Sowjetische Truppen stürmen Amtsgebäude in

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Sowjetische Truppen stürmen Amtsgebäude in
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BERLINER
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BERLIN, SONNABEND, 12. JANUAR 1991
Brandenburg: 1 DM / ffiSf: 1,30 DM/A6622A
Berlin ist nun auch
staatsrechtlich vereint
Sowjetische Truppen stürmen
Amtsgebäude in Litauen
Erstes gemeinsames Parlament seit 1948 konstituiert
Frau Laurien zur neuen Präsidentin gewählt
Bislang vier Verletzte gemeldet
Proteste und Bestürzung im Westen
Gru. B e r l i n . Das am 2. Dezember 1990 gewählte Abgeordnetenhaus von Berlin hat gestern in seiner konstituierenden Sitzung auch die staatsrechtliche Einheit der Stadt vollendet. Dies geschah, indem die Abgeordneten die Verfassung
von 1950, die bisher nur in West-Berlin angewandt werden konnte, für ganz
Berlin übernahmen. Zur Zustimmung erhoben sie sich von den Plätzen. Mit der
Konstituierung der 241 Volksvertreter, von denen 91 im Ostteil der Stadt wohnen,
endet die 42jährige Trennung auch auf parlamentarischer Ebene. Erstmals seit
Ende 1948 gibt es wieder ein Gesamtberliner Parlament.
W i l n a (dpa/AP/Reuter/ADN). Sowjetische Fallschirmjäger-Einheiten haben
gestern vormittag in der litauischen Hauptstadt das zentrale Pressehaus und die
Landesverteidigungsbehörde gestürmt. Bei der Aktion mit zahlreichen Schützenpanzern wurden nach Angaben aus Wilna vier Menschen verletzt. Informationen
über einen Toten wurden später nicht bestätigt. Das litauische Parlament forderte
die sofortige Aufnahme von Verhandlungen mit Moskau über die volle Unabhängigkeit der Republik.
Die EG. die NATO sowie der südliche Nachbar Litauens. Polen, äußerten ihre
große Besorgnis über die Vorgänge im Baltikum.
keit zu zeigen. In der seit dem Fall der Mauer
nicht mehr geteilten Stadt müßten Rechtsgleichheit gesichert und gleiche Lebensbedingungen hergestellt werden.
Ebenfalls geheim wurden die drei Vizepräsidenten gewählt, und zwar der CDU-Abgeordnete Reinhard Führer mit 132 Ja-Stimmen
gegen 12 Nein-Stimmen bei vier Enthaltungen,
die bisherige Vizepräsidentin Marianne Brinckmeier mit 133 Ja-Stimmen bei neun NeinStimmen und drei Enthaltungen sowie der
bisherige Ost-Berliner Oberbürgermeister
Schwierzina mit 125 Ja-Stimmen bei elf NeinStimmen und vier Enthaltungen. Der überraschend von der FDP aufgestellte Abgeordnete
Axel Kammholz erhielt nur 29 Stimmen. Beim
verbundenen Wahlgang der Vizepräsidenten
waren 71 Stimmen ungültig.
POLITIK
Lothar Späth gerät unter Druck
3
Schwierzina erklärte unmittelbar nach der
FEUILLETON
Wahl gegenüber der neuen Präsidentin seinen
Werke des Bildhauers Eduardo Chiliida Rücktritt als Oberbürgermeister. An der Sitzung
im Martln-Gropius-Bau
4 in der Nikolaikirche im Bezirk Mitte nahmen
rund 150 Ehrengäste teil, unter ihnen der
BILDUNG & WISSENSCHAFT
brandenburgische Ministerpräsident Stolpe und
Die Sonne steigt dem Frühling
entgegen
„
9
Parlamentspräsident Knoblich sowie der Berliner Ehrenbürger Galinski, Vorsitzender der
WIRTSCHAFT
Jüdischen Gemeinde zu Berlin.
Konkursrichter billigt Plan
Die fünfeinhalbstündige Sitzung war von
zur Rettung von PanAm ...... .....
10
längeren Debatten über die Verfassung und die Sowjetische Fallschirmjäger haben das Verteidigungsministerium in Litauens Hauptstadt
LAND BRANDENBURG
ebenfalls übernommene bisherige West-Berli- Wilna mit Panzern umstellt u n d anschließend g e s t ü r m t Hilflos stehen Demonstranten vor
Berliner erhielten erstmals Zuschlag
ner parlamentarische Geschäftsordnung ge- einem Panzer.
beim Kauf von Eigentumswohnungen //
AP-Fotofax
prägt. Die Verfassung soll überarbeitet und die
BERLIN
Neufassung durch Volksentscheid in Kraft
In Wilna mußten die Mitarbeiter des Pres- Betrieben der Umgebung, in denen überwieMietverträge für 64 besetzte Häuser
gesetzt werden.
sehauses das Gebäude mit erhobenen Händen gend Russen arbeiten, ins Zentrum gebracht
in Prenzlauer Berg
13
Das Abgeordnetenhaus wird seinen Sitz verlassen. Die Sendungen im litauischen Rund- worden.
SPORT
vorerst im Rathaus Schöneberg behalten. Ge- funk wurden ständig durch aktuelle Meldungen
Nach Informationen aus dem Parlament in
Günstige Auslosung für Steffi Graf und
plant ist der Umzug in den ehemaligen unterbrochen. Das Sendezentrum von FernseBoris Becker bei den Australian Open ... 17 Preußischen Landtag für 1992. Für die Wahl des hen und Rundfunk in Wilna rief alle Mitarbeiter Wilna standen rund 100 sowjetische Panzer im
Norden der Stadt mit laufenden Motoren bereit,
RADIO & FERNSEHEN
Senats der künftigen Großen Koalition durch auf, ihren Arbeitsplatz aufzusuchen, um das um ins Zentrum vordringen zu können. Auf dem
.Regionalmagazin Brandenburg" und
das Parlament ist nach gegenwärtiger Planung Gebäude sichern zu helfen.
Flughafen von Wilna dauerte ein Warnstreik
„Berlin-Brandenburg" im Vergleich
21 der 24. oder 25. Januar vorgesehen.
Im Zentrum der Stadt versammelten sich an. In der Nacht zu gestern hatten auch die
(Weitere Berichte Seite 8 und 13) Tausende von Anhängern der litauischen Un- Beschäftigten des Bahnhofs für zwei Stunden
Zur neuen Präsidentin des Abgeordnetenhauses wurde die von der CDU vorgeschlagene
62Jährige frühere Bürgermeisterin und Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien gewählt. Sie
erhielt in geheimer Wahl 182 Ja-Stimmen bei
44 Nein-Stimmen und 13 Enthaltungen. Zwei
Abgeordnete beteiligten sich nicht an der Wahl
der Präsidentin. Frau Laurien, die unmittelbar
nach der Wahl ihr Amt antrat und die Sitzung
in der Nikolaikirche von da an leitete, rief in
einer kurzen Ansprache dazu auf, in der
politischen Auseinandersetzung die widerstrebenden Interessen abzuwägen und Versöhnbar-
HEUTE
Bonner Koalitionsparteien wollen
Regierung bis nächste Woche bilden
CSU attackiert FDP heftig — Kritik auch an Diepgens Vorschlägen für Berlin
FDP sucht nach einvernehmlicher Lösung der Personaldebatte
Bonn/Wlldbad Kreuth (dpa/AP/Reuter). Die
Bonner Koalitionsparteien CDU, CSU und FDP
wollen ihre Verhandlungen zur Regierungsbildung bis Mitte der kommenden Woche abschließen. Dies zeichnete sich bei internen
Beratungen der Parteien zum Stand der Koalitionsgespräche ab. Dennoch griff die CSU
gestern bei ihrer Klausurtagung in Wildbad
Kreuth die FDP — insbesondere Außenminister
Genscher — scharf an und verlangte für die
Fortsetzung der Verhandlungen an diesem
Sonnabend in Bonn eine Debatte über die
Golfpolitik der Regierung.
Die Regierungsparteien wollen versuchen,
die restlichen strittigen Sachfragen am Wochen-
ende zu klären. Dazu gehören vor allem die
FDP-Forderung nach einem Niedrigststeuergebiet in Ostdeutschland sowie das Mietrecht.
Bundeskanzler Kohl hat nach Angaben aus
Regierungskreisen das Streitthema Niedrigsteuergebiet zur Chefsache erklärt. Am Dienstag könnte dann die Schlußrunde der Verhandlungen mit der Erörterung der Zusammensetzung der neuen Bundesregierung stattfinden.
CSU-Chef Waigel und Landesgruppenchef
Bötsch forderten in Kreuth Bundeskanzler Kohl
auf, den Golfkonflikt auf die Tagesordnung der
Koalitionsverhandlungen zu setzen. Bötsch warf
Fortsetzung Seite 2, Spalte 1 und 2
KURZ GEFASST
Medaillenflut bei der WM
Stärkstes Wirtschaftswachstum
für deutsche Schwimmer
im Westen seit 14 Jahren
Tsp. Perth. Eine Gold-, drei Silber- und eine
Bronzemedaille gab es am vierten Tag der
Schwimm-Weltmeisterschaften in Perth für die
Deutschen, über 400 m Freistil siegte der
Potsdamer Jörg Hoffmann vor Stefan Pfeiffer
aus Hamburg. Die 4 x 100-m-Freistilstaffel belegte mit dem Berliner Steffen Zesner hinter
dem US-Quartett den zweiten Platz und gewann
damit ebenso Silber wie die Potsdamerin Jana
Dörries als Zweite über 100 m Brust hinter der
Australierin Linley Frame. Bronze holte die
Leipzigerin Brita Baldus im Wasserspringen,
über 200 m Brust schwamm Mike Barrowman
(USA) mit 2:11,23 Minuten Weltrekord.
(Weiteres Seite J6)
Tsp. Berlin. Die westdeutsche Wirtschaft
erreichte im vergangenen Jahr den höchsten
Zuwachs seit 14 Jahren. Das Bruttosozialprodukt wuchs um 4,6 Prozent nach vier Prozent
im Vorjahr. Die wichtigsten Stützen des Aufschwungs waren die starke Binnenkonjunktur
und der private Verbrauch. (Weiteres Seite 10)
Aktienkurse uneinheitlich
abhängigkeit vor dem Parlament. Litauische
Polizisten und Offiziere bewachten die Eingänge. Gleichzeitig kamen Anhänger der prorussischen Interfront und der kommunistischen
Organisation Jedinstwo zu einer Kundgebung
vor dem Parlament, blieben aber in der
Minderheit Sie waren mit Bussen aus den
die Arbeit niedergelegt
Die sowjetischen Streitkräfte besetzten gestern auch eine im Aufbau befindliche litauische
Offiziersschule in Kaunas und umstellten den
Fernsehturm in Wilna.
Fortsetzung Seite 5, Spalte 4 und 5
Perez de Cuellar mit voller
Rückendeckung der E G nach Bagdad
Irakischer Staatschef betont erneut Unnachgiebigkeit
Genf/Bagdad (dpa/Reuter). Mit der vollen
Rückendeckung der Europäischen Gemeinschaft wird UNO-Generalsekretär Perez de
Cuellar heute in Bagdad versuchen, die Golfkrise in letzter Minute friedlich zu lösen. Zu
seiner Friedensmission sei er von den EGAußenministern „voll ermutigt" worden, sagte
Perez de Cuellar gestern nach einem 80minütigen Gespräch mit den EG-Außenministern in
Genf. Vier Tage vor Ablauf des UNO-Ultimatums drohte der irakische Staatschef Saddam
Hussein indessen erneut, bei einem Krieg alle
Angreifer zu besiegen.
Perez de Cuellar, der in Bagdad auch mit
Saddam Hussein zusammenkommen will, äußerte sich nach dem Treffen mit den EGMinistern „sehr zufrieden". Bei dem Gespräch,
das von der EG kurzfristig vorbereitet worden
war, seien nützliche Ideen ausgetauscht worden, die er im Kopf behalten werde, .einige auch
im Herzen, weil sie im Sinne des Friedens und
der Verständigung sind".
Der EG-Ratspräsident und luxemburgische
Außenminister Poos nannte die Begegnung sehr
erfolgreich und sagte: „All unsere guten Wünsche begleiten Sie." Er nannte den Golfkonflikt
die schwerste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Bundesaußenminister Genscher, der zusammen mit seinem französischen Kollegen Dumas
das Treffen in Genf angeregt hatte, sagte, er
hoffe auf eine erfolgreiche Mission und auf ein
Einlenken von Saddam Hussein. Das weitere
Verhalten der EG werde auch von den
Ergebnissen des Treffens am Wochenende in
Bagdad abhängen, erklärte er. Die Einladung
an den irakischen Außenminister Aziz gelte
weiterhin. Berichte aus Tunis, wonach sich eine
EG-Delegation mit Aziz am Sonnabend in
Algerien treffen wollte, wurden in Genf nicht
bestätigt
Fortsetzung Seite 6, Spalte 4 und 5
Vier Tote und mehr als hundert
Verletzte bei Krawallen in Athen
Tsp. Berlin. Die Aktienmärkte begannen
gestern zunächst recht optimistisch und die
Kurse kletterten. Als jedoch die Nachrichten
aus Wilna eintrafen kam es zum Knick und
nagativere Einschätzungen setzten sich durch. Landesweite Protestaktionen gegen die geplante Bildungsreform dauern an
Der Markt schloß uneinheitlich.
Athen (ADN/Reuter/dpa). Bei schweren Aus- Demonstration von etwa 100 000 Studenten,
(Weiteres Seite 10) schreitungen zwischen Demonstranten und der Lehrern und Einwohnern gekommen. Anlaß war
Polizei sind in Athen vier Menschen ums Leben der Tod eines Lehrers in der Hafenstadt Patras
Die Wettervorhersage
gekommen. Mehr als hundert Menschen, dar- am Mittwoch, der bei einer Schulbesetzung von
Tsp. Berlin. Wechselnd heiteres Wetter und unter 23 Polizisten, wurden verletzt. Gestern einer eingedrungenen Gruppe Jugendlicher
Der Kontostand der
starke Bewölkung mit einzelnen Schauern blieben Schulen und Universitäten wegen eines erschlagen worden war, die den Konservativen
Tagesspiegel-Spendenaktion:
sagen die Meteorologen für heute voraus. Als Streiks von Lehrern und Schülern geschlossen. zugerechnet werden.
Höchsttemperatur werden 6 Grad, als tiefste Am Freitag mittag brannten in den Straßen
Bei den Straßenschlachten wurden Fahrzeuge
nachts 3 bis 1 Grad genannt Für Sonntag wird noch große Feuer. Für den Nachmittag war eine demoliert und Häuser durch Brandbomben
mit
vereinzelten
Schauern
gerechnet,
die
teilneue
Demonstration
von
Schülern
und
StudenKonto-Nr. 40000000
Die Polizei ging mit Tränengas und
weise in Schnee übergehen. Für Montag werden ten geplant. Der Athener Bürgermeister Anto- zerstört.
Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor.
bei allen Berliner Banken und Sparkassen, eine Höchsttemperatur von nur noch 0 Grad nis Tritsis rief zu Vernunft und Ruhe auf.
Mülltonnen wurden in Brand gesetzt
sowie Nachtfrost bis —5 Grad erwartet
Konto-Nr. 600000-102
Zu den etwa siebenstündigen StraßenschlachFortsetzung Seite 5, Spalte 1 und 2
(Weiteres Seite 14) ten war es in der Nacht zum Freitag nach einer
beim Postgiroamt Berlin West
HILFE FÜR LENINGRAD
4750607 DM
Unsere Meinung:
In Stalins Spuren
Bn. Die Argumente, mit denen der sowjetische Präsident die militärische Besetzung wichtiger Machtzentren in Litauen rechtfertigte,
klingen Historikern seltsam bekannt. Mit den
gleichen Argumenten rechtfertigte Stalin vor
fünfzig Jahren die Annexion der unabhängigen
baltischen Staaten. Auch damals stand das
litauische Parlament das letztlich nur noch
seine Selbstauflösung beschließen konnte, unter
dem Druck sowjetischer Bajonette. Auch damals
ging es um die Zerstörung einer „bourgeoisen
Ordnung", die angeblich „den Interessen des
Volkes widersprach", obwohl sich das litauische
Volk in freier Selbstbestimmung für eben diese
Ordnung entschieden hatte. „Recht und Ordnung", die es nun wiederherzustellen gelte,
wurden 1940 lediglich durch die Kommunistische Partei gefährdet. Fünfzig Jahre später ist
Moskau bereits in einer bequemeren Position,
weil nach der Verschleppung und Ermordung
von Hunderttausenden Litauern eine starke
russische Minderheit ins Land geholt wurde,
die sich nun zum selbsternannten Retter
Litauens aufwirft
Mit der Besetzung staatlicher und politischer
Zentralen, des Fernsehens und der Druckereien
haben die angeblich zur Suche von Deserteuren
entsandten sowjetischen Fallschirmjäger sich
noch schneller als befürchtet ihrer wirklichen
Aufgabe zugewandt. Nach Ablauf des Ultimatums für die Auslieferung von Deserteuren und
Wehrdienstverweigerern dürften das litauische
Parlament und die Regierung in Wilna ihrer
endgültigen Entmachtung entgegensehen. Man
kann nur noch hoffen, daß diese gewählten
Repräsentanten des litauischen Volkes sich
nicht in sibirischen Zwangsarbeitslagern wiederfinden wie ihre unglücklichen Vorgänger
von 1940. Proteste aus der ganzen Welt werden
an der Zerschlagung der litauischen Freiheitsbewegung ebensowenig ändern wie 1940. Damals widerhallte die Welt vom Waffenlärm des
Zweiten Weltkrieges, heute starrt alles gebannt
auf die drohende Kriegsgefahr im Nahen Osten.
Der Blütentraum einer freiheitlichen föderativen Verfassung, mit der Gorbatschow das
sowjetische Völkergefängnis durch ein freiwilliges Bündnis souveräner Nationen ersetzen
wollte, erscheint ausgeträumt. Der sowjetische
Reformer, dessen Wirtschaftsreformen nicht
von der Stelle kommen, wird mehr und mehr
zum Gefangenen neostalinistischer Kräfte in
Armee und Geheimpolizei, die sich gegen den
drohenden Zerfall des Sowjetimperiums mit den
alten stalinistischen Mitteln wehren. Die Androhung eines Blutbads durch den KGB-Chef
Krjutschkow zeigt, wozu diese Kräfte fähig sind.
Bonner Alltag
MZ. Es ist für den Lauf der Welt vergleichsweise unerheblich, zu welchem Datum die
Bonner Koalitionsposse ihren krönenden Abschluß findet in Form der Wahl des Helmut
Kohl zum Kanzler aller Deutschen. Es könnte
allerdings sein, daß viele Deutsche diesen Tag
schon deshalb herbeisehnen, weil sie des
ganzen Theaters schlichtweg überdrüssig sind.
Da mag es kaum mehr eine Rolle spielen, was
im einzelnen noch ausgeheckt wird — wenn
sie nur endlich aufhören mit ihrem unerquicklichen Spiel, die Kleingeister und Wichtigtuer
verschiedener Couleur, denen als Antwort auf
große Herausforderungen bisher nichts einfällt
als die Schröpfung von Sozialversicherten und
Telefonkunden. Die Sprechblasen, in denen
eben noch markige Taten zum Abbau von
Subventionsmilliarden angekündigt wurden,
sind zerplatzt. Wer jenen Bevölkerungskreisen
angehört, die als wichtige Wählerklientel gelten, braucht sich, ob Bauer oder Beamter, keine
Sorgen zu machen, daß er zu Solidaritätsopfern
irgendwelcher Art herangezogen werden
könnte. Das wichtigste Requisit der Bonner
Polit-Folklore ist die Finanzdecke mit dem
kleinen Karomuster, und die zerrt man so lange
hin und her, bis sich höchstens noch diejenigen
über kalte Füße beschweren können, die
ohnehin nicht viel zu melden haben.
Der verbreiteten Sehnsucht nach einem
raschen Ende der Veranstaltung kommt es
mithin entgegen, wenn die Verhandlungsparteien nun beteuern, sie wollten, Niedrigsteuer
hin, Personalquerelen her, alles daransetzen,
um bis zum 17. Januar termingerecht fertig zu
werden. Allein, so recht glauben mag man es
nicht, wenn man vernimmt, wie aus Richtung
Bayern neue Drehbuchvorschläge zur Bereicherung der Dramaturgie gemacht werden. In
Kreuth, wo der Boden bekanntlich besonders
fruchtbar ist für das Gedeihen christlichsozialer
Eigenarten, hat man jetzt herausgefunden,
woran es den Koalitionsverhandlungen bisher
tatsächlich gemangelt hat. Im allgemeinen, so
die Erkenntnis der CSU, muß man sich viel
heftiger mit den Liberalen streiten, und im
besonderen muß der Themenkatalog um die
Golfkrise erweitert werden.
Zwar ist es theoretisch nicht ausgeschlossen,
daß in der bundesdeutschen Öffentlichkeit ein
dringendes Bedürfnis besteht zu erfahren,
welche Weisheiten die Bonner Koalitionäre zu
dieser bitterernsten Frage beizutragen haben.
Sehr groß ist die Wahrscheinlichkeit aber nicht
Wer denn meint, der Stimmung in der Bevölkerung irgendwie Rechnung tragen zu müssen,
täte besser daran, im Schatten der Weltereignisse die offenbar unvermeidliche Fortsetzung
der Bonner Alltagsgeschichten einstweilen
schweigend zu vertagen.