Funktionales Übersetzen
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Funktionales Übersetzen
Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen Universität Leipzig Institut für Angewandte Linguistik und Translatologie Dozent: Prof. Dr. Carsten Sinner Seminar: „Modelle und Methoden der Übersetzungswissenschaft“ Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff am 05.06.2014 Funktionales Übersetzen Inhalt 1 Einleitung ............................................................................................................. 1 2 Funktionsgerechtigkeit und Loyalität .................................................................... 2 3 Übersetzungsprozess .......................................................................................... 3 3.1 Textanalyse ................................................................................................... 4 3.2 Übersetzungstypen........................................................................................ 4 3.3 Übersetzungsprobleme ................................................................................. 5 4 Kritik ..................................................................................................................... 6 5 Bibliographie ........................................................................................................ 7 1 Einleitung Aufbauend auf die Skopostheorie nach Vermeer (zuerst in größerem Zusammenhang dargestellt in Reiß/Vermeer 1984) formuliert Christiane Nord ihr Modell des funktionalen Übersetzens, das vor allem für die didaktische Anwendung bestimmt ist. Sie definiert Translation als „die Produktion eines funktionsgerechten Zieltextes in einer je nach der angestrebten oder geforderten Funktion (Translatskopos) unterschiedlich spezifizierten Anbindung an einen vorhandenen Ausgangstext“ (Nord 2009: 30). Nord ergänzt die Funktionsgerechtigkeit der Skopostheorie um „eine bestimmte Form der "Anbindung" an den Ausgangstext“ (Nord 2011: 17), welche sie als Loyalität bezeichnet. Im Folgenden werden Nords Konzept der „Funktionsgerechtigkeit + Loyalität“ (2009: 30) und der davon abgeleitete Übersetzungsprozess dargestellt. Anschließend werden ausgewählte Kritikpunkte beleuchtet. 1 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen 2 Funktionsgerechtigkeit und Loyalität Unter Funktionsgerechtigkeit versteht Nord „die Eigenschaft, für die Verwirklichung der mit der Translationshandlung intendierten Funktion(en) geeignet zu sein“ (1993: 14). Die Funktion ist hier keine textimmanente Eigenschaft, sondern entsteht erst beim Empfänger, auch wenn der Autor „Funktionssignale“ einsetzen und so die Rezeption der intendierten Funktion unterstützen kann. Die intendierten bzw. möglichen Funktionen des Ausgangstextes (AT) können von denen des Zieltextes (ZT) abweichen (vgl. z. B. Nord, Vermeer, Hönig/Kußmaul).1 Grundsätzlich ist bei der Translation eines Textes jeder Skopos legitim, den der Übersetzer aus dem Auftrag herausliest und den er als sinnvoll erachtet (vgl. Nord 2004: 235). Da jedoch alle Beteiligten (AT-Autor bzw. AT-Sender, Auftraggeber und ZT-Empfänger) bestimmte, z. B. kulturspezifisch begründete, Erwartungen haben, die stark auseinander gehen können, aber dennoch in einem ZT vereinbart werden müssen, führt Nord das Konzept der Loyalität ein. Dadurch wird ein Referenzpunkt für den Übersetzer bezüglich der Entscheidung über Skopos und Übersetzungsstrategie geschaffen und eine zu starke Fokussierung auf entweder AT oder ZT vermieden (vgl. Nord 1993: 18). Loyalität beschreibt die ethische Verantwortung des Übersetzers gegenüber den oben genannten beteiligten Parteien, da nur er aufgrund seiner translatorischen Kompetenz in der Lage dazu ist, zwischen den Parteien zu vermitteln und kommunikatives Handeln zu ermöglichen (vgl. Nord 2011: 17). Sie dient dazu, Konflikte zu vermeiden oder zu bewältigen (also Interessen zu vereinbaren), keine der Parteien „bewusst zu täuschen“ (Nord 2004: 236) und das ihm entgegengebrachte Vertrauen nicht zu brechen 2. Zur Sicherung der Loyalität wird zu Beginn des Übersetzungsprozesses zunächst die Kompatibilität3 von Auftrag und AT-Intention überprüft. Ist Kompatibilität nicht erreichbar, sollte der Übersetzer mit dem Auftraggeber Rücksprache halten und ggf. der Auftrag neu definiert werden. Bewusste Verstöße sollten vom Übersetzer gekennzeichnet bzw. erklärt werden (vgl. Nord 1993: 18f), da nicht immer alle Erwartungen des Empfängers erfüllt werden müssen (vgl. Nord 2004: 241). 1 Die intendierte Funktion des Translats ist zugleich der Zweck (Skopos). Der Sender vertraut darauf, dass seine Intentionen respektiert werden; der Empfänger vertraut auf die Erfüllung seiner Erwartungen (vgl. Nord 2004: 241). 3 Kompatibilität bedeutet, dass beide Elemente miteinander vereinbar sind und nicht eines dem anderen widerspricht. 2 2 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen 3 Übersetzungsprozess Der Übersetzungsprozess ist nach Nord kein geradliniger Vorgang, sondern ein „[kreisförmiger] Gesamtablauf, der in sich weitere rekursive Zirkel enthält“ (Nord 2010: 32), so entsteht das im Folgenden beschriebene „Zirkelschema“: Abbildung 1: Zirkelschema (Nord 2010: 33) Initiator des Übersetzungsprozesses ist stets der Auftraggeber4, denn „ohne Auftrag […] erhalten wir überhaupt keine Übersetzung“ (Hönig/Kußmaul 1999: 40). Im ersten Schritt wird der Auftrag interpretiert, um so die kommunikative Situation des ZT sowie die angestrebte ZT-Funktion erkennen zu können. Danach können die Eckpunkte für die AT-Analyse (siehe Textanalyse) festgelegt werden, „die für die Produktion des gewünschten Zieltextes relevant sind“ (Nord 2010: 33). Während der Analyse anhand dieser Eckpunkte findet die Kompatibilitätsprüfung (siehe 2) statt. Nun wird die Übersetzungsstrategie entworfen, d. h. der Übersetzer entscheidet sich für einen geeigneten Übersetzungstypen (siehe 3.2). Diese Strategie wird dann umgesetzt und es wird ein ZT produziert, welcher anschließend mit den Vorgaben des Übersetzungsauftrages abgeglichen wird (vgl. ebd.). Während des gesamten Prozesses ist „jeder Schritt "vorwärts" gleichzeitig mit einem "Blick zurück" verbunden“ (Nord 2009: 32), was z. B. bedeutet, dass der Übersetzer während der AT-Analyse, der Auswahl des bzw. 4 Dieser kann zusätzlich andere Rollen im Übersetzungsprozess innehaben, wie z. B. AT-Produzent oder ZT-Empfänger (vgl. Nord 1995: 6). 3 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen der Übersetzungstypen oder der ZT-Produktion stets anhand des Auftrages überprüft, ob neue Fortschritte weiterhin mit diesem übereinstimmen oder ob Korrekturen nötig sind. 3.1 Textanalyse Für die „übersetzungsrelevante“ Textanalyse zieht Nord die Lasswell-Formel heran und entwirft ihre „W-Fragen“ zur Bestimmung der textinternen und textexternen Faktoren (vgl. Nord 2010: 73-80; siehe auch Nord 1992: 43): Textexterne Faktoren WER (Sender bzw. Autor) übermittelt WOZU (Intention) WEM (Empfänger) über WELCHES MEDIUM (Übermittlungskanal) WO (Orts- bzw. Kulturspezifik) WANN (Zeitpunkt der AT-Produktion) WARUM (Anlass) einen Text mit WELCHER FUNKTION5? Textinterne Faktoren WORÜBER (Thema) (Präsuppositionen) sagt in er WAS (Informationen) WELCHER bzw. REIHENFOLGE WAS NICHT (Makrostruktur) unter Einsatz WELCHER NONVERBALEN ELEMENTE in WELCHEN WORTEN (Lexik) in WAS FÜR SÄTZEN (Syntax) in WELCHEM TON (suprasegmentale Merkmale)? WELCHE WIRKUNG (Eindruck) entsteht für den Empfänger durch das Zusammenspiel aller Faktoren? 3.2 Übersetzungstypen Übersetzungstypen (Nord 1993: 24). beschreiben Nord Übersetzungsverfahren die „Funktionsrelationen (2007: 302f) stützt nach sich Vinay/Darbelnet auf zum die (stylistique Ausgangstext“ Klassifizierung von comparée) und unterscheidet zwischen der dokumentarischen und der instrumentellen Übersetzung (vgl. Nord 1993: 24f): 5 Nord unterscheidet nach Bühler und Jakobson vier Grundfunktionen der Kommunikation: phatisch, referentiell, expressiv und appellativ (vgl. 2010: 44-47). 4 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen Dokumentarische Übersetzung Hierbei wird die „dokumentiert“; der Kommunikationshandlung ZT-Empfänger ist des AT lediglich für ein den Empfänger „Beobachter“. Zur dokumentarischen zählt Nord z. B. die Übersetzung lyrischer Texte als „Verständnishilfe“. Instrumentelle Übersetzung Das Translat soll als Instrument für die Herstellung einer neuen Kommunikationshandlung zwischen AT-Sender und ZT-Empfänger dienen. Beispielsweise werden die meisten Fachtextsorten instrumentell übersetzt. 3.3 Übersetzungsprobleme Im Gegensatz zu den subjektiven Übersetzungsschwierigkeiten, die von der jeweiligen Kompetenz des Übersetzers abhängen, lassen sich laut Nord (2009: 176179) die folgenden vier objektiven Übersetzungsprobleme systematisieren: Pragmatische Übersetzungsprobleme (PÜP) PÜP treten aufgrund der Unterschiede der Ausgangs- und Zielkommunikationssituation auf, z. B. Zeitbezüge (vgl. Nord 2010: 91). Sie lassen sich aus den textexternen Faktoren erkennen und „kommen in jeder Translationsaufgabe vor“ (Nord 2009: 177). Konventionsbezogene Übersetzungsprobleme (KÜP) Diese entstehen durch abweichende Konventionen in Ausgangs-und Zielkultur, z. B. Maßkonventionen, Textsortenkonventionen, Stilkonventionen oder bestimmte Übersetzungskonventionen (wie Eigennamen). Sprachenpaarbezogene Übersetzungsprobleme (SÜP) SÜP ergeben sich aus den Strukturunterschieden zweier Sprachen. Dies betrifft beispielsweise Modalpartikeln bei dem Sprachenpaar Deutsch-Englisch, „unabhängig von der Übersetzungsrichtung“ (ebd.: 178). 5 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen Text(exemplar)spezifische Übersetzungsprobleme (TÜP) In einem bestimmten Text auftretende Probleme, die sich keiner der drei genannten Kategorien zuordnen lassen, werden TÜP genannt. Sie sind Sonderfälle und können nicht verallgemeinert werden. 4 Kritik Neben positiver Resonanz erhielt Nords Theorie auch Kritik. Witte (2007: 155) z. B. kritisiert die Einbringung des Begriffs „Loyalität“ als ethisch-moralisches Konzept in die Übersetzungswissenschaft. Ihrer Meinung nach gehört ein solches Konzept nicht in eine allgemeine Translationstheorie. Nord (2004: 236) selbst richtet sich auf die Übersetzungsdidaktik, bei der auch eine Vorbereitung auf das Berufspraxis vorgesehen ist. Deshalb betont sie die Wichtigkeit der Vermittlung von ethischen Normen in der Übersetzerausbildung. Für Witte ist der Begriff der Loyalität keine Ergänzung der Skopostheorie, wie Nord es darstellt, sondern „bereits kulturspezifisch-integraler Bestandteil der Bedingungen für die “Funktionsgerechtheit” firmierter Übersetzungen“ (Witte 2007: 158). Prunč (1997: 36) hingegen geht Nords Loyalitätsbegriff noch nicht weit genug. Er ergänzt Nords Loyalitäten gegenüber dem AT-Autor, dem Initiator und dem ZTEmpfänger um eine vierte Loyalität: die des Übersetzers zu sich selbst. Diese ist für ihn die oberste und damit wichtigste Loyalität. Einen weiteren problematischen Aspekt in Nords Theorie sieht Prunč bei der Interpretation der Intention des AT-Autors. Jegliche Interpretation eines Übersetzers sei lediglich eine Möglichkeit (vgl. Prunč 2005: 193). Auch Nord selbst sieht dieses Problem und schränkt ihre Theorie dahingehend ein, dass „Ausgangspunkt der Translation […] nicht "die Intention" des AT-Senders oder -Autors [sein kann], sondern nur das Interpretat des Translators […], zu dessen Kompetenz [auch] die translationsorientierte Ausgangstextanalyse gehört“ (Nord 2004: 243). Stolze führt an, dass es in Nords Theorie „recht wenig konkrete Anweisungen für das praktische Übersetzen“ (Stolze 2005: 202) gibt. Wie bereits gesagt, ist Nord Theorie didaktisch orientiert und soll lediglich einen grundlegenden Rahmen für die praktische Tätigkeit bieten, die z. B. sprachenpaar- oder textsortenspezifisch ist und nicht für alle möglichen Fälle verallgemeinert werden kann. 6 Nele Katzwinkel und Heike Ruttloff – Funktionales Übersetzen 5 Bibliographie Hönig, Hans G. / Kußmaul, Paul (1999): Strategie der Übersetzung: ein Lehr- und Arbeitsbuch. Tübingen: Narr. Nord, Christiane (1992): „Text Analysis in Translator Training.” Dollerup, Cay / Loddegaard, Anne (1992) (Hrsg.): Teaching Translation and Interpreting: Training, Talent and Experience. Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins, 39-48. Nord, Christiane (1993): Einführung in das funktionale Übersetzen. Am Beispiel von Titeln und Überschriften. Tübingen / Basel: Francke. Nord, Christiane (1995): Textanalyse und Übersetzen. Heidelberg: Groos. Nord, Christiane (2004): „Loyalität als ethisches Verhalten im Translationsprozess.“ Müller, Ina (2004) (Hrsg.): Und sie bewegt sich doch. Translationswissenschaft in Ost und West. Festschrift für Heidemarie Salevsky zum 60. Geburtstag. Frankfurt am Main [u.a.]: Lang. 235-245. Nord, Christiane (2007): Übersetzungstypen – Übersetzungsverfahren: Ein paar neue Gedanken zu einem uralten Thema.“ Wotjak, Gerd (2007) (Hrsg.): Quo vadis Translatologie? Ein halbes Jahrhundert universitäre Ausbildung von Dolmetschern und Übersetzern in Leipzig. Rückschau, Zwischenbilanz und Perspektiven aus der Außensicht. Berlin: Frank und Timme, 293-310. Nord, Christiane (2009): Textanalyse und Übersetzen. Theoretische Grundlage, Methode und Didaktik einer übersetzungsrelevanten Textanalyse. Tübingen: Groos. Nord, Christiane (2010): Fertigkeit Übersetzen : ein Kurs zum Übersetzenlehren und -lernen. Berlin: BDÜ. Nord, Christiane (2011): Funktionsgerechtigkeit und Loyalität: Theorie, Methode und Didaktik des funktionalen Übersetzens. Berlin: Frank & Timme. Prunč, Erich (1997): „Versuch einer Skopostypologie“. Grbić, Nadja / Wolf, Micheala (Hrsg.): Text – Kultur, Kommunikation : Translation als Forschungsaufgabe; Festschrift aus Anlaß des 50jährigen Bestehens des Instituts für Übersetzerund Dolmetscherausbildung an der Universität Graz. Tübingen: Stauffenburg. 33-52. Prunč, Erich (2005): Einführung in die Translationswissenschaft (5. unveränd. Aufl.). Graz: Selbstverlag, Inst. f. Translationswissenschaft. Stolze, Radegundis (2005): Übersetzungstheorien. Eine Einführung. Tübingen: Narr. Witte, Heidrun (2007): Die Kulturkompetenz des Translators: Begriffliche Grundlegung und Didaktisierung. Tübingen: Stauffenburg. 7