dafür, dass Erweckung und
Erlösung nicht mehr am Zorn oder an der Gnade Gottes hängen, nicht an der Liebe Marias
und nicht mehr am Schmerz Jesu Christi, sondern am undurchschaubaren Prozess des Lebens
selber festgemacht werden. Sich dieses unabgeschlossenen Prozesses zu vergewissern, wird
Inbegriff von Religion, so unentscheidbar es auch ist, ob sich die mystische Erfahrung am
Internet oder am Heiligen Geist entzündet.
Für die Kirche – und wir bleiben bei der christlichen, haben jedoch andere religiöse
Bewegungen, die Kirchenansprüche erheben, zusätzlich im Blick – ist dies ein Moment einer
ultimativen Herausforderung und Chance zugleich. Es liegt auf der Hand, dass ihre Diakonie
jetzt nicht mehr nur mit der staatlichen Wohlfahrt und Sozialfürsorge oder mit Sanatorien und
Krankenhäusern konkurriert, sondern dass jede Nichtregierungsorganisation, jede
zivilgesellschaftliche Einrichtung, jeder Sozialunternehmer ihr mit effizienteren und
effektiveren Programmen in die Quere kommt. Es liegt ebenfalls auf der Hand, dass ihr
endgültig ein Zeugnis aus der Hand genommen wird, das mit dem Lesen der Schrift im
Kontext von Kommentaren verwechselt wird. Die Datenspeicher des Computers, des
Internets und der Massenmedien bezeugen was auch immer schneller, eindrücklicher und
verlässlicher. Und nicht zuletzt liegt auf der Hand, dass eine Allmacht Gottes in einem
Zeitalter, das die Vernunft hinter sich hat und die Algorithmen der Rechenzentren vor sich,
ganz zu schweigen von der Einsicht der Menschen in die gefährlichen Ausmaße seines
ökologischen Fußabdrucks (Stichwort: Anthropozän), nicht nur fragwürdig ist, sondern selbst
28
Siehe Marshall McLuhan, The Medium and the Light: Reflections on Religion, hrsg. von Eric McLuhan
und Jacek Szklarek, Eugene, OR: Wipf & Stock, 2010; und vgl. Teilhard de Chardin, Der Mensch im
Kosmos, dt. München: Beck, 1959.
– 19 –
blasphemischen Charakter annimmt. Wie kann Er dafür verantwortlich sein? Was kann
Gottesdienst unter diesen Umständen sinnvoll heißen?
Aber was dann? Wir haben die Antwort mit dem Titel dieses Beitrags bereits gegeben. In
einer Gesellschaft, die die Selbstüberschätzung des modernen Menschen hinter sich lässt und
dem Wunder der Komplexität ungeschützt ins Auge blickt, in einer Welt, die von uns
geschaffen ist, obwohl sie jedes Vorstellungsvermögen übersteigt, und in einer Zeit, in der
alles jederzeit passiert und somit keine Erinnerung und keine Erwartung eine stabile Zuflucht
bieten, ist es das fragilste Moment von allen, das die größte Würde erhält, das "bloße Leben"
des Menschen, um es mit Giorgio Agamben zu formulieren.29 Nichts hat sich im
vergangenen Jahrhundert als schutzloser erwiesen als das körperliche, psychische, geistige
und soziale Leben der Menschen. Und nichts spricht dafür, dass es ihm im aktuellen
Jahrhundert besser ergehen wird. Hier beginnt jede Diakonie.
Aber was berechtigt ausgerechnet die Kirche zu der Erwartung, dass sie für diese Diakonie
mindestens so gut aufgestellt ist wie Hunderte von Wohlfahrtseinrichtungen,
Hilfsorganisationen und Sozialunternehmen? Die Antwort auf diese Frage fällt christlich
nicht schwer. In der Diakonie sind es jede einzelne Diakonin und jeder einzelne Diakon, die
mit ihrem bloßen Leben Zeugnis ablegen für den Wert des bloßen Lebens. Wenn die Kirche
hilft, fällt der Blick heute nicht mehr auf eine gnadenlose Hierarchie, die von den Kreuzzügen
über die Inquisition bis zum fundamentalistischen Eifer der Gegenwart nur dokumentiert, wie
sehr sie in einer immer noch aggressiven Defensive ist, sondern der Blick fällt auf eine
Person, die mit ihrem eigenem Leben, mit ihrer Wachheit und Rücksicht, ihrer Vorsicht und
Behutsamkeit für diese Hilfe einsteht.
Die Form der diakonischen Kirche in der nächsten Gesellschaft kann daher wie folgt
angeschrieben werden:
.
Die Figur des Zeugnisses ist zentral. Sie verweist auf Gott, den Kreuzestod Christi und den
Heiligen Geist. Aber sie kann nur durch das eigene Leben erbracht werden, hier und jetzt. Da
helfen kein lateinisches Gemurmel und keine fromme Innerlichkeit. Es muss gezeigt und
bewiesen werden, demütig, kämpferisch und individuell.
29
Siehe Giorgio Agamben, Homo Sacer: Die souveräne Macht und das bloße Leben, dt. Frankfurt am
Main: Suhrkamp, 2002.
– 20 –
Dieses Zeugnis, das erbracht werden will, motiviert eine Seelsorge, die nach wie vor dort,
wo sie gebraucht wird, handfeste Diakonie ist, aber auch aktiv danach sucht, wo sie gebraucht
wird. Sie ist radikal multifunktional unterwegs und enthält immer auch Momente der
Seelsorge. Alles andere können alle anderen besser. Diakonie heißt, die Form des Menschen
selber zum Thema zu machen: ihn in all seiner Körperlichkeit und Geistigkeit in einer
Unbehaustheit sichtbar zu machen, die nur so ertragen werden kann.
Und auch der Gottesdienst bekommt eine neue alte Funktion. Er wird mitreißendes
Erlebnis einer durchkalkulierten Massenunterhaltung, wie es die Großkirchen Amerikas
vorführen,30 und er wird Stille, zu der man sich kaum noch fähig glaubt. Er zielt restlos auf
die Erweckung eines Individuums, das diese Erweckung gleichzeitig an Körper, Gefühl und
Geist spüren können muss. Es muss sich gemeint wissen, in seiner unaufhebbaren
individuellen Vereinzelung, die zugleich, im Medium elektronischer Medien und
ökologischer Verhältnisse, nichts ist als eine Stelle in einem einstweilen unabgeschlossenen
Prozess.
In der Antike war der eine, allumfassende und allmächtige Gott zornig oder gnädig das
Symbol schlechthin für die Verdichtung der Welt auf eine einzige Differenz zwischen Sein
und Nichtsein, Affirmation und Negation, Heil und Verdammnis. Die moderne Gesellschaft
schafft neben Gott weitere "god-terms", nicht nur das Geld und den Reichtum,31 sondern
auch den Wähler, die Erkenntnis, das Gerichtsurteil, das Kunstwerk, die Karriere und den
Sieg im Sport. Sie alle werden zu Kippfiguren zwischen Affirmation und Negation, in denen
sich zwar nicht mehr Sein und Nichtsein, Heil und Verdammnis, aber doch jede andere
Kontingenz immer wieder neu entscheidet, für die zuvor Gott allein, unterstützt vom
Schicksal, gerade stehen musste. Beides bleibt in der nächsten Gesellschaft gültig. Gott und
seine säkularen Übersetzungen strukturieren nach wie vor unser Wissen um die Unwägbarkeit
unserer Geschicke. Aber hinzu kommt unverstellt der Blick auf den fragilen Menschen, auf
dessen prekäre Existenz und ökologische Gefährdung in einer Welt, die nicht mehr von den
Göttern, nicht mehr von der Vernunft und noch nicht einmal mehr von Prüfungen regiert
wird.
Für die Kirche ist dies eine Chance. Sie ist zwar nicht mehr auf den einzigen Felsen
gebaut, den die Welt kennt. Aber sie muss sich auch nicht mehr der Konkurrenz so vieler
30
31
Siehe nur David Stark, The Megachurch as an Experience Good, in: Dirk Baecker und Birger P. Piddat
(Hrsg.), Ökonomie der Werte: Festschrift zum 65. Geburtstag von Michael Hutter, Marburg: Metropolis,
2013, S. 29-37.
So Kenneth Burke, A Grammar of Motives, Reprint Berkeley, CA: California UP, 1969, S. 108ff.; und
Christoph Deutschmann, Die Verheißung des absoluten Reichtums: Zur religiösen Natur des
Kapitalismus, Frankfurt am Main: Campus, 1999.
– 21 –
andersartiger Rationalitäten stellen. Sie kann Götter und Heilige selber zu Exempeln des
Ungesicherten erklären, kann in jedem ihrer Vertreter, Priester wie Laien, Zeugnis für das
Risiko des Menschlichen ablegen und sich so in die Verhältnisse der Welt einmischen. Jetzt
erst ist sie das Salz der Erde, das freilich, soll es seinen Zweck erfüllen, nicht überdosiert
werden darf.

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