- Nell-Breuning

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- Nell-Breuning
Niels Boeing
Zwischen Hype und Dystopie – eine systematische Einordnung der Nanotechnik
1 Einführung
Es ist noch nicht lange her, dass die Dotcom-Ära in einem ordentlichen Börsenkrach endete.
Die Technik-Euphorie der 1990er Jahre, die in ihrer Maßlosigkeit an die Anfangstage der
Raumfahrt erinnerte, schien Geschichte. Doch schon schickt sich eine neue Umwälzung an,
den entstandenen Leerraum der technischen Utopien mit einer noch größeren
Projektionsfläche zu füllen: die Nanotechnik1. Wie sehr, verdeutlichen zwei Episoden.
Am 4. Dezember 2003 steigt an der amerikanischen Technologiebörse NASDAQ der Kurs
einer unter dem Kürzel „NANO” gelisteten Aktie zeitweilig um zehn Prozent. Statt der
sonst üblichen 300.000 Wertpapiere wechseln an jenem Tag 1,6 Millionen Anteile der
kalifornischen Firma Nanometrics den Besitzer. Nur: Nanometrics
hat mit Nanotechnik nichts zu tun. Mit ihren Werkzeugen messen Chiphersteller seit langem
die Dicke von Schichten auf so genannten Siliziumwafern, dem Ausgangsmaterial für
Computerprozessoren. Als die Firma Ende der siebziger Jahre gegründet wurde, gab es das
Gebiet der Nanotechnik noch gar nicht. Tatsächlich sind Anleger an jenem Dezembertag auf
eine Patentveröffentlichung der Firma Nanogen angesprungen (Sorid 2003). Und getreu
dem Motto: „Wo ‚nano’ draufsteht, muss ‚nano’ drin sein”, haben einige auch gleich
Anteile des kalifornischen Unternehmens gekauft. Denn an den Finanzmärkten hat sich da
längst herumgesprochen: Nanotechnik ist das nächste ganz große Ding, das uns eine „zweite
industrielle Revolution“ bescheren, den Krebs besiegen und unsere Energieprobleme lösen
soll – viel größer als die Dotcom-Ära.
Knapp eineinhalb Jahre später: Es ist ein kühler Maitag in Chicago, als sich auf der
Einkaufsmeile Michigan Avenue eine Gruppe junger Leute vor dem Eddie-Bauer-Store
plötzlich entblößt. Phantasievoll bemalte Oberkörper kommen zum Vorschein. Doch es ist
kein Kunst-Happening, das hier stattfindet. „Eddie Bauer Hazard“ ist auf einem nackten
Rücken zu lesen, „Expose the truth about nanotech“ auf einem anderen, bringt die Wahrheit
über Nanotechnik ans Licht (Lovy 2005). Denn Eddie Bauer, die amerikanische
Bekleidungskette, verkauft Kleidung, die dank „Nanotex“-Fasern schmutzabweisend ist. Für
die Nudisten von Thong, einer Gruppe von Umweltaktivisten, ein ernstes Umweltrisiko,
sollten die Fasern sich aus dem Gewebe lösen und ins Freie gelangen. Glaubt man
Aktivisten wie Thong, sind die Verheißungen der Nanotechnik, die Forschung und Industrie
beflügeln, nur die halbe Wahrheit: Die Manipulation der molekularen Welt hat
Schattenseiten, in denen ungeahnte Gefahren lauern.
Für die meisten Zeitgenossen ist Nanotechnik allerdings immer noch ein Buch mit sieben
Siegeln. Schuld daran sei die Nanotech-Gemeinde, meint der US-Kommunikationsforscher
David Berube, der den „Nanohype“ in seinem gleichnamigen Blog2 beobachtet: „Was aus
Laboren und Regierungen nach außen getragen wurde, hat das Verständnis nicht erhöht. Die
Aufklärungsarbeit der Regierung hat im Wesentlichen darin bestanden, sich selbst auf die
1
Ich verwende in diesem Text den Begriff „Nanotechnik“ für das Technikgebiet an sich und „Nanotechnologie“ für ein
Bündel aus wissenschaftlichen Grundlagen und technischen Verfahren für konkrete Anwendungen. Für eine
ausführlichere Unterscheidung siehe auch http://www.heise.de/tr/blog/artikel/72931
2
http://nanohype.blogspot.com/
Schulter zu klopfen, und nicht die Öffentlichkeit angesprochen.“ (Berube 2005)
Tatsächlich: Geht es um Fördergelder, werden viele Forschungsprojekte flugs mit dem
Etikett „nano“ versehen. Werden die Risiken thematisiert, heißt es plötzlich, der Begriff
„Nanotechnik“ sei viel „zu breit“, als dass man über ihn einen öffentlichen Dialog führen
könne. Das müsse sehr viel differenzierter angegangen werden. Und während angesichts der
nanotechnischen Möglichkeiten manchem Experten schon mal das Wort „revolutionär“ über
die Lippen kommt, werden Rufe nach Sicherheitsregularien mit dem Argument abgewiesen,
so neu und anders sei die Nanotechnik nicht, dass man für sie neue Richtlinien erlassen
müsse.
Deshalb soll das weite Feld der Nanotechnik hier in zweifacher Hinsicht systematisiert
werden: Was unterscheidet sie von der bisherigen Technik, und wie gefährlich ist sie
wirklich?
2 Das Verhältnis der Nanotechnik zur bisherigen Technik
Beginnen wir mit der gängigen, doch wenig anschaulichen Definition, die inzwischen von
allen Protagonisten akzeptiert wird: Nanotechnik umfasst die Manipulation von Objekten
und Strukturen, die kleiner als 100 Nanometer sind. Zum Vergleich: Die Zellen unseres
Körpers sind daneben wahre Giganten, bis zu tausend Mal größer. Ein Stecknadelkopf ist
gar eine Million Mal breiter.
An der Nanotechnik sind sehr verschiedene Disziplinen beteiligt, die bislang meist
nebeneinander geforscht und konstruiert haben. Vor allem Biotechnik, Chemie, Physik und
Halbleitertechnik haben sich in ihren Verfahren in den vergangenen Jahrzehnten beharrlich
in den Nanokosmos vorgearbeitet und treffen nun aufeinander. Biologen entdecken etwa,
dass man mit Mikroben Drähte für elektronische Schaltkreise konstruieren kann, Physiker
analysieren mit ihren Werkzeugen die Bestandteile im Zellinneren, und Chemiker
entwickeln Kunststoffe, die Licht in Strom umwandeln können.
Es ist genau dieses Zusammentreffen verschiedener Disziplinen im Nanokosmos, das den
eigenartigen Charakter dieser neuen Technik ausmacht. Am Anfang stand weder ein
Konzept wie etwa die Turing-Maschine, das die moderne Informationstechnik begründete,
noch eine konkrete Erfindung wie das Auto, aus der eine ganze Industrie entstand. Es waren
viele verschiedene Erfindungen und wissenschaftliche Entdeckungen im 20. Jahrhundert,
die sich jetzt immer rasanter zu etwas ganz Neuem zusammenfügen: der Technik des 21.
Jahrhunderts überhaupt. Dass kein Forschungszweig sie für sich allein reklamieren kann,
diese Erkenntnis setzt sich gerade erst durch.
2.1 Nanoeffekte
Dabei nutzen die Nanoforscher und -tüftler Effekte, die noch in der Mikrometerwelt nicht
zum Tragen kommen. Ein Beispiel ist der „Tunneleffekt“. Er beruht auf der Entdeckung der
Quantenmechanik, dass sich für Elementarteilchen wie Elektronen keine festen
Aufenthaltsorte angeben lassen, sondern nur Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. Weil die
Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Elektron auch außerhalb eines energetischen Käfigs
aufhält, nach den Gesetzen der Quantenmechanik nicht null ist, entwischen Elektronen
mitunter tatsächlich aus diesem – sie „durchtunneln“ die Energiebarriere. Diesen Effekt
nutzt man etwa im wichtigsten nanoanalytischen Werkzeug, dem 1981 von Gerd Binnig und
Heinrich Rohrer erfundenen Rastertunnelmikroskop. Bei diesem befindet sich eine dünne
Metallspitze wenige Nanometer über den Atomen einer metallischen Probe. Elektronen aus
der Mikroskopspitze können diese Distanz per Tunneleffekt überwinden und in der
Probenoberfläche auftauchen – es fließt ein schwacher Strom quasi durch Nichts. Aus
dessen Stärke lässt sich der Abstand von Spitze und Probe und daraus ein atomares
Oberflächenprofil der Probe errechnen. Das war mit dem 1931 von Ernst Ruska erfundenen
Elektronenmikroskop noch nicht möglich gewesen. Es konnte zu der Zeit, als Binnig und
Rohrer ihre Erfindung machten, nur ein zweidimensionales Abbild der Atome einer
Oberfläche liefern (Boeing 2004 46ff).
Dass die atomare Struktur im Nanokosmos die Eigenschaften von Festkörpern verändern
kann, zeigen die so genannten Nanopartikel. Hier haben die Oberflächenatome auf einmal
eine entscheidende Bedeutung. Bei einem Durchmesser von drei Nanometern enthält ein
Nanoteilchen etwa 800 Atome, von denen ein Drittel die Oberfläche bildet. Der Anteil der
Oberflächenenergie an der Gesamtenergie des Teilchens ist hier größer als in den tausend
Mal größeren Mikropartikeln. Deshalb schmilzt ein Granulat aus Nanoteilchen bei
niedrigeren Temperaturen als ein gröberes Pulver desselben Materials (z.B. Galliumsulfid
bei 500 Grad Celsius statt 1600 Grad). Grund: Die Auflösung der Teilchenoberflächen trägt
hier effektiv zur Minimierung der Gesamtenergie – denn darum handelt es sich bei einem
Schmelzvorgang – bei, die alle Festkörper anstreben (Brus 1999). Ein weiterer Nanoeffekt
in Festkörpern ist die Veränderung der inneren Kristallstruktur, wenn Nanoteilchen hohem
Druck ausgesetzt werden.
Ein drittes Beispiel sind die so genannten Quantenpunkte. Dies sind Halbleiterpartikel mit
einem Durchmesser zwischen zwei und 20 Nanometern, die eine ungewöhnliche
Energiestruktur aufweisen. In solch einem Nanohalbleiter, der bereits aus Tausenden von
Atomen besteht, überlagern sich die Energiezustände der Elektronen zwar schon zu einer
Art von Energiebändern wie im ausgedehnten Festkörper. Es gibt in ihnen aber noch scharf
definierte Levels wie in einem riesigen „künstlichen“ Atom. In einem GalliumarsenidQuantenpunkt von 10 Nanometern Durchmesser liegen die Levels mit 100
Millielektronenvolt weiter auseinander als die normale thermische Energie eines Elektrons
bei Zimmertemperatur, rund 26 Millielektronenvolt. Wegen dieses ausgeprägten Abstands
eignen sich Quantenpunkte beispielsweise als Medium für besonders reines Laserlicht, das
mit herkömmlichen Lasermedien nicht produziert werden kann (Boeing 2004 75ff).
Diese drei Effekte deuten nur an, welche neuen Möglichkeiten die gezielte technische
Erschließung des Nanokosmos birgt. Zwar eignen sie sich, ein Laienpublikum staunen zu
lassen, zu einem systematischen Verständnis von Nanotechnik führen sie aber noch nicht.
Hilfreicher ist hierfür ein Konzept des britischen Physikers Richard Jones. Er hat
vorgeschlagen, Nanotechnik danach zu klassifizieren, wie neu eine bestimmte Anwendung
im Vergleich zu Vorläufertechnologien ist. Dann würde sich der Streit darum erübrigen,
welche Probleme eigentlich schon alte Bekannte sind. Die drei von Jones vorgeschlagenen
Klassen sind: inkrementelle, evolutionäre und radikale Nanotechnik (Jones 2004).
„Inkrementelle Nanotechnik beinhaltet, die Eigenschaften von Werkstoffen zu verbessern,
indem man ihre Struktur auf dem Nanolevel kontrolliert“, erläutert Jones in seinem
lesenswerten Blog Soft machines3. Das trifft etwa auf kratzfeste oder wasserabweisende
3
www.softmachines.org/wordpress/index.php
Beschichtungen zu. „Evolutionäre Nanotechnik besteht darin, existierende Technologien auf
Nanoformat zu verkleinern.“ (ebd.) Nanoelektronik wäre so ein Fall. Unter radikaler
Nanotechnik versteht er schließlich Nanomaschinen, die kein Vorbild in der
Technikgeschichte haben. Dazu gehören die berüchtigten „Assembler“, winzigste Roboter,
die der US-Visionär Eric Drexler in Computersimulationen ersonnen hat. Schauen wir die
drei Klassen etwas genauer an.
2.2 Inkrementelle Nanotechnik
Mit einer inkrementellen Nanotechnik haben wir es bei chemischen Nanotechnologien zu
tun. Bei ersterer wird die Struktur eines Materials auf der Nanoskala so verändert, dass es
ganz neue Eigenschaften erhält. Bereits in den 1930er Jahren hatte der Jenaer Glashersteller
Schott ein Verfahren entwickelt, dass genau diese Veränderungen bewirkt: den Sol-GelProzess. Bringt man ein Silan – ein Siliziumatom, an dem vier Alkoholgruppen hängen - mit
Wasser zusammen, werden die Alkohole teilweise abgetrennt und durch ein Wassermolekül
ersetzt. Das resultierende Silanol klumpt leicht zu so genannten Kolloiden zusammen, die
bereits wenige Nanometer groß sind. In wässriger Lösung schwimmend bilden sie das Sol.
Erhitzt man dieses nun oder lässt es austrocknen, verdampft das Wasser allmählich, und die
Silanole beginnen sich zu einem dichten Netz zu verketten. Aus dem Sol wird ein
zähflüssiges Gel (Wagner 2002).
„Das Faszinierende des klassischen Sol-Gel-Prozesses war, dass man Kolloide gemacht hat.
Sie sind nanoskalig, sie streuen kein Licht, und wenn man sie in einer dünnen Schicht auf
eine Oberfläche bringt, ist die Schicht transparent. Das hat die Glashersteller damals
furchtbar fasziniert”, erläutert Helmut Schmidt, der Gründer des Instituts für Neue
Materialien in Saarbrücken. In den siebziger Jahren stellte er sich eine andere Frage: Was
passiert, wenn man an die Kolloide noch organische Moleküle anknüpft, an deren Ende zum
Beispiel das Element Fluor sitzt? Trägt man ein Sol solcher Fluorsilane hauchdünn auf eine
Oberfläche auf, sammeln sich die Fluorenden beim Aushärten an der Oberfläche. Weil sie
wasserabweisend sind, ballen sich Wassermoleküle darauf zu dicken Tropfen zusammen.
Auf diese Weise können Kalk oder andere Partikel in Wasser keinen ausgedehnten
Schmutzfilm bilden. Ergebnis ist, dass sich die Oberfläche leichter reinigen lässt. Mit
demselben Verfahren lassen sich auch Beschichtungen herstellen, an denen andere
Substanzen kaum haften können (Boeing 2004 90ff).
Diese Technologie hält bereits Einzug in unseren Alltag. „Wenn Sie in Deutschland
wohnen, haben Sie gute Chancen, uns schon nach dem Aufstehen zu begegnen:
beispielsweise in der Glaskabine Ihrer neuen Dusche. Auf dem Glas ist eine Easy-to-cleanBeschichtung drauf”, sagt Ralf Zastrau, Geschäftsführer der Nanogate GmbH in
Saarbrücken. „Und wenn Sie dann die Tageszeitung aufschlagen, kann es sein, dass ein
Produkt von uns daran beteiligt war.” Einige Druckereien statten ihre Walzen inzwischen
mit einer Antihaft-Beschichtung von Nanogate aus. „Damit lassen sich die
Reinigungszyklen der Druckwalzen drastisch verringern. Statt nach jedem Druckjob genügt
jetzt eine wöchentliche Reinigung.” Das mit Nanopartikeln produzierte Skiwachs „Cerax
Nanowax”, das die Saarbrücker entwickelt haben, wurde 2003 vom US-Magazin Forbes
zum Nanoprodukt des Jahres gekürt (Boeing 2004b).
Auch fast alle traditionellen Chemie- und Pharmakonzerne stellen inzwischen
Nanomaterialien er. „Wir benutzen Nanotechnologie, um unsere Produkte zu verbessern,
aber wir benutzen das Label ‚nano’ nicht”, sagt Klaus Peter Nebel, Konzernsprecher von
Beiersdorf, das in einigen Sonnenschutzcremes Titandioxid-Nanopartikel einsetzt. Da diese
eine viel größere Gesamtoberfläche pro Milliliter aufweisen als gröbere Körnchen, können
sie mehr UV-Licht absorbieren (ebd.).
Auch die Nanomedizin nutzt zum Teil Nanowerkstoffe, so beispielsweise die bereits
erwähnten Quantenpunkte. Regt man diese chemisch oder mit Licht an, strahlen sie
Photonen einer gewissen Wellenlänge ab. Diese lässt sich nun genau einstellen, in dem man
die Teilchengröße variiert. Firmen wie Evident Technologies aus Troy im US-Bundesstaat
New York verkaufen sie deshalb als Biomarker an Labore. Die „Evidots“ bleichen im
Unterschied zu herkömmlichen fluoreszenten Farbstoffen auch nach stundenlangem Einsatz
nicht aus (Boeing 2004 120f).
Mit chemisch modifizierten Nanopartikeln eröffnen sich auch neue Möglichkeiten in der
Therapierung bestimmter Krebsarten, die sich in schwer zugänglichen Regionen des
Körpers befinden. Am weitesten fortgeschritten ist die Behandlung von Glioblastom
genannten Hirntumoren. Entwickelt wurde sie von Forschern um Andreas Jordan an der
Berliner Charité. Sie nutzten hierzu superparamagnetische Teilchen aus Eisenoxid, an denen
organische Moleküle verankert werden, auf die nur die Tumorzellen reagieren. „Die
Nanopartikel werden von den Tumorzellen in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit zu
Hunderttausenden aufgenommen”, sagt Jordan. Setzt man die Teilchen einem magnetischen
Wechselfeld aus, beginnen sie zu oszillieren und damit das Zellplasma bis auf 70 Grad
Celsius zu erwärmen – nach einer halben Stunde ist die Zelle abgestorben. Die gesunden
Zellen, die keine Nanomagneten aufgenommen haben, erwärmen sich hingegen nicht
(Boeing 2004 124ff). Im Unterschied zu mikrometergroßen Körnchen verlieren solche
Nanopartikel ihren magnetischen Charakter wieder, wenn das Feld abgeschaltet wird. Es
bleibt also kein magnetisches Material im Körper zurück. Die Teilchen werden dann mit
dem toten Gewebe vom Körper entsorgt und ausgeschieden. Voraussichtlich ab 2007 soll
das Verfahren, dass sich in der letzten klinischen Versuchsphase befindet, zugelassen
werden.4 Es ist ein Beispiel für eine der wichtigen Grundideen der Nanomedizin: Anstatt
wie heute üblich ein Medikament zu verabreichen, das über die Blutbahn über den ganzen
Körper verteilt wird und dabei auch gesunde Zellen trifft (was dann zu den so genannten
Nebenwirkungen führt), sollen die medizinischen Wirkstoffe so verfeinert werden, dass sie
nur noch auf krankes Gewebe einwirken.
2.3 Evolutionäre Nanotechnik
In der evolutionären Nanotechnik sollen bekannte technische Konzepte drastisch verkleinert
werden. Dies ist etwa in der Nanoelektronik der Fall: Sie soll sicherstellen, dass die
Miniaturisierung von Computerchips auch dann fortgesetzt werden kann, wenn
physikalische Grenzen eine weitere Verkleinerung nicht mehr zulassen. Aus diesem Grund
arbeiten vor allem die großen Computerkonzerne in aller Welt fieberhaft an neuen
elektronischen Systemen, die Bits im Nanomaßstab verarbeiten und speichern können.
Das wohl am weitesten fortgeschrittene Speicherkonzept ist der „Millipede”-Chip von IBM.
Er ist ein schönes Beispiel für evolutionäre Nanotechnik, denn hierbei handelt es sich im
4
Privates Gespräch
Prinzip um eine auf einen Nanomaßstab verkleinert Lochkarte – also ein Konzept aus den
frühen Tagen der Rechenmaschinen. Im gegenwärtigen Prototyp des Millipede liegen 4096
feine Hebelarme oder Cantilever auf einem Quadrat von wenigen Millimetern Seitenlänge
in 64 Reihen zu je 64 Hebeln locker auf einer Kunststofffläche auf. Werden die
Hebelspitzen durch einen Strompuls erhitzt und elektrostatisch nach unten gebogen, drückt
die Spitze eine 15 Nanometer breite Vertiefung in den Kunststoff. Die in Abständen von
etwa 10 Nanometern zwischen den Rändern angeordneten Löcher ermöglichen eine
Speicherdichte von rund 150 Gigabit pro Quadratzentimeter. Damit ließen sich mehrere
DVDs auf dem Raum einer Speicherkarte, wie sie in Digitalkameras genutzt wird, festhalten
(Boeing 2004 110ff).
Doch nicht nur die Speichereinheiten, auch die Transistoren – Herzstück eines jeden
Computerprozessors – müssen verkleinert werden. Die Grundidee dazu ist fast genauso alt
wie die bekannten Intel-Chips und wurde 1974 von Mark Ratner und Ari Aviram entworfen.
Es ist eine molekulare Elektronik, bei der einzelne Moleküle zu elektronischen Bauteilen
werden. 1998 gelang es einer Gruppe um den niederländischen Physiker Cees Dekker von
der Technischen Universität Delft zum ersten Mal, das Tor zur molekularen Elektronik ein
Stück aufzustoßen (Boeing 2004 103f). Sie bugsierten mit Hilfe eines Kraftmikroskops ein
hauchdünnes Kohlenstoff-Röhrenmolekül – im Wissenschaftsjargon „Nanotube“ genannt –
zwischen zwei Goldelektroden. Nanotubes haben einen Durchmesser zwischen einem und
wenigen Nanometern und können, je nach atomarer Struktur, sowohl elektrisch leitend als
auch halbleitend sein.
Dekkers Gruppe nutzte eine Halbleiter-Nanotube. Unter dieser befand sich nun, abgeschirmt
durch eine Isolatorschicht, eine Gatterelektrode aus Silizium. Als sie daran eine Spannung
anlegten, verwandelte sich die Nanotube plötzlich in genau jenen Verbindungskanal, den im
herkömmlichen Transistor das positiv dotierte Silizium darstellt. Dekker und seine Kollegen
hatten den ersten echten Prototypen eines Nanotube-Transistors geschaffen. Denn anders als
in vorigen Versuchen funktionierte das ganze nun bei Zimmertemperatur (ebd.). Das
Problem ist bislang jedoch, Millionen solcher Nanotubes in wenigen präzisen
Arbeitsschritten auf einem Chip zu komplexen Schaltkreisen anzuordnen, so wie es die
Halbleiterindustrie heute mit Hilfe der Photolithographie vermag. Diese aber erlaubt keine
Herstellung von Strukturen in der Größenordnung einer molekularen Elektronik.
2.4 Radikale Nanotechnik
Die dritte Klasse der radikalen Nanotechnik schließlich setzt auf ganz neue technische
Konzepte, die bisher überhaupt noch nicht möglich, ja nicht einmal denkbar waren. Ein
Beispiel ist die Bionanotechnik, bei der man die Mechanismen lebender Zellen für neue
Zwecke ausnutzen will. Einen ungewöhnlichen Ansatz hat etwa Angela Belcher,
Chemikerin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), entwickelt. Sie will
elektronische Bauteile mit Hilfe von Mikroorganismen herstellen. Dazu verändert sie die
Gene eines länglichen Virus – eines so genannten Bakteriophagen, also eines Virus, das nur
Bakterien befällt – dahingehend, dass dieser eine neue Proteinhülle entwickelt. An diesen
Proteinen, die das Virus in der Natur nicht ausbildet, lagern sich dann Halbleitermaterialien
entlang des Viruskörpers an. Das Ergebnis sind lange Nanodrähte, die ebenfalls in einer
künftigen Nanoelektronik eingesetzt werden könnten. Douglas Lauffenburger, Bio-
Ingenieur am MIT, sieht in dieser Verschmelzung von Biologie und Nanotechnik eine der
wichtigsten technischen Entwicklungen für das 21. Jahrhundert: „Im letzten Jahrhundert hat
die Festkörperphysik die Computerwelt und die Mikroelektronik revolutioniert. Die
Revolution dieses Jahrhunderts wird das Ausnutzen der Molekularbiologie sein, so wie es
Angela Belcher macht.“ (Boeing 2004c)
Das radikalste und auch umstrittenste Konzept aber hat der amerikanische Ingenieur Eric
Drexler entwickelt. In seinem manifest-artigen Werk Engines of Creation entwarf er 1986
einen „Assembler”: eine Art Nanofabrik, die Atome und Moleküle an Bord nehmen und
miteinander verbinden kann. Myriaden solcher Assembler könnten dann beliebige
makroskopische Gegenstände zusammenbauen. Und zwar in neuartigen atomaren
Strukturen, die in der Natur nicht vorkommen. Auf diese Weise könnte man etwa
Raketentriebwerke aus Kohlenstoff und Aluminium innerhalb von zwei Tagen „wachsen”
lassen, die nur einen Bruchteil heutiger Triebwerke wiegen und gleichzeitig sehr viel
stabiler sind, schrieb Drexler damals (Drexler 1986). In seinem Fachbuch Nanosystems
legte er dann 1992 thermodynamische und mechanische Berechnungen nach.
Die Gemeinde der Nanoforscher konnte er damit jedoch nicht so ganz überzeugen. Der
Münchener Biophysiker Hermann Gaub sieht nicht die Voraussetzungen für einen
Assembler gegeben: „Wir sind bisher nicht in der Lage, gezielt größere Strukturen aus
nanoskaligen Bausteinen aufzubauen.” (Boeing 2004 157) Außer der „Self-Assembly”,
einer Variante des physikalischen Prinzips der Selbstorganisation, gebe es derzeit kein
Verfahren. Einen 100 Nanometer großen Drexler’schen Assembler aus vier Millionen
Atomen (Drexler 1992 398ff) mit einem Rastertunnelmikroskop zu montieren, würde
Zigtausende von Jahren dauern. Der inzwischen verstorbene Chemienobelpreisträger
Richard Smalley, einer der Entdecker der Buckyballs – Kohlenstoffmoleküle, in dem 60
Atome zu Fünf- und Sechsecken nach dem Muster eines Fußballs angeordnet sind – hielt
gar den Mechanismus aus Greifarmen und Förderbändern innerhalb eines Assemblers für
unmöglich, weil physikalische Nanoeffekte diesen behindern. „Solch ein Nanoroboter wird
nie mehr sein als die Träumerei eines Futuristen”, lautete sein hartes Urteil (Smalley 2001).
Dennoch arbeiten einige Forschungsgruppen weltweit an Nanomaschinenteilen, die
möglicherweise doch irgendwann zu einer funktionierenden Nanomaschine
zusammengesetzt werden könnten. Ob diese dann tatsächlich ein Assembler im
Drexler’schen Sinne sein wird, lässt sich nicht absehen. Doch die Vision einer
funktionierenden Nanomaschine ist unter Nanoforschern nicht so unpopulär, wie manche
Äußerungen in Interviews oder auf Konferenzen vermuten lassen.
3 Die potenziellen Gefahren der Nanotechnik
Die Jones’sche Klassifizierung der Nanotechnik kann viel dazu beitragen, diese in die
jüngere Technikgeschichte einzuordnen. Doch für einen aufgeklärten Umgang mit ihr ist sie
noch nicht ausreichend. Denn soll eine öffentliche Debatte über mögliche negative Folgen
bereits im jetzigen Frühstadium fruchtbar sein, muss eine andere Frage beantwortet werden:
Welche unmittelbaren Wirkungen können Nanoanwendungen auf Organismen haben? Ich
schlage deshalb vor, Nanotechnik für eine Risikodebatte in drei andere Klassen einzuteilen,
die quer zum Schema von Richard Jones liegen und dieses ergänzen: isolierte, bioaktive und
disruptive Nanotechnik.
3.1 Isolierte Nanotechnik
Der größte Teil der gegenwärtigen Nanotechnologien besteht aus Strukturen, in denen die
Nanokomponente fest eingebettet und damit von der Umwelt isoliert ist. Zu dieser
Kategorie gehören zum einen diverse Werkzeuge zur Untersuchung von Oberflächen und
Molekülen. Die meisten sind eine Spielart des Mikroskops. Mit dem 1981 erfundenen
Rastertunnelmikroskop lassen sich beispielsweise einzelne Atome oder Moleküle bewegen,
allerdings nur über ungeheuer kurze Distanzen. Das Prinzip des Kraftmikroskops, bei dem
mikroskopische Siliziumhebelchen unter Krafteinwirkung nachweisbar verbogen werden,
kommt auch in einer Reihe von neuen Sensoren zum Einsatz.
Das zweite Feld umfasst Werkstoffe wie selbstreinigende oder Antihaft-Beschichtungen.
Zwar verdanken sie ihre Eigenschaften Nanopartikeln. Doch diese sind in einer Matrix aus
Kunststoffen verankert. „Die Substanzen müsste man mit hohem Energieeinsatz zerkleinern,
um die Nanopartikel wieder herauszubekommen“, sagt Helmut Schmidt, einer der Pioniere
der chemischen Nanotechnologie (Boeing 2004 175).
Ebenfalls zur isolierten Nanotechnik wird wohl demnächst die Nanoelektronik zu zählen
sein, die sich derzeit noch in Laborprototypen erschöpft. Die molekularen Schaltungen sind
überhaupt nur dann sinnvoll, wenn sie zu Hunderttausenden, ja Millionen in einem
Prozessor fixiert werden können. Die Computerindustrie erhofft sich davon die Sicherung
des „Moore’schen Gesetzes“, nach dem sich bei gleichzeitiger Miniaturisierung die Zahl der
Transistoren alle 18 Monate verdoppelt. Dieses Innovationstempo würde sich deutlich
verlangsamen, wenn die Verkleinerung der elektronischen Bauteile aus physikalischen
Gründen gestoppt werden müsste.
Eine Unwägbarkeit bleibt bei der isolierten Nanotechnik: Was passiert mit den
Nanokomponenten, wenn die Geräte und Materialien entfernt und entsorgt werden sollen?
Konzepte für Recycling oder Wiederverwendung gibt es bisher nicht. Sollte es möglich
sein, dass diese Nanoanwendungen sich am Ende ihres Lebenszyklusses zersetzen und in
die Umwelt gelangen, würden sie in die nächste Klasse rutschen: die bioaktive Nanotechnik.
3.2 Unbeabsichtigt bioaktive Nanotechnik
Hier betreten wir erstmals heikles Terrain. „Als wir 1994 die These präsentierten, dass
ultrafeine Teilchen unter 100 Nanometern Durchmesser zu gesundheitlichen Schäden führen
könnten, wurde das mit freundlicher Skepsis bis hin zu rigider Ablehnung aufgenommen“,
sagt Günter Oberdörster von der Universität Rochester im US-Bundesstaat New York, einer
der führenden Nanotoxikologen weltweit. Was seine Zunft seitdem herausgefunden hat, ist
durchaus beunruhigend. Denn wie es aussieht, sind künstlich hergestellte Nanopartikel, die
nicht in einer Matrix stecken, bioaktiv. „Dieselben Eigenschaften, die Nanopartikel so
attraktiv für Anwendungen in Nanomedizin und anderen industriellen Prozessen machen,
könnten sich als schädlich herausstellen, wenn Nanopartikel mit Zellen wechselwirken“,
konstatiert Oberdörster in der bislang umfassendsten Bestandsaufnahme zur Problematik
(Oberdörster 2005b).
Ausgerechnet die Stars unter den neuen Nanomaterialien sind hierbei die
Hauptverdächtigen: die Buckminsterfullerene. Ihren Namen verdanken diese
Kohlenstoffmoleküle der Anordnung ihrer Atome, die an die Kuppelarchitektur des
Amerikaners Buckminster Fuller erinnert. Vor knapp zwanzig Jahren wurden sie erstmals
bei Lavorversuchen in Rußspuren identifiziert. Die eine bekannte Variante, „Buckyballs“
genannt, besteht aus 60 Atomen, die eine Kugel mit einem Durchmesser von 0,7
Nanometern formen. Sowohl in Plastiksolarzellen als auch in der Nanomedizin könnten sie
eines Tages zum Einsatz kommen.
Die andere Variante sind die Kohlenstoff-Nanotubes. Dabei handelt es sich um Röhren
ebenjener atomaren Sechsecke, die mehrere Mikrometer lang werden können und einzeln
oder verschachtelt auftreten. Nanotubes sind reißfester als Stahl, leiten Wärme besser als
Diamant, der zuvor beste bekannte Wärmeleiter, und können elektrisch leitend oder
halbleitend sein. Kein Wunder, dass sie die Nanotechnologen inspirieren. Nanotubes eignen
sich als Dioden, als Transistoren, als molekulare Transportbänder für winzige Tröpfchen,
aber auch als verstärkende Komponente für Kunststoffe. Aus ihnen lassen sich leichte,
äußerst reißfeste Kohlenstoffgarne spinnen oder transparente Folien ziehen, die Wärme
abgeben oder leuchten kann. Nanotubes könnten die „eierlegende Wollmilchsau“ der
Nanotechnik sein.
Das Problem ist, dass Körperzellen und Bakterien sich mit den neuen Kohlenstoffmolekülen
nicht recht anfreunden können. Die Chemikerin Vicki Colvin vom Center for Biological and
Environmental Nanotechnology (CBEN) an der Rice University in Houston, Texas, fügte
bei In-vitro-Versuchen Buckyballs Kulturen von Hautzellen hinzu. Bei einer Konzentration
von 20 parts per billion (20 Buckyballs pro Milliarde Lösungsmolekülen) starb die Hälfte
der Zellen ab – das ist ein 50.000stel der tödlichen Konzentration dreiatomigen Kohlenstoffs
(C3), wie er etwa in Russ auftreten kann. Colvin fand allerdings auch heraus, dass die
Buckyballs weniger giftig sind, wenn man sie mit einfachen Molekülen umhüllt. „Dieses
Verfahren könnte nützlich sein, um die Toxizität von Nanopartikeln zu tunen“, sagt Colvin
(Kalaugher 2004).
Für Aufsehen sorgte 2005 ein In-Vivo-Experiment von Eva Oberdörster. Sie hatte
Buckyballs in Form wasserlöslicher Cluster in ein Aquarium gegeben. Nach 48 Stunden
waren diese in den umherschwimmenden Forellenbarschen über die Kiemen ins Gehirn
vorgedrungen und hatten Hirnzellen geschädigt (Holmes 2005). „Wir haben
herausgefunden, dass solche C60-Aggregate auch eine ordentliche antibakterielle Wirkung
haben“, bestätigt Joseph Hughes, Umweltingenieur am Georgia Institute of Technology,
Befürchtungen, Buckyballs könnten toxisch sein. Sein im Frühjahr 2005 veröffentlichter
Befund lautet: Überschreitet die Konzentration einen Schwellenwert, behindern die
Buckyball-Klumpen die Atmung von zwei verbreiteten Bakterienarten, die im Erdreich
vorkommen. „Das könnte man für ungemein gute Anwendungen nutzen, es könnte aber
auch Auswirkungen auf die Gesundheit von Ökosystemen haben.“ (Fortner 2005)
Bei den Nanotubes sieht es nicht viel besser aus. Verschiedene Versuche mit Mäusen und
Ratten haben gezeigt, dass Kohlenstoffröhrchen in den Gewebezellen der Lungenbläschen
Entzündungsreaktionen hervorrufen können. Eine laufende Studie der schweizerischen
EMPA Materials Science and Technology in St. Gallen untersucht deren toxische Wirkung
auf Bakterienkulturen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Zellaktivität sich nach
einem Tag drastisch verringert, je nachdem in welcher geometrischen Form die Nanotubes
vorliegen. Das von den Herstellern gelieferte Rohmaterial, das noch Katalysatorreste
enthält, ist dabei allerdings deutlich toxischer als eine gereinigte Mischung oder gar
Asbestfasern. Für Peter Wick, Molekularbiologe und Projektleiter, lautet die vorläufige
Erkenntnis: „Man muss genau wissen, wie das Material beschaffen ist und auch, wie hoch
der Anteil der Verunreinigungen ist.“5
Die neuen Kohlenstoffmoleküle sind aber nur ein Teil des Problems. Der Toxikologe Paul
Borm von der Zuyd-Universiteit Heerlen verweist darauf, dass selbst „chemisch träge
Materialien reaktionsfreudig werden, wenn man sie kleiner macht“. Titandioxid (TiO2) ist
ein Beispiel: Versuche hätten gezeigt, dass 20 Nanometer große TiO2-Teilchen zu
Entzündungen in Rattenlungen führten, während dieselbe Menge von 250 Nanometer
großem TiO2 keine Wirkung gezeigt habe, so Borm (Boeing 2004 174).
Das Pikante daran: Nanoskaliges TiO2 wird seit Jahren als besonders effizienter UVBlocker in Sonnencremes verwendet, weil die Gesamt-oberfläche viel größer ist als bei den
früher verwendeten Mikropartikeln. Untersuchungen des Physikers Tilman Butz von der
Universität Leipzig im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „Nanoderm“ geben zumindest
für gesunde Haut vorläufige Entwarnung: Titandioxidpartikel von nur 20 Nanometern
Durchmesser kommen in der Oberhaut nicht tiefer als 5 Mikrometer. „Zwischen der
Hornschicht und dem so genannten Stratum spinosum bleiben die Nanopartikel hängen“,
sagt Butz. Allerdings gebe es noch keine Ergebnisse, wie sich Titandioxid in
sonnenverbrannter Haut oder in den Schweißdrüsen verhalte.6
Was aber kann eigentlich passieren, wenn Nanopartikel auf Zellen treffen? Nach bisherigem
Erkenntnisstand gibt es drei Möglichkeiten. Die Oberfläche eines Nanoteilchens verursacht
entweder „Oxidativen Stress“ an der Zellhülle. Das bedeutet, dass sich freie Radikale
bilden, also Moleküle, die ein freies Elektron aufweisen und damit ausgesprochen
reaktionsfreudig sind. Die Folge: Der Kalziumspiegel innerhalb der Zelle steigt, und im
Zellkern kann eine unerwünschte Transkription von Genen in Proteine aktiviert werden. Die
können ihrerseits eine Entzündung im Gewebe auslösen. Ein zweiter Effekt ist die
Aktivierung von Rezeptormolekülen an der Zellhülle, weil sich Metallatome aus den
Nanopartikeln lösen. Mit denselben Konsequenzen wie im ersten Fall. Dritte Variante: Das
Nanoteilchen wird als Ganzes von der Zelle verschluckt und gelangt beispielsweise in die
Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zellen. Deren Arbeit wird durch die Anwesenheit des
Partikels empfindlich gestört (Oberdörster 2005).
Die große Frage, die die Nano-Community plagt, ist nun: Welche Konsequenzen sollte man
aus diesen ersten Erkenntnissen ziehen? Müssen Herstellung und Gebrauch von
Nanomaterialien womöglich gesetzlich „reguliert“ werden? Oder gar für ein Jahr unter ein
weltweites Moratorium gestellt werden, wie das die kanadische ETC Group, die erste
nanotech-kritische Umweltorganisation, seit drei Jahren fordert (ETC 2003)? Klar ist nur:
Gilt das Vorsorgeprinzip, muss etwas geschehen.
„Wenn Sie eine Chemikalie vertreiben, müssen Sie ein Materialsicherheitsdatenblatt
mitliefern“, sagt Annabelle Hett, Expertin für neu entstehende Risiken beim
Rückversicherer Swiss Re. Auf diesen Listen stünden Anweisungen, was beim Umgang mit
dem Material zu beachten ist. „Wenn Sie nun das Material bis auf Nanostrukturgrößen
verkleinern, gelten immer noch dieselben Materialsicherheitsdatenblätter. Das ist
wahrscheinlich nicht ausreichend, weil Nanopartikel eine völlig andere Stoffklasse
darstellen.“7
5
Privates Gespräch, s.a. www.empa.ch/plugin/template/empa/*/33501/---/l=1
Vortrag von Tilman Butz auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh
7
Podiumsdiskussionbeitrag auf der NanoEquity, 7.6.2005, Frankfurt am Main
6
Swiss Re hat deshalb in einem weithin beachteten Report 2004 vorgeschlagen, Nanoformate
selbst bekannter Werkstoffe wie neue Materialien zu behandeln. Für die müssten dann die
üblichen Sicherheitsbewertungen vorgenommen werden (SwissRe 2004). Auch die
britischen Royal Society und Royal Academy of Engineering haben in ihrem NanotechReport 2004 diese Empfehlung ausgesprochen (TRS 2004).
Andreas Gutsch von Degussa hält eine solche Vorgehensweise nicht für falsch, fordert aber
zuerst Risikonachweise. „Sobald wir einen Risikonachweis haben, stimme ich zu, dass die
Notwendigkeit einer Regulierung gegeben ist.“ Vorher sollten aber erst einmal die nötigen
„Datenmassen“ gesammelt werden.8 An denen hapert es noch.
„Das Wissen, das wir bislang haben, ist für Unternehmen noch nicht ausreichend, um eine
Risikobewertung vorzunehmen“, sagt Rob Aitken vom britischen Institut für
Berufsmedizin. Für eine Risikobewertung genügt es nämlich nicht zu wissen, welche
schädliche Wirkung ein Nanomaterial haben kann. Es muss auch untersucht werden, wo und
in welcher Form es überhaupt vorliegt. Nanotubes etwa sind derzeit von mindestens einem
Hersteller per UPS in Pulverform beziehbar. Auf dem Behälter fehlt jeder Hinweis, dass das
Einatmen der Röhrchen der Gesundheit abträglich sein könnte. Eine mögliche Anwendung
von Eisenoxid-Nanopartikeln liegt in der Entgiftung kontaminierter Böden. Die
Anwesenheit solchen „Nanorosts“ kann die Zerlegung von Chemikalien in harmlose
Bestandteile bewirken. Und dann? „Es wäre zu erwarten, dass sich die Nanomaterialien
durch die Nahrungskette bewegen“, mutmaßen die Oberdörsters.
Einmal aufgenommen, können Nanopartikel über die Gewebeschichten in Lunge und Darm
in die Blutbahn wandern, von dort in Leber, Milz und Knochenmark vordringen und auch
die Blut-Hirn-Schranke passieren. Das immerhin ist klar. Aber: „Wir benötigen noch viel
mehr Information“, betont Rob Aitken.9Vicki Colvin vom CBEN schätzt, dass es noch
„mindestens ein Jahrzehnt“ dauere, bis genug Daten zur Verfügung stünden (Colvin 2005).
Eine internationale Datenbank, in der mögliche Schädigungen und Risiken durch
Nanomaterialien aufgelistet sind, gibt es noch nicht, wohl aber erste Ansätze. Die EUKommission hat Anfang 2005 die Datensammlungsprojekte „Impart“ und „Nanotox“10
gestartet. Das CBEN bietet seit September 2005 eine Sammlung von toxikologischen
Artikeln auf seiner Website an,11 und auch die US-Umweltbehörde EPA arbeitet an einer
systematischen Erfassung von Risikodaten. Aufeinander abgestimmt sind diese Vorhaben
derzeit noch nicht. „Die internationale Zusammenarbeit ist gegenwärtig ziemlich
unterentwickelt“, urteilt Günter Oberdörster.12 Mit dreizehn internationalen Kollegen hat er
im Oktober 2005 allerdings eine Roadmap für die Nanotoxikologie vorgelegt. Darin
entwickeln die Forscher eine Strategie zur Untersuchung potenzieller Gefahren von
Nanomaterialien, deren Verständnis sich noch in „einem frühen Stadium befinde“
(Oberdörster 2005b).
3.3 Intendiert bioaktive Nanotechnik
Bislang ist nur von Nanopartikeln die Rede gewesen, die unbeabsichtigt freigesetzt werden.
8
Podiumsdiskussionbeitrag auf der NanoEquity, 7.6.2005, Frankfurt am Main
Podiumsdiskussionsbeitrag auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh
10
www.impart-nanotox.org/
11
cben.rice.edu/research.cfm
12
Podiumsdiskussionsbeitrag auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh
9
Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte. Lebensmittelhersteller wollen demnächst mit
Nanopartikeln die geschmacklichen und gesundheitlichen Eigenschaften unseres Essens
verbessern. Und in der Nanomedizin arbeitet man bereits – wie oben erwähnt – an neuen
Diagnoseverfahren und Tumortherapien, bei denen die winzigen Teilchen gezielt in den
Körper gebracht werden. So sollen die bereits erwähnten Quantenpunkte als Kontrastmittel
für Kernspintomographien genutzt werden. Der Kern der nanostrukturierten Mittel besteht
bislang meist aus giftigen Schwermetallverbindungen wie Cadmiumselenid, der unter
anderem zum Schutz mit Biomolekülen (z.B. Lipiden) umhüllt wird. Die US-Firma Evident
Technologies hat vor kurzem immerhin die ersten, nach eigenen Angaben nicht-toxischen
Quantenpunkte auf den Markt gebracht, die ohne Cadmiumselenid auskommen.
Auch im Kampf gegen den Krebs setzt man auf Nanopartikel, die hier als
Medikamententransporter dienen sollen. Kandidaten dafür sind Käfige aus Peptiden,
Proteinen oder gar aus DNA, dem Molekül, das in den Zellkernen die Erbinformation aller
Organismen codiert. Es gleicht einer verdrillten Strickleiter, deren Sprossen von vier
möglichen Basenpaaren gebildet werden: je zwei aus den Molekülen Adenin (A) und
Thymin (T), je zwei aus Guanin (G) und Cytosin (C). Mit Hilfe von Enzymen lassen sich
die beiden Stränge der DNA-Strickleiter voneinander lösen. An einer bestimmten Folge von
Basen eines solchen Einzelstrangs kann sich immer nur ein zweiter Strang anlagern, dessen
Basen die exakten Gegenstücke zum ersten bilden. Zur Folge AGC passt nur TCG. Diese
Eigenschaft aber macht DNA-Einzelstränge zu einer Art Baukasten-system, aus dem sich
nicht-biologische Strukturen fertigen lassen: ausgedehnte Gitter, Würfel oder auch Kugeln.
Die entscheidende Frage für eine Risikoabschätzung dabei lautet: Ist es möglich, dass sich
solche DNA-Partikel im Zellinneren auflösen? Wenn ja, könnten einzelne DNA-Stränge
einen so genannten horizontalen Gentransfer auslösen, sich also in das Genom integrieren.
In der Gentherapie ist genau das erwünscht. Hier aber könnte das Phänomen
möglicherweise die Bildung von Proteinen auslösen, die die Signalwege in der Zelle
durcheinander bringen – und etwa Entzün-dungen nach sich ziehen. Bislang ging es beim
Streit um horizontalen Gentransfer um die Veränderungen von Nutzpflanzen in der
Landwirtschaft, die über die Nahrungskette in Tiere und Menschen gelangen. Im Falle neuer
nanomedizinischer Verfahren würden plötzlich die menschlichen Zellen unvermittelt zum
Schauplatz der Problematik. Zwei weitere mögliche Folgen: Freie DNA-Stränge können
sich auch ans Genom anlagern und die Aktivierung wichtiger Gene verhindern. Oder sie
lagern sich an RNA-Stränge an, die die Information zur Proteinbildung innerhalb der Zelle
transportieren. Diese würde dann blockiert.13 Angesichts solcher Szenarien ist zu erwarten,
dass die Gentechnik-Debatte in absehbarer Zeit Bestandteil der Nanorisiko-Debatte wird.
Die Nanomedizin birgt noch ein weiteres Risiko. Eines ihrer Ziele ist, Kranke mit einer
individuellen Therapie behandeln zu können. Genetische oder andere molekulare Eigenarten
einzelner Menschen sollen mit auf diese zugeschnittenen Wirkstoffen angesprochen werden.
Aber es ist durchaus vorstellbar, dass Therapien am Ende zu Waffen umfunktioniert
werden, wenn man etwa eine hocheffiziente, gering dosierte „Nanoarznei“ für genetisch
ähnliche Bevölkerungsgruppen maßschneidert und damit „ethnische Waffen“ bekommt.
Diese Befürchtung ist zwar umstritten. Denn weltweite Genomanalysen haben gezeigt, dass
die Einteilung der Menschheit in „Rassen“ keine genetische Grundlage hat. Die Variationen
rund um den Globus sind zu groß und korrespondieren nicht mit Merkmalen wie etwa der
13
Hinweis von Ricarda Steinbrecher, Econexus
Hautfarbe. Seit die amerikanische FDA im Juni 2005 das Herzmedikament BiDil zugelassen
hat, ist aber klar, dass „ethnische“ Waffen sehr wohl denkbar sind. BiDil wurde nach
klinischen Tests bereits als Fehlschlag eingestuft, bis eine erneute Auswertung der Daten
zeigte, dass es bei afroamerikanischen Testpersonen deutlich häufiger wirkte (Pearson
2004). Inzwischen wird es speziell für diese Zielgruppe verkauft.
„Man muss davon ausgehen, dass es im Zuge der weiteren Nanotechnik-Entwicklung
Erkenntnisse geben wird, um gezielt neue Krankheitserreger zuzuschneiden“, warnt Jürgen
Altmann, Physiker an der Universität Dortmund (Boeing 2004 146f). Er untersucht seit
1988 die Folgen von militärischen Anwendungen neuer Technologien. Matthias Grüne vom
Fraunhofer Institut Naturwissenschaftliche Trendanalysen hält für denkbar, dass Agenzien,
die bislang im Kontakt mit Luftsauerstoff nicht stabil sind, mit Hilfe von Nanoträgern in der
Luft ausgebracht werden könnten. Noch seien wir mindestens zehn Jahre von solchen
Möglichkeiten entfernt, so Grüne. Sein Fazit: „Es könnte sich ein Missbrauchspotenzial
ziviler Nanomedizin entwickeln.“14
Solche Arbeiten würden jedoch die B-Waffen-Konvention von 1975 unterlaufen, die
Eingriffe in Zellprozesse verbietet, warnt Altmann. Dieses Abkommen ist seit damals von
143 Staaten unterzeichnet worden. Solange sich B-Waffen nicht gezielt einsetzen ließen,
funktionierte die Konvention. Angesichts der neuen Möglichkeiten wäre aber eine genauere
Überprüfung nötig. Die Verhandlungen darüber, wie solche Kontrollen aussehen könnten,
wurden von den USA allerdings 2001 verlassen (ebd.).
Solange es solche weltweiten Kontrollen nicht gibt, können Regierungen ungehindert neue
B-Waffen im Verborgenen entwickeln. Deshalb plädiert Altmann zusammen mit dem
amerikanischen Physiker Mark Gubrud dafür, als erstes ein „Verifikationsprotokoll“ zur BWaffen-Konvention zu beschließen. „Außerdem haben wir vorgeschlagen, auf nichtmedizinische nanotechnische Eingriffe in den menschlichen Körper für zehn Jahre gänzlich
zu verzichten.“ (ebd.)
Hope Shand von der ETC Group fordert zusätzlich, dass „die Nanotechnik von einer
internationalen Organisation geleitet werden soll“. Diese International Convention for the
Evaluation of New Technologies (ICENanotechnik) wäre direkt bei der Uno angesiedelt.15
Ein solches Gremium schlägt übrigens auch der im Sommer veröffentlichte „State of the
Future 2005“-Report des UN University Millennium Project vor (Glenn 2005).
3.4 Disruptive Nanotechnik
Bis hierhin ist der Katalog möglicher Nanorisiken schon recht vielfältig – ganz ohne jene
berüchtigten Nanoroboter, die den amerikanischen Computerwissenschaftler Bill Joy im
Jahre 2000 zu einem düsteren Essay im US-Magazin Wired veranlassten. Verschweigen
wollen wir sie nicht, denn sie sind ein Beispiel für „disruptive“ Nanotechnik. Darunter
können alle Versuche gefasst werden, künstliche Mikroorganismen herzustellen. Also
autonom agierende Nanosysteme, die die Fähigkeit haben, sich zu vervielfältigen, und
Lebewesen massiver und großflächiger schädigen könnten als die bioaktive Nanotechnik.
Die Nanoroboter, die Drexler ursprünglich im Sinn hatte – inzwischen hat er sich davon
distanziert – sollten im Wesentlichen aus diamantartigen Kohlenstoffverbindungen
14
15
Privates Gespräch
Vortrag auf der NanoRegulation, 10.9.2005, St. Gallen
bestehen. Ihr GAU würde darin bestehen, dass sie sich plötzlich unkontrolliert
vervielfältigen und das Rohmaterial hierfür aus der Zersetzung von Lebewesen gewinnen –
bis sie schließlich als grauer Maschinenschleim („Grey Goo“) ganze Landstriche überziehen
(Freitas 2000).
Inzwischen eröffnet sich auf dem Feld der synthetischen Biologie eine weitere Möglichkeit,
künstliche Mikroorganismen zu designen. Daran arbeitet vor allem Craig Venter am
Institute for Biological Energy Alternatives in Rockville, US-Bundesstaat Maryland, der mit
seiner Arbeit maßgeblich zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms beigetragen hat.
2003 stellte er bereits ein Virus vor, dessen 5386 Basenpaare zu einem in der Natur nicht
existierenden Genom verbunden wurden (Pearson 2003). Derzeit entwirft er ein „neues“
Genom für das Bakterium M. genitalium. Natürlich treiben Venter genausowenig wie
Drexler üble Absichten dabei um. Er sieht in den künstlichen Mikroben künftige
Arbeitstiere für Energiegewinnung oder Schadstoffbeseitigung. Aber man kann nicht
ausschließen, dass künstliche Viren zu einer unkontrollierbaren Bedrohung mutieren
könnten.
Während die Chancen für Venters Konzept nicht allzu schlecht stehen dürften, ist bislang
unklar, wann und ob überhaupt jemals Drexler’sche Nanosysteme möglich sind, die nicht
auf der irdischen Biochemie aufbauen. Kann man deshalb disruptive Nanotechnik als
Sciencefiction abtun, mit der man sich nicht weiter befassen müsse, wie es der größte Teil
der Nano-Community vorzieht? Außer Drexlers Foresight Nanotech Institute16, einem
Thinktank namens Center for Responsible Nanotechnology17 und der ETC Group18 hat sich
bislang niemand mit disruptiver Nanotechnik befasst. Während die ETC Group für
Forschung an dieser Art von Nanotechnik ein Moratorium fordert, sind die ersten beiden
vehement dagegen. Ihr Argument: Man müsse jetzt das nötige Know-how sammeln, um
künftigen „Nanohackern“ das Handwerk legen zu können, die künstliche, aber höchst reale
Viren oder Nanoroboter konstruieren.
4 Schlussfolgerungen
Auch wenn viele Anwendungen der Nanotechnik noch in den Anfängen stecken: Sie ist
kein Hype, sondern die Technik des 21. Jahrhunderts. Sie pauschal als gefährlich zu
brandmarken oder stoppen zu wollen, ist weder machbar noch wünschenswert. Denn die
Potenziale, die sie für ein nachhaltiges Energiesystem, für einen schonenden Umgang mit
den Ressourcen des Planeten Erde oder für die Heilung bislang tödlicher Krankheiten
bietet, sind gewaltig.
Die isolierte Nanotechnik birgt ohnehin keine unmittelbaren Gefahren. Die bioaktive kann
noch in ihrem jetzigen Frühstadium analysiert und auch reguliert werden. Für einen
etwaigen militärischen Missbrauch reicht eine Regulierung allerdings nicht aus: Hier sind
Politik und Nano-Community gefordert, wirksame Barrieren einzuziehen. Sei es durch eine
Verschärfung der B-Waffen-Konvention, sei es über eine internationale Organisation auf
der Ebene der Uno. Auf Gebieten, auf denen eine militärische Umnutzung klar absehbar ist,
sollte auch die Idee eines Moratoriums für entsprechende Forschungsvorhaben nicht tabu
sein.
16
www.foresight.org/
www.crnano.org
18
www.etcgroup.org
17
Für Ansätze einer disruptiven Nanotechnik ist ein Moratorium eigentlich die einzig
vernünftige Option, die wir haben. Denn noch ist diese Büchse der Pandora geschlossen.
Sollte sie erst geöffnet sein, werden wir sie nicht wieder schließen können.
Bis hier war nur von unmittelbaren Gefahren die Rede. Die viel gescholtene ETC Group
weist aber darüber hinaus seit drei Jahren – zu Recht – auf ein langfristiges Problem hin:
die Verschmelzung von Nano-, Bio-, Informations- und Neurotechnologien, in Fachkreisen
kurz „NBIC-Konvergenz“ genannt. Die ETC nennt dies „BANG“ – eine Technik, die zur
selben Zeit Bits, Atome, Neuronen und Gene bearbeitet. Es ist die treffendste Beschreibung
für die Nanotechnik in nicht ganz so ferner Zukunft – ein technologischer „Little BANG“,
der die Komplexität von Technik drastisch erhöht und unbeherrschbar machen könnte (ETC
2005). Gesellschaften und Volkswirtschaften könnten in einem Maße umgewälzt werden,
das bislang nicht annähernd abzuschätzen ist.
Noch besteht die Chance, die Technik des 21. Jahrhunderts human zu gestalten – wenn wir
sie als „offene Nanotechnik“ angehen (Boeing 2006). Der Begriff „offen“ meint dabei
zweierlei. Zum einen im Sinne von „transparent“: Die Nanotechnik muss raus aus den
Laboren, aber nicht in Form von Hochglanzbroschüren und Expertendialogen. Die
Konzepte müssen der Öffentlichkeit zugänglich und begreiflich gemacht werden,
beispielsweise über das Instrument der Bürgerforen. Die „Nanojury“19 in Großbritannien,
die im Mai 2005 ins Leben gerufen wurde und im September der britischen Regierung
Empfehlungen für die weitere Forschung mitgab, ist ein erstes Beispiel (Boeing 2005). Die
Millionen Laien, die die Segnungen der Nanotechnik konsumieren sollen, haben ein Recht
darauf, diese technische Zukunft mitzugestalten, gegen die sich das 20. Jahrhundert
möglicherweise wie eine gemächliche historische Epoche ausnehmen wird.
Die andere Bedeutung von „offen“ ist die Übertragung des „Open Source“-Prinzips der
Software auf Nanotechnik – also die Offenlegung des technischen Codes, der das Design
einer Technologie ermöglicht. Längst hat der Wettlauf um die Patentierung der neuen
Entdeckungen eingesetzt. Ist er schon im Falle von Genen, Pflanzen und Tieren fragwürdig
gewesen, könnte er diesmal sogar für die Industrie selbst zum Problem werden. Die
Marktforscher von Lux Research weisen in einer aktuellen Nanotech-Patentstudie
daraufhin, dass die Entwicklung neuer Produkte wegen der Verschränkung bisher getrennter
Technologien in der Nanotechnik deutlich erschwert werden könnte, weil unüberschaubare
Patentknäuel zu entwirren sind (Lux 2005).
Und wenn wir für den Augenblick Prognosen Glauben schenken, nach denen Nanotechnik
die Möglichkeiten der industriellen Produktion radikal verändern wird, könnte ein ganz
neuer Graben aufreißen zwischen denen, die Zugang zu den Grundlagen der neuen
Technologien haben, und dem Rest. Eine „Nano-Divide“ könnte entstehen, die alle
Gesellschaften weltweit erschüttert. Wir sollten den Nanokosmos zu der Public Domain
erklären, die er Milliarden Jahre gewesen ist – und von der alle profitieren können.
Kurzbiographie
Niels Boeing, geb. 1967 in Bochum, studierte Physik mit den Schwerpunkten Astrophysik
und Wissenschaftstheorie an der RWTH Aachen und der TU Berlin. Er war von 1998 bis
2002 Wissenschaftsredakteur bei der „Woche“, Hamburg, und arbeitet seitdem als freier
19
www.nanojury.org/
Wissenschaftsjournalist, u.a. für Technology Review, Die Zeit, Financial Times
Deutschland, Freitag. 2004 erschien sein Buch „Nano?! Die Technik des 21. Jahrhunderts“
bei Rowohlt Berlin.
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Fisika i Technika Poliprowodnikow, Vol. 33
Boeing, Niels (2004): Nano?! Die Technik des 21. Jahrhunderts, Berlin: Rowohlt Berlin
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Verlagsgesellschaft, 277 - 296
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