Wenn Millionen zuschauen | pdf

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Wenn Millionen zuschauen
Sendeingenieur Jochen Groß ist verantwortlich für die Ausstrahlung des Ersten
Technischer Durchblick ist
lediglich die Grundvoraussetzung. Wer im ARDSendezentrum »Das Erste«
arbeitet, muss weitaus mehr
Eigenschaften bieten können. »Du musst von null auf
hundert bereit sein, in Millisekunden schalten und dabei ganz gelassen bleiben«,
beschreibt Jochen Groß seine Arbeit bei den
ARD-Sternpunkten auf dem HR-Gelände in
Frankfurt. Und er wird sich dabei auch nicht
»verschalten«, denn zu seiner inneren Ruhe
gesellt sich ein perfektes Reaktionsvermögen,
welches verhindert, dass Millionen Zuschauer
vor einem schwarzen Bildschirm sitzen. Denn
Das Erste ist kein Computerprogramm, das automatisch die Vorgaben der Programmplaner in
München ausführt. Die technische Umsetzung
geschieht erst im Sendezentrum. 24 Stunden
am Tag, sieben Tage in der Woche kümmern
sich Jochen Groß und seine Kollegen darum,
dass das »Morgenmagazin« wöchentlich im
Wechsel von ARD oder ZDF gesendet wird,
dass täglich Spielfilme, Serien, Ratgeber und
Quizshows aus allen Landesrundfunkanstalten
von der live gesendeten »Tagesschau« aus Hamburg abgelöst werden oder dass in perfekt abgestimmten Regionalfenstern des Vorabendprogramms die passende Werbung läuft. Wenn
dann die Schalte zu einem »Brennpunkt« oder
einem Fußball-WM-Spiel der deutschen Elf
nach Südafrika geht, zählen das Know-how und
die Erfahrung doppelt bis dreifach.
_ Ein Mann, drei Aufgaben
Jochen Gr0ß steuert aber nicht nur das »Raumschiff Enterprise«, so nennen die Betriebsingenieure respektvoll die zentrale Sendeabwicklung. Hier laufen unzählige Signale zusammen:
Sendefertige Produktionen in HD- und in
herkömmlicher Qualität sind zu sehen, Trailer
und Werbefilme (die oft kurzfristig noch nachgeschnitten werden müssen), hochkomplexe
Grafiken und Kurven zur Überwachung der
Audio- und Videosignale und natürlich der
Sendeplan. Dazwischen stehen Pulte mit un-
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Jochen Groß löst Fritz Henri Viala in der
Sendeabwicklung von der Frühschicht ab.
zähligen Reglern, Schaltern und Dioden sowie
etliche PC-Monitore und Bandgeräte. In der
Regel kontrolliert das alles ein einziger Betriebsingenieur.
Aber gerade weil in der Sendeabwicklung alles hochkomplex ist und sich jeder Mitarbeiter
auf den anderen verlassen muss, übernehmen
die Sendeingenieure vielfältige Aufgaben. So
ist gewährleistet, dass im Ernstfall jeder weiß,
was zu tun ist. Zusätzlich zum Dienst in der
Sendeabwicklung geht Jochen Groß volle Tage
in den so genannten Ingest-Bereich – hier werden die Produktionen der Rundfunkanstalten
für die Sendeabwicklung vorbereitet –, oder
er ist für die deutsche Schaltstelle der EBU/
UER (European Broadcasting Union/Union
der Europäischen Rundfunkorganisationen)
eingeplant. Sie dient als CNCT (Centre National de Coordination Technique) vorrangig dem
internationalen Nachrichtenaustausch und der
Abwicklung von Großevents wie dem »Eurovision Song Contest« oder internationalen Sportereignissen. Neben dem Sendezentrum ist sie
einer von insgesamt vier Bereichen der ARDSternpunkte. Zu den beiden anderen zählen
der ARD-Hörfunksternpunkt sowie die ARDKommunikationsnetze.
_ Der Ingest-Bereich
Bevor die Produktionen der Landesrundfunkanstalten nach den Vorgaben der Programm-
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planung im Ersten zusammengefügt werden,
müssen sie zunächst den Ingest-Bereich durchlaufen. Die Materiallogistik kümmert sich darum, dass die »Sesamstraße« oder der »Tatort«
möglichst zwei Wochen vor Sendung in Frankfurt auf Band, Datenträger oder als File vorliegen. In zunehmendem Maße wird der VideoFiletransfer eingesetzt, also die Möglichkeit,
Sendematerial entgegenzunehmen, ohne dass
physikalische Träger wie Bänder oder Disks verwendet werden. Dann spielt Groß die Produktionen auf die Server und schneidet sie vorne
und hinten passend zu den ARD-Trailern. Letztere ändern sich ständig im Tagesverlauf, so dass
bereits im Ingest-Bereich der Sendeplan immer
im Auge behalten werden muss.
Wird im Vorabendprogramm spontan mehr
Werbung verkauft, muss sofort eine leicht gekürzte Fassung vom »Duell« oder »Quiz« neu
eingespielt werden. Und wenn der Kollege im
Sendezentrum eine Störung feststellt, obliegt es
dem Ingester, das richtige Originalband kurzerhand einzulegen. Zudem kennt er die Havariepläne, die beim Ausfall von Sportevents oder
Live-Veranstaltungen passende Filme vorgeben.
_ Die zentrale Sendeabwicklung
In der Regel verläuft der Tag nach Sendeplan.
Jochen Groß überprüft noch einmal, ob bei
der Übertragung auf die Play-Out-Server keine
Daten verloren gegangen sind. Über eine Vorschau checkt er Länge, Anfang, Ende, Ton,
Format, VPS-Signal, Videotext-Untertitel und
Logo jeder bereitgestellten Sendung. Bei LiveSendungen kommuniziert er direkt mit der
betreffenden Anstalt, fordert Farbbalken und
Messton an und kontrolliert die Pegel. Dann
Im Ingest-Bereich muss oft Sekunden
vor Sendung noch geschnitten werden.
Die UER-Schaltstelle: Nachrichten aus aller
Welt werden von hier an ihr Ziel gesteuert.
wird runtergezählt und in der entscheidenden
Sekunde rübergeschaltet. Geschickt angepasste
Blenden gewähren dem Zuschauer dabei angenehme Übergänge. »Teilweise erkenne ich
daheim an der Art der Blende, welcher Kollege
gerade im Sendezentrum sitzt.« Denn trotz des
festen Sendeplans haben Groß und seine Kollegen ihren kleinen kreativen Spielraum, wenn
sich Trailer mit Filmen und Serien abwechseln.
Früher war dieser Spielraum ein wenig
größer, als Das Erste noch dezentral von den
neun Landesrundfunkanstalten zusammengebaut wurde. Da musste mehr geblendet werden, wenn für einen Trailer nach Saarbrücken
geschaltet wurde, dann nach Hamburg zur
»Tagesschau«, schließlich zum »Tatort« nach
Frankfurt, Leipzig oder München. Die zentrale
Sendeabwicklung in Frankfurt hat für die ARD
wirtschaftliche Relevanz und ist zudem deutlich weniger fehleranfällig. Groß selbst hatte
nur eine wesentliche Störung in den letzten
sieben Jahren beheben müssen. »Nachts gab
es in einem Batteriepuffer einen Kurzschluss,
mehrere Server fielen aus – minutenlang alles
schwarz!« Das »Nachtmagazin« endete ohne
Wettervorhersage, aber den nachfolgenden
Film konnte Groß rechtzeitig vom Band senden, wenn zunächst auch ohne VPS-Signal und
Logo. »Und einmal durchtrennte ein Bagger die
Stromzufuhr ins Weserstadion. Statt Werder gegen Schalke lief dann erst mal Vicky Leandros.«
_ Die UER-Schaltstelle/CNCT-Frankfurt
Im Gegensatz zur Sendeabwicklung für Das
Erste arbeitet Groß hier auf Abruf. Die ARDinternen sowie die internationalen Konferenzschaltungen werden permanent selektiv abge-
Reihe Medienmenschen ARD-JAHRBUCH 10
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Lena Meyer-Landrut erreicht den ersten Platz
beim »Eurovision Song Contest in Oslo«.
hört. Die Landesrundfunkanstalten bestellen
über das ARD-Leitungsbüro beim EBU-Hauptsitz in Genf ihre Sendeleitungen, die sie für Eurovisions-Sendungen, interne Korrespondenzen
oder Materialaustausch benötigen. Dann muss
alles ganz schnell gehen, wenn beispielsweise
das unzensierte Bild eines Bombenanschlags in
Bagdad für die »Tagesthemen« lieferbereit ist.
Groß richtet dann die entsprechenden Satelliten-Up- und -Downlinks ein oder nutzt die
Kapazitäten im Glasfasernetz der Eurovision.
Einmal im Jahr werden die Möglichkeiten
dieses Hochleistungsnetzes voll ausgenutzt,
wenn die ARD-Sternpunkte gemeinsam mit
den weiteren 75 aktiven EBU-Rundfunkanstalten den »Eurovision Song Contest« und Sieger wie Lena Meyer-Landrut in die Wohnzimmer von Aserbaidschan bis Zypern bringen.
_ »Ich wollte ursprünglich zum Film«
Mit einer soliden Ausbildung als Energieanlagenelektroniker hat Jochen Groß das Berufsleben dann Ende der 90er gezielt »hinter« die
Kameras geführt. Als Student der Fernsehtechnik hat er beim HR Features, Beiträge und
Korrespondentenberichte für die Übertragung
im Hörfunk vorbereitet, wenig später fuhr er als
tontechnischer Assistent hinaus mit dem Ü-Wa-
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Die ARD-Sternpunkte in Frankfurt sind unverzichtbar für die größte Live-Sendung Europas.
gen zu wichtigen Fußballspielen. So ziemlich
alle rundfunktechnischen Stationen hat er dann
beim HR durchlaufen. Er war in der HauptMAZ und in der Kamerakontrolle – um 2003
schließlich fit zu sein für die ARD-Sternpunkte,
das technische Herz-Kreislauf-System der ARD.
»Wir operieren hier permanent am offenen
Herzen und natürlich ohne Betäubung«, antwortet Groß, wenn man ihn nach der sendetechnischen Entwicklung fragt. Damit die ARD
ganz vorne dabeibleibt, werden ständig Hardware- und Software-Komponenten ausgetauscht
– bei laufendem Betrieb. Als die Sendeabwicklung in Frankfurt zentral gebündelt wurde, arbeitete die Crew sogar unter Baufolien, um das
Equipment vor Staub zu schützen. Später kam
die Umrüstung auf Digitalfernsehen und das
Bildformat 16 : 9, 2009 dann HDTV. Nun folgt
die Umstellung auf eine völlig bandlose Zulieferung der TV-Produktionen aus den Landesrundfunkanstalten.
»Ein bisschen fühlt man sich wie ein Fluglotse bei all der Verantwortung – mit dem beruhigenden Vorteil, dass durch uns niemand
verletzt werden kann.« Und bisher hat Groß
die »Enterprise« auch immer sicher ans Ziel gebracht.
adrian haus
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