Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen – Die alltägliche Moralität

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Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen – Die alltägliche Moralität
Jonas Grauel
Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen – Die alltägliche Moralität
beim Konsum von Lebensmitteln
Kurzbeschreibung, Zusammenfassung der Gutachten, Zielgruppen
Die Rolle von Ethik und Moral beim Konsum von Lebensmitteln ist bereits seit einigen Jahren ein
präsentes Thema in den Medien, der Wissenschaft und in Alltagsdiskussionen. Oft wird dabei
angenommen, dass bestimmte Konsumpraktiken „ethisch“ seien, während dem „gewöhnlichen“
Konsum keine moralischen Qualitäten zugesprochen werden. In der Soziologie überwiegen
dementsprechend bislang Untersuchungen, die Konsummoral in Bezug zu bestimmten Produkten
oder Konsumentengruppen untersuchen (z.B. Bio- oder FairTrade-Käufer). Ausgangspunkt der
vorliegenden Studie ist dagegen die Annahme, dass Moral eine grundlegende Relevanz beim
alltäglichen Konsum zukommt. Moral wird als soziale Sinnkonstruktion verstanden, mit deren Hilfe
zwischen „guten“ und „schlechten“ Konsumpraktiken unterschieden wird. Moralischer Sinn kann sich
in Handlungsroutinen „sedimentieren“ und ist somit als implizite Ethik zu verstehen. Vor diesem
Hintergrund gibt die Studie Antworten darauf, a) welche verschiedenen moralischen Ideen und
Urteile in Bezug auf den Lebensmittelkonsum empirisch zu finden sind, b) mit welchen sozialen
Kategorien solche Urteile sinnhaft in Wechselwirkung stehen und c) wie die Akteure selbst mit der
moralischen Pluralität im Alltag umgehen. Die Datenbasis bilden 25 (teil-)narrative Interviews mit
Konsumenten unterschiedlicher sozialstruktureller Profile, die mit Hilfe der Dokumentarischen
Methode nach Ralf Bohnsack ausgewertet wurden.
Aufbau der Arbeit
Um die Präsentation der Ergebnisse vorzubereiten, wird zunächst der Forschungsstand der
Konsumsoziologie aufbereitet, und die eigene Forschungsperspektive sowie das methodische
Vorgehen dargelegt. Das erste Ergebniskapitel diskutiert acht besonders aufschlussreiche Fälle und
analysiert diese im Fallvergleich. Auf dieser Basis werden vier typische Vorstellungen eines „guten
Konsums“ aufgezeigt: Konsumenten heben ihre Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext hervor;
verweisen auf Anforderungen einer „authentischen“, von Entfremdungsgefühlen befreiten
Lebensführung; beziehen sich auf die Wahrung von Fitness und Gesundheit durch richtige Ernährung
und unterstreichen die Bedeutsamkeit von Sparsamkeit und dem Gebrauchswert der Waren. In den
vier Orientierungen kommen unterschiedliche moralische Imperative zum Ausdruck: Übernehme
Verantwortung für andere! Sei authentisch! Trage Sorge für Dich selbst, lass Dich nicht gehen! Sei
genügsam und verschwende nicht! Thematisiert wird darüber hinaus, durch welche Einkaufs- und
Konsumpraxis diesen Imperativen Folge geleistet werden kann. Offenbar werden hier komplexe
Muster: Z.B. verbinden einige Befragte die Freiheit von Schadstoffrückständen mit Gesundheit,
während andere allein Bezug auf die Nährstoffzusammensetzung der Lebensmittel nehmen.
Während bei ersteren Bio als gesünder gilt, ist dies bei letzeren nicht der Fall.
Ein weiteres Kapitel beschäftigt sich damit, wie Konsummoral in der Alltagspraxis zum Tragen
kommt. Zum einen wird gezeigt, dass sich die Befragten ethisch an anderen Personen in ihrem
Umfeld orientieren, womit deutlich wird, dass moralische Haltungen keineswegs atomistisch durch
jeden Einzelnen in rationaler Überlegung entworfen werden. Zum anderen wird das Verhältnis von
Reflexivität und Routine thematisiert: Hier zeigt sich, dass Reflexion keineswegs automatisch zu
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moralisch „besseren“ Urteilen oder gar einer veränderten Praxis führt, sondern oft auch zu einer
Bekräftigung bereits bestehender Routinen.
Im letzten Ergebniskapitel wird die Frage diskutiert, inwiefern Konsumethik in einer bedeutsamen
Wechselwirkung mit Vorstellungen von sozialer Ungleichheit steht. Deutlich wird hier, dass
Konsumpraktiken und deren Moralität dazu genutzt werden, um sich von anderen Statusgruppen
abzugrenzen. Gegenüber Statusschwächeren wird dabei ein Ethos der Selbstkontrolle und der
Respektabilität in Stellung gebracht, gegenüber Statushöheren wird zur Schau gestellte Distinktion
und verschwenderischer Konsum kritisiert. Obwohl ein stereotyper Diskurs damit offensichtlich ist,
konnte eine Klassenspezifik der Konsummoral jedoch nicht eindeutig nachgewiesen werden, da sich
die benannten Sinnorientierungen quer zu den sozialen Positionen beobachten lassen. Dies lässt sich
möglicherweise dadurch erklären, dass Konsummoral durch eine komplexe Überlagerung
verschiedener sozialer Dimensionen wie Klasse, Alter, Geschlecht etc. bestimmt ist.
Insgesamt zeigt die Studie auf, dass Ethik und Moral im Alltag „gewöhnlicher“ Konsumenten eine
wichtige Rolle spielen. Infolgedessen wird die eindeutige Abgrenzbarkeit eines „ethischen“ Konsums
problematisch, denn das Material zeigt deutlich, dass ein „richtiger“ Konsum weder offenkundig ist,
noch gänzlich im Ermessen einzelner Wahlentscheidungen liegt. Die Ergebnisse weisen zudem auf
eine Pluralität von Moralvorstellungen hin, die einander teilweise gut ergänzen, aber teils auch in
einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Über den Moralpluralismus hinaus gibt es allerdings
auch Hinweise auf einen moralischen Konsens. Dieser offenbart sich darin, dass Konsummoral in
erster Linie in Form persönlicher Selbstfestlegungen zum Tragen kommt und individuelle Bedürfnisse
größtenteils anerkannt werden. Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass der moralische
Pluralismus Ausdruck einer übergeordneten Moral ist, die letztlich den „Kult des Individuums“ pflegt.
Zusammenfassung der Gutachten
Die Arbeit wurde an der Universität Siegen als Dissertation angenommen und von beiden Gutachtern
mit „summa cum laude“ bewertet. Diese Note wurde auch für die Disputation vergeben. In den
Gutachten wird zunächst die hohe Relevanz der Studie für wissenschaftliche und öffentliche
Debatten hervorgehoben. Mit der Untersuchung der Moralität des Lebensmittelkonsums anhand von
alltagsweltlichen Erfahrungen sei „ertragreich zu klären, wie Moral in konkreten Handlungs- und
Interaktionszusammenhängen gegenwärtig ist und sozial ‚wirkt‘“. Die Studie mache deutlich, dass
Moral im lebensweltlichen Kontext einen Eigensinn entfalte, weshalb sich „Konsum über Moral nicht
einfach steuern bzw. ändern lässt“. Die Studie eröffne aber wichtige „Einblicke in mögliche
Bedingungen und Dynamiken“, wie sich moralische Urteile von Konsumenten entwickeln und von
äußeren Faktoren beeinflusst werden.
Besonders gelobt wird die methodische Anlage der Arbeit. Die Wahl sinnverstehend-interpretativer
Methoden sei folgerichtig und erlaube eine empirisch gesättigte und theoretisch anspruchsvolle
Diskussion des Gegenstands. Das Forschungsdesign sei äußerst gut begründet, die Arbeit auf hohem
analytischem Niveau formuliert. Die Verbindung von Theorie und Empirie sei „auf eine sehr
überzeugende Weise gelungen, die in bisherigen Arbeiten eher selten ist“. Insgesamt werden der
hohe Erkenntnisreichtum und das erfolgreiche Hinterfragen bisheriger Perspektiven gelobt.
Zielgruppen
Das Buch wird zunächst die Forschenden in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ansprechen,
die sich mit dem Thema Konsum beschäftigen. Da die Relevanz von Moral grundlegend untersucht
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wird und nicht anhand eines Spezialthemas, dürfte dies eine eher breite Forschergemeinschaft
betreffen. Für Dozenten, die Hochschulseminare zu Konsumthemen anbieten ist das Buch relevant,
da sich die Arbeit auch als breite Einführung und Überblick zum Thema der Konsummoral lesen lässt
und der aktuelle – auch internationale – Stand der Forschung rezipiert wird. Ich selbst lehre
Konsumsoziologie an der Universität und weiß, wie wenige deutschsprachige Publikationen es in
diesem Themenbereich bislang gibt. Somit ist von einer Marktlücke auszugehen. Da Dozenten als
Multiplikatoren wirken, wird das Buch auch bei Student/-innen in den genannten Fächern auf
Interesse stoßen, zumal das Thema sich zunehmender Popularität erfreut. Dies äußert sich etwa
darin, dass immer mehr Studierende Abschlussarbeiten im Bereich der Konsumforschung verfassen
möchten.
Darüber hinaus dürfte das Buch auch eine breitere Öffentlichkeit interessieren, die beruflich mit dem
Konsum von Lebensmitteln zu tun haben. Zu denken ist z.B. an Marktforscher, Manager und Inhaber
von Firmen im Lebensmittelsektor sowie Supermärkten, Ernährungsberater, Verbraucherpolitiker
und –schützer, aber auch an Gesellschaftskunde-Lehrer und Journalisten. Da konsummoralische
Themen in den letzten Jahren intensiv öffentlich diskutiert wurden, könnten auch für die
Wissenschaft aufgeschlossene Laien an dem Buch interessiert sein.
Zum Autor
Jonas Grauel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Soziologie, vergleichende
Kultursoziologie und politische Soziologie Europas an der Universität Siegen
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