Sowjetische Truppen stürmen Amtsgebäude in
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Sowjetische Truppen stürmen Amtsgebäude in
rHS2^p^ oC HE Beittn^^^f^uropa 1U N A B H Ä N G I G E BERLINER MORGENZEITUNG 19, Kaiserdamm 9, Telefon 3 21 20 18 / 3 25 52 20. JrDarom 247, Telefon 4 11 26 44, B 28, Seebadstr. ohenzollemdamm 94, Telefon 8 26 58 30, B 37, .' 92 85 85 / 7 93 14 05, B 42, Tempelhofer Damm .. - -*j. Baseler Str. 12, Tel. 8 33 90 22, B 46, Leonorenstr. 71, Tel. „ v «. Jü M, B 51, Scharnweberstr. 49, Tel. 4 12 30 39, B 65, OtawUtr. 7, Tel. 4 51 30 35 Nr. 13 771 /47. JAHRGANG Verlag Der Tagesspiegel GmbH, 1000 Berlin 30, Postfach, Potsdamer StraBe 87/Tel. (0 30) 2 60 09-0, Telefax (0 30) 2 60 09-332/Anzeigen: Tel. 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Dezember 1990 gewählte Abgeordnetenhaus von Berlin hat gestern in seiner konstituierenden Sitzung auch die staatsrechtliche Einheit der Stadt vollendet. Dies geschah, indem die Abgeordneten die Verfassung von 1950, die bisher nur in West-Berlin angewandt werden konnte, für ganz Berlin übernahmen. Zur Zustimmung erhoben sie sich von den Plätzen. Mit der Konstituierung der 241 Volksvertreter, von denen 91 im Ostteil der Stadt wohnen, endet die 42jährige Trennung auch auf parlamentarischer Ebene. Erstmals seit Ende 1948 gibt es wieder ein Gesamtberliner Parlament. W i l n a (dpa/AP/Reuter/ADN). Sowjetische Fallschirmjäger-Einheiten haben gestern vormittag in der litauischen Hauptstadt das zentrale Pressehaus und die Landesverteidigungsbehörde gestürmt. Bei der Aktion mit zahlreichen Schützenpanzern wurden nach Angaben aus Wilna vier Menschen verletzt. Informationen über einen Toten wurden später nicht bestätigt. Das litauische Parlament forderte die sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit Moskau über die volle Unabhängigkeit der Republik. Die EG. die NATO sowie der südliche Nachbar Litauens. Polen, äußerten ihre große Besorgnis über die Vorgänge im Baltikum. keit zu zeigen. In der seit dem Fall der Mauer nicht mehr geteilten Stadt müßten Rechtsgleichheit gesichert und gleiche Lebensbedingungen hergestellt werden. Ebenfalls geheim wurden die drei Vizepräsidenten gewählt, und zwar der CDU-Abgeordnete Reinhard Führer mit 132 Ja-Stimmen gegen 12 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen, die bisherige Vizepräsidentin Marianne Brinckmeier mit 133 Ja-Stimmen bei neun NeinStimmen und drei Enthaltungen sowie der bisherige Ost-Berliner Oberbürgermeister Schwierzina mit 125 Ja-Stimmen bei elf NeinStimmen und vier Enthaltungen. Der überraschend von der FDP aufgestellte Abgeordnete Axel Kammholz erhielt nur 29 Stimmen. Beim verbundenen Wahlgang der Vizepräsidenten waren 71 Stimmen ungültig. POLITIK Lothar Späth gerät unter Druck 3 Schwierzina erklärte unmittelbar nach der FEUILLETON Wahl gegenüber der neuen Präsidentin seinen Werke des Bildhauers Eduardo Chiliida Rücktritt als Oberbürgermeister. An der Sitzung im Martln-Gropius-Bau 4 in der Nikolaikirche im Bezirk Mitte nahmen rund 150 Ehrengäste teil, unter ihnen der BILDUNG & WISSENSCHAFT brandenburgische Ministerpräsident Stolpe und Die Sonne steigt dem Frühling entgegen „ 9 Parlamentspräsident Knoblich sowie der Berliner Ehrenbürger Galinski, Vorsitzender der WIRTSCHAFT Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Konkursrichter billigt Plan Die fünfeinhalbstündige Sitzung war von zur Rettung von PanAm ...... ..... 10 längeren Debatten über die Verfassung und die Sowjetische Fallschirmjäger haben das Verteidigungsministerium in Litauens Hauptstadt LAND BRANDENBURG ebenfalls übernommene bisherige West-Berli- Wilna mit Panzern umstellt u n d anschließend g e s t ü r m t Hilflos stehen Demonstranten vor Berliner erhielten erstmals Zuschlag ner parlamentarische Geschäftsordnung ge- einem Panzer. beim Kauf von Eigentumswohnungen // AP-Fotofax prägt. Die Verfassung soll überarbeitet und die BERLIN Neufassung durch Volksentscheid in Kraft In Wilna mußten die Mitarbeiter des Pres- Betrieben der Umgebung, in denen überwieMietverträge für 64 besetzte Häuser gesetzt werden. sehauses das Gebäude mit erhobenen Händen gend Russen arbeiten, ins Zentrum gebracht in Prenzlauer Berg 13 Das Abgeordnetenhaus wird seinen Sitz verlassen. Die Sendungen im litauischen Rund- worden. SPORT vorerst im Rathaus Schöneberg behalten. Ge- funk wurden ständig durch aktuelle Meldungen Nach Informationen aus dem Parlament in Günstige Auslosung für Steffi Graf und plant ist der Umzug in den ehemaligen unterbrochen. Das Sendezentrum von FernseBoris Becker bei den Australian Open ... 17 Preußischen Landtag für 1992. Für die Wahl des hen und Rundfunk in Wilna rief alle Mitarbeiter Wilna standen rund 100 sowjetische Panzer im Norden der Stadt mit laufenden Motoren bereit, RADIO & FERNSEHEN Senats der künftigen Großen Koalition durch auf, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen, um das um ins Zentrum vordringen zu können. Auf dem .Regionalmagazin Brandenburg" und das Parlament ist nach gegenwärtiger Planung Gebäude sichern zu helfen. Flughafen von Wilna dauerte ein Warnstreik „Berlin-Brandenburg" im Vergleich 21 der 24. oder 25. Januar vorgesehen. Im Zentrum der Stadt versammelten sich an. In der Nacht zu gestern hatten auch die (Weitere Berichte Seite 8 und 13) Tausende von Anhängern der litauischen Un- Beschäftigten des Bahnhofs für zwei Stunden Zur neuen Präsidentin des Abgeordnetenhauses wurde die von der CDU vorgeschlagene 62Jährige frühere Bürgermeisterin und Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien gewählt. Sie erhielt in geheimer Wahl 182 Ja-Stimmen bei 44 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen. Zwei Abgeordnete beteiligten sich nicht an der Wahl der Präsidentin. Frau Laurien, die unmittelbar nach der Wahl ihr Amt antrat und die Sitzung in der Nikolaikirche von da an leitete, rief in einer kurzen Ansprache dazu auf, in der politischen Auseinandersetzung die widerstrebenden Interessen abzuwägen und Versöhnbar- HEUTE Bonner Koalitionsparteien wollen Regierung bis nächste Woche bilden CSU attackiert FDP heftig — Kritik auch an Diepgens Vorschlägen für Berlin FDP sucht nach einvernehmlicher Lösung der Personaldebatte Bonn/Wlldbad Kreuth (dpa/AP/Reuter). Die Bonner Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP wollen ihre Verhandlungen zur Regierungsbildung bis Mitte der kommenden Woche abschließen. Dies zeichnete sich bei internen Beratungen der Parteien zum Stand der Koalitionsgespräche ab. Dennoch griff die CSU gestern bei ihrer Klausurtagung in Wildbad Kreuth die FDP — insbesondere Außenminister Genscher — scharf an und verlangte für die Fortsetzung der Verhandlungen an diesem Sonnabend in Bonn eine Debatte über die Golfpolitik der Regierung. Die Regierungsparteien wollen versuchen, die restlichen strittigen Sachfragen am Wochen- ende zu klären. Dazu gehören vor allem die FDP-Forderung nach einem Niedrigststeuergebiet in Ostdeutschland sowie das Mietrecht. Bundeskanzler Kohl hat nach Angaben aus Regierungskreisen das Streitthema Niedrigsteuergebiet zur Chefsache erklärt. Am Dienstag könnte dann die Schlußrunde der Verhandlungen mit der Erörterung der Zusammensetzung der neuen Bundesregierung stattfinden. CSU-Chef Waigel und Landesgruppenchef Bötsch forderten in Kreuth Bundeskanzler Kohl auf, den Golfkonflikt auf die Tagesordnung der Koalitionsverhandlungen zu setzen. Bötsch warf Fortsetzung Seite 2, Spalte 1 und 2 KURZ GEFASST Medaillenflut bei der WM Stärkstes Wirtschaftswachstum für deutsche Schwimmer im Westen seit 14 Jahren Tsp. Perth. Eine Gold-, drei Silber- und eine Bronzemedaille gab es am vierten Tag der Schwimm-Weltmeisterschaften in Perth für die Deutschen, über 400 m Freistil siegte der Potsdamer Jörg Hoffmann vor Stefan Pfeiffer aus Hamburg. Die 4 x 100-m-Freistilstaffel belegte mit dem Berliner Steffen Zesner hinter dem US-Quartett den zweiten Platz und gewann damit ebenso Silber wie die Potsdamerin Jana Dörries als Zweite über 100 m Brust hinter der Australierin Linley Frame. Bronze holte die Leipzigerin Brita Baldus im Wasserspringen, über 200 m Brust schwamm Mike Barrowman (USA) mit 2:11,23 Minuten Weltrekord. (Weiteres Seite J6) Tsp. Berlin. Die westdeutsche Wirtschaft erreichte im vergangenen Jahr den höchsten Zuwachs seit 14 Jahren. Das Bruttosozialprodukt wuchs um 4,6 Prozent nach vier Prozent im Vorjahr. Die wichtigsten Stützen des Aufschwungs waren die starke Binnenkonjunktur und der private Verbrauch. (Weiteres Seite 10) Aktienkurse uneinheitlich abhängigkeit vor dem Parlament. Litauische Polizisten und Offiziere bewachten die Eingänge. Gleichzeitig kamen Anhänger der prorussischen Interfront und der kommunistischen Organisation Jedinstwo zu einer Kundgebung vor dem Parlament, blieben aber in der Minderheit Sie waren mit Bussen aus den die Arbeit niedergelegt Die sowjetischen Streitkräfte besetzten gestern auch eine im Aufbau befindliche litauische Offiziersschule in Kaunas und umstellten den Fernsehturm in Wilna. Fortsetzung Seite 5, Spalte 4 und 5 Perez de Cuellar mit voller Rückendeckung der E G nach Bagdad Irakischer Staatschef betont erneut Unnachgiebigkeit Genf/Bagdad (dpa/Reuter). Mit der vollen Rückendeckung der Europäischen Gemeinschaft wird UNO-Generalsekretär Perez de Cuellar heute in Bagdad versuchen, die Golfkrise in letzter Minute friedlich zu lösen. Zu seiner Friedensmission sei er von den EGAußenministern „voll ermutigt" worden, sagte Perez de Cuellar gestern nach einem 80minütigen Gespräch mit den EG-Außenministern in Genf. Vier Tage vor Ablauf des UNO-Ultimatums drohte der irakische Staatschef Saddam Hussein indessen erneut, bei einem Krieg alle Angreifer zu besiegen. Perez de Cuellar, der in Bagdad auch mit Saddam Hussein zusammenkommen will, äußerte sich nach dem Treffen mit den EGMinistern „sehr zufrieden". Bei dem Gespräch, das von der EG kurzfristig vorbereitet worden war, seien nützliche Ideen ausgetauscht worden, die er im Kopf behalten werde, .einige auch im Herzen, weil sie im Sinne des Friedens und der Verständigung sind". Der EG-Ratspräsident und luxemburgische Außenminister Poos nannte die Begegnung sehr erfolgreich und sagte: „All unsere guten Wünsche begleiten Sie." Er nannte den Golfkonflikt die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Bundesaußenminister Genscher, der zusammen mit seinem französischen Kollegen Dumas das Treffen in Genf angeregt hatte, sagte, er hoffe auf eine erfolgreiche Mission und auf ein Einlenken von Saddam Hussein. Das weitere Verhalten der EG werde auch von den Ergebnissen des Treffens am Wochenende in Bagdad abhängen, erklärte er. Die Einladung an den irakischen Außenminister Aziz gelte weiterhin. Berichte aus Tunis, wonach sich eine EG-Delegation mit Aziz am Sonnabend in Algerien treffen wollte, wurden in Genf nicht bestätigt Fortsetzung Seite 6, Spalte 4 und 5 Vier Tote und mehr als hundert Verletzte bei Krawallen in Athen Tsp. Berlin. Die Aktienmärkte begannen gestern zunächst recht optimistisch und die Kurse kletterten. Als jedoch die Nachrichten aus Wilna eintrafen kam es zum Knick und nagativere Einschätzungen setzten sich durch. Landesweite Protestaktionen gegen die geplante Bildungsreform dauern an Der Markt schloß uneinheitlich. Athen (ADN/Reuter/dpa). Bei schweren Aus- Demonstration von etwa 100 000 Studenten, (Weiteres Seite 10) schreitungen zwischen Demonstranten und der Lehrern und Einwohnern gekommen. Anlaß war Polizei sind in Athen vier Menschen ums Leben der Tod eines Lehrers in der Hafenstadt Patras Die Wettervorhersage gekommen. Mehr als hundert Menschen, dar- am Mittwoch, der bei einer Schulbesetzung von Tsp. Berlin. Wechselnd heiteres Wetter und unter 23 Polizisten, wurden verletzt. Gestern einer eingedrungenen Gruppe Jugendlicher Der Kontostand der starke Bewölkung mit einzelnen Schauern blieben Schulen und Universitäten wegen eines erschlagen worden war, die den Konservativen Tagesspiegel-Spendenaktion: sagen die Meteorologen für heute voraus. Als Streiks von Lehrern und Schülern geschlossen. zugerechnet werden. Höchsttemperatur werden 6 Grad, als tiefste Am Freitag mittag brannten in den Straßen Bei den Straßenschlachten wurden Fahrzeuge nachts 3 bis 1 Grad genannt Für Sonntag wird noch große Feuer. Für den Nachmittag war eine demoliert und Häuser durch Brandbomben mit vereinzelten Schauern gerechnet, die teilneue Demonstration von Schülern und StudenKonto-Nr. 40000000 Die Polizei ging mit Tränengas und weise in Schnee übergehen. Für Montag werden ten geplant. Der Athener Bürgermeister Anto- zerstört. Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor. bei allen Berliner Banken und Sparkassen, eine Höchsttemperatur von nur noch 0 Grad nis Tritsis rief zu Vernunft und Ruhe auf. Mülltonnen wurden in Brand gesetzt sowie Nachtfrost bis —5 Grad erwartet Konto-Nr. 600000-102 Zu den etwa siebenstündigen StraßenschlachFortsetzung Seite 5, Spalte 1 und 2 (Weiteres Seite 14) ten war es in der Nacht zum Freitag nach einer beim Postgiroamt Berlin West HILFE FÜR LENINGRAD 4750607 DM Unsere Meinung: In Stalins Spuren Bn. Die Argumente, mit denen der sowjetische Präsident die militärische Besetzung wichtiger Machtzentren in Litauen rechtfertigte, klingen Historikern seltsam bekannt. Mit den gleichen Argumenten rechtfertigte Stalin vor fünfzig Jahren die Annexion der unabhängigen baltischen Staaten. Auch damals stand das litauische Parlament das letztlich nur noch seine Selbstauflösung beschließen konnte, unter dem Druck sowjetischer Bajonette. Auch damals ging es um die Zerstörung einer „bourgeoisen Ordnung", die angeblich „den Interessen des Volkes widersprach", obwohl sich das litauische Volk in freier Selbstbestimmung für eben diese Ordnung entschieden hatte. „Recht und Ordnung", die es nun wiederherzustellen gelte, wurden 1940 lediglich durch die Kommunistische Partei gefährdet. Fünfzig Jahre später ist Moskau bereits in einer bequemeren Position, weil nach der Verschleppung und Ermordung von Hunderttausenden Litauern eine starke russische Minderheit ins Land geholt wurde, die sich nun zum selbsternannten Retter Litauens aufwirft Mit der Besetzung staatlicher und politischer Zentralen, des Fernsehens und der Druckereien haben die angeblich zur Suche von Deserteuren entsandten sowjetischen Fallschirmjäger sich noch schneller als befürchtet ihrer wirklichen Aufgabe zugewandt. Nach Ablauf des Ultimatums für die Auslieferung von Deserteuren und Wehrdienstverweigerern dürften das litauische Parlament und die Regierung in Wilna ihrer endgültigen Entmachtung entgegensehen. Man kann nur noch hoffen, daß diese gewählten Repräsentanten des litauischen Volkes sich nicht in sibirischen Zwangsarbeitslagern wiederfinden wie ihre unglücklichen Vorgänger von 1940. Proteste aus der ganzen Welt werden an der Zerschlagung der litauischen Freiheitsbewegung ebensowenig ändern wie 1940. Damals widerhallte die Welt vom Waffenlärm des Zweiten Weltkrieges, heute starrt alles gebannt auf die drohende Kriegsgefahr im Nahen Osten. Der Blütentraum einer freiheitlichen föderativen Verfassung, mit der Gorbatschow das sowjetische Völkergefängnis durch ein freiwilliges Bündnis souveräner Nationen ersetzen wollte, erscheint ausgeträumt. Der sowjetische Reformer, dessen Wirtschaftsreformen nicht von der Stelle kommen, wird mehr und mehr zum Gefangenen neostalinistischer Kräfte in Armee und Geheimpolizei, die sich gegen den drohenden Zerfall des Sowjetimperiums mit den alten stalinistischen Mitteln wehren. Die Androhung eines Blutbads durch den KGB-Chef Krjutschkow zeigt, wozu diese Kräfte fähig sind. Bonner Alltag MZ. Es ist für den Lauf der Welt vergleichsweise unerheblich, zu welchem Datum die Bonner Koalitionsposse ihren krönenden Abschluß findet in Form der Wahl des Helmut Kohl zum Kanzler aller Deutschen. Es könnte allerdings sein, daß viele Deutsche diesen Tag schon deshalb herbeisehnen, weil sie des ganzen Theaters schlichtweg überdrüssig sind. Da mag es kaum mehr eine Rolle spielen, was im einzelnen noch ausgeheckt wird — wenn sie nur endlich aufhören mit ihrem unerquicklichen Spiel, die Kleingeister und Wichtigtuer verschiedener Couleur, denen als Antwort auf große Herausforderungen bisher nichts einfällt als die Schröpfung von Sozialversicherten und Telefonkunden. Die Sprechblasen, in denen eben noch markige Taten zum Abbau von Subventionsmilliarden angekündigt wurden, sind zerplatzt. Wer jenen Bevölkerungskreisen angehört, die als wichtige Wählerklientel gelten, braucht sich, ob Bauer oder Beamter, keine Sorgen zu machen, daß er zu Solidaritätsopfern irgendwelcher Art herangezogen werden könnte. Das wichtigste Requisit der Bonner Polit-Folklore ist die Finanzdecke mit dem kleinen Karomuster, und die zerrt man so lange hin und her, bis sich höchstens noch diejenigen über kalte Füße beschweren können, die ohnehin nicht viel zu melden haben. Der verbreiteten Sehnsucht nach einem raschen Ende der Veranstaltung kommt es mithin entgegen, wenn die Verhandlungsparteien nun beteuern, sie wollten, Niedrigsteuer hin, Personalquerelen her, alles daransetzen, um bis zum 17. Januar termingerecht fertig zu werden. Allein, so recht glauben mag man es nicht, wenn man vernimmt, wie aus Richtung Bayern neue Drehbuchvorschläge zur Bereicherung der Dramaturgie gemacht werden. In Kreuth, wo der Boden bekanntlich besonders fruchtbar ist für das Gedeihen christlichsozialer Eigenarten, hat man jetzt herausgefunden, woran es den Koalitionsverhandlungen bisher tatsächlich gemangelt hat. Im allgemeinen, so die Erkenntnis der CSU, muß man sich viel heftiger mit den Liberalen streiten, und im besonderen muß der Themenkatalog um die Golfkrise erweitert werden. Zwar ist es theoretisch nicht ausgeschlossen, daß in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein dringendes Bedürfnis besteht zu erfahren, welche Weisheiten die Bonner Koalitionäre zu dieser bitterernsten Frage beizutragen haben. Sehr groß ist die Wahrscheinlichkeit aber nicht Wer denn meint, der Stimmung in der Bevölkerung irgendwie Rechnung tragen zu müssen, täte besser daran, im Schatten der Weltereignisse die offenbar unvermeidliche Fortsetzung der Bonner Alltagsgeschichten einstweilen schweigend zu vertagen.