- Nell-Breuning
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Niels Boeing Zwischen Hype und Dystopie – eine systematische Einordnung der Nanotechnik 1 Einführung Es ist noch nicht lange her, dass die Dotcom-Ära in einem ordentlichen Börsenkrach endete. Die Technik-Euphorie der 1990er Jahre, die in ihrer Maßlosigkeit an die Anfangstage der Raumfahrt erinnerte, schien Geschichte. Doch schon schickt sich eine neue Umwälzung an, den entstandenen Leerraum der technischen Utopien mit einer noch größeren Projektionsfläche zu füllen: die Nanotechnik1. Wie sehr, verdeutlichen zwei Episoden. Am 4. Dezember 2003 steigt an der amerikanischen Technologiebörse NASDAQ der Kurs einer unter dem Kürzel „NANO” gelisteten Aktie zeitweilig um zehn Prozent. Statt der sonst üblichen 300.000 Wertpapiere wechseln an jenem Tag 1,6 Millionen Anteile der kalifornischen Firma Nanometrics den Besitzer. Nur: Nanometrics hat mit Nanotechnik nichts zu tun. Mit ihren Werkzeugen messen Chiphersteller seit langem die Dicke von Schichten auf so genannten Siliziumwafern, dem Ausgangsmaterial für Computerprozessoren. Als die Firma Ende der siebziger Jahre gegründet wurde, gab es das Gebiet der Nanotechnik noch gar nicht. Tatsächlich sind Anleger an jenem Dezembertag auf eine Patentveröffentlichung der Firma Nanogen angesprungen (Sorid 2003). Und getreu dem Motto: „Wo ‚nano’ draufsteht, muss ‚nano’ drin sein”, haben einige auch gleich Anteile des kalifornischen Unternehmens gekauft. Denn an den Finanzmärkten hat sich da längst herumgesprochen: Nanotechnik ist das nächste ganz große Ding, das uns eine „zweite industrielle Revolution“ bescheren, den Krebs besiegen und unsere Energieprobleme lösen soll – viel größer als die Dotcom-Ära. Knapp eineinhalb Jahre später: Es ist ein kühler Maitag in Chicago, als sich auf der Einkaufsmeile Michigan Avenue eine Gruppe junger Leute vor dem Eddie-Bauer-Store plötzlich entblößt. Phantasievoll bemalte Oberkörper kommen zum Vorschein. Doch es ist kein Kunst-Happening, das hier stattfindet. „Eddie Bauer Hazard“ ist auf einem nackten Rücken zu lesen, „Expose the truth about nanotech“ auf einem anderen, bringt die Wahrheit über Nanotechnik ans Licht (Lovy 2005). Denn Eddie Bauer, die amerikanische Bekleidungskette, verkauft Kleidung, die dank „Nanotex“-Fasern schmutzabweisend ist. Für die Nudisten von Thong, einer Gruppe von Umweltaktivisten, ein ernstes Umweltrisiko, sollten die Fasern sich aus dem Gewebe lösen und ins Freie gelangen. Glaubt man Aktivisten wie Thong, sind die Verheißungen der Nanotechnik, die Forschung und Industrie beflügeln, nur die halbe Wahrheit: Die Manipulation der molekularen Welt hat Schattenseiten, in denen ungeahnte Gefahren lauern. Für die meisten Zeitgenossen ist Nanotechnik allerdings immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Schuld daran sei die Nanotech-Gemeinde, meint der US-Kommunikationsforscher David Berube, der den „Nanohype“ in seinem gleichnamigen Blog2 beobachtet: „Was aus Laboren und Regierungen nach außen getragen wurde, hat das Verständnis nicht erhöht. Die Aufklärungsarbeit der Regierung hat im Wesentlichen darin bestanden, sich selbst auf die 1 Ich verwende in diesem Text den Begriff „Nanotechnik“ für das Technikgebiet an sich und „Nanotechnologie“ für ein Bündel aus wissenschaftlichen Grundlagen und technischen Verfahren für konkrete Anwendungen. Für eine ausführlichere Unterscheidung siehe auch http://www.heise.de/tr/blog/artikel/72931 2 http://nanohype.blogspot.com/ Schulter zu klopfen, und nicht die Öffentlichkeit angesprochen.“ (Berube 2005) Tatsächlich: Geht es um Fördergelder, werden viele Forschungsprojekte flugs mit dem Etikett „nano“ versehen. Werden die Risiken thematisiert, heißt es plötzlich, der Begriff „Nanotechnik“ sei viel „zu breit“, als dass man über ihn einen öffentlichen Dialog führen könne. Das müsse sehr viel differenzierter angegangen werden. Und während angesichts der nanotechnischen Möglichkeiten manchem Experten schon mal das Wort „revolutionär“ über die Lippen kommt, werden Rufe nach Sicherheitsregularien mit dem Argument abgewiesen, so neu und anders sei die Nanotechnik nicht, dass man für sie neue Richtlinien erlassen müsse. Deshalb soll das weite Feld der Nanotechnik hier in zweifacher Hinsicht systematisiert werden: Was unterscheidet sie von der bisherigen Technik, und wie gefährlich ist sie wirklich? 2 Das Verhältnis der Nanotechnik zur bisherigen Technik Beginnen wir mit der gängigen, doch wenig anschaulichen Definition, die inzwischen von allen Protagonisten akzeptiert wird: Nanotechnik umfasst die Manipulation von Objekten und Strukturen, die kleiner als 100 Nanometer sind. Zum Vergleich: Die Zellen unseres Körpers sind daneben wahre Giganten, bis zu tausend Mal größer. Ein Stecknadelkopf ist gar eine Million Mal breiter. An der Nanotechnik sind sehr verschiedene Disziplinen beteiligt, die bislang meist nebeneinander geforscht und konstruiert haben. Vor allem Biotechnik, Chemie, Physik und Halbleitertechnik haben sich in ihren Verfahren in den vergangenen Jahrzehnten beharrlich in den Nanokosmos vorgearbeitet und treffen nun aufeinander. Biologen entdecken etwa, dass man mit Mikroben Drähte für elektronische Schaltkreise konstruieren kann, Physiker analysieren mit ihren Werkzeugen die Bestandteile im Zellinneren, und Chemiker entwickeln Kunststoffe, die Licht in Strom umwandeln können. Es ist genau dieses Zusammentreffen verschiedener Disziplinen im Nanokosmos, das den eigenartigen Charakter dieser neuen Technik ausmacht. Am Anfang stand weder ein Konzept wie etwa die Turing-Maschine, das die moderne Informationstechnik begründete, noch eine konkrete Erfindung wie das Auto, aus der eine ganze Industrie entstand. Es waren viele verschiedene Erfindungen und wissenschaftliche Entdeckungen im 20. Jahrhundert, die sich jetzt immer rasanter zu etwas ganz Neuem zusammenfügen: der Technik des 21. Jahrhunderts überhaupt. Dass kein Forschungszweig sie für sich allein reklamieren kann, diese Erkenntnis setzt sich gerade erst durch. 2.1 Nanoeffekte Dabei nutzen die Nanoforscher und -tüftler Effekte, die noch in der Mikrometerwelt nicht zum Tragen kommen. Ein Beispiel ist der „Tunneleffekt“. Er beruht auf der Entdeckung der Quantenmechanik, dass sich für Elementarteilchen wie Elektronen keine festen Aufenthaltsorte angeben lassen, sondern nur Aufenthaltswahrscheinlichkeiten. Weil die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Elektron auch außerhalb eines energetischen Käfigs aufhält, nach den Gesetzen der Quantenmechanik nicht null ist, entwischen Elektronen mitunter tatsächlich aus diesem – sie „durchtunneln“ die Energiebarriere. Diesen Effekt nutzt man etwa im wichtigsten nanoanalytischen Werkzeug, dem 1981 von Gerd Binnig und Heinrich Rohrer erfundenen Rastertunnelmikroskop. Bei diesem befindet sich eine dünne Metallspitze wenige Nanometer über den Atomen einer metallischen Probe. Elektronen aus der Mikroskopspitze können diese Distanz per Tunneleffekt überwinden und in der Probenoberfläche auftauchen – es fließt ein schwacher Strom quasi durch Nichts. Aus dessen Stärke lässt sich der Abstand von Spitze und Probe und daraus ein atomares Oberflächenprofil der Probe errechnen. Das war mit dem 1931 von Ernst Ruska erfundenen Elektronenmikroskop noch nicht möglich gewesen. Es konnte zu der Zeit, als Binnig und Rohrer ihre Erfindung machten, nur ein zweidimensionales Abbild der Atome einer Oberfläche liefern (Boeing 2004 46ff). Dass die atomare Struktur im Nanokosmos die Eigenschaften von Festkörpern verändern kann, zeigen die so genannten Nanopartikel. Hier haben die Oberflächenatome auf einmal eine entscheidende Bedeutung. Bei einem Durchmesser von drei Nanometern enthält ein Nanoteilchen etwa 800 Atome, von denen ein Drittel die Oberfläche bildet. Der Anteil der Oberflächenenergie an der Gesamtenergie des Teilchens ist hier größer als in den tausend Mal größeren Mikropartikeln. Deshalb schmilzt ein Granulat aus Nanoteilchen bei niedrigeren Temperaturen als ein gröberes Pulver desselben Materials (z.B. Galliumsulfid bei 500 Grad Celsius statt 1600 Grad). Grund: Die Auflösung der Teilchenoberflächen trägt hier effektiv zur Minimierung der Gesamtenergie – denn darum handelt es sich bei einem Schmelzvorgang – bei, die alle Festkörper anstreben (Brus 1999). Ein weiterer Nanoeffekt in Festkörpern ist die Veränderung der inneren Kristallstruktur, wenn Nanoteilchen hohem Druck ausgesetzt werden. Ein drittes Beispiel sind die so genannten Quantenpunkte. Dies sind Halbleiterpartikel mit einem Durchmesser zwischen zwei und 20 Nanometern, die eine ungewöhnliche Energiestruktur aufweisen. In solch einem Nanohalbleiter, der bereits aus Tausenden von Atomen besteht, überlagern sich die Energiezustände der Elektronen zwar schon zu einer Art von Energiebändern wie im ausgedehnten Festkörper. Es gibt in ihnen aber noch scharf definierte Levels wie in einem riesigen „künstlichen“ Atom. In einem GalliumarsenidQuantenpunkt von 10 Nanometern Durchmesser liegen die Levels mit 100 Millielektronenvolt weiter auseinander als die normale thermische Energie eines Elektrons bei Zimmertemperatur, rund 26 Millielektronenvolt. Wegen dieses ausgeprägten Abstands eignen sich Quantenpunkte beispielsweise als Medium für besonders reines Laserlicht, das mit herkömmlichen Lasermedien nicht produziert werden kann (Boeing 2004 75ff). Diese drei Effekte deuten nur an, welche neuen Möglichkeiten die gezielte technische Erschließung des Nanokosmos birgt. Zwar eignen sie sich, ein Laienpublikum staunen zu lassen, zu einem systematischen Verständnis von Nanotechnik führen sie aber noch nicht. Hilfreicher ist hierfür ein Konzept des britischen Physikers Richard Jones. Er hat vorgeschlagen, Nanotechnik danach zu klassifizieren, wie neu eine bestimmte Anwendung im Vergleich zu Vorläufertechnologien ist. Dann würde sich der Streit darum erübrigen, welche Probleme eigentlich schon alte Bekannte sind. Die drei von Jones vorgeschlagenen Klassen sind: inkrementelle, evolutionäre und radikale Nanotechnik (Jones 2004). „Inkrementelle Nanotechnik beinhaltet, die Eigenschaften von Werkstoffen zu verbessern, indem man ihre Struktur auf dem Nanolevel kontrolliert“, erläutert Jones in seinem lesenswerten Blog Soft machines3. Das trifft etwa auf kratzfeste oder wasserabweisende 3 www.softmachines.org/wordpress/index.php Beschichtungen zu. „Evolutionäre Nanotechnik besteht darin, existierende Technologien auf Nanoformat zu verkleinern.“ (ebd.) Nanoelektronik wäre so ein Fall. Unter radikaler Nanotechnik versteht er schließlich Nanomaschinen, die kein Vorbild in der Technikgeschichte haben. Dazu gehören die berüchtigten „Assembler“, winzigste Roboter, die der US-Visionär Eric Drexler in Computersimulationen ersonnen hat. Schauen wir die drei Klassen etwas genauer an. 2.2 Inkrementelle Nanotechnik Mit einer inkrementellen Nanotechnik haben wir es bei chemischen Nanotechnologien zu tun. Bei ersterer wird die Struktur eines Materials auf der Nanoskala so verändert, dass es ganz neue Eigenschaften erhält. Bereits in den 1930er Jahren hatte der Jenaer Glashersteller Schott ein Verfahren entwickelt, dass genau diese Veränderungen bewirkt: den Sol-GelProzess. Bringt man ein Silan – ein Siliziumatom, an dem vier Alkoholgruppen hängen - mit Wasser zusammen, werden die Alkohole teilweise abgetrennt und durch ein Wassermolekül ersetzt. Das resultierende Silanol klumpt leicht zu so genannten Kolloiden zusammen, die bereits wenige Nanometer groß sind. In wässriger Lösung schwimmend bilden sie das Sol. Erhitzt man dieses nun oder lässt es austrocknen, verdampft das Wasser allmählich, und die Silanole beginnen sich zu einem dichten Netz zu verketten. Aus dem Sol wird ein zähflüssiges Gel (Wagner 2002). „Das Faszinierende des klassischen Sol-Gel-Prozesses war, dass man Kolloide gemacht hat. Sie sind nanoskalig, sie streuen kein Licht, und wenn man sie in einer dünnen Schicht auf eine Oberfläche bringt, ist die Schicht transparent. Das hat die Glashersteller damals furchtbar fasziniert”, erläutert Helmut Schmidt, der Gründer des Instituts für Neue Materialien in Saarbrücken. In den siebziger Jahren stellte er sich eine andere Frage: Was passiert, wenn man an die Kolloide noch organische Moleküle anknüpft, an deren Ende zum Beispiel das Element Fluor sitzt? Trägt man ein Sol solcher Fluorsilane hauchdünn auf eine Oberfläche auf, sammeln sich die Fluorenden beim Aushärten an der Oberfläche. Weil sie wasserabweisend sind, ballen sich Wassermoleküle darauf zu dicken Tropfen zusammen. Auf diese Weise können Kalk oder andere Partikel in Wasser keinen ausgedehnten Schmutzfilm bilden. Ergebnis ist, dass sich die Oberfläche leichter reinigen lässt. Mit demselben Verfahren lassen sich auch Beschichtungen herstellen, an denen andere Substanzen kaum haften können (Boeing 2004 90ff). Diese Technologie hält bereits Einzug in unseren Alltag. „Wenn Sie in Deutschland wohnen, haben Sie gute Chancen, uns schon nach dem Aufstehen zu begegnen: beispielsweise in der Glaskabine Ihrer neuen Dusche. Auf dem Glas ist eine Easy-to-cleanBeschichtung drauf”, sagt Ralf Zastrau, Geschäftsführer der Nanogate GmbH in Saarbrücken. „Und wenn Sie dann die Tageszeitung aufschlagen, kann es sein, dass ein Produkt von uns daran beteiligt war.” Einige Druckereien statten ihre Walzen inzwischen mit einer Antihaft-Beschichtung von Nanogate aus. „Damit lassen sich die Reinigungszyklen der Druckwalzen drastisch verringern. Statt nach jedem Druckjob genügt jetzt eine wöchentliche Reinigung.” Das mit Nanopartikeln produzierte Skiwachs „Cerax Nanowax”, das die Saarbrücker entwickelt haben, wurde 2003 vom US-Magazin Forbes zum Nanoprodukt des Jahres gekürt (Boeing 2004b). Auch fast alle traditionellen Chemie- und Pharmakonzerne stellen inzwischen Nanomaterialien er. „Wir benutzen Nanotechnologie, um unsere Produkte zu verbessern, aber wir benutzen das Label ‚nano’ nicht”, sagt Klaus Peter Nebel, Konzernsprecher von Beiersdorf, das in einigen Sonnenschutzcremes Titandioxid-Nanopartikel einsetzt. Da diese eine viel größere Gesamtoberfläche pro Milliliter aufweisen als gröbere Körnchen, können sie mehr UV-Licht absorbieren (ebd.). Auch die Nanomedizin nutzt zum Teil Nanowerkstoffe, so beispielsweise die bereits erwähnten Quantenpunkte. Regt man diese chemisch oder mit Licht an, strahlen sie Photonen einer gewissen Wellenlänge ab. Diese lässt sich nun genau einstellen, in dem man die Teilchengröße variiert. Firmen wie Evident Technologies aus Troy im US-Bundesstaat New York verkaufen sie deshalb als Biomarker an Labore. Die „Evidots“ bleichen im Unterschied zu herkömmlichen fluoreszenten Farbstoffen auch nach stundenlangem Einsatz nicht aus (Boeing 2004 120f). Mit chemisch modifizierten Nanopartikeln eröffnen sich auch neue Möglichkeiten in der Therapierung bestimmter Krebsarten, die sich in schwer zugänglichen Regionen des Körpers befinden. Am weitesten fortgeschritten ist die Behandlung von Glioblastom genannten Hirntumoren. Entwickelt wurde sie von Forschern um Andreas Jordan an der Berliner Charité. Sie nutzten hierzu superparamagnetische Teilchen aus Eisenoxid, an denen organische Moleküle verankert werden, auf die nur die Tumorzellen reagieren. „Die Nanopartikel werden von den Tumorzellen in einer nie da gewesenen Geschwindigkeit zu Hunderttausenden aufgenommen”, sagt Jordan. Setzt man die Teilchen einem magnetischen Wechselfeld aus, beginnen sie zu oszillieren und damit das Zellplasma bis auf 70 Grad Celsius zu erwärmen – nach einer halben Stunde ist die Zelle abgestorben. Die gesunden Zellen, die keine Nanomagneten aufgenommen haben, erwärmen sich hingegen nicht (Boeing 2004 124ff). Im Unterschied zu mikrometergroßen Körnchen verlieren solche Nanopartikel ihren magnetischen Charakter wieder, wenn das Feld abgeschaltet wird. Es bleibt also kein magnetisches Material im Körper zurück. Die Teilchen werden dann mit dem toten Gewebe vom Körper entsorgt und ausgeschieden. Voraussichtlich ab 2007 soll das Verfahren, dass sich in der letzten klinischen Versuchsphase befindet, zugelassen werden.4 Es ist ein Beispiel für eine der wichtigen Grundideen der Nanomedizin: Anstatt wie heute üblich ein Medikament zu verabreichen, das über die Blutbahn über den ganzen Körper verteilt wird und dabei auch gesunde Zellen trifft (was dann zu den so genannten Nebenwirkungen führt), sollen die medizinischen Wirkstoffe so verfeinert werden, dass sie nur noch auf krankes Gewebe einwirken. 2.3 Evolutionäre Nanotechnik In der evolutionären Nanotechnik sollen bekannte technische Konzepte drastisch verkleinert werden. Dies ist etwa in der Nanoelektronik der Fall: Sie soll sicherstellen, dass die Miniaturisierung von Computerchips auch dann fortgesetzt werden kann, wenn physikalische Grenzen eine weitere Verkleinerung nicht mehr zulassen. Aus diesem Grund arbeiten vor allem die großen Computerkonzerne in aller Welt fieberhaft an neuen elektronischen Systemen, die Bits im Nanomaßstab verarbeiten und speichern können. Das wohl am weitesten fortgeschrittene Speicherkonzept ist der „Millipede”-Chip von IBM. Er ist ein schönes Beispiel für evolutionäre Nanotechnik, denn hierbei handelt es sich im 4 Privates Gespräch Prinzip um eine auf einen Nanomaßstab verkleinert Lochkarte – also ein Konzept aus den frühen Tagen der Rechenmaschinen. Im gegenwärtigen Prototyp des Millipede liegen 4096 feine Hebelarme oder Cantilever auf einem Quadrat von wenigen Millimetern Seitenlänge in 64 Reihen zu je 64 Hebeln locker auf einer Kunststofffläche auf. Werden die Hebelspitzen durch einen Strompuls erhitzt und elektrostatisch nach unten gebogen, drückt die Spitze eine 15 Nanometer breite Vertiefung in den Kunststoff. Die in Abständen von etwa 10 Nanometern zwischen den Rändern angeordneten Löcher ermöglichen eine Speicherdichte von rund 150 Gigabit pro Quadratzentimeter. Damit ließen sich mehrere DVDs auf dem Raum einer Speicherkarte, wie sie in Digitalkameras genutzt wird, festhalten (Boeing 2004 110ff). Doch nicht nur die Speichereinheiten, auch die Transistoren – Herzstück eines jeden Computerprozessors – müssen verkleinert werden. Die Grundidee dazu ist fast genauso alt wie die bekannten Intel-Chips und wurde 1974 von Mark Ratner und Ari Aviram entworfen. Es ist eine molekulare Elektronik, bei der einzelne Moleküle zu elektronischen Bauteilen werden. 1998 gelang es einer Gruppe um den niederländischen Physiker Cees Dekker von der Technischen Universität Delft zum ersten Mal, das Tor zur molekularen Elektronik ein Stück aufzustoßen (Boeing 2004 103f). Sie bugsierten mit Hilfe eines Kraftmikroskops ein hauchdünnes Kohlenstoff-Röhrenmolekül – im Wissenschaftsjargon „Nanotube“ genannt – zwischen zwei Goldelektroden. Nanotubes haben einen Durchmesser zwischen einem und wenigen Nanometern und können, je nach atomarer Struktur, sowohl elektrisch leitend als auch halbleitend sein. Dekkers Gruppe nutzte eine Halbleiter-Nanotube. Unter dieser befand sich nun, abgeschirmt durch eine Isolatorschicht, eine Gatterelektrode aus Silizium. Als sie daran eine Spannung anlegten, verwandelte sich die Nanotube plötzlich in genau jenen Verbindungskanal, den im herkömmlichen Transistor das positiv dotierte Silizium darstellt. Dekker und seine Kollegen hatten den ersten echten Prototypen eines Nanotube-Transistors geschaffen. Denn anders als in vorigen Versuchen funktionierte das ganze nun bei Zimmertemperatur (ebd.). Das Problem ist bislang jedoch, Millionen solcher Nanotubes in wenigen präzisen Arbeitsschritten auf einem Chip zu komplexen Schaltkreisen anzuordnen, so wie es die Halbleiterindustrie heute mit Hilfe der Photolithographie vermag. Diese aber erlaubt keine Herstellung von Strukturen in der Größenordnung einer molekularen Elektronik. 2.4 Radikale Nanotechnik Die dritte Klasse der radikalen Nanotechnik schließlich setzt auf ganz neue technische Konzepte, die bisher überhaupt noch nicht möglich, ja nicht einmal denkbar waren. Ein Beispiel ist die Bionanotechnik, bei der man die Mechanismen lebender Zellen für neue Zwecke ausnutzen will. Einen ungewöhnlichen Ansatz hat etwa Angela Belcher, Chemikerin am Massachusetts Institute of Technology (MIT), entwickelt. Sie will elektronische Bauteile mit Hilfe von Mikroorganismen herstellen. Dazu verändert sie die Gene eines länglichen Virus – eines so genannten Bakteriophagen, also eines Virus, das nur Bakterien befällt – dahingehend, dass dieser eine neue Proteinhülle entwickelt. An diesen Proteinen, die das Virus in der Natur nicht ausbildet, lagern sich dann Halbleitermaterialien entlang des Viruskörpers an. Das Ergebnis sind lange Nanodrähte, die ebenfalls in einer künftigen Nanoelektronik eingesetzt werden könnten. Douglas Lauffenburger, Bio- Ingenieur am MIT, sieht in dieser Verschmelzung von Biologie und Nanotechnik eine der wichtigsten technischen Entwicklungen für das 21. Jahrhundert: „Im letzten Jahrhundert hat die Festkörperphysik die Computerwelt und die Mikroelektronik revolutioniert. Die Revolution dieses Jahrhunderts wird das Ausnutzen der Molekularbiologie sein, so wie es Angela Belcher macht.“ (Boeing 2004c) Das radikalste und auch umstrittenste Konzept aber hat der amerikanische Ingenieur Eric Drexler entwickelt. In seinem manifest-artigen Werk Engines of Creation entwarf er 1986 einen „Assembler”: eine Art Nanofabrik, die Atome und Moleküle an Bord nehmen und miteinander verbinden kann. Myriaden solcher Assembler könnten dann beliebige makroskopische Gegenstände zusammenbauen. Und zwar in neuartigen atomaren Strukturen, die in der Natur nicht vorkommen. Auf diese Weise könnte man etwa Raketentriebwerke aus Kohlenstoff und Aluminium innerhalb von zwei Tagen „wachsen” lassen, die nur einen Bruchteil heutiger Triebwerke wiegen und gleichzeitig sehr viel stabiler sind, schrieb Drexler damals (Drexler 1986). In seinem Fachbuch Nanosystems legte er dann 1992 thermodynamische und mechanische Berechnungen nach. Die Gemeinde der Nanoforscher konnte er damit jedoch nicht so ganz überzeugen. Der Münchener Biophysiker Hermann Gaub sieht nicht die Voraussetzungen für einen Assembler gegeben: „Wir sind bisher nicht in der Lage, gezielt größere Strukturen aus nanoskaligen Bausteinen aufzubauen.” (Boeing 2004 157) Außer der „Self-Assembly”, einer Variante des physikalischen Prinzips der Selbstorganisation, gebe es derzeit kein Verfahren. Einen 100 Nanometer großen Drexler’schen Assembler aus vier Millionen Atomen (Drexler 1992 398ff) mit einem Rastertunnelmikroskop zu montieren, würde Zigtausende von Jahren dauern. Der inzwischen verstorbene Chemienobelpreisträger Richard Smalley, einer der Entdecker der Buckyballs – Kohlenstoffmoleküle, in dem 60 Atome zu Fünf- und Sechsecken nach dem Muster eines Fußballs angeordnet sind – hielt gar den Mechanismus aus Greifarmen und Förderbändern innerhalb eines Assemblers für unmöglich, weil physikalische Nanoeffekte diesen behindern. „Solch ein Nanoroboter wird nie mehr sein als die Träumerei eines Futuristen”, lautete sein hartes Urteil (Smalley 2001). Dennoch arbeiten einige Forschungsgruppen weltweit an Nanomaschinenteilen, die möglicherweise doch irgendwann zu einer funktionierenden Nanomaschine zusammengesetzt werden könnten. Ob diese dann tatsächlich ein Assembler im Drexler’schen Sinne sein wird, lässt sich nicht absehen. Doch die Vision einer funktionierenden Nanomaschine ist unter Nanoforschern nicht so unpopulär, wie manche Äußerungen in Interviews oder auf Konferenzen vermuten lassen. 3 Die potenziellen Gefahren der Nanotechnik Die Jones’sche Klassifizierung der Nanotechnik kann viel dazu beitragen, diese in die jüngere Technikgeschichte einzuordnen. Doch für einen aufgeklärten Umgang mit ihr ist sie noch nicht ausreichend. Denn soll eine öffentliche Debatte über mögliche negative Folgen bereits im jetzigen Frühstadium fruchtbar sein, muss eine andere Frage beantwortet werden: Welche unmittelbaren Wirkungen können Nanoanwendungen auf Organismen haben? Ich schlage deshalb vor, Nanotechnik für eine Risikodebatte in drei andere Klassen einzuteilen, die quer zum Schema von Richard Jones liegen und dieses ergänzen: isolierte, bioaktive und disruptive Nanotechnik. 3.1 Isolierte Nanotechnik Der größte Teil der gegenwärtigen Nanotechnologien besteht aus Strukturen, in denen die Nanokomponente fest eingebettet und damit von der Umwelt isoliert ist. Zu dieser Kategorie gehören zum einen diverse Werkzeuge zur Untersuchung von Oberflächen und Molekülen. Die meisten sind eine Spielart des Mikroskops. Mit dem 1981 erfundenen Rastertunnelmikroskop lassen sich beispielsweise einzelne Atome oder Moleküle bewegen, allerdings nur über ungeheuer kurze Distanzen. Das Prinzip des Kraftmikroskops, bei dem mikroskopische Siliziumhebelchen unter Krafteinwirkung nachweisbar verbogen werden, kommt auch in einer Reihe von neuen Sensoren zum Einsatz. Das zweite Feld umfasst Werkstoffe wie selbstreinigende oder Antihaft-Beschichtungen. Zwar verdanken sie ihre Eigenschaften Nanopartikeln. Doch diese sind in einer Matrix aus Kunststoffen verankert. „Die Substanzen müsste man mit hohem Energieeinsatz zerkleinern, um die Nanopartikel wieder herauszubekommen“, sagt Helmut Schmidt, einer der Pioniere der chemischen Nanotechnologie (Boeing 2004 175). Ebenfalls zur isolierten Nanotechnik wird wohl demnächst die Nanoelektronik zu zählen sein, die sich derzeit noch in Laborprototypen erschöpft. Die molekularen Schaltungen sind überhaupt nur dann sinnvoll, wenn sie zu Hunderttausenden, ja Millionen in einem Prozessor fixiert werden können. Die Computerindustrie erhofft sich davon die Sicherung des „Moore’schen Gesetzes“, nach dem sich bei gleichzeitiger Miniaturisierung die Zahl der Transistoren alle 18 Monate verdoppelt. Dieses Innovationstempo würde sich deutlich verlangsamen, wenn die Verkleinerung der elektronischen Bauteile aus physikalischen Gründen gestoppt werden müsste. Eine Unwägbarkeit bleibt bei der isolierten Nanotechnik: Was passiert mit den Nanokomponenten, wenn die Geräte und Materialien entfernt und entsorgt werden sollen? Konzepte für Recycling oder Wiederverwendung gibt es bisher nicht. Sollte es möglich sein, dass diese Nanoanwendungen sich am Ende ihres Lebenszyklusses zersetzen und in die Umwelt gelangen, würden sie in die nächste Klasse rutschen: die bioaktive Nanotechnik. 3.2 Unbeabsichtigt bioaktive Nanotechnik Hier betreten wir erstmals heikles Terrain. „Als wir 1994 die These präsentierten, dass ultrafeine Teilchen unter 100 Nanometern Durchmesser zu gesundheitlichen Schäden führen könnten, wurde das mit freundlicher Skepsis bis hin zu rigider Ablehnung aufgenommen“, sagt Günter Oberdörster von der Universität Rochester im US-Bundesstaat New York, einer der führenden Nanotoxikologen weltweit. Was seine Zunft seitdem herausgefunden hat, ist durchaus beunruhigend. Denn wie es aussieht, sind künstlich hergestellte Nanopartikel, die nicht in einer Matrix stecken, bioaktiv. „Dieselben Eigenschaften, die Nanopartikel so attraktiv für Anwendungen in Nanomedizin und anderen industriellen Prozessen machen, könnten sich als schädlich herausstellen, wenn Nanopartikel mit Zellen wechselwirken“, konstatiert Oberdörster in der bislang umfassendsten Bestandsaufnahme zur Problematik (Oberdörster 2005b). Ausgerechnet die Stars unter den neuen Nanomaterialien sind hierbei die Hauptverdächtigen: die Buckminsterfullerene. Ihren Namen verdanken diese Kohlenstoffmoleküle der Anordnung ihrer Atome, die an die Kuppelarchitektur des Amerikaners Buckminster Fuller erinnert. Vor knapp zwanzig Jahren wurden sie erstmals bei Lavorversuchen in Rußspuren identifiziert. Die eine bekannte Variante, „Buckyballs“ genannt, besteht aus 60 Atomen, die eine Kugel mit einem Durchmesser von 0,7 Nanometern formen. Sowohl in Plastiksolarzellen als auch in der Nanomedizin könnten sie eines Tages zum Einsatz kommen. Die andere Variante sind die Kohlenstoff-Nanotubes. Dabei handelt es sich um Röhren ebenjener atomaren Sechsecke, die mehrere Mikrometer lang werden können und einzeln oder verschachtelt auftreten. Nanotubes sind reißfester als Stahl, leiten Wärme besser als Diamant, der zuvor beste bekannte Wärmeleiter, und können elektrisch leitend oder halbleitend sein. Kein Wunder, dass sie die Nanotechnologen inspirieren. Nanotubes eignen sich als Dioden, als Transistoren, als molekulare Transportbänder für winzige Tröpfchen, aber auch als verstärkende Komponente für Kunststoffe. Aus ihnen lassen sich leichte, äußerst reißfeste Kohlenstoffgarne spinnen oder transparente Folien ziehen, die Wärme abgeben oder leuchten kann. Nanotubes könnten die „eierlegende Wollmilchsau“ der Nanotechnik sein. Das Problem ist, dass Körperzellen und Bakterien sich mit den neuen Kohlenstoffmolekülen nicht recht anfreunden können. Die Chemikerin Vicki Colvin vom Center for Biological and Environmental Nanotechnology (CBEN) an der Rice University in Houston, Texas, fügte bei In-vitro-Versuchen Buckyballs Kulturen von Hautzellen hinzu. Bei einer Konzentration von 20 parts per billion (20 Buckyballs pro Milliarde Lösungsmolekülen) starb die Hälfte der Zellen ab – das ist ein 50.000stel der tödlichen Konzentration dreiatomigen Kohlenstoffs (C3), wie er etwa in Russ auftreten kann. Colvin fand allerdings auch heraus, dass die Buckyballs weniger giftig sind, wenn man sie mit einfachen Molekülen umhüllt. „Dieses Verfahren könnte nützlich sein, um die Toxizität von Nanopartikeln zu tunen“, sagt Colvin (Kalaugher 2004). Für Aufsehen sorgte 2005 ein In-Vivo-Experiment von Eva Oberdörster. Sie hatte Buckyballs in Form wasserlöslicher Cluster in ein Aquarium gegeben. Nach 48 Stunden waren diese in den umherschwimmenden Forellenbarschen über die Kiemen ins Gehirn vorgedrungen und hatten Hirnzellen geschädigt (Holmes 2005). „Wir haben herausgefunden, dass solche C60-Aggregate auch eine ordentliche antibakterielle Wirkung haben“, bestätigt Joseph Hughes, Umweltingenieur am Georgia Institute of Technology, Befürchtungen, Buckyballs könnten toxisch sein. Sein im Frühjahr 2005 veröffentlichter Befund lautet: Überschreitet die Konzentration einen Schwellenwert, behindern die Buckyball-Klumpen die Atmung von zwei verbreiteten Bakterienarten, die im Erdreich vorkommen. „Das könnte man für ungemein gute Anwendungen nutzen, es könnte aber auch Auswirkungen auf die Gesundheit von Ökosystemen haben.“ (Fortner 2005) Bei den Nanotubes sieht es nicht viel besser aus. Verschiedene Versuche mit Mäusen und Ratten haben gezeigt, dass Kohlenstoffröhrchen in den Gewebezellen der Lungenbläschen Entzündungsreaktionen hervorrufen können. Eine laufende Studie der schweizerischen EMPA Materials Science and Technology in St. Gallen untersucht deren toxische Wirkung auf Bakterienkulturen. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass die Zellaktivität sich nach einem Tag drastisch verringert, je nachdem in welcher geometrischen Form die Nanotubes vorliegen. Das von den Herstellern gelieferte Rohmaterial, das noch Katalysatorreste enthält, ist dabei allerdings deutlich toxischer als eine gereinigte Mischung oder gar Asbestfasern. Für Peter Wick, Molekularbiologe und Projektleiter, lautet die vorläufige Erkenntnis: „Man muss genau wissen, wie das Material beschaffen ist und auch, wie hoch der Anteil der Verunreinigungen ist.“5 Die neuen Kohlenstoffmoleküle sind aber nur ein Teil des Problems. Der Toxikologe Paul Borm von der Zuyd-Universiteit Heerlen verweist darauf, dass selbst „chemisch träge Materialien reaktionsfreudig werden, wenn man sie kleiner macht“. Titandioxid (TiO2) ist ein Beispiel: Versuche hätten gezeigt, dass 20 Nanometer große TiO2-Teilchen zu Entzündungen in Rattenlungen führten, während dieselbe Menge von 250 Nanometer großem TiO2 keine Wirkung gezeigt habe, so Borm (Boeing 2004 174). Das Pikante daran: Nanoskaliges TiO2 wird seit Jahren als besonders effizienter UVBlocker in Sonnencremes verwendet, weil die Gesamt-oberfläche viel größer ist als bei den früher verwendeten Mikropartikeln. Untersuchungen des Physikers Tilman Butz von der Universität Leipzig im Rahmen des EU-Forschungsprojektes „Nanoderm“ geben zumindest für gesunde Haut vorläufige Entwarnung: Titandioxidpartikel von nur 20 Nanometern Durchmesser kommen in der Oberhaut nicht tiefer als 5 Mikrometer. „Zwischen der Hornschicht und dem so genannten Stratum spinosum bleiben die Nanopartikel hängen“, sagt Butz. Allerdings gebe es noch keine Ergebnisse, wie sich Titandioxid in sonnenverbrannter Haut oder in den Schweißdrüsen verhalte.6 Was aber kann eigentlich passieren, wenn Nanopartikel auf Zellen treffen? Nach bisherigem Erkenntnisstand gibt es drei Möglichkeiten. Die Oberfläche eines Nanoteilchens verursacht entweder „Oxidativen Stress“ an der Zellhülle. Das bedeutet, dass sich freie Radikale bilden, also Moleküle, die ein freies Elektron aufweisen und damit ausgesprochen reaktionsfreudig sind. Die Folge: Der Kalziumspiegel innerhalb der Zelle steigt, und im Zellkern kann eine unerwünschte Transkription von Genen in Proteine aktiviert werden. Die können ihrerseits eine Entzündung im Gewebe auslösen. Ein zweiter Effekt ist die Aktivierung von Rezeptormolekülen an der Zellhülle, weil sich Metallatome aus den Nanopartikeln lösen. Mit denselben Konsequenzen wie im ersten Fall. Dritte Variante: Das Nanoteilchen wird als Ganzes von der Zelle verschluckt und gelangt beispielsweise in die Mitochondrien, die „Kraftwerke“ der Zellen. Deren Arbeit wird durch die Anwesenheit des Partikels empfindlich gestört (Oberdörster 2005). Die große Frage, die die Nano-Community plagt, ist nun: Welche Konsequenzen sollte man aus diesen ersten Erkenntnissen ziehen? Müssen Herstellung und Gebrauch von Nanomaterialien womöglich gesetzlich „reguliert“ werden? Oder gar für ein Jahr unter ein weltweites Moratorium gestellt werden, wie das die kanadische ETC Group, die erste nanotech-kritische Umweltorganisation, seit drei Jahren fordert (ETC 2003)? Klar ist nur: Gilt das Vorsorgeprinzip, muss etwas geschehen. „Wenn Sie eine Chemikalie vertreiben, müssen Sie ein Materialsicherheitsdatenblatt mitliefern“, sagt Annabelle Hett, Expertin für neu entstehende Risiken beim Rückversicherer Swiss Re. Auf diesen Listen stünden Anweisungen, was beim Umgang mit dem Material zu beachten ist. „Wenn Sie nun das Material bis auf Nanostrukturgrößen verkleinern, gelten immer noch dieselben Materialsicherheitsdatenblätter. Das ist wahrscheinlich nicht ausreichend, weil Nanopartikel eine völlig andere Stoffklasse darstellen.“7 5 Privates Gespräch, s.a. www.empa.ch/plugin/template/empa/*/33501/---/l=1 Vortrag von Tilman Butz auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh 7 Podiumsdiskussionbeitrag auf der NanoEquity, 7.6.2005, Frankfurt am Main 6 Swiss Re hat deshalb in einem weithin beachteten Report 2004 vorgeschlagen, Nanoformate selbst bekannter Werkstoffe wie neue Materialien zu behandeln. Für die müssten dann die üblichen Sicherheitsbewertungen vorgenommen werden (SwissRe 2004). Auch die britischen Royal Society und Royal Academy of Engineering haben in ihrem NanotechReport 2004 diese Empfehlung ausgesprochen (TRS 2004). Andreas Gutsch von Degussa hält eine solche Vorgehensweise nicht für falsch, fordert aber zuerst Risikonachweise. „Sobald wir einen Risikonachweis haben, stimme ich zu, dass die Notwendigkeit einer Regulierung gegeben ist.“ Vorher sollten aber erst einmal die nötigen „Datenmassen“ gesammelt werden.8 An denen hapert es noch. „Das Wissen, das wir bislang haben, ist für Unternehmen noch nicht ausreichend, um eine Risikobewertung vorzunehmen“, sagt Rob Aitken vom britischen Institut für Berufsmedizin. Für eine Risikobewertung genügt es nämlich nicht zu wissen, welche schädliche Wirkung ein Nanomaterial haben kann. Es muss auch untersucht werden, wo und in welcher Form es überhaupt vorliegt. Nanotubes etwa sind derzeit von mindestens einem Hersteller per UPS in Pulverform beziehbar. Auf dem Behälter fehlt jeder Hinweis, dass das Einatmen der Röhrchen der Gesundheit abträglich sein könnte. Eine mögliche Anwendung von Eisenoxid-Nanopartikeln liegt in der Entgiftung kontaminierter Böden. Die Anwesenheit solchen „Nanorosts“ kann die Zerlegung von Chemikalien in harmlose Bestandteile bewirken. Und dann? „Es wäre zu erwarten, dass sich die Nanomaterialien durch die Nahrungskette bewegen“, mutmaßen die Oberdörsters. Einmal aufgenommen, können Nanopartikel über die Gewebeschichten in Lunge und Darm in die Blutbahn wandern, von dort in Leber, Milz und Knochenmark vordringen und auch die Blut-Hirn-Schranke passieren. Das immerhin ist klar. Aber: „Wir benötigen noch viel mehr Information“, betont Rob Aitken.9Vicki Colvin vom CBEN schätzt, dass es noch „mindestens ein Jahrzehnt“ dauere, bis genug Daten zur Verfügung stünden (Colvin 2005). Eine internationale Datenbank, in der mögliche Schädigungen und Risiken durch Nanomaterialien aufgelistet sind, gibt es noch nicht, wohl aber erste Ansätze. Die EUKommission hat Anfang 2005 die Datensammlungsprojekte „Impart“ und „Nanotox“10 gestartet. Das CBEN bietet seit September 2005 eine Sammlung von toxikologischen Artikeln auf seiner Website an,11 und auch die US-Umweltbehörde EPA arbeitet an einer systematischen Erfassung von Risikodaten. Aufeinander abgestimmt sind diese Vorhaben derzeit noch nicht. „Die internationale Zusammenarbeit ist gegenwärtig ziemlich unterentwickelt“, urteilt Günter Oberdörster.12 Mit dreizehn internationalen Kollegen hat er im Oktober 2005 allerdings eine Roadmap für die Nanotoxikologie vorgelegt. Darin entwickeln die Forscher eine Strategie zur Untersuchung potenzieller Gefahren von Nanomaterialien, deren Verständnis sich noch in „einem frühen Stadium befinde“ (Oberdörster 2005b). 3.3 Intendiert bioaktive Nanotechnik Bislang ist nur von Nanopartikeln die Rede gewesen, die unbeabsichtigt freigesetzt werden. 8 Podiumsdiskussionbeitrag auf der NanoEquity, 7.6.2005, Frankfurt am Main Podiumsdiskussionsbeitrag auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh 10 www.impart-nanotox.org/ 11 cben.rice.edu/research.cfm 12 Podiumsdiskussionsbeitrag auf dem NanoEuroForum, 8.9.2005, Edinburgh 9 Doch das ist noch nicht die ganze Geschichte. Lebensmittelhersteller wollen demnächst mit Nanopartikeln die geschmacklichen und gesundheitlichen Eigenschaften unseres Essens verbessern. Und in der Nanomedizin arbeitet man bereits – wie oben erwähnt – an neuen Diagnoseverfahren und Tumortherapien, bei denen die winzigen Teilchen gezielt in den Körper gebracht werden. So sollen die bereits erwähnten Quantenpunkte als Kontrastmittel für Kernspintomographien genutzt werden. Der Kern der nanostrukturierten Mittel besteht bislang meist aus giftigen Schwermetallverbindungen wie Cadmiumselenid, der unter anderem zum Schutz mit Biomolekülen (z.B. Lipiden) umhüllt wird. Die US-Firma Evident Technologies hat vor kurzem immerhin die ersten, nach eigenen Angaben nicht-toxischen Quantenpunkte auf den Markt gebracht, die ohne Cadmiumselenid auskommen. Auch im Kampf gegen den Krebs setzt man auf Nanopartikel, die hier als Medikamententransporter dienen sollen. Kandidaten dafür sind Käfige aus Peptiden, Proteinen oder gar aus DNA, dem Molekül, das in den Zellkernen die Erbinformation aller Organismen codiert. Es gleicht einer verdrillten Strickleiter, deren Sprossen von vier möglichen Basenpaaren gebildet werden: je zwei aus den Molekülen Adenin (A) und Thymin (T), je zwei aus Guanin (G) und Cytosin (C). Mit Hilfe von Enzymen lassen sich die beiden Stränge der DNA-Strickleiter voneinander lösen. An einer bestimmten Folge von Basen eines solchen Einzelstrangs kann sich immer nur ein zweiter Strang anlagern, dessen Basen die exakten Gegenstücke zum ersten bilden. Zur Folge AGC passt nur TCG. Diese Eigenschaft aber macht DNA-Einzelstränge zu einer Art Baukasten-system, aus dem sich nicht-biologische Strukturen fertigen lassen: ausgedehnte Gitter, Würfel oder auch Kugeln. Die entscheidende Frage für eine Risikoabschätzung dabei lautet: Ist es möglich, dass sich solche DNA-Partikel im Zellinneren auflösen? Wenn ja, könnten einzelne DNA-Stränge einen so genannten horizontalen Gentransfer auslösen, sich also in das Genom integrieren. In der Gentherapie ist genau das erwünscht. Hier aber könnte das Phänomen möglicherweise die Bildung von Proteinen auslösen, die die Signalwege in der Zelle durcheinander bringen – und etwa Entzün-dungen nach sich ziehen. Bislang ging es beim Streit um horizontalen Gentransfer um die Veränderungen von Nutzpflanzen in der Landwirtschaft, die über die Nahrungskette in Tiere und Menschen gelangen. Im Falle neuer nanomedizinischer Verfahren würden plötzlich die menschlichen Zellen unvermittelt zum Schauplatz der Problematik. Zwei weitere mögliche Folgen: Freie DNA-Stränge können sich auch ans Genom anlagern und die Aktivierung wichtiger Gene verhindern. Oder sie lagern sich an RNA-Stränge an, die die Information zur Proteinbildung innerhalb der Zelle transportieren. Diese würde dann blockiert.13 Angesichts solcher Szenarien ist zu erwarten, dass die Gentechnik-Debatte in absehbarer Zeit Bestandteil der Nanorisiko-Debatte wird. Die Nanomedizin birgt noch ein weiteres Risiko. Eines ihrer Ziele ist, Kranke mit einer individuellen Therapie behandeln zu können. Genetische oder andere molekulare Eigenarten einzelner Menschen sollen mit auf diese zugeschnittenen Wirkstoffen angesprochen werden. Aber es ist durchaus vorstellbar, dass Therapien am Ende zu Waffen umfunktioniert werden, wenn man etwa eine hocheffiziente, gering dosierte „Nanoarznei“ für genetisch ähnliche Bevölkerungsgruppen maßschneidert und damit „ethnische Waffen“ bekommt. Diese Befürchtung ist zwar umstritten. Denn weltweite Genomanalysen haben gezeigt, dass die Einteilung der Menschheit in „Rassen“ keine genetische Grundlage hat. Die Variationen rund um den Globus sind zu groß und korrespondieren nicht mit Merkmalen wie etwa der 13 Hinweis von Ricarda Steinbrecher, Econexus Hautfarbe. Seit die amerikanische FDA im Juni 2005 das Herzmedikament BiDil zugelassen hat, ist aber klar, dass „ethnische“ Waffen sehr wohl denkbar sind. BiDil wurde nach klinischen Tests bereits als Fehlschlag eingestuft, bis eine erneute Auswertung der Daten zeigte, dass es bei afroamerikanischen Testpersonen deutlich häufiger wirkte (Pearson 2004). Inzwischen wird es speziell für diese Zielgruppe verkauft. „Man muss davon ausgehen, dass es im Zuge der weiteren Nanotechnik-Entwicklung Erkenntnisse geben wird, um gezielt neue Krankheitserreger zuzuschneiden“, warnt Jürgen Altmann, Physiker an der Universität Dortmund (Boeing 2004 146f). Er untersucht seit 1988 die Folgen von militärischen Anwendungen neuer Technologien. Matthias Grüne vom Fraunhofer Institut Naturwissenschaftliche Trendanalysen hält für denkbar, dass Agenzien, die bislang im Kontakt mit Luftsauerstoff nicht stabil sind, mit Hilfe von Nanoträgern in der Luft ausgebracht werden könnten. Noch seien wir mindestens zehn Jahre von solchen Möglichkeiten entfernt, so Grüne. Sein Fazit: „Es könnte sich ein Missbrauchspotenzial ziviler Nanomedizin entwickeln.“14 Solche Arbeiten würden jedoch die B-Waffen-Konvention von 1975 unterlaufen, die Eingriffe in Zellprozesse verbietet, warnt Altmann. Dieses Abkommen ist seit damals von 143 Staaten unterzeichnet worden. Solange sich B-Waffen nicht gezielt einsetzen ließen, funktionierte die Konvention. Angesichts der neuen Möglichkeiten wäre aber eine genauere Überprüfung nötig. Die Verhandlungen darüber, wie solche Kontrollen aussehen könnten, wurden von den USA allerdings 2001 verlassen (ebd.). Solange es solche weltweiten Kontrollen nicht gibt, können Regierungen ungehindert neue B-Waffen im Verborgenen entwickeln. Deshalb plädiert Altmann zusammen mit dem amerikanischen Physiker Mark Gubrud dafür, als erstes ein „Verifikationsprotokoll“ zur BWaffen-Konvention zu beschließen. „Außerdem haben wir vorgeschlagen, auf nichtmedizinische nanotechnische Eingriffe in den menschlichen Körper für zehn Jahre gänzlich zu verzichten.“ (ebd.) Hope Shand von der ETC Group fordert zusätzlich, dass „die Nanotechnik von einer internationalen Organisation geleitet werden soll“. Diese International Convention for the Evaluation of New Technologies (ICENanotechnik) wäre direkt bei der Uno angesiedelt.15 Ein solches Gremium schlägt übrigens auch der im Sommer veröffentlichte „State of the Future 2005“-Report des UN University Millennium Project vor (Glenn 2005). 3.4 Disruptive Nanotechnik Bis hierhin ist der Katalog möglicher Nanorisiken schon recht vielfältig – ganz ohne jene berüchtigten Nanoroboter, die den amerikanischen Computerwissenschaftler Bill Joy im Jahre 2000 zu einem düsteren Essay im US-Magazin Wired veranlassten. Verschweigen wollen wir sie nicht, denn sie sind ein Beispiel für „disruptive“ Nanotechnik. Darunter können alle Versuche gefasst werden, künstliche Mikroorganismen herzustellen. Also autonom agierende Nanosysteme, die die Fähigkeit haben, sich zu vervielfältigen, und Lebewesen massiver und großflächiger schädigen könnten als die bioaktive Nanotechnik. Die Nanoroboter, die Drexler ursprünglich im Sinn hatte – inzwischen hat er sich davon distanziert – sollten im Wesentlichen aus diamantartigen Kohlenstoffverbindungen 14 15 Privates Gespräch Vortrag auf der NanoRegulation, 10.9.2005, St. Gallen bestehen. Ihr GAU würde darin bestehen, dass sie sich plötzlich unkontrolliert vervielfältigen und das Rohmaterial hierfür aus der Zersetzung von Lebewesen gewinnen – bis sie schließlich als grauer Maschinenschleim („Grey Goo“) ganze Landstriche überziehen (Freitas 2000). Inzwischen eröffnet sich auf dem Feld der synthetischen Biologie eine weitere Möglichkeit, künstliche Mikroorganismen zu designen. Daran arbeitet vor allem Craig Venter am Institute for Biological Energy Alternatives in Rockville, US-Bundesstaat Maryland, der mit seiner Arbeit maßgeblich zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms beigetragen hat. 2003 stellte er bereits ein Virus vor, dessen 5386 Basenpaare zu einem in der Natur nicht existierenden Genom verbunden wurden (Pearson 2003). Derzeit entwirft er ein „neues“ Genom für das Bakterium M. genitalium. Natürlich treiben Venter genausowenig wie Drexler üble Absichten dabei um. Er sieht in den künstlichen Mikroben künftige Arbeitstiere für Energiegewinnung oder Schadstoffbeseitigung. Aber man kann nicht ausschließen, dass künstliche Viren zu einer unkontrollierbaren Bedrohung mutieren könnten. Während die Chancen für Venters Konzept nicht allzu schlecht stehen dürften, ist bislang unklar, wann und ob überhaupt jemals Drexler’sche Nanosysteme möglich sind, die nicht auf der irdischen Biochemie aufbauen. Kann man deshalb disruptive Nanotechnik als Sciencefiction abtun, mit der man sich nicht weiter befassen müsse, wie es der größte Teil der Nano-Community vorzieht? Außer Drexlers Foresight Nanotech Institute16, einem Thinktank namens Center for Responsible Nanotechnology17 und der ETC Group18 hat sich bislang niemand mit disruptiver Nanotechnik befasst. Während die ETC Group für Forschung an dieser Art von Nanotechnik ein Moratorium fordert, sind die ersten beiden vehement dagegen. Ihr Argument: Man müsse jetzt das nötige Know-how sammeln, um künftigen „Nanohackern“ das Handwerk legen zu können, die künstliche, aber höchst reale Viren oder Nanoroboter konstruieren. 4 Schlussfolgerungen Auch wenn viele Anwendungen der Nanotechnik noch in den Anfängen stecken: Sie ist kein Hype, sondern die Technik des 21. Jahrhunderts. Sie pauschal als gefährlich zu brandmarken oder stoppen zu wollen, ist weder machbar noch wünschenswert. Denn die Potenziale, die sie für ein nachhaltiges Energiesystem, für einen schonenden Umgang mit den Ressourcen des Planeten Erde oder für die Heilung bislang tödlicher Krankheiten bietet, sind gewaltig. Die isolierte Nanotechnik birgt ohnehin keine unmittelbaren Gefahren. Die bioaktive kann noch in ihrem jetzigen Frühstadium analysiert und auch reguliert werden. Für einen etwaigen militärischen Missbrauch reicht eine Regulierung allerdings nicht aus: Hier sind Politik und Nano-Community gefordert, wirksame Barrieren einzuziehen. Sei es durch eine Verschärfung der B-Waffen-Konvention, sei es über eine internationale Organisation auf der Ebene der Uno. Auf Gebieten, auf denen eine militärische Umnutzung klar absehbar ist, sollte auch die Idee eines Moratoriums für entsprechende Forschungsvorhaben nicht tabu sein. 16 www.foresight.org/ www.crnano.org 18 www.etcgroup.org 17 Für Ansätze einer disruptiven Nanotechnik ist ein Moratorium eigentlich die einzig vernünftige Option, die wir haben. Denn noch ist diese Büchse der Pandora geschlossen. Sollte sie erst geöffnet sein, werden wir sie nicht wieder schließen können. Bis hier war nur von unmittelbaren Gefahren die Rede. Die viel gescholtene ETC Group weist aber darüber hinaus seit drei Jahren – zu Recht – auf ein langfristiges Problem hin: die Verschmelzung von Nano-, Bio-, Informations- und Neurotechnologien, in Fachkreisen kurz „NBIC-Konvergenz“ genannt. Die ETC nennt dies „BANG“ – eine Technik, die zur selben Zeit Bits, Atome, Neuronen und Gene bearbeitet. Es ist die treffendste Beschreibung für die Nanotechnik in nicht ganz so ferner Zukunft – ein technologischer „Little BANG“, der die Komplexität von Technik drastisch erhöht und unbeherrschbar machen könnte (ETC 2005). Gesellschaften und Volkswirtschaften könnten in einem Maße umgewälzt werden, das bislang nicht annähernd abzuschätzen ist. Noch besteht die Chance, die Technik des 21. Jahrhunderts human zu gestalten – wenn wir sie als „offene Nanotechnik“ angehen (Boeing 2006). Der Begriff „offen“ meint dabei zweierlei. Zum einen im Sinne von „transparent“: Die Nanotechnik muss raus aus den Laboren, aber nicht in Form von Hochglanzbroschüren und Expertendialogen. Die Konzepte müssen der Öffentlichkeit zugänglich und begreiflich gemacht werden, beispielsweise über das Instrument der Bürgerforen. Die „Nanojury“19 in Großbritannien, die im Mai 2005 ins Leben gerufen wurde und im September der britischen Regierung Empfehlungen für die weitere Forschung mitgab, ist ein erstes Beispiel (Boeing 2005). Die Millionen Laien, die die Segnungen der Nanotechnik konsumieren sollen, haben ein Recht darauf, diese technische Zukunft mitzugestalten, gegen die sich das 20. Jahrhundert möglicherweise wie eine gemächliche historische Epoche ausnehmen wird. Die andere Bedeutung von „offen“ ist die Übertragung des „Open Source“-Prinzips der Software auf Nanotechnik – also die Offenlegung des technischen Codes, der das Design einer Technologie ermöglicht. Längst hat der Wettlauf um die Patentierung der neuen Entdeckungen eingesetzt. Ist er schon im Falle von Genen, Pflanzen und Tieren fragwürdig gewesen, könnte er diesmal sogar für die Industrie selbst zum Problem werden. Die Marktforscher von Lux Research weisen in einer aktuellen Nanotech-Patentstudie daraufhin, dass die Entwicklung neuer Produkte wegen der Verschränkung bisher getrennter Technologien in der Nanotechnik deutlich erschwert werden könnte, weil unüberschaubare Patentknäuel zu entwirren sind (Lux 2005). Und wenn wir für den Augenblick Prognosen Glauben schenken, nach denen Nanotechnik die Möglichkeiten der industriellen Produktion radikal verändern wird, könnte ein ganz neuer Graben aufreißen zwischen denen, die Zugang zu den Grundlagen der neuen Technologien haben, und dem Rest. Eine „Nano-Divide“ könnte entstehen, die alle Gesellschaften weltweit erschüttert. Wir sollten den Nanokosmos zu der Public Domain erklären, die er Milliarden Jahre gewesen ist – und von der alle profitieren können. Kurzbiographie Niels Boeing, geb. 1967 in Bochum, studierte Physik mit den Schwerpunkten Astrophysik und Wissenschaftstheorie an der RWTH Aachen und der TU Berlin. Er war von 1998 bis 2002 Wissenschaftsredakteur bei der „Woche“, Hamburg, und arbeitet seitdem als freier 19 www.nanojury.org/ Wissenschaftsjournalist, u.a. für Technology Review, Die Zeit, Financial Times Deutschland, Freitag. 2004 erschien sein Buch „Nano?! Die Technik des 21. Jahrhunderts“ bei Rowohlt Berlin. Literatur Berube, David (2005): „Ask the experts: risk put in perspective“, SmallTimes.com, 28.7. <http://www.smalltimes.com/document_display.cfm?document_id=9466> (15.6.2005) Bimberg, Dieter (1999): „Quantum dots: paradigm changes in semiconductor physics“, Fisika i Technika Poliprowodnikow, Vol. 33 Boeing, Niels (2004): Nano?! Die Technik des 21. 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