Wirkung

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Wirkung
IAKM-Studienwoche 2004 in Brixen
Dialog – ein europäisches Kulturgut
Die Sprache der Kleidung
Heide Wahrlich
Anfangen will ich mit einem Gedicht von Hermann Hesse, das er „Sprache“ genannt
hat:
Die Sonne spricht zu uns mit Licht,
mit Duft und Farbe spricht die Blume,
mit Wolken, Schnee und Regen spricht
die Luft. Es lebt im Heiligtume
der Welt ein unstillbarer Drang,
der Dinge Stummheit zu durchbrechen,
in Wort, Gebärde, Farbe, Klang
des Seins Geheimnis auszusprechen….
Was uns Verworrenes begegnet,
wird klar und einfach im Gedicht:
Die Blume lacht, die Wolke regnet,
die Welt hat Sinn, das Stumme spricht. (Aus: Sprache)
In diesem Vortrag geht es auch um die Sprache der Dinge der Zeichen, um die Symbolkraft der Kleidung. Mit Kleidung, unserer „zweiten Haut“ (1), reden wir mit unserer
sozialen Umwelt. Dieser nonverbalen Sprache (2) gilt mein besonderes Augenmerk.
Vier Schritte zur Gliederung meiner Gedanken:
Anfangen will ich mit ein paar Überlegungen zu Rolle und Wirkung von Kleidung und
den damit verbundenen Bedürfnissen: Kleider machen Meinung.
Dann will ich mit einem Exkurs in die Geschichte der Hose zeigen, wie eng diese
Geschichte mit Emanzipation und Diskriminierung der Frau verbunden ist (Hose und
Herrschaft).
Anschließend geht es um eine Untersuchung über das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen und um die kommunikative Kraft (die expressiven und
performativen) von Kleidung, die zum Wandel von Kommunikationsformen beiträgt.
Und zum Schluss gehe ich unter dem Aspekt von sozialem Lernen auf den kopflastigen, so genannten Kopftuchstreit ein.
Kleider machen Meinung - Rolle, Wirkung, Funktion (3)
Kleider machen Leute: Die Sprachwendung hat bei Gottfried Keller Eingang gefunden und ins volkstümliche Erzählgut. So in die Geschichte vom Gelehrten, der in
seinem Alltagskleid über den Markt geht und von niemandem beachtet wird. Erst als
er im Festgewand erscheint, wird er von allen gegrüßt. Wütend geht er heim, wirft
seine ausgezogenen Kleider auf den Boden, tritt darauf und fragt: „Bistu dann der
Doctor, oder bin ich er?“ (zit. bei Lutz Röhrich: Das große Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Herder 1992, S. 853). (4)
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Kleidung drückt Lebensgefühl aus, erzählt von Macht und Ohnmacht (5), Gewalt und
Protest (6), Freizügigkeit und Schamhaftigkeit, Demut und Unterwürfigkeit, Imponiergehabe und Status (7) und von Sehnsüchten.
Mit der Kleidung zeige ich meiner Mitwelt, wie sie mich sehen soll und wie ich ihr begegnen möchte: achtungsvoll und höflich, nachlässig oder distanziert, zurückhaltend
oder extrovertiert.
Kleidung ist das kulturelle Zeichen für soziales Verhalten (vgl. Weber-Kellermann
1979).
Modetrends und Warenfetische, Gruppenzugehörigkeit und (Normierungsdruck)
gesellschaftliche Regeln (8) bestimmen das Kleidungsverhalten mehr als guter
Geschmack und funktionale Aspekte. Das gilt auch bei absichtlichen Regelverstößen, um aus dem gleichmacherischen Einerlei der Masse herauszuragen. Während die Mitwelt Geschmacksverirrungen mit irritierten Blicken und hämischen
Bemerkungen quittiert, werden Regel- und Normenverstöße, die auf einen Wandel
von Kommunikationsformen (9) zielen, schon mal mit sozialer Ausgrenzung
geahndet.
Das Bekleidungsverhalten ist schließlich eingebettet in das gesamtgesellschaftliche
System.
Wer wann wo was zu welcher Gelegenheit anzieht, hängt von Sitte und Brauch ab.
Jemand, der auf ein Fest geht, kleidet sich in der Regel anders als jemand, der
einem Toten die letzte Ehre gibt. Doch dann gibt es noch die alters-, gruppen- und
schichtenspezifischen Regelwerke der Mode. Wer die nicht kennt, kann ganz schön
ins Fettnäpfchen treten. Selten meinen die Dinge das, was sie auf den ersten Blick
sagen. Die Kleidersprache ist nicht eindeutig. Man muss die Zeichen (und Symbole)
verstehen. Was visuell gesendet wird und was ankommt in der Mitwelt, sind zwei
Paar Schuh. Ein keusch oder ein erotisch anmutendes Kleid kann eine keusche oder
freizügige Trägerin beherbergen – oder das Gegenteil. (10)
Kleidung und Erotik
Sich Kleiden hat nämlich mehr mit der Lust am Verkleiden, mit Maskerade zu tun, als
damit, sein Wesen von innen nach außen zu kehren. Ich zeige etwas, das ich nicht
bin oder aber gerne sein möchte, gebärde mich draufgängerisch, um von meiner
Schüchternheit abzulenken, bin hoch geschlossen, um distanziert zu wirken und
schlüpfe jeden Tag in eine neue Nichtidentität.
Im Anfang war nicht das Wort, wie es im Johannes Evangelium steht, sondern das
Schauen.
Wir leben nämlich davon, wahrgenommen, anerkannt und auch erkannt zu werden.
Frau und Mann „erkannten sich“, heißt es im Alten Testament, und gemeint ist damit
die geschlechtliche Vereinigung der beiden.
Die Rede ist also von Erotik, wie sie auch der Philosoph George Bataille versteht.
Erotik ist die Sehnsucht nach der verlorenen Kontinuität. Erotik ist ein Aspekt des
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menschlichen Innenlebens, wenngleich „die Erotik ununterbrochen in der Außenwelt
nach einem Objekt ihres Verlangens sucht. Doch dieses Objekt entspricht der
Innerlichkeit des Verlangens.“ (Bataille 25) „Es scheint dem Liebenden, dass einzig
das geliebte Wesen …. in dieser Welt verwirklichen kann, was unsere Grenzen verhindern, nämlich das volle Ineinandergehen, die Kontinuität zweier diskontinuierlicher
Wesen.“ (Bataille 16f) (11)
Erotik und Kleidung – der Zusammenhang ist offensichtlich, wenn wir der Vorstellung
folgen, Erotik als Sehnsucht nach Kontinuität zu sehen und Mode – ganz gegen
ihren Ruf von raschem Wechsel und Vergänglichkeit - als „Erinnerungssystem“, wie
Avantgardisten der Modewelt dies tun. Mit einem Beispiel (aus der so genannten
dekonstruktiven Mode) möchte ich diesen Gedanken nachvollziehbar machen.
Mode als Erinnerungssystem
Der belgische Modeschöpfer Martin Margiela wurde (mit seinen dekonstruierten
Kleidungsstücken) zum Stardesigner der Pariser Modeszene, weil er die Models mit
„Lumpenkleidern“ über den Laufsteg schickte, mit Kleidungsstücken, die mit den
Nähten nach außen wie alte, aufgetrennte und wieder falsch zusammengenähte
Klamotten aussehen. Und in der Tat geht es um Recycling-Mode. Mode, der die Zeit
anhaftet, die Geschichte hat und die Gebrauchsspuren von den vorangegangenen
Nutzerinnen zeigt, weil die Kleider aus alten Kleidern vom Flohmarkt verarbeitet
wurden. Dadurch ist die Mode nicht nur originär, weil die verwendeten Materialien
einzigartig sind, sondern das Kleid hat auch Zeit als Vergänglichkeit in sich
aufgenommen. „Der Lumpensammler-Aspekt“ beschreibt den Versuch, „Kleider als
Zeichen des individuellen, einmaligen Lebens, und das heißt auch des Todes, zurück
zu gewinnen.“ (Vinken 1994, 13) (12)
Im Zeichensystem der Warenwelt
Ganz anders ist das bei Markenwaren. Die werden nicht als Produkte verkauft,
sondern als Gefühle, Weltanschauungen, Begehrlichkeiten, Fetische.
Camel steht für Abenteuer, Jeans für Freiheit und Rebellion.
Der fetischisierte Markenartikel funktioniert im Zeichensystem der Warenwelt nach
dem Prinzip der Stammes- oder Religionszugehörigkeit. Etwas vom Fetisch gibt mir
Kraft oder Stolz oder das Gefühl der Zugehörigkeit. Warenfetische nutzen die Faszination von mythischen Objekten (Amulette, Masken, Fetische, Kachinas (13).
Der Symbolwert von Markenartikeln hat eine viel höhere Bedeutung als der
Gebrauchswert. (Jugendliche können schlecht dem Markenfetischismus entgehen.
Mit den falschen Klamotten am Leib gelten sie unter ihresgleichen als uncool und
bleiben allein.)
Margiela entzaubert den Markenfetischismus und die Modeindustrie, zeigt ihre Tricks
und ihre fetischistische Struktur und etikettiert seine Mode mit einem schlicht-weißen
Stückchen Stoff – was natürlich auch als Markenzeichen zu erkennen ist. (14)
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Hose und Herrschaft – Ein Exkurs in die Emanzipationsgeschichte
Anekdote: Als ich Mitte der sechziger Jahre von meinem Südamerikaaufenthalt
wieder zurück in Frankfurt war und die auf Reisen gemachten Schulden durch Arbeit
abtragen wollte, fand ich Anstellung bei einer international arbeitenden Organisation.
Ich trug schon damals gerne und unbefangen Hosen, meistens in Kombination mit
Jacke, also als Anzug. In den Arbeitspausen legte ich meine behosten Beine zur
Entspannung auf die Schreibtischkante und schmauchte dazu ein Pfeifchen. Das
hatte ich mir in der Fremde so angewöhnt. Gleich in den ersten Arbeitstagen machte
mir der Chef klar, dass ihm das Hosentragen ein Dorn im Auge sei und bat mich, zur
Arbeit im Rock zu erscheinen. Pfeiferauchen und Füße auf der Tischkante, eine
Unsitte aus dem fortschrittlichen Amerika, die in jener Zeit nur den Spießern als
anstößig galt, störten ihn nicht. Anrüchig fand er nur die Hosenbekleidung. Ich fügte
mich (wollte den Job behalten) und deponierte einen Arbeitsrock im Büroschrank.
Hosen sind praktisch – und sie haben hohe Symbolkraft: An die Hose knüpfen sich
Emanzipations- und Diskriminierungsgeschichte der Frau. (vgl. Wolter 1993)
Selbstbewusste Frauen haben die Hose, das traditionell männliche Kleidungsstück in
westlichen Kulturen, in dem Zeitraum zwischen der französischen Revolution und
dem Ersten Weltkriegs (1789 bis 1918) auch als weibliches Kleidungsstück
eingeführt, allerdings immer begleitet von rüden Diffamierungen der Männerwelt.
Das emphatische Freiheitsgefühl, das kämpferische, extravagante und sportliche
Frauen (Revolutionärinnen, Kleiderreformverfechterinnen) beim Hosentragen
empfanden, bezeugt das englische Sprichwort: Wer die Hosen an hat, fühlt sich so
frei wie die Luft („ Whoso doth the breeches wear lives a life as free as air“) (15)
Die englische Dame trug schon in 18. Jahrhundert (1794) einen Reitanzug, in dem
sie auch im Spreizstil reiten konnten. Im 19. Jahrhundert galt der Herrensitz für
Damen allerdings wieder als anstößig. Die Oberhose für die Frau wurde verfemt,
dafür kam die Unterhose ins Spiel. Die Frauen mit ihren abstehenden Reifröcken
(Krinolinen) riefen Ärzte und Moralisten auf den Plan. Die Problemzone, die Jahrhunderte lang unbeachtet blieb, wurde nun mit einer im Schritt geschlossenen
Unterhose bedeckt (1840). Etwas später, 1869, verpflichtete eine Militärverordnung
auch die Soldaten zum Tragen von Unterhosen, allerdings zum Schutz der Uniform.
Während in der prüden Biedermeierzeit die Unaussprechlichen als Symbol der
Ehrbarkeit auf den Markt kamen, trug Frau ein paar Jahrzehnte später „Reformunterwäsche“, die (1875 patentiert und) als „(The) Emancipation Suit“ (Boston)
verkauft wurde.
Für Männer war Hose und Herrschaft eins und beides beanspruchten sie für sich.
Französische Revolutionäre hatten zwar die ständische Kleiderordnung (16)
abgeschafft, nicht aber die sexistische. (Frauen wurden in den Bereich des Privaten
verwiesen, nur Männer durften im öffentlich-gesellschaftlichen Raum tätig sein.) Von
Gleichheit keine Spur. Frauen, die in der Französischen Revolution ihr politisches
Engagement auch öffentlich zum Ausdruck bringen wollten, indem sie sich die Hosen
anzogen, wurden von revolutionären Männern verlacht und als „außer Rand und
Band geratene Geschlechtswesen“ niedergemacht und in einem Dekret von 1793 in
ihre „naturgegebene“ Rolle als Ehefrau und Mutter verwiesen. Napoleon I verbot den
Frauen das Tragen von Männerkleidung per Gesetz im Code civil. Eine Frau in
Hosen signalisierte Machtanmaßung und nicht revolutionärer Klassenkampf.
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Frauen, die Hosen tragen wollten, brauchten eine Sondergenehmigung von der
Polizei. (vgl. Loreck, 85 f)
So auch die französische Schriftstellerin George Sand (1804-1876). Als sie in Hosen
auf die Straße ging, zerrissen sich die Pariser das Maul darüber, trotz ihrer anerkannten gesellschaftlichen Stellung. Einen wirklichen Skandal löste sie damit aber
auf Mallorca aus, wo sie mit ihren beiden Kindern (Solange und Maurice) und ihrem
Freund Frederic Chopin den Winter 1838/39 verbrachte (um dem Treiben und dem
Klatsch der Pariser Gesellschaft zu entfliehen). Reise und Aufenthalt auf der Insel
waren ein sehr mutiges und lästiges Unterfangen und die Überfahrt im
Schweinexpress nur der harmlose Anfang von schier unüberbrückbaren kulturellen
Unterschieden. Die beschreibt George Sand in „Ein Winter auf Mallorca“ zwar auch,
aber vor allem entdeckte sie die phantastische Landschaft. Mit der engstirnigen,
fremdenfeindlichen Bevölkerung hatte die freigeistige Intellektuelle nichts am Hut.
Andererseits empfanden die strenggläubigen Mallorquiner die absonderlichen
Fremden in der Kartause von Valdemosa als Inkarnation der Sünde. Das Paar trug
keinen Ehering, kam sonntags auch nie zur Messe. Den schlimmsten Eindruck
jedoch hinterließen Mutter und Tochter, die ganz ungeziemend in Männerhosen
herumliefen. Die Mallorquiner mieden sie wie Pest und Cholera.
Im bürgerlichen 19. Jahrhundert waren die Frauen mit ihren farbenfrohen und ausladenden Krinolinen nur schmückendes Beiwerk ihrer Männer im dunklen Anzug. An
der müßiggängerischen Frau erwies sich der erfolgreiche Mann. Sie betrieb stellvertretend für ihn einen quasi feudalistischen Modewettbewerb, der darüber entschied, wer zur Gesellschaft gehörte und damit kreditwürdig war. Frauen, die das
Korsett ablegten und Hose trugen, wurden nicht nur von den Männern, sondern
zumeist auch von ihresgleichen lächerlich gemacht. Zwar warb die Industrie mit der
behosten Frau fürs Fahrrad, aber Hosen tragende Frauenrechtlerinnen, die (Mitte
des 19. Jahrhundertes) am Picadelly Park ihre Geschlechtsgenossinnen aufforderten, sich gegen die Unterjochung mit dem Tragen von Beinkleidern, den so genannten Bloomers, zu wehren, wurden immer wieder öffentlich angepöbelt. (17)
Schließlich setzte Papst Pius IX die Hose für die Frau 1868 als „sittengefährdend“
auf den Index (Sykora 1994, 35).
Unterstützung erhielten die Frauenrechtlerinnen nolens volens von ärztlicher Seite
und von der so genannten Reformkleidbewegung. Diese Bewegung vereinte die
nützlichkeitsorientierten Aspekte der Frauenbewegung mit den medizinischen
Begründungen und fügte die Ästhetik dazu: „Was gesund ist, ist auch zweckmäßig,
muss also, an sich betrachtet, schöner sein, als etwas Ungesundes“ (Sykora, 36).
Der Kampf galt (vor allem) den Einschnürungen des weiblichen Körpers. Das Korsett
machte nicht nur eine Wespentaille, sondern auch krank: Herzinsuffizienz und
Lungenerweiterung, Leber- und Gebärmutterverlagerung, die zu Fehl- und Frühgeburten führten, waren die Folge.
Das Reformkleid kommt ohne Korsett aus, was Kritiker damals als Verlust der
Weiblichkeit verpönten. „Das Reformkleid“, so schwafelt süffisant ein Journalist im
Simplizissimus Ende des 19. Jahrhunderts, „ ist vor allem hygienisch und erhält den
Körper tüchtig für die Mutterpflichten“, doch „solange sie den Fetzen anhaben,
werden sie nie in diese Verlegenheit kommen“. (zit. bei Sykora 37) (18)
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Im Ersten Weltkrieg – und dem folgenden auch - musste Frau in Munitions- und
Rüstungsfabriken in Hosen zwar ihren Mann stehen, aber nach der Arbeit trug sie
Kleid. Hosentragen gestatteten sich - sozusagen als provokativen und antibürgerlichen Akt - nur extravagante Künstlerinnen und lesbische Frauen, die in ihren
Hosenanzügen (von dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld um 1910) und
mit ihrer androgynen Ausstrahlung gar als „drittes Geschlecht“ ausgemacht wurden
(vgl. Loreck 88). Es sollte noch viel Zeit vergehen, bis die Usurpation (rechtswidrige
Aneignung) der Hose durch die Frau ihren Niederschlag fand in einem emanzipierten
Geschlechterverhältnis – oder war`s umgekehrt? (19) Die Hose war nicht allgemein
akzeptierte Mode. Marlene Dietrich jedenfalls wurde noch 1931 vom Pariser Bürgermeister aufgefordert, die Stadt zu verlassen, weil sie sich im Herrenanzug auf der
Straße zeigte.
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg trug Frau Smoking als Gesellschaftsanzug.
1966 sorgte der Modeschöpfer Yves Saint Laurent mit einer Neuauflage dieses
Smokings für einen Skandal, und skandalös wurden auch die Smokingträgerinnen
behandelt: in den besten Pariser Restaurants wurden sie nur mit Jacke eingelassen,
die Hose mussten sie vor der Tür ausziehen. (vgl. Seeling, S. 62)
Der Deutsche Bundestag hat noch in den sechziger Jahren Frauen in Hosen nicht
zugelassen. (vgl. Sykora 1994, 39)
Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, mit wie viel bornierter Heftigkeit und
rigidem Ernst Mädchen mit Jeans und Jungs mit Ohren bedeckenden Haaren in den
Sozialisationsagenturen vom Lehrkörper gepeinigt/reglementiert wurden.
Erst mit der so genannten antiautoritären Bewegung, aus der die Studenten- und die
neue Frauenbewegung entstanden, wurden die bürgerlichen Kleidungskonventionen
infrage gestellt und gebrochen. Das Modemotto der Zeit: „anything goes“. Mini-, Midiund Maxirock, Röhren-, Latz- und weite Bundfaltenhose wechselten einander ab und
blieben zeitweise nebeneinander in Mode. In dieser Normen verwischenden
demokratisierenden Modevielfalt, kam auch die Hose für die Frau zu ihrem Recht
und wurde selbstverständlich (Sykora 1994, 39). Aber erst da.
Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen
Ein Forschungsprojekt über die kommunikative Praxis der Studentenbewegung der
60er Jahre untersucht die Frage, unter welchen Bedingungen und nach welchen
Prinzipien sich Kommunikationsformen bilden und verändern oder gleich bleiben.
Dabei wird von der These ausgegangen, dass es neben den instrumentellen
Aspekten der Kommunikation gerade die expressiven und performativen Aspekten
sind, die einen Wandel von Kommunikationsformen einleiten. Die herkömmlichen
Kommunikationsformen – Anrede, Begrüßungsrituale, bürgerliche Kleidung - waren
Ausdruck autoritärer Gesellschaftsstruktur und damit erneuerungsbedürftig.
Wie spiegelte sich diese Auseinandersetzung mit der Gesellschaft im Kleidungsverhalten wider? Unter diesem Blickwinkel untersucht auch Marion Grob das
Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen; und zwar am Beispiel der Wandervögel zu Beginn des 20. Jahrhunderts (1901-1918) und der Studentenbewegung der
späten 60er Jahre (1966-1970).
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Beide Bewegungen entstanden in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität und politischer Stabilität, in denen der Zeitgeist des „Wir sind wieder wer“ vorherrschte. Beide
Gruppen lehnten die herrschenden Modekonventionen ab und entwickelten durch die
Auseinandersetzung mit den Normen und Werten der Gesellschaft ihren ganz
eigenen Kleidungsstil. Die Mitwelt erkannte sie an ihrem äußeren Erscheinungsbild.
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Wandervögel
Während sich die Bürgergesellschaft in Matrosenanzug, steifen Kragen und Korsett
zwängte, die Männer den Bart wilhelminisch hoch zwirbelten, um ihren sozialen
Status zu signalisieren, kamen die Wandervögel als „Fürsten in Lumpen und Loden“
daher. Anfänglich war die Kluft sehr individualisiert, aber als Gruppenmitglieder
erkennbar an Seppel- oder Schlapphut, kurzer oder Kniebundhose, Lodenjoppe,
Schillerkragen und Kniestrümpfen, Halstuch oder Schnürstiefel, bartlos und männlich. Frauen stießen nämlich erst 10 Jahre später (1911) zu den Wandervögeln.
„Und sollte doch mein Hemd in tausend Löchern schimmern, es soll sich doch kein
Menschen…darum kümmern“, heißt es in einem Wandervogellied. Das entsprach
aber nicht dem Schönheitsideal der Mädels. Sie bevorzugten helle Blusen und
knöchellange Röcke, dirndelähnliche Kleider, Zöpfe und sie gingen hutlos, was für
junge Damen als unschicklich galt. Das wirklich Neue ihres Kleidungsstils aber war –
die Korsettlosigkeit. Den neuen, bequemen Hosenrock (jupe-culotte von Paul Poiret),
der 1911 in Paris (auf dem Rennplatz von Auteuil) vorgestellt wurde und weswegen
die Trägerinnen Spießruten laufen mussten, diesen bequemen Hosenrock trugen sie
nicht.
Der Wandervogel entsprang einem humanistisch gebildeten Bürgertum und verstand
sich als Freizeit- und Erneuerungsbewegung. Man wanderte gemeinsam, sang,
lernte, musizierte, tanzte. Propagiert wurde der einfache, naturnahe Lebensstil.
Autonom sollte die Jugend sein in der Lebensschule: „rein bleiben und reif werden“.
Studentenbewegung
Die Studentenbewegung zielte auf Gesellschaftsveränderung. Sie grenzte sich ab
von der Konsumgesellschaft, von kleinbürgerlichen Ordnungs- und Sauberkeitsvorstellungen, von traditionellen Geschlechterrollen und Sexualnormen.
Die Kleidung spielte als absichtlich eingesetztes Mittel zur Popularisierung oder zur
Identifikation mit der Bewegung eigentlich keine Rolle. Kleidung galt als etwas
Äußerliches und darüber zu diskutieren als unpolitisch. Die von der Bewegung missachtete herrschende Kleidungskonvention wurde aber publizistisch ausgeschlachtet,
so dass die Volksseele sich mehr über die unkonventionelle Kleidung aufregte als
dass sie sich mit den Ideen und Zielen dieser Bewegung auseinandersetzte. Frau
erschien zu Immatrikulationsfeier nicht mehr im kleinen Schwarzen und auch nicht zu
Weihnachten und öffentlichen Veranstaltungen, entledigte sich der einzwängenden
Weibchenkleidung, warf BH und Hüfthalter in die Altkleidersammlung und zog sich
wieder Handgestricktes an. Für die Abgrenzung zum Establishment reichten den
Männern schon Jeans oder Cordhose ohne Bügelfalte, offenes Hemd, Pullover,
Cord-, Jeans- oder Lederjacke. (21)
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Freilich gab es auch so etwas wie Gesinnungskleidung mit allerhöchstem Symbolwert. Der zweckmäßige, schmucklose Parker gehört dazu, der in den Gebrauchtläden der Amerikaner oder auf dem Trödelmarkt selbst von Kriegsdienstverweigerern
gekauft wurde. Einige machten sogar vor ausgemusterter Militärkleidung nicht Halt.
(22)
Andere setzten sich die Che-Guevara-Mütze mit rotem Stern auf – als Gag oder um
Solidarität mit der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung zu signalisieren. Auch
der Rote Punkt und besonders der Button „enteignet Springer“, galt nach dem Tod
des Studenten Ohnesorg als Symbol für die Zugehörigkeit zur Studentenbewegung.
(23)
Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Bewegungen
Gemeinsam ist beiden Bewegungen, dass sie sich von äußeren Zwängen und
einzwängender Kleidung befreiten. Ihr subkultureller Kleidungsstil ist bequem, praktisch und billig. Dank der Wandervögel kamen das legere Reformkleid und die
praktische Wanderkleidung zum Durchbruch.
Aber die einen waren eine Jugend- und Freizeitbewegung, die anderen eine
politische. Das prägte auch das Kleidungsverhalten: die Wandervögel zogen sich in
ihrem Alltagsleben so wie alle anderen an, wohingegen die Studenten diese
Trennung nicht machten. Als subkulturelle Protestbewegung mit gegenkulturellen
Elementen grenzte sie sich konsequenter von der herrschenden Gesellschaft ab und
veränderte so die Kommunikationsformen nachhaltig.
Kopfes Last
Der Kopf ist Sympathie-, Symbol- und Werbeträger für die unterschiedlichsten Weltanschauungen. Mit ihm werden kulturelle, politische und religiöse Botschaften,
soziale und gruppenspezifische Zugehörigkeiten oder auch modische Angepasstheit
signalisiert.
Filmdokumente von Massenansammlungen aus den fünfziger Jahren verblüffen: die
Leute hatten alle etwas auf dem Kopf. Die Landfrau mit dem Kopftuch, der Arbeiter
mit der Schiebermütze, die Herrschaft mit Hut. Dann verschwanden Kopftuch und
Kappe, Pudel-, Basken- und Schiebermütze weitestgehend aus dem Straßenbild.
Der Hut nahm den Hut, nur die (behütete) Klassengesellschaft bewahrte sich ihr
Hutreservat auf der Rennbahn. (24)
Wer Haar auf dem Kopf hatte, zeigte sie. Nach einer relativ kopfschmucklosen
Epoche dominiert heute im Straßenbild wieder die Vielfalt, allen voran die nivellierende Baseballmütze, die jedes Gesicht gleich blöd ausschauen lässt, oder die
Pudelmütze, einst der Kälteschutz von Hinterwäldlern, die heute Weltoffenheit und
Multikulturalität signalisiert.
Auch das Kopftuch ist wieder im Straßenbild, kunstvoll geschlungen - oder streng
ums Gesicht gefaltet von einigen Musliminnen. In Europa, nicht in der Türkei, dort
sind Turban, Fes, Schleier und Kopftuch seit 1925 verboten. Kemal Atatürk
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begründete das Verbot damit, dass mit diesen Bekleidungsstücken das fundamentalistische Prinzip zum Ausdruck gebracht werde, das die islamische Religion über
den Staat und seine Gesetze stellt. Männer mit Turban oder Fes und Frauen mit
Schleier oder Kopftuch werden in der Türkei sanktioniert. Nicht so in Deutschland. Da
erkämpft sich in einem Präzedenzverfahren eine Lehrerin muslimischen Glaubens
das Kopftuchtragen im Unterricht und unser Exbundespräsident Rau spekuliert
medial über die Gleichbehandlung von Kopftuch und Kreuz: wird das eine verboten,
muss das andere auch aus dem öffentlichen Blickfeld verschwinden.
Freilich gibt es Parallelen: beide Symbole, Kreuz und Kopftuch, stehen für Unterdrückung. Das Kreuz in besonderem Maße für Kreuzzüge und Kriege, todbringende
Missionierung und Zwangskonvertierung, Inquisition und Hexenverbrennung. Die
Geschichte des Kreuzes ist unser Kreuz, wir haben es zu tragen.
Das Kreuz mit dem Kopftuch, auch eine christliche Tradition, zettelte Apostel Paulus
mit den Briefen an die Korinther an (11,2-16). Dort sagte er, dass die Frau im
Gottesdienst ihr Haar bedecken solle, weil ein unbedeckter Frauenkopf so beschämend wie ein geschorener sei. Um dieser Schande zu entgehen, beherzigen auch
heute noch Frauen dieses Gebot, bedecken ihr Haupt wie auch deutsche
Politikerinnen (Merkel/Schavan) beim Papstbesuch.
Ich erinnere mich, dass ich bei meinem ersten Spanienbesuch keine Kathedrale
betreten habe, ohne vorher Kopf und Schultern mit einem Tuch zu bedecken. Das
gehörte sich so, alle Einheimischen taten es.
Das muslimische Kopftuch ist auch ein Demutszeichen. Aber nicht nur vor Gott. Der
wird auf Erden nämlich von den Männern verstellt. Also spricht das Kopftuch nicht
von demütiger Religiosität, sondern von demütigender Unterwerfung der Frau, von
Knechtung, Entrechtung, Diskriminierung. Sie gilt als Gut des Mannes. Und der
verfährt mit ihr und den Kindern wie mit Leibeigenen. Da, wo Sexualstrafrecht
existiert, kann der Mann die aus der Ehe brechende Frau ungestraft verstoßen,
steinigen, erstechen. Solche schrecklichen Frauenschicksale haben Namen. Souad
heißt eine junge Frau (aus dem Westjordanland), die in ihrem gleichnamigen Buch
erzählt, dass sie, als sie mit 17 schwanger wurde, von einem männlichen
Verwandter auf der Straße bei lebendigem Leib angezündet wurde, um die
Familienehre zu retten. Trotz schwerer Verbrennungen wurde auch die junge Frau
gerettet und konnte ins Ausland flüchten. Dass die schreckliche Tat ungesühnt blieb,
ist die Regel, trotz anders lautender Gesetze.
Die Geringschätzung der Frau geht so weit, dass Mädchen im Säuglingsalter von der
eigenen Mutter ermordet werden, weil sie minderwertiger als Jungs gelten.
Zu welcher weltanschaulichen Konsequenz führt es, wenn wir das Kopftuch mit der
ihm immanenten oder hineininterpretierten Symbolkraft annehmen?
Das Kopftuch als religiöses Symbol gehört m. E. zur Intimsphäre der Einzelnen. Das
Kopftuch als modische Laune bedarf keiner öffentlichen Diskussion und wäre so
harmlos oder verrückt wie Zungenpearcing oder jede andere vergängliche Modeerscheinung.
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Das fundamentalistische Kopftuch ist aber kein religiöses Accessoire, das die
Musliminnen tragen wie andere ein schmückendes Kreuz oder ein Nabelpearcing.
Dieses Kopftuch grenzt westliche Werte und die allgemeinen Menschenrechte aus.
Es ist ein Diskriminierungszeichen.
Deswegen geht es im „Kopftuchstreit“ nicht darum, dass Andersgläubigen – also hier
Kopftuch tragenden Frauen - der Respekt verwehrt wird, sondern darum, dass mit
der Durchsetzung dieses Kleidungsstücks frauenverächtliche Strukturen (und
gottesstaatlicher Bestrebungen) anerkannt und legalisiert werden. (26)
Von der Interpretation zur Veränderung
Ich komme zu meinem letzten, auf den ersten Blick vielleicht befremdlichen Gedanken. Ich möchte das Kopftuch als Protestgebärde sehen, als absichtliche Normverletzung und mutige Inszenierung, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, als
Appellations- und Demonstrationssymbol. Das Kopftuch also nicht als fundamentalistische Äußerung, sondern als politisches Kampfmittel. Nicht als Relikt aus der
Herkunftskultur, sondern als Produkt der Migrationssituation, als Zeichen für fehlende
Integration, Ausgrenzung und Unterdrückung, Sprach- und Heimatlosigkeit. Das
Kopftuch nicht als Ausdruck von Ohnmacht, sondern als Ausdruck von Selbstbehauptung, von Widerstand.
Bietet die geduckte und unterdrückte Frau damit dem Mann die Stirn. Will sie
vielleicht mit Hilfe der Gesellschaft in der Fremde ihren Emanzipationskampf
ausfechten? Wie sonst sollte sie aus ihrem gesellschaftlichen Korsett, ihrer
zugewiesenen (gehorchenden) Geschlechterrolle herausfinden?
Ich weiß nicht, welche Befindlichkeit unter dem Kopftuch steckt. Kenne keine
neueren Untersuchungen.
Ich will die Kopftuchträgerinnen nicht zu Kopftuchkämpferinnen machen, ihnen
keine hintergründigen Motive andichten. Aber zutrauen könnte ich ihnen diese List
schon.
Da wäre dann die Solidarität der westlichen Frauen gefordert.
Eine modische Variante zum klassisch streng gefalteten Kopftuch gibt es schon,
entworfen von einer holländische Designerin (Cindy van der Bremen) für muslimische
Gefängniswärterinnen in Holland, „Capsters“ genannt und als Alternative für den
Kopf und Hals bedeckenden Hijab gedacht. Wenn die Capsters auch bei westlichen
Frauen Mode machten, stünden die Kopftuchträgerinnen nicht alleine da. (27)
Anmerkungen
(1) Mit Kleidung als die „zweite Haut“ wird unterstellt, dass Kleidung als „verlängerter
Körperausdruck“ etwas über das Wesen der Person sichtbar machen kann.
(2) Die nichtverbale Kommunikation bezieht sich auf ein breites Spektrum von Erscheinungen wie
Mimikund Gestik, Gebärden, Lachen, Weinen, Gähnen, Berührung, Körperaltungen, Tanz, Drama,
Musik, Einrichtungsgegenstände, das Verhalten im Raum und eben auch Kleidung.
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(3) Rolle und Wirkung von Kleidung
Kleidung
als Schutz vor Wind und Wetter, Scham und Schande und um uns zu schmücken
als Mittel zur Bedürfnisbefriedigung von sozialer Anerkennung und sozialer Angleichung
als Zeichen von Gruppenzugehörigkeit
als
Statussymbol
und
Imponiergehabe
(z.B.
geschlechtlichen
Prahlsucht
…..Mannes/Schamkapseln)
als Projektionsfläche für sich selbst und die individuellen Befindlichkeiten (Seelenspiegel)
als Medium von Gesinnung und Weltanschauung (Kleidung zeigt die übergeordneten
….Wertvorstellungen an)
als Kunstobjekt
als Spiel mit Schönheitsidealen und Geschlechterrollen (Vinken 1993)
als Ausdruck von Wandlungsfähigkeit und sich wandelnden kulturspezifischen Bedürfnisse
als Indikator kultureller Prozesse und für Machtstrukturen und deren Veränderungen
als Maskerade, als Verkleidung, als Ausdruck von Nichtidentität
als geschlechtsspezifische Erfahrung von Macht- oder Ohnmacht, als Machtanmaßung
als Zeichensystem der Warenwelt und als deren Werbefläche
als Warenfetisch
als Erfahrungsraum zur Identitätsfindung und Bedürfnisbefriedigung (vgl. Kirsch)
des
Guy Kirsch, dem ich hier folge, beschreibt, wie in der Marktwirtschaft laufend neue Bedürfnisse, neue
Begehrlichkeiten geschaffen werden, die die einzelnen als Teilnehmer am Marktgeschehen entwickeln
(Kirsch: Der Mensch und seine Bedürfnisse. Die Marktwirtschaft als Lern- und Lehrveranstaltung, in
FAZ v. 13.10.84). Seine These, „dass die Bedürfnisse des Menschen in weiten Teilen nicht
angeboren, sondern das Ergebnis von Lernvorgängen und in diesem Sinne künstlich sind.“ Der
Mensch ist ein Wesen, das auf Impulse von außen angewiesen ist. Hat er diesen Austausch mit seiner
gesellschaftlichen und natürlichen Umwelt nicht, fühlt er sich unbehaglich, oder, wie Peter Handke
sagt, hat es mit einem „wunschlosen Unglück“ zu tun. Diesem vagen Unbehagen, diesem Mangelgefühl kann der Mensch auf zwei Wegen begegnen. „Er kann die Geselligkeit von Freunden suchen,
also sein vages Mangelgefühl in das Bedürfnis nach menschlicher Wärme umsetzen und als solches
befriedigen; er mag aber auch das vage Unbehagen in ein unbändiges Bedürfnis nach Pralinen
transformieren und sich so – von der Volksweisheit treffend benannt – Kummerspeck anfressen. Es ist
nur eine Tatfrage, ob die Befriedigung des Bedürfnisses nach menschlicher Wärme oder aber die
Befriedigung des Bedürfnisses nach Süßigkeiten das Unbehagen am meisten reduziert….. Hat nun
unser Individuum nicht die Information, dass die Nähe von Menschen seiner Wohlfahrt förderlicher ist
als das Essen von Pralinen, so wird er seine Wohlfahrt wenigstens zum Teil verfehlen.“ (Kisch) Je
breiter des Individuums Wissensspektrum ist, desto eher weiß es, was der Umgang mit Freunden oder
das Pralinenessen für sein Wohlergehen bedeutet. Dieses Instrumentalwissen kommt durch Erfahrung
aus erster oder zweiter Hand. Dadurch lernt er, was ein diffuses Unbehagen war, in einem Bedürfnis
nach Bach-Kantaten, Bratkartoffeln oder Warenfetische zu konkretisieren. Waren sind Instrumente zur
Behebung des Unbehagens. Mit Produkten können kostengünstig und risikoarm Erfahrungen gemacht
werden.
Der Mensch kann über die angebotenen Waren die dubiosesten Erfahrungen machen, ohne Gefahr
zu laufen, sich an Dinge endgültig zu verlieren, die er besser gemieden hätte. Waren mindern das
Risiko psychischer Kosten. Linderung des Unbehagens also durch Konsum? Der Mensch lebt allerdings nicht vom Brot allein, sondern auch von immateriellen Werten, die nicht am Markt angeboten
werden. Der Markt eröffnet den Zugang zur Welt der Dinge, nicht zu den Herzen der Menschen. Dafür
brauchen wir andere Lernorte, wo die Bedürfnisse nach Liebe, Gemeinschaft, Glaube oder die Fähigkeit nach Askese erlernt werden können. „Damit der Mensch Bedürfnisse haben kann, müssen ein
handlungsmotivierendes Unbehagen und ein handlungsorientiertes Instrumentalwissen zusammenkommen.“ (opcit Kirsch) Und „das Instrumentalwissen ist eine Frucht der Erfahrung.“
Der Mensch ist ein Bedürfniswesen: Seine Bedürfnisse drückt er mit Hilfe seine Symbolisierungsfähigkeit aus. Symbole sind kulturspezifisch. Durch Institutionalisierung, Objektivierung und Tradierung
wird die symbolische Bedeutung der Dinge zum kulturellen Ausdruck.
(4) Vor der Aufklärung verstand man männliche und weibliche Körper lediglich als Variation eines
„Eingeschlecht/Einleib-Modells“ (vgl. Laqueur/Sykora). Das Geschlecht siedelte zunächst nicht im
Körper, sondern in der Kleidung an. Eine Frau in Männerkleidern konnte für gewisse Zeit oder ihr
Leben lang als Soldat oder Seemann leben. Frauen in Männerhosen gab es schon immer. Sie galten
nicht nur als Männer, nach der damaligen Kategorie waren sie Männer. Der Kleidercode dominierte
den Körpercode. „Unter geschlechtsspezifischen Prämissen betrachtet, galt also noch das Kellersche
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Diktum `Kleider machen Leute, das heißt, das Kostüm setzte fest, welches Geschlecht die Person
hatte. Das änderte sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts.“ (Sykora 1994, 30f).
Die Redensart „Kleider machen Leute“ wird heute im Sinne von Ansehen gewinnen verwendet.
(5) Die stumme Konstellation von Macht manifestiert sich auch darin, wer höher oder niedriger sitzt,
wer den Vortritt hat, aufstehen muss oder sitzen bleiben darf. Wie sich jemand bewegt oder den
betretenen Raum einnimmt.
(6) Während Bekleidung erhöht, wird Entkleidung unter anderem als schärfste Protestform genutzt,
beispielsweise von den Kikuyu Frauen in Kenia, die für die Freilassung ihrer Männer und Söhne, die
als politische Gefangene einsaßen mit Hungerstreik und öffentlicher Entkleidung demonstriert (FR
vom 27.11.92).
(7) Die mittelalterlichen Landsknechte trugen auffälliges Genitalkapseln als phallisches Imponiergehabe, auch die Ritterrüstungen bildeten die Genitalien naturalistisch nach. Das Hervorheben der
Hosenlatzpartie bei Trachtenhosen deutet ebenso auf Imponiergehabe hin wie die Schulterbürsten an
Uniformen. Status drückten sich ja seit jeher durch Kleidung und Haltungen aus, ob ich verheiratet bin
oder ledig, einen Mann suche oder in Trauer lebe, das sagen Kopftuchzipfel jamaikanischer Frauen,
rote oder schwarze Bommeln an den Trachtenhüten der Schwarzwälderinnen oder das rote oder
grüne Band am Hut eines Sarners/Südtirol. Die Sarner mit dem roten Band sind ledig, mit denen dürfe
getrost geflirtet werden, wie es in einem Südtirol-Führer heißt, von denen mit dem grünen Band, die
verheirateten, solle frau aber die Finger lassen, weil da eine eifersüchtige Ehefrau aufpasse. Das
differenzierte Kleidungsverhalten der Sardinerinnen gestatten sogar Einblicke in ihren Seelenzustand,
sie drücken damit Glück, Ernst, Spaß und Trauer aus, und – wie Marinella Carossa belegt –
unterscheiden sie dabei in große, halbe oder kleine Trauer.
(8) Regeln, Vorschriften, Muster, Festsetzungen, sie leiten, organisieren, koordinieren menschliches
Handeln (im systemtheoretischen Sinn: Sollwert eines Regelsystems). Normen sind Instrumente des
gesellschaftlichen Zusammenlebens, die einen Anspruch auf soziale Verbindlichkeit haben und darauf
abzielen, eine bestimmte soziale Ordnung aufrecht zu erhalten. Sie haben Aufforderungscharakter.
Einhaltung und Durchsetzung von Normen werden mit Formen des sozialen Zwangs wie Lob und
Tadel, Achtung, Verachtung, Geldstrafen gesichert. Der Unterschied zwischen Normen des individuellen Verhaltes (Maxime, Motive) oder Normen mit gesellschaftlichem Geltungsanspruch ist
fließend.
Normen und Wertorientierungen (von Gesellschaft, Ethnos, Gruppe, Stamm, Kultur- und Sprachgemeinschaft) sind in der zwischenmenschlichen Kommunikation an Zeichensysteme gebunden.
Es gibt kulturelle Normen, die nicht koexistenzfähig sind wie beispielsweise die Geschlechterrollen:
das Rollenverständnis der islamischen Frau ist nicht kompatibel mit dem Selbstverständnis der
europäischen Frau. Oder das Zeitverständnis und unterschiedliche Situationsdefinitionen. Beispiel:
Die häufigsten Delikte von Süditalienern in Deutschland waren Sexualdelikte, nicht als Folge ihrer
„Heißblütigkeit“, sondern wegen der unterschiedlichen Situationsdefinitionen. Kleidung und Verhalten
der Frauen wurden als Freizügigkeit interpretiert und hatten für sie Aufforderungscharakter zur
sexuellen Handlung.
In allen Hochkulturen durch Raum und Zeit (und überall auf der Welt) gab es Kleiderordnungen, also
Vorschriften darüber, wer was wann wo tragen darf. Von so einer differenzierenden Bekleidung
zeugen sowohl die Mumien, die in der Takla-Makan-Wüste an der Seidenstraße gefunden wurden, als
auch am entgegen gesetzten Ende der Welt die Bilderhandschriften der Azteken. In diesen Codices
wird erzählt, dass es der König war, der den Kriegern, die er befördern wollte, das Recht zum Tragen
von bestimmten Symbolen, Schmuck und Kleidungsstücken zuerkannte. Diese Statussymbole wurden
im Aztekischen tlahuiztli genannt, was soviel heißt wie: „wodurch man angesehen wird“. Wer diese
Abzeichen benutzte, ohne darauf Anspruch zu haben, wurde ebenso schwer bestraft wie einer, der
Amtshandlungen vornahm, zu denen er nicht befugt war (Krickeberg 107).
(9) Kommunikationsformen sind Instrumente zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben. Die Interaktion von den Handelnden wird auch als Verkörperung gesellschaftlicher Ordnung und als Instrument
zur Veränderung dieser Ordnung betrachtet.
Die instrumentellen Aspekte der Kommunikation sind der gemeinsame Zeichenvorrat (Warnzeichen,
Hinweise, Verbote, Anweisungen, Normen und Regeln (Piktogramme sind die krude Verkürzung
komplexer Inhalte). Das Denken ist ein Instrument, ein Werkzeug, ein Mittel zur Anpassung des
Menschen an vorgefundene und sich verändernde Umweltbedingungen (Instumentalismus).
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Dialog – ein europäisches Kulturgut
(10) Ein französisches Sprichwort sagt: „Das Kleid macht keinen Mönche“, man soll also nicht auf
Äußerlichkeiten achten, da die innere Haltung entscheidend ist.
(11) Bataille geht davon aus, dass wir vergängliche Individuen „von dem Gedanken an eine ursprüngliche Kontinuität besessen“ sind, und darum die Situation, die uns an eine „Zufalls-Individualität“
fesselt, schlecht ertragen. Er unterscheidet drei Arten von Erotik: die Erotik der Körper, die Erotik des
Herzens und die heilige Erotik. Alle drei Formen haben ein Ziel:
das ist der Versuch, „die Vereinzelung des Lebewesens, seine Diskontinuität durch ein Gefühl tiefer
Kontinuität zu ersetzen“. Erotik bedeutet das absichtliche Sich-Verlieren. Erotik ist gewalttätig, weil das
vergängliche Individuum, das abgeschlossene Wesen im Allerinnersten getroffen, aufgelöst, aufgebrochen, zustört wird, um von der Ich-Bezogenheit loszukommen. Leidenschaft und Raserei kommen
dabei ins Spiel. (Bataille 16 f)
Man kann sich leicht vorstellen, was die Erotik der Körper und der Herzen bedeutet. „Hingegen
bezeichnet die Suche nach einer Kontinuität des Seins, die über die unmittelbare Welt hinausstrebt,
ein wesentlich religiöses Unterfangen…“ (Bataille 25)
Die Erotik entsprang einst (als der Mensch sich aus seiner ursprünglichen Animalität löste, weil er
arbeitete und begriff, dass er sterblich war) aus einer schamhaften Sexualität, die wiederum von einer
Sexualität ohne Scham hervorging. (Bataille 27)
Die Geschichte der Mode eines Volkes ist die Geschichte seiner Erotik.
(12) Modetheorien: Hans Griffhorn meint, dass eine geschlossene Theorie der Mode nicht möglich ist,
dass aber keinesfalls die angeborenen Grundtriebe die Ursache für Kleidungsentwicklung seien.
Rene König hingegen sucht den Ursprung der Mode und des Kleidungsverhalten vor allem in den
menschlichen Trieben, dem Trieb zu Neuem, dem Trieb sich zu schmücken, um sich aufzuwerten,
Rivalität, Wettbewerb, Nachahmung spielen dabei eine Rolle. Mode wird als geheimnisvolles und
soziales Totalphänomen klassifiziert.
Ingeborg Weber Kellermann (1979) sieht Kleidung als Zeichen sozialen Verhaltens. Im Kleidungsverhalten spiegeln sich Gesundheitsvorstellungen ebenso wider wie Schmuckbedürfnis, Status,
ökonomische Situation, Normen, Klassenzugehörigkeit, soziale Herkunft (Adel, Bürger, Bauern,
Arbeiter). In der Kleidung scheint die soziale Lage und die historische Zeit auf.
Mechthild Curtius (1975) steht für die kritischen Modetheorien: Die besagen, dass Mode und Kleidung
von gesellschaftlichen Bedingungen und sozial-ökonomischen Faktoren abhängen, und dass sie
spezifische Erscheinungen bestimmter Gesellschaftsformen sind. Mode ist auch Ausdruck von
individuellen Interessen und Bedürfnissen. Mode hängt nicht von natürlichen Faktoren ab, ist nicht aus
Triebnatur und Zeitgeist entstanden, sondern als Prozess der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Mode
taucht erst mit der Klassengesellschaft auf, mit der Erstellung eines gesellschaftlichen Mehrprodukts
(Mechthild Curtius 1975).
In Zeiten relative konstanter Gesellschaftsordnungen (Altertum z.B.) gab es eine relativ konstante
Mode. In Zeiten sozialer Unruhe, als mit den sozialen auch die modischen Privilegien der
Herrschenden ins Wanken gerieten, kam es zu großen Veränderungen in der Kleidung.
Erika Thiehl (1980) sieht Kleidung als Abhängigkeit von sozial-ökonomischen Faktoren und als
Ausdruck von Herrschaft und sozialer Rangordnung.
Erst die Massenproduktion der Industrie hat Mode demokratisiert. Im 19. Jahrhundert war Mode eine
exklusive Sache der oberen Zehntausend. Die Bevölkerung musste ihre Kleidung, ihre Tracht abbeziehungsweise auftragen. Die Tracht ist eine weitgehend vereinheitlichte Kleidung von Angehörigen
bestimmter regionaler oder funktionaler Gruppen. Sie wird in geschlossenen (Bauern)Gesellschaften
nicht nur ökonomische und ökologische Faktoren geprägt, sondern auch durch Nivellierungsbestrebungen. Der Nivellierungsdruck der städtischen Zivilisation bedingt das Verschwinden der
bäuerlichen Trachten (zugunsten industriell gefertigter). Neben der bäuerlichen die Trutztracht, z.B.
den Kilt der Schotten als Protest gegen die Engländer.
Der Zusammenhang zwischen Mode und Fortschritt: Mode ist ständiger Wechsel, eine dialektische
List der Geschichte mit der wir uns von der Last der Vergangenheit befreien.
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(13) Die Kachinas (religiöse Fetische) der Hopi haben sich in Warenfetische verwandelt, indem sie an
Touristen verkauft werden. Die Kachinas erfüllen damit die Bedürfnisse der Touristen nach Spiritualität
und erfahren so eine tragische Dekadenz.
(14) Die dekonstruktiven Mode entlarvt die Idee der Mode, unterläuft die für Mode konstitutiven
Elemente wie perfektes unsichtbares Handwerk und der Effekt dieser Kunstfertigkeit, „der vollkommene, bezaubernde Moment der ephemeren Erscheinung“. Margiela zeigt die Tricks, bringt die
Geheimnisse ans Licht, hebt den Schleier einer vergangenen, falschen Idealität, und darunter tritt das
Geheimnis der Mode, die fetischistische Struktur des Begehrens zu Tage. (vgl. Vinken 1994).
(15) Redensarten: „Die Hosen anhaben“, das heißt, das häusliches Regiment führen, wird interpretiert
als Machtanmaßung der Frau
Entsprechend im Englischen: She wears the breeches
Im Französischen: porter les culottes: madame a la culotte
Im Italienischen: portare le brache
(16) 1793 wurde die ständische Kleiderordnung abgeschafft - bunte Stoffe, Stickereien, Rüschen,
alles, was vordem nur die Adeligen tragen durften. Schlicht schwarz und drahtig ging der Mann ins
Zeitalter der industriellen Revolution. Mit dem Anzug beginnt das Kapitel der modernen, sozialen
Uniform, der Rüstung der Selbstsicherheit. Im Anzug steckt noch etwas von der von der Idee der
Gleichheit der französischen Revolution. Denn die lange Hose wurde von den Abgeordneten aus der
Betragne, die mit ihren langen Fischerhosen an der Revolution teilnahmen, in Mode gebracht. Von da
an war die Kniebundhose der Adeligen (Sans-culotte) out.
(17) Sie unterlagen schließlich dem Konformitätsdruck und machten das Korrelat ihrer Aktivitäten, die
Hosen, zur Individualtracht statt zum Emanzipationskampf.
(18) Reformkleidbewegung, also der Kampf gegen Korsett und Reifrock, und die Geschichte der
Hose, sind eng mit der Emanzipation der Frau verbunden, und ihrer neuen Rolle in der Gesellschaft.
(19) „Der Kampf um die Hose, gelesen als Gegengeschichte zur Korsettierung des weiblichen
Körpers, entpuppte sich als ein überraschendes Changieren zwischen offenem Modekrieg
beziehungsweise Geschlechterkampf und diplomatisch, listigen Versuchen, die jeweiligen Strategien
zu usurpieren.“ (Sykora 1994, 8)
(20) So hatte die straffe Organisation der eher unpolitischen Wandervögel ein anderes
Kleidungsverhalten als die politisch stark engagierte, aber weniger organisierte Studentenbewegung.
In der Gegenüberstellung beider Protestgruppen verdeutlicht Marion Grob die Haltungen, aus denen
heraus das jeweilige Kleidungsverhalten entstand und zeigt die Berührungspunkte.
(21) Lederjacken waren als Reaktion auf das polizeiliche Vorgehen bei Demonstrationen zu verstehen, sie boten mehr Schutz vor Knüppeln und die Parker schützten etwas vor den Wasserwerfern.
(22) Che und Fidel traten in der Öffentlichkeit im Kampfanzug auf und einige wollten ihnen wenigsten
farblich ähneln. Die Identifikation galt nicht dem Militarismus, sondern der Befreiungsbewegung. Der
Parker, das Gesinnungskleid der Linken, wurde „vermutlich auch deshalb zu einem weit verbreiteten
Kleidungsstück, weil seine militärischer Herkunft sowohl zu der Wertschätzung der lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen als auch zu den teilweise militanter werdenden Aktionen der
Studentenbewegung passte.“ (Grob, 307)
(23) Bei den Bremer Straßenbahnunruhen (1968) klebten sich die Autofahrer den Roten Punkt auf
und signalisierten so den Autolosen: Wir befördern alle, die die öffentlichen Verkehrsmittel
boykottieren wollen.
(24) Der Hut hat sich im Straßenbild rar gemacht, die Redensarten bleiben bestehen: Den Hut
nehmen (abdanken); Ich ziehe meinen Hut (Achtung bekunden); Unter die Haube kommen (heiraten);
Etwas auf die Mütze kriegen (Tadel oder Prügel bekommen).
(25) Frau darf Mann nicht die Hand reichen, sich nicht scheiden lassen, selbst da, wo das Gesetz auf
ihrer Seite steht, gilt sie als Gut des Mannes.
(26) Anmerkung zu Abgrenzung – Ausgrenzung – Integration:
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Deutschsein ist keine Frage der biologischen Abstammung, sondern eine lebensgeschichtliche und
kulturelle Zuordnung. Darauf kommt es an. Die Festschreibung ethnischer Kulturgemeinschaften
schützt nicht Traditionen und Identitäten, sondern produziert ein kulturelles Bunkerleben. „Kultur
markiert … keine Sektoren auf einer ethnischen Landkarte, sie besitzt nicht primär Abgrenzungsfunktionen. Ihr konstitutiver Sinn besteht vielmehr darin, Horizonte zu öffnen und Verständigung
zu ermöglichen.“ (Wolfgang Kaschuba: Die Exotisierung des Migranten. Wallende Gewänder und
fernöstliche Speisen: Zur fragwürdigen Ethnisierung des Fremden. In: FR v. 6.2.2001)
Gesellschaftlicher Wandel, Veränderungen, geschehen in Minderheits- und Mehrheitskulturen immer
nach beiden Richtungen. Wenn die Mehrheitskultur fremde Menschen aufnimmt, sie respektiert, ihre
kulturellen Eigenheiten beachtet, sie integriert, dann verändert auch sie sich. Von der Mehrheitskultur
ist Respekt und Veränderungsbereitschaft gefordert, von der Minderheitskultur, den Muslimen und
ihren Organisationen, ist die freiheitlich-demokratische Grundordnung der Bundesrepublik vorbehaltlos
zu bejahen. Falls die Minderheitskultur ethnische und kulturelle Identität anstrebt, muss sie sich
allerdings abgrenzen.
(27) Zu Kleiderkult des neuen islamischen Fundamentalismus: Schleier, Scham vor Blicken, Schamtrachten also wie Priester-, Mönchs- und Nonnentrachten, sind in ganz Europa und Asien bekannt.
Wandel und Kontinuität des Schleiertragens ist ersichtlich in Trachtenbüchern. Der durchsichtige
Schleier, wie ihn Oberschichtfrauen (in Iran z.B.) tragen, ist eine „neckische Parodie“ der Vorstellung
von Ehrenhaftigkeit. Auch die europäische Mode lässt solche Deutungen der Hutmode der ersten
Hälfte des 20 Jahrhunderts zu.
Literatur:
Georges Bataille: Der heilige Eros (L` Erotisme) Ullstein Verlag 1974
Elisabeth Beck-Gerusheim: Wir und die anderen. Vom Blick der Deutschen auf Migranten und
Minderheiten, Ffm 2004.
Silvia Bovenschen (Hg.): Die Listen der Mode, Ffm 1986
Mechthild Curtius/W.D. Hund: Mode und Gesellschaft. Zur Strategie der Konsumindustrie (Modell für
den politischen und sozialwissenschaftlichen Unterricht 12), Köln 1975
Eva Demski: Textilekel. In: Ekel und Allergie. Kursbuch Heft 129, Berlin 1997
Hans Magnus Enzensberger: Klamotten-Theater: Ein Nekrolog auf die Mode. In dgl. Zickzack,
Frankfurt 1997
Elke Gaugele: Schurz und Schürze. Kleidung als Medium der Geschlechterkonstruktion. Böhlau
Verlag 2002
Hans Griffhorn: Modeverhalten, Ästhetische Normen und politidsche Erziehung, Köln 1974
Marion Grob: Das Kleidungsverhalten jugendlicher Protestgruppen in Deutschland im 20. Jahrhundert.
Münster 1985
Hans Nicklas: Kulturkonflikt und interkulturelles Lernen. In: Alexander Thomas (Hrsg.) Kulturstandards
in der internationalen Begegnung. Verlag breitenbach 1991
Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis
Freud. Ffm 1992
Hanne Loreck: „Whoso doth the breeches wear lives a life as free as air“. In: Frauen Kunst
Wissenschaft, Heft 17, 5/1994, S. 85-88
Charlotte Seeling (Hg.): Mode, das Jahrhundert der Designer 1900-1999, Könemann 1999
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Dialog – ein europäisches Kulturgut
Georg Simmel: Exkurs über die Psychologie des Schmuckes. In: dgl.: Schriften zur Soziologie, hrsg.
von H.J. Dahme/O: Rammstedt, Ffm 1983, S. 159-166
Katarina Sykora: Vom Korsett zum Body-Shaping – Von den Bloomers zu den Jeans. Zum Verhältnis
von Mode und Emanzipation. In: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 17, 5/1994, S. 30-41
Erika Thiel: Geschichte des Kostüms. Berlin 1980
Barbara Vinken: Mode nach der Mode. Kleid und Geist am Ende des 20. Jahrhunderts. Frankfurt 1993
Barbara Vinken: Dekonstruktive Mode. In: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 17, 5/1994, S. 10-14
Ingeborg Weber-Kellermann: Die Kindheit, Kleidung und Wohnen, Arbeit und Spiel. Eine
Kulturgeschichte. Ffm 1979
Gundula Wolter: Hosen, weiblich – eine Untersuchung zum Prozess der Adaption des in westlichen
Kulturen traditionell männlichen Kleidungsstücks durch Frauen in der Zeit 1789 bis 1918, Diss. Berlin
1993
Gundula Wolter: Geschlechtliche Prahlsucht des Mannes zu Beginn der Neuzeit. Ein Beitrag über das
Phänomen Schamkapsel als Zeichen männlicher Selbstmanifestation. In: Frauen Kunst Wissenschaft,
Heft 17, 5/1994, 23-29
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