Die theologische Debatte um das Zweite

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Die theologische Debatte um das Zweite
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Die theologische Debatte um das Zweite Vatikanische
Konzil · Ein Überblick
Erster Teil: 1962–1985
1. Deutungen des II. Vaticanums
1.1 Entgegengesetzte Extreme?
In den letzten Jahren haben die traditionalistischen Katholiken – von den „Sedisvakantisten“ (die behaupten, der Päpstliche Stuhl sei entweder seit dem Tode von
Pius XII. im Jahr 1958 oder von Johannes XXIII. im Jahr 1963 vakant) bis zu den mehr
gemäßigten Befürwortern der lateinischen Messe – immer vernehmlicher das Konzil
mit Katastrophe und Chaos in der Kirche identifiziert. Ihr negatives Bild von den Ergebnissen der Liturgiereform ließe sich ohne Weiteres auf sämtliche wichtigen Aussagen des II. Vaticanums ausdehnen, ob Ekklesiologie, Ökumene, Religionsfreiheit oder
Kirche und moderne Welt.1 Nun sieht es so aus, als stünde das Konzil ziemlich allein
da, vor allem wenn man in Betracht zieht, dass die Generation von Bischöfen und
Theologen, die daran teilnahmen, von der Bühne verschwunden ist und die jüngere
Generation von Katholiken nicht immer besonders interessiert scheint, die Botschaft
zu verstehen, die das II. Vaticanum für die Zukunft der Kirche enthalten könnte. Doch
diese Art, die Debatte um das Konzil im Sinne der „entgegengesetzten Extreme“ zu
deuten, ist sicher irreführend, wenn wir die unterschiedlichen theologischen und kulturellen Wurzeln der Interpreten des II. Vaticanums bedenken.
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Für eine Geschichte der Diskussion um das II. Vaticanum siehe Massimo Faggioli, Vatican II: The Battle for Meaning,
New York/Mahwah NJ 2012. Eine umfangreiche Bibliographie zum II. Vaticanum findet sich bei M. Faggioli, Concilio
Vaticano II: bollettino bibliografico (2000–2002), in: Cristianesimo nella Storia XXIV/2 (2003), 335–360; Concilio Vaticano II: bollettino bibliografico (2002–2005), ebd. XXVI/3 (2005), 743–767; Council Vatican II: Bibliographical Overview 2005–2007, ebd. XXIX/2 (2008), 567–610; Council Vatican II: Bibliographical Overview 2007–2010, ebd. XXXII/2
(2011), 755–791.
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Massimo Faggioli
1.2 Das II. Vaticanum, ein Reformkonzil
Im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Konzils (8. Dezember 1965) tat sich so manches: In dieser Zeit erschienen zahlreiche Aufsätze und Bücher mit Titeln, die darauf
anspielten, dass so etwas wie Reform im Gang war, „und beim Kongress der Zeitschrift
Concilium, der 1970 in Brüssel stattfand, hieß das Losungswort für die Zukunft ‚jenseits
des Konzils’“.2
Im selben Zeitraum war die große Mehrheit von Bischöfen und katholischen Theologen allerdings noch sehr damit beschäftigt, die Texte des II. Vaticanums zu kommentieren und anzuwenden.3 Und während die erste Welle von „Konzilstagebüchern“ aus
der Feder von Theologen, Beobachtern und Journalisten rollte,4 wurde der erste große
theologische Kommentar zum II. Vaticanum veröffentlicht und zum Meilenstein in der
Geschichte der theologischen Interpretation des Konzils.5 Die Untersuchungen zu den
wichtigsten Texten des II. Vaticanums zeigten, wie sehr sich die katholischen Theologen darauf konzentrierten, die Schlussdokumente des Konzils im Licht der Geschichte
ebendieser Texte zu übersetzen und zu „entpacken“.6
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Siehe: L’avvenire della chiesa (Bruxelles 1970). Il libro del congresso, Brescia 1970.
Siehe: Acta congressus internationalis de Theologia Concilii Vaticani II, Romae diebus 26 septembris – 1 octobris
1966 celebrati, moderante Eduardo Dhanis s.j., editionem paravit Adolfus Schönmetzer s.j., Rom 1968.
Siehe Giovanni Caprile, Il concilio Vaticano II, 5 Bde., Rom 1966–1968; Yves Congar, Vatican II. Le concile au jour le
jour, Paris 1963, 1964, 1965, 1966; Henri Fesquet, Le journal du Concile, Forcalquier 1966; Hanno Helbling, Das Zweite
Vatikanische Konzil. Ein Bericht, Basel 1966; Raniero La Valle, Coraggio del Concilio. Giorno per giorno la seconda
sessione, Brescia 1964; Ders., Fedeltà del Concilio. I dibattiti della terza sessione, Brescia 1965; Ders., Il Concilio nelle
nostre mani, Brescia 1966; René Laurentin, L’Enjeu du Concile, Paris 1962; Ders., Bilan de la première session, Paris
1963; Ders., Bilan de la deuxième session, Paris 1964; Ders., Bilan de la troisième session, Paris 1965; Ders., Bilan du
Concile, Paris 1966; Ders., Bilan du Concile Vatican II, Paris 1967; Robert Rouquette, La fin d’une chrétienté. Chroniques, Paris 1968 (2 Bde., Unam Sanctam, 69a-b); Xavier Rynne, Letters from Vatican City. Vatican Council II (First
Session): Background and Debates, London 1963 (Erstveröffenltichung in der US-amerikanischen Zeitschrift „The
New Yorker“); Ders., The Second Session, New York 1964; Ders., The Third Session, New York 1965; Ders., The Fourth
Session, New York 1966; Antoine Wenger, Vatican II, Paris 1963–1966; Ralph Wiltgen, The Rhine Flows into the Tiber,
New York 1967; Charles Reymondon – Luc A. Richard, Vatican II au travail. Méthodes conciliaires et documents, Vorwort von Jean Guitton. Nachwort von Max Thurian, Tours 1965.
Siehe bes.: Das Zweite Vatikanische Konzil. Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen (Lexikon für Theologie und
Kirche 12–14), Bd. I-III, Freiburg i. Br. 1966–1968 (englische Ausgabe: Herbert Vorgrimler [Hrsg.], Commentary on the
documents of Vatican II, New York 1967–1969); sowie die Sammlung: Vatican II: textes et commentaires des decrets
conciliaires (Unam Sanctam, 20 Bde.), Paris 1965–1970.
Für Dei Verbum siehe Karl Barth, Ad limina Apostolorum, Zürich 1967; Luis Alonso Schökel – Angel Antón, Concilio
Vaticano II. Comentarios a la constitución Dei Verbum sobre la divina revelación, Madrid 1969; Eduard Stakemeier,
Die Konzilskonstitution über die göttliche Offenbarung. Werden, Inhalt und theologische Bedeutung, Paderborn
1967; Hans Waldenfels, Offenbarung. Das Zweite Vatikanische Konzil auf dem Hintergrund der neueren Theologie,
München 1969. Zur Liturgiekonstitution: William Barauna (Hrsg.), The Liturgy of Vatican II; a symposium, englische
Ausg. Hrsg von Jovian Lang, Chicago, 1966; Herman Schmidt, La Costituzione sulla Sacra Liturgia. Testo, Genesi,
Commento, Documentazione, Rom 1966. Für Lumen gentium siehe Umberto Betti, La dottrina sull’Episcopato nel
capitolo III della costituzione dommatica Lumen Gentium, Rom 1968, und Ders., La dottrina sull’episcopato del
Concilio Vaticano II, Rom 1984; Guilherme Baraúna (Hrsg.), L’Église de Vatican II: études autour de la constitution
conciliaire sur l’Église; Gerard Philips, L’Église et son mystère au IIe Concile du Vatican: histoire, texte et commentaire de la Constitution Lumen gentium, Paris 1967; Austin Flannery, Vatican II on the Church, Dublin 1967; Kevin
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Diese Mehrheit, bestehend aus Repräsentanten einer „reformistischen“ Rezeption der
Konzilstexte, ließ keineswegs jene „revolutionäre“ Einstellung erkennen, die ihr die
kleine traditionalistische Minderheit vorwarf und die ihr heute neotraditionalistische
katholische Bewegungen vorhalten. Einige der prominentesten Bischöfe und Theologen, die eine durchaus nicht radikale Interpretation des Konzils vertraten, riefen zu
einer an den Konzilstexten orientierten Reform der Kirche auf. Ganz vorn in den reformerischen Intentionen rangierten die Vollendung der Liturgiereform, die Einführung
der Kollegialität im Licht der neuen Ekklesiologie, die Einschränkung des Juridismus
in der Kirche, die Reform der römischen Kurie, die Öffnung zur modernen Welt und
die Intensivierung des ökumenischen Dialogs.
Wie Jahrhunderte zuvor beim Tridentinum, waren jetzt die ersten Reformer des konziliaren Katholizismus die Bischöfe des II. Vaticanums, die eigentliche treibende Kraft
beim Konzil. Sie waren von Pius XI. und Pius XII. ernannt worden, hatten den Zweiten
Weltkrieg und den kalten Krieg erlebt und fürchteten sich gewiss genauso wenig vor
der Aufgabe, das Konzil in ihren Diözesen und in der Weltkirche zu implementieren,
wie davor, mit Paul VI. darüber zu diskutieren, wie einige der heikelsten Aspekte des
Konzils umzusetzen seien. In einem Interview mit Informations Catholiques Internationales wies Kardinal Léon-Joseph Suenens auf die Notwendigkeit echter Kollegialität in
der Kirche hin und hob die Mängel der neuen Bischofssynode hervor.7 Wie Suenens
arbeiteten katholische Bischöfe weltweit in ihren Diözesen und in den nationalen Bischofskonferenzen an der Rezeption des Konzils und stellten dabei nie in Frage, dass
von den Texten des II. Vaticanums auszugehen war, wenn es galt, den Geist des Konzils zu verstehen und ihn zu einer Tradition der Kirche zu machen.
Welche Einstellung die Theologen des II. Vaticanums hatten, lässt sich sehr schön bei
Yves Congar sehen. Er ist wahrscheinlich der wichtigste Theologe, wenn wir einen
Einblick in den theologischen Hintergrund und das Werden der Konzilstexte gewinnen wollen. 1975 erklärte Congar anlässlich des zehnten Jahrestags des Konzilsendes,
zwei Faktoren seien für die Rezeption des II. Vaticanums entscheidend: „Wir müssen
(1) historische Sensibilität haben und (2) mit der Zeit rechnen, müssen ein Empfinden
für den Abstand besitzen, den es braucht, um die Dinge zu verstehen, zu entwickeln,
umzusetzen und reifen zulassen. Wir müssen uns selbst die Zeit geben, das II. Vatica-
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McNamara, Vatican II: the constitution on the Church. A theological and pastoral commentary, London 1968; Antonio Acerbi, Due ecclesiologie. Ecclesiologia giuridica e ecclesiologia di comunione nella „Lumen gentium“, Bologna
1975. Für Gaudium et spes siehe Guilherme Baraúna (Hrsg.), Die Kirche in der Welt von heute. Untersuchungen und
Kommentare zur Pastoralkonstitution „Gaudium et spes“ des Zweiten Vatikanischen Konzils, Salzburg 1967; Enzo
Giammancheri (Hrsg.), La chiesa nel mondo contemporaneo, Brescia 1966; Charles Moeller, L’élaboration du
schèma XIII. L’Église dans le monde de ce temps, Tournai 1968.
Siehe das Interview mit Léon-Joseph Suenens in: Informations Catholiques Internationales, May 15, 1969.
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num zu verdauen. Ein Dittes Vatikanisches oder ein Zweites Jerusalemer Konzil? Nicht
so bald!“8
Die Treue der katholischen Mainstream-Theologie gegenüber dem II. Vaticanum bestand in einer ziemlich unaufgeregten Arbeit von Lehrenden an Universitäten und in
Seminarien, die von 1966 an ihre Lehrveranstaltungen über Sakramententheologie,
Ekklesiologie und Anthropologie umbauten. Doch das schloss Schwierigkeiten im Rezeptionsprozess der Konzilstexte und mit den philosophischen, theologischen und
politischen Anforderungen, die im Buchstaben der Konstitutionen, Dekrete und Erklärungen des Konzils steckten, keineswegs aus. So ergaben sich Gräben und Spannungen in den Reihen der führenden Köpfe des Konzils. Die Enzyklika Humanae vitae
Pauls VI. über die Geburtenregelung (1968), Jacques Maritains Buch Le paysan de la
Garonne,9 die überraschende Amtsenthebung eines der Leader des Konzils (Kardinal
Giacomo Lercaro, Erzbischof von Bologna), und die Meinungsverschiedenheiten über
die Einführung der neu geschaffenen „Bischofssynode“ stellten wichtige Momente in
der schwierigen Rezeption des Konzils dar. Aber sie bezeugten auch die Vitalität der
katholischen Kirche, gerade wenn sie diskutierte, wie das II. Vaticanum zu interpretieren sei, und es dabei für selbstverständlich hielt, dass seine Texte akzeptiert und interpretiert werden mussten.
1.3 Die Traditionalisten: Opposition und Ablehnung
Im Gegensatz zu der moderaten und reformerischen Einstellung, wie sie Paul VI. verkörperte, verursachte die Bestreitung der Legitimität des II. Vaticanums erstmals im
zweiten Jahrtausend Uneinigkeit in der Rezeption eines allgemeinen Konzils. Auch
wenn es paradox scheinen mag: Genau die Leute, die das II. Vaticanum am lautesten
als Konzil des „Bruchs“ mit der Tradition der Kirche anprangerten, haben ein Schisma
herbeigeführt, das sich nicht mit der Interpretation des Konzils abgab, sondern seine
Legitimität als Konzil in der Tradition der Kirche, nämlich der früheren Konzilien und
des päpstlichen Lehramts, grundsätzlich in Frage stellte.
Die traditionalistische Bewegung hat sich zwar in den späten 1970er und in den 1980er
Jahren mehr und mehr radikalisiert, das heißt aber nicht, dass die extreme Opposition
gewartet hätte, bis das Konzil ein Jahrzehnt zurücklag, um ihm abzuschwören.
Pauls VI. vorsichtige reformerische Haltung und Bemühung, die Einheit der Kirche
rund um die „moralische Einmütigkeit“ zu wahren, die die Konzilstexte im Petersdom
approbierte, konnte die kleine Schar von Bischöfen und Theologen nicht befrieden, die
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Yves Congar, Les lendemains de conciles, in: Documents-épiscopat, 10. Mai 1975; auch in: Yves Congar, Le Concile de
Vatican II, Paris 1984, 99–107.
Jacques Maritain, Le Paysan de la Garonne. Un vieux laic s’interroge à propos du temps présent, Paris 1966 (dt.: Der
Bauer von der Garonne. Ein alter Laie macht sich Gedanken, München 1969).
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