Nevin Aladag - Wentrup Gallery
Transcription
Nevin Aladag - Wentrup Gallery
fokus focus Nevin Aladag̃ Das Geräusch der Stadt und spontane Aneignungen Sounds of City and Spontaneous Occupations Kito Nedo In seinem 1984 entstandenen und 1987 in deutscher Übersetzung erschienenen Büchlein Der Walkman-Effekt berichtet Shuhei Hosokawa über die kulturpessimistische Empörung, die den Siegeszug des Walkmans Anfang der 1980er Jahre in den westlichen Kulturen begleitete. Eine große französische Wochenzeitung etwa stellte folgende Fragen: „Sind Walkman-Hörer Menschen? Verlieren sie den Kontakt zur Realität?“ Diese Rhetorik verfehlte freilich den Kern der Sache. Für Hosokawa war der Walkman nicht bedrohlich, sondern der Startschuss für die Achtzigerjahre, eine zeitgeistige Autonomiemaschine für das durch die Stadt laufende Ich: „Über den Walkman nachzudenken, heißt, über das Urbane zu reflektieren: der Walkman als urbane Strategie, als urbane Klang-Musik-Vorrichtung.“ Auch Nevin Aladag̃ bedient sich des Walkman-Effekts, um autonome urbane Subjekte zu zeigen – allerdings in einer doppelbödigen Inszenierung. Für ihr Video Raise the Roof (Hebt das Dach, 2007) – das sich auf die gleichnamige Performance bezieht – lässt Aladag̃ vier stumme Tänzerinnen auf dem Dach eines Berliner Industriebaus aufmarschieren. Dort tanzen sie zu lautloser Musik aus ihren Kopfhörern, während die Absätze ihrer High Heels Löcher in die Teerpappe des Flachdachs stanzen. Wie sie sich da an einem Sommertag über den Dächern der Stadt scheinbar selbstvergessen bewegen, sehen sie etwas deplatziert aus. Aladag̃ zitiert jene zum Standard geronnene Werbeagentur-Erzählung, in welcher zumeist junge Menschen ausgedachte, spontan-verrückte Dinge tun. Doch bei ihr sind diese autonomen Subjekte längst ins Abseits geraten. Die Stadt unter ihnen nimmt keine Notiz und macht unbeeindruckt weiter. Was nützt das „heimliche Theater“ des Walkman-Hörens und -Tanzens, wenn es kein Publikum mehr hat? Anders – beinahe gegenteilig – verhält es sich mit den Laien-Tänzern, mit denen Aladag̃ für ihre Performanceserie „Occupation“ (Besetzung) seit 2009 arbeitet. Auf Eröffnungen beginnen sich plötzlich erst vereinzelte, dann immer mehr unverdächtig aussehende Zuschauer rhythmisch zu bewegen und zu tanzen. Manchmal funktioniert die Übertragung, und dann beginnen auch die Nichteingeweihten zu tanzen. „Occupation“ fand erstmals im Januar 2009 anlässlich eines Künstlerabends in der Temporären Kunsthalle Berlin mit 40 vorab instruierten Beteiligten statt. Die Performance, die später in veränderter Form an anderen Orten durchgeführt wurde, könnte man, anders als es der Titel suggeriert, weniger als Besetzung und vielmehr als elegante Unterwanderung mittels unerwarteter Bewegung bezeichnen. Denn das Gefühl der Überrumpelung mischt sich mit amüsiertem Staunen. Plötzlich wird ein eingeübtes soziales Ritual wie eine Vernissage durch irrationales Gruppenverhalten herausgefordert. Im Grunde fragt „Occupation“ nach dem Potential, das einer Ansammlung von Leuten innewohnt: Inwiefern könnte es sich hier um das Rohmaterial für eine ausgelassene Feier handeln? Vom befreienden Potential des Tanzes handelte auch schon Familie Tezcan (2001), eine frühe Videoarbeit Aladag̃s, die kurz nach dem Abschluss ihres Bildhauerei-Studiums an der Akademie der Bildenden Künste München entstand. In dem annähernd siebenminütigen Video wird eine deutschtürkische Familie gezeigt, die Breakdance tanzt und dazu auf Türkisch, Arabisch, Spanisch und Englisch Volksweisen oder diverse Popsongs singt. Der hybride Charakter zeitgenössischer Kultur wird als dynamischer und komplexer Prozess der Aneignung verschiedener Traditionen sichtbar. Mögen einige dieser Lieder noch als Diaspora-Referenz interpretierbar sein und die Breakdance-Bewegungen der Protagonisten zumindest teilweise auf ihren Ursprung in einer entwurzelten afro-amerikanischen Subkultur zurückzuführen sein, so verwischt die vermeintliche Eindeutigkeit der Zeichen am Ende im globalen Raum der Popkultur. Das Leben als ein Patchwork der Referenzen – diese Idee vermittelte auch die Ausstellung mit ausschließlich textilen Arbeiten in der Berliner Galerie Wentrup im vergangenen Winter. Für „Pattern Matching“ (Passende Muster, 2010) zerschnitt Aladag̃ Teppiche unterschiedlicher Herkunft und Qualität, um sie anschließend zu Collagen zusammenzufügen, die sich am Muster aus Kreisen, Linien und Zonen amerikanischer Basketballfelder orientierten. Vor dem Auge des Betrachters verschmelzen zwei verschiedene kulturelle Signaturen und formen am Ende ein Drittes. Vielleicht lässt sich ein wichtiger Aspekt im Werk von Aladag̃ als Untersuchung verschiedener kultureller Praktiken beschreiben. Etwa: Welche Spuren hinterlässt der Tanz? Wie viele Tänzer braucht es, um einen Saal zum Feiern zu bringen? Wo verläuft in der Stadt die Grenze zwischen Musik und Lärm? Um letzteres herauszufinden lässt Aladag̃ in City Language I (Stadtsprache I, 2009), dem ersten Teil einer gleichnamigen Video-Trilogie, in der Tradition von Fluxus-Experimenten die Stadt selbst Instrumente „spielen“: Auf einem in vier Segmente unterteilten SplitScreen sieht man einen Arm zwei 100 | frieze d/e | Herbst Autumn 2011 100_101_Focus_Aladag.indd 100 8/6/11 12:28 PM fokus focus Von links nach rechts From left to right: Raise the Roof Hebt das Dach 2007 Standbild Video still Pattern Matching Grey Beige Passende Muster Grau Beige 2010 Teppichteile Carpet pieces 150×256 cm City Language III Stadtsprache III 2009 Video loop Courtesy: Wentrup Gallery & die Künstlerin / the artist Familie Tezcan Tezcan family 2001 Standbild Video still verschiedene Flöten hintereinander so aus einem fahrenden Auto halten, dass der Fahrtwind ihnen Töne entlockt. Daneben picken Tauben auf einer mit Körnern bestreuten Bag̃lama, einem türkischen Zupfinstrument, herum und ein Tamburin wird mittels Motorboot über eine Wasseroberfläche gezogen. Auf dem vierten Segment rasseln Klanghölzer abschüssige Treppen und Straßen hinunter. Anscheinend kommt hier die Stadt endlich einmal zu ihrem eigenen Recht. Obwohl: Die Entstehung von Geräuschen und Musik im urbanen Raum verweist nicht nur auf diesen selbst, sondern auch auf das Soziale. Wo es laut wird, leben Menschen. In his 1984 essay ‘The Walkman Effect’, Shuhei Hosokawa describes the cultural pessimism that accompanied the Walkman’s conquest of the Western world in the 1980s. One French weekly asked: ‘Are Walkman listeners human? Are they losing contact with reality?’ But such rhetoric was missing the point. Instead of seeing a threat, Hosokawa saw the Walkman as a harbinger of the 1980s zeitgeist, an autonomy machine for the individual moving through the city: ‘To think about [the Walkman effect] is to reflect on the urban itself.’ Nevin Aladag̃, too, uses the Walkman effect to present autonomous urban subjects, albeit in an ambiguous light. Her video Raise the Roof (2007) – which refers to the performance of the same name – features four women dancing on top of an industrial building in Berlin to music heard only on their headphones while their stiletto heels punch holes in the roofing. Moving high above the city on a summer day, they look slightly out of place. The scene quotes the now standard advertising narrative of (young) people doing contrived crazy things to promote some product. But in Aladag̃’s version, these autonomous subjects have long since been sidelined for the city below them takes no notice. What good is the ‘secret theatre’ of listening and dancing to a Walkman when there is no longer an audience? Very different conditions apply for the non-professional dancers who perform in Aladag̃’s ‘Occupation’ series (2009–ongoing). At exhibition openings, innocent-looking members of the audience – isolated individuals at first and then more of them – begin to sway and dance. Sometimes their movements are infectious, and even those not in the know also begin to dance. ‘Occupation’ first took place in January 2009 at Berlin’s Temporäre Kunsthalle with 40 dancers briefed in advance. The performance, later repeated elsewhere in modified form, is actually best described, not as an occupation, but as an elegant infiltration of unexpected movement. The feeling of being caught unawares is mixed with amused astonishment. Suddenly, a wellrehearsed social ritual like a private view is challenged by irrational group behaviour. ‘Occupation’ addresses the potential inherent in a gathering: to what extent might these people be the raw material for a wild party? The liberating power of dance is also the subject of Familie Tezcan (Tezcan family, 2001), a video work Aladag̃ made after graduating in sculpture from Munich’s Academy of Fine Arts. The seven-minute film shows a German-Turkish family breakdancing and singing folk tunes and pop songs in Turkish, Arabic, Spanish and English. The hybrid character of contemporary culture is revealed as a dynamic and complex process of appropriating very different traditions. Although some songs can be interpreted as references to the Turkish diaspora, and although the breakdance moves are partially traceable in to an uprooted AfroAmerican subculture, ultimately, the supposed semiotic clarity of these elements becomes blurred in the global space of pop culture. This idea of life as a patchwork of references was also conveyed by a show consisting entirely of textile works at Galerie Wentrup in Berlin last winter. For ‘Pattern Matching’ (2010), Aladag̃ cut up oriental carpets of varying provenance and quality, reassembling the pieces into collages based on the pattern of circles, lines and zones on basketball courts. Before the viewer’s eyes, two different cultural signatures merge to form a third. Aladag̃’s work might be described as an inquiry into cultural practices. What traces does dancing leave? How many dancers does it take to trigger a party? In the city, where is the line between music and noise? This last question is explored in City Language I (2009), the first part of a video trilogy. In the tradition of Fluxus experiments, Aladag̃ has the city itself ‘play’ various instruments: on a split screen with four segments, we see an arm holding first one and then a second flute out the window of a moving car in such a way that the flow of air produces sounds. Next to these images, pigeons peck away at a grain-strewn bag̃lama, a Turkish string instrument, and a tambourine is dragged across the water behind a motor boat. In the fourth segment, claves clatter down stairways and sloping streets. It seems as if the city were coming into its own here at last. But the creation of sound and music in urban space points not only to this space itself, but also to the social. Where there is noise, there are people. Translated by Nicholas Grindell Herbst Autumn 2011 | frieze d/e | 101 100_101_Focus_Aladag.indd 101 8/6/11 12:29 PM