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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN Hausmitteilung 15. Mai 2006 Betr.: Hauptstadtbüro, Nehm-Gespräch D MARCO-URBAN.DE MARC DARCHINGER MARCO-URBAN.DE eutschland war geteilt, bis zum Bau der Mauer sollte es noch neun Jahre dauern – da formulierte SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein 1952 einen Satz, der sich als Vision erweisen sollte: „Berlin ist die Welt für ein Blatt, wie es der SPIEGEL sein will.“ Augsteins Worte wurden Wirklichkeit: Als Berlin Hauptstadt wurde, zog das Bonner Hauptstadtbüro nicht nur mit um – es verdoppelte sein Personal. Doch in den bisherigen Räumen an der Friedrichstraße wurde es für die 32 Redakteure allmählich zu eng, sie arbeiten nun am geschichtsträchtigen Pariser Platz, mit Blick auf das Brandenburger Tor. Zur Eröffnung des Büros kamen am vorigen Montag rund 500 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Kanzlerin Angela Merkel und Vize Franz Steingart, Aust, Beck Müntefering waren dabei, der designierte SPDChef Kurt Beck und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, Bildungsministerin Annette Schavan, die grüne Fraktionschefin Renate Künast und DGB-Chef Michael Sommer, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche Bischof Wolfgang Huber und der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der Chef des Sachverständigenrates Bert Rürup und der Schauspieler Ulrich Mühe. „Der JourMüntefering, Schavan nalist kann Freund eines Politikers auf Dauer nicht sein“, zitierte SPIEGEL-Chefredakteur Stefan Aust, 59, zur Begrüßung den verstorbenen SPIEGEL-Gründer, aber er relativierte das Bonmot sogleich: „Fühlen Sie sich heute Abend unter Freunden. Morgen wird es wieder ernst.“ Gabor Steingart, 43, Leiter des Hauptstadtbüros, berichtete von der mühsamen Suche nach geeigneten Büroräumen, sie habe „durchaus an die kleinen Schritte der Großen KoaliSteingart, Merkel, Aust, Rürup tion“ erinnert. Heiner Schimmöller, 56, Leiter des Deutschland-Ressorts, wies auf die Ähnlichkeiten zwischen der Hamburger SPIEGEL-Zentrale und dem neuen Berliner Büro hin. Die roten und orangen Farbtöne seien eine Reminiszenz an den Architekten Verner Panton, der 1969 das Hamburger SPIEGEL-Hochhaus Stockwerk für Stockwerk stylte „und damit für eine architektonische Sensation sorgte“. S eit Jahren hat Generalbundesanwalt Kay Nehm, 65, kein Interview mehr gegeben. Das lag an einem Zerwürfnis mit der damaligen Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin: Die Sozialdemokratin hatte ihm nach einer missliebigen Äußerung kurzerhand ausrichten lassen, er möge ihr alle Interviews bitte schön zur Genehmigung vorlegen. Nehm reagierte mit stillem Protest und gab fortan keine mehr. Dass der faktische Maulkorb ihm sehr geschadet hat, ließ Nehm jetzt in einem SPIEGELGespräch mit den Redakteuren Dietmar Hipp, 37, und Holger Stark, 35, erkennen, gern hätte er sich gelegentlich zu seiner Arbeit erklärt. Aber die Ministerin wurde abgelöst, und die Zeiten änderten sich: Jetzt, zum Ende seiner Amtszeit, nahm Nehm zum ersten Mal seit Jahren umfassend Stellung zu seinen Ermittlungen gegen Rechtsextremisten und al-Qaida und sprach über sein schwieriges Verhältnis zur Politik (Seite 58). Im Internet: www.spiegel.de d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 7 InIndiesem diesemHeft Heft Titel Nachwachsende Nervenzellen – Forscher entdecken einen Jungbrunnen im Gehirn ............ 164 Interview mit dem Nobelpreisträger Eric Kandel über Gedächtnistraining und die Pille gegen das Vergessen ............................... 172 Union: Ende der Harmonie Seite 26 LAURENCE CHAPERON Deutschland Merkel, CDU-Länderchefs Aus für die Birthler-Behörde? Die Aufarbeitung der Stasi-Akten steht vor einer Zäsur: Die Akten des DDR-Geheimdienstes, so der Vorschlag einer Expertenkommission, sollen ins Bundesarchiv. Außerdem wird laut Gesetz ab Ende 2006 niemand mehr auf StasiVergangenheit überprüft. Doch Behördenchefin Marianne Birthler wehrt sich: Es drohe ein später Erfolg der Stasi-Offiziere. Seite 40 SILKE REENTS / VISUM Panorama: Bundesrechnungshof rügt den Deal um Postpensionen / Lafontaines Programm für die Linkspartei / Verletzungen durch Fußballschuhe ......................... 21 Union: Die Kritik an der Amtsführung von Bundeskanzlerin Angela Merkel wächst ......... 26 Interview mit dem saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller über das Profil der Union .............................................. 28 SPD-Generalsekretär Hubertus Heil über den rauer werdenden Ton zwischen den Koalitionspartnern .......................... 29 Reformen: Trotz breiten Widerstands sollen die EU-Richtlinien gegen Diskriminierung Gesetz werden ............................ 30 Sozialdemokratie: Der neue Vorsitzende Kurt Beck enttäuscht die Parteilinken ................... 36 Grüne: Interview mit Jürgen Trittin über die USA-Politik der Bundesregierung ................... 38 Stasi: Die Schlussstrich-Debatte um die Birthler-Behörde und die Karrieren ehemaliger Spitzel ................................................. 40 Kindesraub: Wie eine deutsche Mutter in der arabischen Welt nach ihren entführten Kindern sucht .................... 44 Außenpolitik: Interview mit der Regierungsbeauftragten Gesine Schwan über den Umgang mit der neuen populistischen Regierung in Warschau .................. 50 Sicherheitspolitik: Verteidigungsminister Franz Josef Jung plant neue Aufgaben für die Bundeswehr und provoziert die SPD ......... 52 Justiz: Experten warnen vor der geplanten Gesetzgebungshoheit der Länder für den Strafvollzug .............................................. 56 Innere Sicherheit: SPIEGEL-Gespräch mit Generalbundesanwalt Kay Nehm über den Anti-Terror-Kampf und die Blockadepolitik der US-Geheimdienste .......................................... 58 Kommunen: Für die hochfliegenden Pläne der europäischen Kulturhauptstadt Essen fehlt das Geld ........................................................ 64 Fankultur: Frust beim traditionsreichen Arbeiterfußballverein TSV 1860 München über den unrühmlichen Niedergang .............................. 66 Die Harmonie in der Union zerbricht: Nach Angela Merkels Verabredungen mit der SPD über Elterngeld und Gleichbehandlungsgesetz zeigen die ehrgeizigen CDULandesfürsten der Kanzlerin die Grenzen auf. Als Hüter der christdemokratischen Lehre wollen sie bei der Basis punkten. Die steht einstweilen noch hinter der populären Regierungschefin. Doch es rumort auch in der Unions-Bundestagsfraktion. Stasi-Akten (in der Birthler-Behörde) Die Methoden des Carsten Maschmeyer Seite 116 Klagende Kunden und Börsenaufseher, die ermitteln – Carsten Maschmeyer, Gründer und Großaktionär des Finanzdienstleisters AWD, hat eine Menge Ärger. Aber auch viel Geld und einen prominenten Freund: Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Gesellschaft Lust für die Welt Medien Trends: Druck auf Bertelsmann wächst / „Berliner Zeitung“ sucht Chefredakteur ............... 82 Fernsehen: TV-Reporterin Kathrin Sänger über den Sechsteiler „S.O.S. Schule – Hilferuf aus dem Klassenzimmer“ ........................ 84 Vorschau / Rückblick .............................................. 86 Stars: Olli Dittrich – Zwischenbilanz einer deutschen Karriere ............. 88 Geheimdienste: Wie der BND Journalisten bespitzelte ......................................... 92 10 Seite 74 SUSANNA RESCIO / BILDERBERG Szene: Londoner Club für strickende Nichtraucher / Bildband über den New Yorker Vergnügungspark Coney Island ............................. 71 Eine Meldung und ihre Geschichte ........................ 72 Sexualität: Wie das US-Unternehmen Palatin eine Lustdroge für Frauen entwickelt .................... 74 Ortstermin: Der Berliner Bezirk Neukölln veranstaltet Einbürgerungszeremonien .................. 81 Eine US-amerikanische Firma glaubt ein Mittel gefunden zu haben, das sexuelle Lust weckt. Es soll als Nasenspray auf den Markt kommen, und vor allem Frauen sollen es kaufen. Sex jederzeit und für alle – die Lust-Formel könnte, acht Jahre nach Viagra, die nächste sexuelle Revolution einläuten. Liebespaar d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Wirtschaft Trends: Bahn drängt ins Containergeschäft / Verhaltenskodex für Telekom-Mitarbeiter / IBM droht mit Streichung des Urlaubsgelds .......... 95 Geld: Turbulenter Börsengang von Air Berlin / Steinbrück setzt auf Immobilienfonds ................... 97 Konzerne: Der Milliardenauftrag für den Polizeifunk der Zukunft ist hart umkämpft .... 98 Autoindustrie: BMW fährt allen davon .............. 102 Gewerkschaften: DGB-Vizechefin Engelen-Kefer gibt nicht auf ................................ 113 Energie: Hessens Wirtschaftsminister will Stromkonzerne zu niedrigen Preisen zwingen ..... 114 Unternehmer: Finanzdienstleister Carsten Maschmeyer hat Ärger – mit Kunden und der Börsenaufsicht .................... 116 Ausland RON EDMONDS / AP Präsident Bush, General Hayden Big Brother in den USA Seite 124 Unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ hat der Geheimdienst NSA Milliarden Telefondaten archiviert. Selbst treue Bush-Anhänger zweifeln jetzt am Präsidenten und an dessen Plan, Ex-NSA-Direktor Hayden zum CIA-Chef zu machen. Verschollen in Riad Seite 44 Seit Monaten sucht die Deutsche Claudia Rajah quer durch die arabische Welt nach ihren beiden Söhnen, die ihr tunesischer Mann entführt hat. Nun sollen Rajahs Kinder in Saudi-Arabien sein – dort können ihr deutsche Fahnder und Diplomaten kaum helfen. Panorama: Brief an Bush erzürnt Irans Konservative / Freizeitspione sollen Londoner Polizei helfen / Norwegischer Friedensschlichter in Nepal .................................. 121 USA: Lauschangriff auf Amerika ......................... 124 Frankreich: Götterdämmerung im Elysée ........... 128 China: Interview mit dem Hongkonger Kardinal Joseph Zen über die Beziehungen zwischen Peking und dem Vatikan ...................... 130 Zypern: Warum sich eine Türkin um einen Sitz im Parlament des griechischen Inselteils bemüht ... 132 Serbien und Montenegro: Sezession an der Adria? ........................................................... 134 Belgien: Konkurrenz für die jüdischen Diamantenhändler von Antwerpen ..................... 136 Global Village: Ein junger Ägypter drängt auf den internationalen Müllmarkt ............................ 140 Sport Fußball: Miroslav Klose – der unscheinbare Star ist Deutschlands Angriffshoffnung ....................... 142 WM-Gespräch mit dem spanischen Schriftsteller Javier Marías über Stilfragen auf dem Rasen, Fankultur und die Angst vor den Deutschen ....... 146 Rajah, Söhne Wissenschaft · Technik MICHAEL KAPPELER / DDP Die Armee der Roboter Seite 154 Auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg veranstaltet die Bundeswehr erstmals einen Roboter-Wettkampf. Die stählernen Soldaten müssen sich querfeldein durchschlagen oder ein Geisterdorf inspizieren. Zunächst sind die Maschinen fürs Minenräumen oder Bombenentschärfen vorgesehen. Aber später könnten Roboter sogar im Häuserkampf zum Einsatz kommen. Wachroboter „Asendro“ S. 184 AKG (L. + M.); BPK (R.) Erbe der Aufklärung Die Aufklärung, ein Erbe der großen europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, bleibt ein unvollendetes Projekt. Eine kritische Ausstellung in Paris präsentiert sie als ständig neu zu begründenden Auftrag für die Zukunft. Philosophen Rousseau, Voltaire, Kant d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Prisma: Mimik-Programm entlarvt Lügner / Bonsai-Gras soll das Rasenmähen ersparen ......... 151 Roboter: Die Bundeswehr testet elektronische Soldaten für den Häuserkampf ............................ 154 Verhaltensforschung: Haben Tiere Humor? .... 157 Automobile: Mercedes eröffnet das größte Automuseum der Welt ......................................... 160 Gesundheitskosten: Die Ausgaben für Arzneimittel steigen trotz Reformen .................... 163 Kultur Szene: Neuer Roman vom dänischen Erfolgsautor Peter Høeg / Claude Monet in der Stuttgarter Staatsgalerie ................................. 181 Philosophie: Die Aufklärung, Erbe für morgen ... 184 Film: Premiere des Bestsellers „Sakrileg“ beim Festival in Cannes ....................................... 190 Hauptstadt: Wer zahlt für die Sanierung der Berliner Staatsoper Unter den Linden? ............... 192 Tagebücher: Fernsehkomiker Hape Kerkeling über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg ........... 196 Bestseller ........................................................... 199 Kulturgeschichte: Leben Frauen, die schreiben, gefährlich? ........................................................... 202 Briefe .................................................................... 12 Impressum, Leserservice ................................ 204 Chronik ............................................................... 205 Register ............................................................. 206 Personalien ....................................................... 208 Hohlspiegel / Rückspiegel ............................... 210 Titelbild: Foto Jo van den Berg / Digitale Bildbearbeitung Jean-Pierre Kunkel für den SPIEGEL; Illustration DER SPIEGEL 11 Briefe men rigoros durchzusetzen. Stattdessen werden faule Kompromisse geschlossen, die die Probleme höchstens aufschieben, sie aber nicht lösen. Besteht der Auftrag eines Politikers denn nur darin, die nächste Wahl zu gewinnen? Oder dürfen wir die Hoffnung noch nicht aufgeben, dass zumindest demnächst versucht wird, unser Land zukunftsfähig zu machen? „Über das Thema haben Sie schon öfter geschrieben. Im Ernst: Gründen Sie eine Partei. Mich haben Sie schon als Wähler.“ Köln Solange Parteien, wie auch dieses Parteibündnis aus CDU und SPD, das eigene Wohl nach dem Motto „Wenn wir mehr machen, werden wir wider besseres Wissen nicht wiedergewählt“ dem Volkswohl entgegenstellt, wird es mit Deutschland mit 100-prozentiger Sicherheit weiter bergab gehen. Wären diese sogenannten Volksvertreter Vorstandsmitglieder einer deutschen AG, wären sie schon lange mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt worden. Mehr denn je gilt der Satz von Bertolt Brecht: Der Trog bleibt, nur die Schweine wechseln! Georg Berkes aus Gardessen in Niedersachsen zum Titel „Wieviel Steuern braucht der Staat? Die Große Koalition zur Verteilung nicht vorhandenen Geldes“ SPIEGEL-Titel 19/2006 Nr. 19/2006, Titel: Wieviel Steuern braucht der Staat? Die Große Koalition zur Verteilung nicht vorhandenen Geldes Endlich wurde einmal klar gesagt, was in den vergangenen Jahren falschgelaufen ist und leider immer noch falschläuft: Millionenbeträge werden von einem Staat geschluckt, der vor allem daran interessiert ist, sich selbst und weitere Ausgaben zu finanzieren, mit denen er versucht, das Leben seiner Bürger weitgehend zu regulieren – was nach allen Theorien und Erkenntnissen vergangener Jahre und aus anderen Ländern nicht möglich ist. Danke für diesen Artikel, vielleicht bewirkt er endlich ein Umdenken bei Politikern, aber auch Bürgern. Würzburg Konstantin Richter Wer ist denn die schöne Frau auf Eurer Titelseite, und wer sind die zwei schnieken Herren? Der Räuber Hotzenplotz wäre doch wohl passender gewesen … Winterbach (Rhld.-Pf.) Wallenhorst (Nieders.) Winfried Dietz Um eine niederbayerische Bundesstraßenkreuzung zu entschärfen, gab es zwei Mög12 Ahlen (Nrdrh.-Westf.) Abstimmung im Deutschen Bundestag Wie viel Staat braucht der Steuerzahler? nach acht Jahren, wird die Brücke gebaut. Wen wundert’s, bei Verschwendung auf Pump gegen den Willen der Bürger, wenn diese für Steuererhöhungen kein Verständnis aufbringen? Vilsbiburg (Bayern) Gisela Floegel Stadträtin Hanfried Schrot In unserem Rechtssystem fehlt mir der Straftatbestand der Enkelausbeuterei. Die Große Koalition hilft uns, das Lernen der notwendigen Lektionen noch ein paar Jahre weiter in die Zukunft zu verschieben. Schade, denn weiche Politik führt gegen harte Wände. Deutschland steht vor der Aufgabe, erstmals wirksame Reformen zu realisieren, ohne dabei auf den Trümmern selbsterzeugter Katastrophen zu stehen. Hier fehlt uns offensichtlich jede Erfahrung. Bochum Horst Schmitz Die Hindu-Glücksgöttin Lakshmi mit dem Konterfei Angela Merkels darzustellen ist schlimmer als Blasphemie. Robert Kordts Die Koalition der Unwilligen spiegelt ja letztlich nur den Bürgerwillen wider. Die Leute wollen eine „sozialdemokratisierte“ Politik, also bekommen sie eine. Und Sozialdemokraten konnten eben noch nie mit Geld umgehen. So einfach ist das. Kaufungen (Hessen) lichkeiten: ein 2,4 Millionen Euro teures Brückenbauwerk oder ein Kreisel für 200 000 Euro. Tausende Unterschriften, ein Stadtratsbeschluss, drei Petitionen an Bund und Land, Briefe an den Bundesrechnungshof und den Finanzminister sowie ein Gerichtsverfahren, um den steuersparenden Kreisel zu erreichen, waren vergebens. Die Oberste Baubehörde setzt sich sogar gegen den CSU-Landrat durch: Jetzt, AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS Weiche Politik, harte Wände Christian Wengeler Zum wiederholten Mal nennt der SPIEGEL die Missstände in unserem Land. Leider beweist keiner der Politiker genügend Rückgrat und versucht, die nötigen Refor- Horst H.Seifert Bin total begeistert von dem herrlichen Titelbild. Man ist gehalten, etwas länger hinzuschauen. Heidesheim (Rhld.-Pf.) Margot Bertrang Es liegt am System: Diejenigen, die es geschafft haben, an die Fleischtöpfe der materiellen Selbstbedienung beziehungsweise des bequemen Beamtenlebens zu kommen, haben überhaupt kein Interesse, durch Stress und Arbeit daran womöglich etwas zu ändern. Celle (Nieders.) Gunter Heidenreich Sie fragen: „Wieviel Steuern braucht der Staat?“ Die Frage ist falsch gestellt. Es muss heißen: Wie viel Staat braucht der Steuerzahler? Brauchen wir 614 Bundestagsabgeordnete? Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist der Meinung, dass 300 genügen. Brauchen wir 16 Bundesländer? 8 genügen! Die Industrie praktiziert schon seit vielen Jahren Lean Management und Lean Production. Wie wäre es denn ein- Vor 50 Jahren der spiegel vom 16. Mai 1956 Bundestag fordert Kassenrapport vom Finanzminister Dichtung und Wahrheit. Verleihung des Karlspreises an Winston Churchill Spargel und Pückler-Eis. Alter Bundespressechef soll wieder ins Amt Das Himmelfahrt-Kommando. Streit um Denkschrift zur Wehrpflicht „Mitunter etwas volkstümlich“. Debatte um Konfessionszugehörigkeit von Lehrern in Niedersachsen Erziehung im christlichen Geist. Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ vergriffen Rowohlt ist wütend. Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben. Titel: US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Briefe Prüm (Rhld.-Pf.) Hermann Mezger Mit Befremden habe ich Ihr aktuelles Titelbild sehen müssen. Für Ihren christlich geprägten Leserkreis sollten Sie zum besseren Verständnis vielleicht doch lieber auf ein Symbol des hiesigen Kulturkreises zurückgreifen. Wie wäre es mit der Heiligen Dreifaltigkeit? Oder befürchten Sie, religiöse Gefühle zu verletzen und Leser zu verlieren? Erlangen (Bayern) Chitta R. Saha Als Optimist habe ich niemals geträumt, dass die Chaotenregierung unter Schröder noch zu toppen wäre. Die bittere Wahrheit heute: Bis auf Steinmeier haben sich neue unfähige Selbstdarsteller (Seehofer, Glos, Gabriel, Müntefering etc.) die Klinke in die Hand gegeben. Kein Gesamtkonzept; nur faule Kompromisse, wo man hinschaut. Einigkeit herrscht nur bei der Diätenerhöhung und in der Pensionsregelung. Fazit: Die Merkel und ihre Mannschaft können es doch nicht! Halstenbek (Schl.-Holst.) Rudi Rabenstein Beruhigt in die Zukunft Nr. 18/2006, Regierung: Steuerforderungen und Freiheitsrhetorik – wie viel Staat braucht das Land? / Das absurde Reich der ermäßigten Mehrwertsteuer mienform. Statt einer sinnvollen steuerlichen Förderung erhalten wir wieder eine Regelung, die falsche Anreize setzt. Nicht zufällig versuchen manche ja auch, den Bürgern eine Lebensweise vorzuschreiben. Und zu Frau Merkels „Ehrlichkeit“ gesellt sich dann noch Kurt Beck mit seinem „Vorwärts, Genossen, wir müssen zurück“. Alzey (Rhld.-Pf.) Dr. Dieter Hoffmann Toll, dass sich in Deutschland mit dem Elterngeld nun endlich etwas tut! Die Unsinnigkeit der sogenannten Stichtagregelung scheint bisher jedoch niemandem aufgefallen zu sein. Wie kann es sein, dass Eltern, deren Kind am 1. Januar 2007 zur Welt kommt, ein Anrecht haben, während die Eltern eines Kindes mit Geburtstag am 31. Dezember 2006 komplett leer ausgehen? Wäre nicht wenigstens eine Übergangsregelung angebracht? Berlin Nathalie Kampe Wir Deutschen brauchen einfach 100 Prozent Staat – denn wo kämen wir hin, wenn irgendeine Frage nicht staatsseitig geregelt würde. Dosenpfand, Kinderwerfprämie – und eine Verwaltungsanweisung des Bundesfinanzministeriums zur „Ertragsteuerlichen Behandlung der Einnahmen prominenter Kandidaten aus Spiel- und Quizshows im Fernsehen“. Jetzt sind wir aber froh – ein weiteres dringendes Problem gelöst. Es geht aufwärts – und mit der Gründlichkeit überleben wir auch die Globalisierung. Neuer Exportschlager: Verwaltungsanweisungen, die niemand braucht! Freiburg Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Jahrzehntelang wächst der Sozialund Wohlfahrtsstaat, alle beklagen das, und was macht auch diese Regierung? Richtig, sie erhöht die Steuern, damit der Sozialstaat weiter (un)bezahlbar bleibt. Es ist im Staat offenbar so wie bei der Gesundheit: Der Arzt wird erst bei 41 Fieber und drohender Bewusstlosigkeit aufgesucht. Warum auch vorbeugen? Ist doch viel schöner, mit Bier und Chips vor dem Volksverdummungsapparat zu sitzen und Fußball zu glotzen – bis der Infarkt kommt. Berlin Udo Sonnenberg 16 CHRISTIAN PLAMBECK Obernburg (Bayern) Heinrich Weitz d e r Wie der SPIEGEL dazu kommt, jemanden zu einem angeblich abgestraften Bahn- und Mehdorn-Kritiker zu stilisieren, der über einen langen Zeitraum vertraulichste Unterlagen der Deutschen Bahn an Dritte weitergegeben hat, ist mir schleierhaft. Dieses umso mehr, als der Betreffende bei der Deutschen Bahn in keiner Weise und nirgendwo jemals als Kritiker von irgendetwas hervorgetreten ist, geschweige denn sich als solcher geäußert hätte. Er hat einfach nur heimlich und systematisch im großen Stil Geschäftsgeheimnisse weitergegeben. Das sah auch die Staatsanwaltschaft so. Das Arbeitsgericht, das der Betreffende übrigens selbst bemüht hat, hat der Deutschen Bahn in allen Punkten uneingeschränkt recht gegeben. Berlin Dieter Hünerkoch Berater DB AG Neuer Wind Nr. 18/2006, Bolivien: Die Karriere des Indio-Präsidenten Evo Morales Andreas Sprenger Der geneigte Leser erfährt endlich, was man in den ministeriellen Amtsstuben für Artikel des täglichen Bedarfs hält. Und kann daraus schließen, was von der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Beruhigung zu halten ist, dass Lebensnotwendiges nicht von der brutalen Härte des Aufschlags um drei Prozentpunkte getroffen wird. Der gemeine HartzIV-Empfänger darf einigermaßen beruhigt in die Zukunft blicken, in dem Wissen, dass er beim Maulesel- und Maultierkauf nur den ermäßigten Steuersatz entrichten muss. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem mit den Exkrementen der mit ermäßigtem Steuersatz belegten Vierbeiner die kargen Zimmerchen der Taglöhner beheizt werden, die 40 Stunden pro Woche auf chinesischem Lohnniveau schuften! Angekündigt war, die Rolle des Staates zu beschränken und dessen Wohlfahrtsanstrengungen auf existentielle Unterstützung auszurichten. Tatsächlich umgesetzt werden mehr Eingriffe mit Versorgungsmodellen wie dem Elterngeld, eine Kanzlerin Merkel Art Mutterkreuz in Prä- Falsche Anreize gesetzt Heimlich und systematisch Nr. 18/2006, Bahn: Ein internes Dossier diskreditiert Gegner des geplanten Börsengangs s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 DERMOT TATLOW mal mit Lean Government und Lean Administration? Einsparungen auf diesem Gebiet machen Steuererhöhungen und Rentenkürzungen überflüssig und geben dem Steuerzahler wieder etwas mehr Luft zum Atmen. Spielende Kinder bei La Paz Wenig Platz für Menschlichkeit Da kommt wieder mal viel Arbeit zu auf den amerikanischen Präsidenten und seine CIA. Erneut muss in Lateinamerika aufgeräumt werden. Überall drohen „Unpersonen“ vom Schlage eines Chávez, Morales oder Lula da Silva die Interessen der Vereinigten Staaten ernsthaft zu unterminieren. Erfahrungen hat man ja genug – siehe die Installierung der Militärdiktaturen in den sechziger bis achtziger Jahren. Leipzig Hans-Dieter Kern Ich kenne jetzt die Geschichte, wie Morales zur Welt kam, was er für Klamotten trägt, dass er ein begnadeter Fußballer war und ein Kokabauer mit gewerkschaftlichen Ambitionen. Schade, mich hätte wirklich interessiert, was Morales antreibt und was er plant. Der Führer des ärmsten Landes Südamerikas muss auch nicht begründen, wie er zu der Ansicht gelangt, dass die Bodenschätze seines Landes seinem Volk Briefe gehören. Mit der ungefilterten Wiedergabe derart linkspopulistischer Ausführungen würde der SPIEGEL die Urteilsfähigkeit seiner Leser sicherlich überstrapazieren. Andreas Falken In Zeiten von Kapitalismus, Globalisierung und Energieknappheit, die nicht viel Platz für Menschlichkeit lassen, ist der neue Wind, der aus Bolivien weht, frisch, und für manchen mag er sogar kalt sein. Ein Präsident, der wirklich weiß, wie es um sein Volk steht, und der mit seinem Konzept der Verstaatlichung der Ölquellen ein Zeichen setzt. Ein Zeichen, welches bestimmt für manchen Politiker in den USA (und für etliche mehr) eine Bedrohung für internationale beziehungsweise nationale politische Konzepte darstellt. Doch Evo Morales schlägt einen Kurs gegen die Armut ein und gibt seinem Volk und seinem Land, was ihm auch zusteht. Marburg (Hessen) Martin Landschein Einfalt oder Anmaßung? Nr. 18/2006, Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche, Bischof Wolfgang Huber, über christliche Werte im säkularen Staat und den Islam Bischof Huber macht es sich zu leicht, wenn er die Diskussion um die sogenannten Werte allein auf christliches Gedankengut beschränkt. Die „Wurzeln unserer gesellschaftlichen Grundorientierung“ liegen insbesondere in den Errungenschaften der Aufklärung. Die Wertvorstellungen von Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit sind keine „Geschenke Gottes“, wie Huber meint. Sie mussten von Menschen gerade gegen den Widerstand der Kirche entwickelt werden. Demokratie war für sie lange ein Fremdwort. Hameln (Nieders.) Dortmund Helga Klöpping Wer keine religiöse Bildung hat, versteht nichts von unterlassener Hilfeleistung sowie abendländischer Kunst, findet sich in der Literatur nicht zurecht und begreift keine Geschichte. Offenbart sich hier heilige Einfalt oder grenzenlose Anmaßung? Wahrscheinlich beides! Öhningen (Bad.-Württ.) Hans-J. Russow Wenn die Menschenwürde allein christlich begründet werden kann, wie, verehrter Herr Bischof, soll man dann jene, die nicht an Ihren Gott glauben, dazu anhalten, die Würde des Mitmenschen zu achten? Nicht das Christentum hat den Begriff ins Spiel gebracht, sondern die römische Stoa. Es gibt sehr wohl säkulare, und zwar äußerst einflussreiche Begründungen der Würde, zum Beispiel die kantische. Und: Selbstverständlich kann die Würde des Menschen verletzt oder gar genommen werden. Diese Anmerkungen mögen besser- Jost Viebahn Die kirchliche Verkündigung der „teuren Gnade“ (Bonhoeffer) in Wort und Tat beinhaltet die Kernkompetenz christlichen Glaubens und zeigt gleichzeitig auf, worin Christsein und Islam sich grundsätzlich unterscheiden. Wenn Kirche sich allerdings darauf beschränkt, nur für ethische Werte einzutreten, könnten islamische Ideale zu einer echten Herausforderung werden. Es ist bedauerlich, dass im Bonhoeffer-Gedenkjahr der Ratsvorsitzende der EKD dem großen Leserkreis des SPIEGEL auf Fragen, die die deutsche Öffentlichkeit heute (wieder) bewegen, wirklich evangelische Antworten schuldig bleibt. DBUTZMANN.DE Leipzig schenkempfängers Gottes, dem erst im Glauben erklärt werden muss, dass er frei ist. Entspricht der Glaube nicht gerade der Fähigkeit, die geschenkte Freiheit schöpferisch in die Tat umzusetzen, wodurch sich – wie Ratzinger sagt – „das Unentdeckte und Entdeckte im Bereich des Guten entfaltet“? Wenn es so ist, wäre die Frage doch eher, welche Vorstellungen – vielleicht auch von Seiten der Kirche – solches Hervorbringen hindern. Bischof Huber (in Berlin) Anspruch auf das Wertemonopol wisserisch klingen, doch sie entlarven den kirchlichen Anspruch auf das Wertemonopol als das, was er nun mal ist: anmaßend und dogmatisch wie eh und je. Magdeburg Dr. Arnd Pollmann Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen. Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected] Lähden (Nieders.) A. Cramer von Clausbruch Bischof Huber wäre sehr zu empfehlen, dem Stellungnahmezwang für eine Weile zu entsagen und sich mit der Lektüre von Kardinal Ratzingers „Gott und die Welt“ zurückzuziehen. Ziel wäre die Revision des Menschenbildes eines passiven Ge18 d e r Am Umschlagprodukt befindet sich in dieser SPIEGELAusgabe in einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der Firma ThyssenKrupp, Düsseldorf, sowie in der Heftmitte dieser SPIEGEL-Ausgabe in einer Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Ford-Werke, Köln. Eine Teilauflage enthält Beilagen der Firmen Acer, Agrate Brianza, Weltbild Verlag, Augsburg, sowie „Süddeutsche Zeitung“, München. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland Panorama L I N K S PA R T E I Lafontaines Manifest A MARC-STEFFEN UNGER MARC DARCHINGER llen Konflikten zwischen Linkspartei und WASG zum Trotz treibt der Fraktionschef der Linken im Bundestag, Oskar Lafontaine, die Fusion der beiden Parteien voran. In den Spitzen beider Organisationen kursiert inzwischen ein weitgehend aus der Feder des früheren SPDChefs stammender Entwurf für ein „Gründungsmanifest der Partei Die Linke“. Darin wird der „globale Kapitalismus“ gegeißelt, der Absatzmärkte auch mit militärischer Gewalt erobere. Der „Neoliberalismus“ wird als „Ersatzreligi- Bundesparteitag der Linkspartei (2005 in Berlin) on“ angeprangert. Die Linke, die sich zum nalabbau in Bund, Ländern und Gemeinden sowie Kür„demokratischen Sozialismus“ bekenne, zungen von Sozialleistungen dürften unter Regierungswerde die „Barbarei der kapitalistischen beteiligung der neuen, vereinten Linken nicht erfolgen: Gesellschaft überwinden“. „Die Linke macht Schluss mit einer Politik, die das öfBesonders pikant sind die Passagen des fentliche Vermögen verkauft und damit das Volk enteigPapiers, die sich auf mögliche Regierungsbeteiligungen beziehen – und diese net.“ Damit wären – bei konsequenter Befolgung der Vorvoraussichtlich einschränken. Die Linke gaben des Manifestes – schon die bestehenden Koalitionen werde „nur unter Beachtung ihrer von Linkspartei und SPD in Berlin und Mecklenburg-VorGrundsätze Koalitionen mit anderen Parpommern Sündenfälle. In den beiden hochverschuldeten teien eingehen“. Ausgeschlossen sein soll Ländern hat die Linkspartei auch Kürzungen im Sozialdie Beteiligung an Privatisierungen öfbereich mitgetragen. In Berlin etwa wurde die Kita-Gefentlicher Einrichtungen. Auch Perso- Lafontaine bühr drastisch erhöht und das Blindengeld gekürzt. P R I VAT I S I E R U N G E N Konferenz zur Abrüstung Rüge vom Bundesrechnungshof ie SPD will ihr außenpolitisches Profil in der Großen Koalition schärfen. Bei einer Konferenz Ende Juni in Berlin wollen die Genossen über neue Strategien zu Rüstungsbegrenzung, nuklearer Abrüstung und Völkerrecht beraten. An dem Treffen nehmen neben dem Parteivorsitzenden Kurt Beck auch der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde, Mohammed al-Baradei, Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der Chef der Europa-Sozialdemokraten im Straßburger Parlament, Martin Schulz, teil. „Indien, Pakistan – alle rüsten mit großer Selbstverständlichkeit auf“, sagt Schulz, „selbst über begrenzte Atomschläge wird inzwischen diskutiert, als wäre es ein völlig normaler Vorgang.“ Die Konferenz soll dazu beitragen, langfristig eine Reform des löchrigen Atomwaffensperrvertrags voranzutreiben. I n ungewöhnlich scharfer Form hat der Bundesrechnungshof den ehemaligen Bundesfinanzminister Hans Eichel kritisiert. Dabei geht es um den von Eichel ausgetüftelten „Postpensions-Deal“. Im Juni vergangenen Jahres hatte der Minister Forderungen der bundeseigenen Postpensionskasse gegenüber den Konzernen Deutsche Post AG und Deutsche Telekom AG zum Preis von acht Milliarden Euro verkauft. Versäumt worden sei jedoch, „anhand einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung die Vorteilhaftigkeit der Transaktion unter Einbeziehung aller Finanzierungsoptionen nachzuweisen“, schreiben die Prüfer in einem Bericht, der zurzeit in der Geheimschutzstelle des Bundestags unter Verschluss gehalten Eichel d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 wird. Zwar entlaste die Transaktion den Bund in den Jahren 2005 und 2006 mit über 7 Milliarden Euro. Doch „dem stehen 9,2 Milliarden Mehrbelastungen von 2007 bis 2021 gegenüber, so dass dem Bund 2,1 Milliarden Euro Mehrbelastung entstehen“. Sollten die restlichen Forderungen der Postpensionskasse in Höhe von 9,4 Milliarden Euro, wie geplant, auch noch veräußert werden, so würde der Bund sogar vier Milliarden Euro draufzahlen. Angesichts der angespannten Haushaltslage, so die Prüfer, „steht der Bundesrechnungshof einer solchen Verschiebung von Lasten in die Zukunft kritisch gegenüber“. Eine Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums „ist trotz mehrfacher Aufforderung ausgeblieben“. MARKUS SCHREIBER / AP D SPD 21 Panorama LEBENSMITTEL Darmkeime im Sodawasser or „lebensbedrohlichen Infektionen durch Keime“ in Wasserspendern und in Geräten zur Herstellung von Sodawasser warnt das Institut für Umweltmedizin und Krankenhaushygiene der Universität Freiburg. Bei Untersuchungen hatten Wissenschaftler bis zu 6,9 Millionen Keime pro Liter gemessen. Grenzwerte waren teilweise bis zu 34 000fach überschritten. Der Absatz von Haushaltsgeräten zur Selbstproduktion von Sodawasser ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Umso dramatischer sind die Ergebnisse: Von 60 untersuchten Geräten lagen 39 weit über dem Grenzwert der Mineral- und Tafelwasserverordnung. Es wurden unter anderem Schimmelpilze, Corynebakterien und Darmkeime gefunden. Besonders für extrem abwehrgeschwächte Patienten, so Institutschef Franz Daschner, seien diese lebensbedrohlich. Ursache für die Kontamination sei, dass die Geräte nach Hinweisen der meisten Hersteller lediglich mit lauwarmem Wasser gespült werden sollten. Zudem ließen sich einige Geräteteile gar nicht reinigen, dort bilde sich dann ein gefährlicher Biofilm. Ähnliche „lebensmittelhygienische Probleme“ sieht Daschner bei den „Watercoolern“ – den Wasserspendern, die etwa in Banken oder öffentlichen Gebäuden stehen. Von den in Krankenhäusern genommenen Proben waren etwa 88 Prozent über dem Grenzwert für Trinkwasser. Wegen der davon ausgehenden gesundheitlichen Gefahr hat das Bundesinstitut für Risikobewertung die Vertreiber aufgefordert, die Wasserbehälter spätestens alle zwei Wochen auszutauschen. Wasserspender ANDREAS TEICHMANN / LAIF V REGIERUNG ÄRZTESTREIK Konflikt um Europapolitik Im Krebsgang JOSE GIRIBAS n der Bundesregierung ist ein Streit um die Zuständigkeit für die Europapolitik ausgebrochen. Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) meldete am Mittwoch im Kabinett den Anspruch an, gleichberechtigt neben Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) die deutschen Interessen in Brüssel zu vertreten. Auslöser des Konflikts war die Erstellung der Rednerliste für die Europadebatte im Bundestag am Donnerstag. Der Routinepunkt sorgte für ein kurzes Wortgefecht im Kabinett. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte erläutert, dass Glos nach ihrer Regierungserklärung „in die Debatte eingreifen“ wolle. Daraufhin konterte SPD-Vizekanzler Franz Müntefering, dazu müsse auch der Außenminister reden. Glos gab zurück, Steinmeier Steinmeier habe bereits im März eine Regierungserklärung zum EU-Gipfel abgegeben; als Wirtschaftsminister sei er „für die andere Hälfte der Europapolitik“ zuständig. Da schlug Müntefering vor, dass keiner der Minister reden solle, was Merkel akzeptierte: „Dann machen wir das eben so.“ Damit ist der Streit jedoch nur einstweilen zugedeckt. Die Europazuständigkeit ist innerhalb der Regierung auf mehrere Häuser verteilt, was immer wieder für Konflikte gesorgt hat. 2002 wollte der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) das gesamte Sachgebiet ins Kanzleramt holen, was an seinem Außenminister Joschka Fischer (Grüne) scheiterte. Bei den Koalitionsverhandlungen 2005 entriss der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber die Koordinierung der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU dem Finanzministerium und schlug sie dem Wirtschaftsressort zu. 22 d e r N achdem die Tarifgespräche über die Arzt-Gehälter an Universitätskliniken und Landeskrankenhäusern vergangenen Freitag in Dresden vorerst gescheitert sind, ist massive Kritik an der Verhandlungsführung beider Parteien laut geworden. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder sei „wie ein Krebs im Seitwärtsgang“ vor ursprünglich in Aussicht gestellten Gehaltserhöhungen wieder ausgewichen, so der Vorstandsvorsitzende des Verbands der Universitätskliniken Deutschlands, Rüdiger Strehl. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund wiederum habe bei ihren Forderungen „wenig Realitätssinn“ bewiesen. Inzwischen sei das Verhältnis der beiden Verhandlungsführer Frank Ulrich Montgomery und Tarifgemeinschaftsführer Hartmut Möllring völlig zerrüttet. Strehl hatte sich bereits Ende vorvergangener Woche für direkte Gespräche der Ärztegewerkschaft mit den einzelnen Bundesländern ausgesprochen. Falls nicht doch noch eine Einigung zustande kommt, finden die Gespräche Anfang dieser Woche erstmals in Baden-Württemberg statt. Vertreter der Landesregierung und des Landesverbands der Ärztegewerkschaft vereinbarten, sich zu einem „Meinungsaustausch“ zu treffen. s p i e g e l VOLKER HARTMANN / DDP I 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland chirurgie und wissenschaftlicher Berater des Deutschen Fußball-Bunds. Zugleich hat sich offenbar das Risiko bei modernen Fußballschuhen durch eine weitere euentwicklungen der FußballschuhNeuerung erhöht: Die klassischen industrie haben zu einer steigenden Schraubstollen wurden durch längliche, Zahl von Verletzungen geführt – sowohl schmale Keile ersetzt. „Da sich diese durch das veränderte Material als auch messerartig in den Boden schneiden, erdurch die Form der Stollen. höht sich zwar die StandfestigZu diesem Schluss kamen Exkeit drastisch“, so Walther, perten vorige Woche auf dem „auf der anderen Seite aber Sportärztekongress in Münkönnen sie schwere Verletzunchen. Zuletzt waren die Hergen beim Foulspiel hervorrusteller vermehrt dem Wunsch fen.“ Wohl beginnen inzwider Spieler nach sehr leichtem, schen etliche Ausrüster damit, elastischem Schuhwerk nachdie Mittelpartie des Schuhs gekommen – mit dem Ergebmit robusterem Material zu nis, dass sich die Kickerstiefel verstärken und die Keile leicht zwar wie eine zweite Haut anabzurunden. Noch aber fühlen, aber häufig keinen scheinen die Gefahren nicht Verletzter Rooney ausreichenden Schutz mehr gebannt: Jüngst schlitzte bieten. „Eine zu hohe FlexibiEnglands Superstar Wayne lität im Mittelfuß führt Rooney im ersten Einsatz mit zwangsweise zu einer erhöheinem neuentwickelten Schuh ten Belastung und wohl auch zunächst den Oberschenkel zu einer erhöhten Rate von seines NationalmannschaftsMittelfußverletzungen“, so kollegen John Terry auf, wenig Markus Walther, Fachmann später brach er sich bei einem Rooney, Schuh für Fuß- und SprunggelenksZweikampf den Mittelfuß. SPORTMEDIZIN PAUL ELLIS / AFP ADRIAN DENNIS / AFP Gefährliche Kickerstiefel N Steinbrück moniert Wortbruch der EU B undesfinanzminister Peer Steinbrück fühlt sich von der EU-Kommission ungerecht behandelt. Der Grund: Die Kommission erwägt, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik einzuleiten, weil in Deutschland nur öffentlich-rechtliche Träger eine Bank mit dem Namen „Sparkasse“ betreiben dürfen – nicht aber private Banken oder Investoren. Laut Steinbrück gibt es jedoch eine schriftliche Vereinbarung mit Sparkasse HARTZ IV Teure Verwaltung D ie Verwaltungskosten für Hartz IV sind prozentual noch stärker gestiegen als die Transferleistungen an Arbeitslose. Das geht aus einer internen Bilanz des Bundesarbeitsministeriums hervor. Danach beliefen sich die Verd e r dem damaligen EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti. Dem Papier zufolge sei das deutsche Sparkassensystem inzwischen „mit EU-Recht kompatibel“, da die ehemals wettbewerbsverzerrenden staatlichen Garantien auf Druck von Brüssel gefallen sind. Vertraute des Ministers berichten, Steinbrück habe das Thema bei dem zuständigen EU-Binnenmarktkommissar Charlie McCreevy bereits angesprochen – der aber habe sinngemäß gesagt, dass ihn die Entscheidungen anderer und früherer Kommissare nicht interessierten. Steinbrück will nun erreichen, dass in der EU-Verwaltung künftig Vertrauensschutz und Rechtssicherheit eine „deutlich größere Rolle spielen“. STEINACH / IMAGO S PA R K A S S E N S T R E I T waltungsausgaben für das neue Arbeitslosengeld II im vergangenen Jahr auf rund 3,5 Milliarden Euro, 40 Prozent mehr als im Jahr 2004, dem letzten Jahr vor der Reform. Dagegen sind die Ausgaben für Arbeitslosengeld II und Unterkunft im selben Zeitraum um lediglich 22 Prozent auf rund 37,3 Milliarden Euro gestiegen. Hartz IV kostete 2005 rund 44,4 Milliarden Euro. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 23 Deutschland Panorama JUSTIZ A LT E R T Ü M E R Nicht akzeptabel AKG D Nofretete-Büste er Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, Sahi Hawas, hat die Rückführung der weltbekannten Nofretete-Büste nach Kairo gefordert. Damit überraschte der Antiquitätenchef vergangene Woche in Berlin sowohl Bundespräsident Horst Köhler wie auch dessen Staatsgast Präsident Husni Mubarak während der feierlichen Eröffnung der Ausstellung „Ägyptens versunkene Schätze“. Im Gegensatz zu zahlreichen Kulturrelikten, die illegal ins Ausland gebracht wurden, war die Skulptur der Königin, Gattin des religiösen Reformer-Pharaos Amenophis IV. („Echnaton“), bereits 1913 mit Zustimmung der ägyptischen Behörden nach Berlin überführt worden. Um einem möglichen Konflikt mit Deutschland zuvorzukommen, schlug Hawas als Übergangslösung vor, die Büste zunächst als Leihgabe nach Kairo zurückzuschicken. Noch im vergangenen Jahr hatte Ägyptens Kulturminister Faruk Husni die Nofretete-Skulptur „unsere beste Botschafterin“ genannt, die einen „lebendigen Beitrag zum Dialog der Kulturen“ darstelle. N ach Auffassung von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) geht eine Bundesratsinitiative BadenWürttembergs und Niedersachsens zur Reform der Prozesskostenhilfe zu weit. Der Entwurf sieht vor, dass in Zukunft Bedürftige selbst geringe Beträge, die sie sich gerade vor Gericht erstritten und erlangt haben, zum Teil für die Begleichung der staatlichen Prozesskostenhilfe verwenden müssen. Vorvergangene Woche passierte der Vorschlag den Rechtsausschuss des Bundesrats. Bei allem „Verständnis für das Anliegen der Länder, einem Anstieg des Prozesskostenhilfeaufkommens entgegenzuwirken“, so die Ministerin, müsse sichergestellt Zypries werden, dass „nicht das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum der Rechtsuchenden angetastet wird“. Auch die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) kritisiert die Initiative der beiden Unionsländer, die „in nicht mehr akzeptablem Maße“ armen Menschen die Verfolgung ihrer Rechte erschwere. Schubert fordert ihrerseits, die Einkommensgrenze, bis zu der Prozesskosten komplett vom Steuerzahler übernommen werden, nicht auf Hartz-IV-Niveau abzusenken. THOMAS KLINK Rückkehr nach Kairo? Nachgefragt BND Schnuppern bei Schnüfflern E STEFAN KRESIN rstmals wird ein Bundestagsabgeordneter den Bundesnachrichtendienst (BND) von innen kennenlernen. Der Abgeordnete der Linken im Bundestags-Kontrollgremium für die Ge- Neskovic 24 Einheitsdress heimdienste (PKG), Wolfgang Neskovic, wird Ende Juli ein Praktikum beim BND machen. Geheimdienstchef Ernst Uhrlau gab Neskovic vergangenen Mittwoch die Erlaubnis für das einwöchige Gastspiel in der Pullacher Zentrale. „Ich möchte ein Gefühl für die Arbeitsweise des Dienstes bekommen“, sagt Neskovic, der auch im BND-Untersuchungsausschuss des Bundestags sitzt. Besonders pikant: Teile der Linkspartei werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Der ehemalige Bundesrichter will alle Abteilungen durchlaufen und vor allem Einblick in das System der Aktenführung bekommen. „Um die Arbeit einer Behörde effektiv zu kontrollieren, muss man sie auch kennen“, begründet Neskovic sein Praktikum, bei dem es, wie er betont, ums Schnuppern gehe, „nicht ums Schnüffeln“. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Bundesjustizministerin Zypries und Bundesbildungsministerin Schavan sprechen sich für die Einführung von Schuluniformen aus. Halten Sie eine einheitliche Schulkleidung für wünschenswert? 58 % JA NEIN 38 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 9. bis 11. April; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe Deutschland UNION Gefahr von innen THOMAS KLINK (L.); BJÖRN HAKE / ACTION PRESS (R.) GOETZ SCHLESER (L.); PATRICK LUX / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (R.) Merkels Kuschelkurs mit der SPD ruft die CDU-Ministerpräsidenten auf den Plan. Die selbstbewussten Länderchefs wollen das Reformprofil der Partei nicht dem Berliner Koalitionsfrieden opfern. Ohne Kurskorrektur droht Merkel ein Zermürbungskrieg im eigenen Lager. „Die CDU braucht ihr eigenes Profil. Das ist nichts Negatives.“ „Nachhaltiges Sparen muss auch zum Markenzeichen der Berliner Regierung werden.“ „Die ordnungspolitischen Grundüberzeugungen der Union müssen erkennbar bleiben.“ „NRW wird da, wo es nötig ist, seine Stimme erheben und sich für Korrekturen einsetzen.“ ROLAND KOCH, HESSEN CHRISTIAN WULFF, NIEDERSACHSEN GÜNTER OETTINGER, BADEN-WÜRTTEMBERG JÜRGEN RÜTTGERS, NORDRHEIN-WESTFALEN D as Berliner Konrad-Adenauer-Haus ist ein heller, freundlicher Bau, der mit seiner länglichen Form und den flatternden Fahnen auf dem Dach an ein Kreuzfahrtschiff erinnert. Vom fünften Stock kann man an sonnigen Tagen über das grüne Meer des Tiergartens hinweg auf die Hauptstadt blicken. Der vergangene Montag war so ein lichter Tag, aber die versammelte CDU-Spitze hatte keinen Sinn für den erhebenden Ausblick. Die Damen und Herren säbelten missmutig an ihren Spargelstangen, die Stimmung war gereizt. Schnell kam das Gespräch auf unerfreuliche Themen. Voller Ärger meldete sich Peter Harry Carstensen zu Wort, der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins. Den Norddeutschen mit der barocken Figur bringt so schnell nichts in Wallung, für gewöhnlich hat der ehemalige Landwirtschaftslehrer aus Nordfriesland die Gemütsruhe eines Kreuzfahrtkapitäns. Die Große Koalition sei doch angetreten, um den maroden Bundeshaushalt zu sanieren, wetterte Carstensen. Wenn er sich aber die neuesten Beschlüsse der Regierung wie 26 das milliardenteure Elterngeld ansehe, dann sei von Sparwillen nicht mehr viel zu spüren. „Ich höre nur von Gesetzen, bei denen Leistungen ausgeweitet werden!“ Von seinen Kollegen erntete Carstensen beifälliges Gemurmel, die Kanzlerin fuhr ihn an, er denke ja auch nicht ans Sparen, wenn es um die Zuschüsse des Bundes an die Länder gehe. Der Frust über die Große Koalition war so groß, dass sich Merkel nicht einmal mehr auf Vertraute wie Dieter Althaus verlassen konnte. Thüringens Ministerpräsident bebte vor Empörung. Es sei völlig inakzeptabel, dass die Kanzlerin ohne Rücksprache mit den Ministerpräsidenten das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) durch den Koalitionsausschuss gewinkt habe. „So können wir nicht miteinander umgehen.“ Christian Wulff aus Niedersachsen sprang Althaus umgehend bei. „Das ist sehr unerfreulich, was da passiert ist.“ Am Ende blieb Merkel nichts anderes übrig, als sich kleinlaut zu verteidigen. Eine Große Koalition sei nun mal ein „Geben und Nehmen“. Es sind beunruhigende Signale, die Merkel derzeit von ihren Ministerpräsidenten empfängt. Noch vor wenigen Wod e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 chen applaudierten sie der Kanzlerin, vergessen waren die zermürbenden Machtkämpfe der vergangenen Jahre. „Keine Frage, der Start war fulminant“, schnurrte Wulff. „Stimmung nach innen gut, Stimmung nach außen gut, Merkel sehr gut“, dichtete Roland Koch aus Hessen. Für einen kurzen Moment schien es so, als hätte Merkel ihre Rivalen domestiziert. Jetzt aber merkt die Kanzlerin, dass ihr die größte Gefahr von innen droht. Kaum begeht sie den ersten mittelschweren politischen Fehler und lässt das alte rot-grüne Antidiskriminierungsgesetz ohne größere Änderungen passieren, schon schwinden die Loyalitäten. Aus Bewunderern sind innerhalb kürzester Zeit Kritiker geworden, und so mancher von ihnen wartet nur noch auf ein Zeichen des Losschlagens. Im Kanzleramt rechnet man mit heftiger werdenden Attacken, sobald die Popularitätswerte der Kanzlerin sacken sollten. Das wenig berauschende Wahlergebnis der Union ist nicht wirklich aufgearbeitet worden, im Innern der Partei gäre es, meint ein Merkel-Berater. Koalitionspartner Müntefering, Merkel ACTION PRESS Die SPD beherrscht zwar die Schlagzeilen, aber für das Machtgefüge der Union sind die Ministerpräsidenten die entscheidende Größe. Ihr Raunen klingt in den Ohren der Regierungschefin wie ein Orkan. Hinter verschlossenen Türen und über Interviews übermitteln sie Merkel in diesen Tagen die immer gleiche Botschaft: Bis hierher und nicht weiter. Sie sind nicht bereit, tatenlos mit anzusehen, wie das Reformprofil der CDU dem Berliner Koalitionsfrieden geopfert wird. „Die Union darf ihre Identität in der Großen Koalition nicht aufgeben“, sagt Wulff. Eigenhändig hatte die Kanzlerin in der Schlussphase den Kompromiss zum AGG mit den Chefs von CSU und SPD ausgehandelt – und sich anschließend dazu bekannt (siehe Seite 30). Im Unterschied zum kostspieligen Elterngeld – das in der Union Freunde und Gegner besitzt – gibt es bei diesem Gesetz in CDU und CSU nur Gegner. Plötzlich war jene Prinzipienlosigkeit, über die Politiker aller Couleur verfügen und die sie gern zu verbergen suchen, auf geradezu demonstrative Weise sichtbar ge- worden. So werde das Vertrauen der Unionswähler gefährdet, sagt SchleswigHolsteins Wirtschaftsminister Dietrich Austermann. Selbst in der sonst handzahmen Fraktion regte sich Widerstand. Vor allem die Wirtschaftspolitiker wie der frühere Generalsekretär Laurenz Meyer wollten nicht einsehen, warum die Union mal wieder bei einem Symbolthema nachgegeben hatte. Sei nicht Konsens gewesen, dass man EURichtlinien nur noch eins zu eins umsetzen wolle? „Das würde ich heute so nicht mehr formulieren“, gab Merkel kleinlaut zurück. In einer Sitzungsnotiz der Arbeitsgruppe Wirtschaft der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden die „erheblichen Bedenken“ in Sachen Antidiskriminierungsgesetz protokolliert. Vor allem die Serie fortgesetzter Wirtschaftsfeindlichkeit stößt den Unionisten auf: Von den Parlamentariern wurde in einer erregten Sitzung „die beunruhigende Zahl mittelstandsschädlicher Gesetzesvorhaben problematisiert“, heißt es da. Bleibt Merkel bei ihrem bisherigen Kuschelkurs mit Vizekanzler Franz Müntefering und seiner SPD, droht ihr aus den d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Ländern ernsthafte Gefahr. Ihre Weichheit provoziert die Härte der anderen. Egal ob Gesundheitsreform oder Haushaltssanierung, ob Kündigungsschutz oder Zuwanderungsrecht – die Landesfürsten verlangen, dass die Kanzlerin Unionspositionen durchsetzt, statt auf die Interessen der Sozialdemokraten Rücksicht zu nehmen. Einerseits sind es sehr sachliche Gründe, die die Ministerpräsidenten in den Widerstand gegen die Berliner Politik treiben. Sie sehen nicht ein, dass die Große Koalition das Geld mit vollen Händen ausgibt, während sie selbst Proteststürme wegen ihres Sparkurses aushalten müssen. In ihrer erst sechsmonatigen Amtszeit hat die Merkel-Regierung ein 25 Milliarden Euro teures Investitionsprogramm beschlossen, das von der CDU-Ministerin Ursula von der Leyen erkämpfte Elterngeld schlägt mit rund 4 Milliarden zu Buche, und auch den Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger in Ostdeutschland erhöhte die Berliner Koalition – als würden in Berlin die siebziger Jahre nachgespielt. Damals begann die sozial-liberale Koalition mit jener kostspieli27 MARC-STEFFEN UNGER Deutschland CDU-Landeschef Müller: „Vertrag immer weiter durchlöchert“ „Für die Union gibt es Grenzen“ Der saarländische Ministerpräsident Peter Müller, 50, über die anschwellende Merkel-Kritik in der CDU SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, die Unzufriedenheit in der CDU über die Regierung von Angela Merkel wächst. Verlieren die Christdemokraten die Geduld mit einer Politik, die vor allem die Handschrift der SPD trägt? Müller: Die Große Koalition bedeutet den permanenten Zwang zu Kompromissen. Dabei müssen auch wir Kröten schlucken. Das ist nicht vergnüglich. In der CDU wächst das Bedürfnis, die eigene Position stärker darzustellen. Koalitionskompromiss und CDU-Position sind zwei verschiedene Dinge. Das muss auch öffentlich erkennbar sein. SPIEGEL: Müsste Merkel jetzt deutlich machen, was sie über den Machterhalt hinaus inhaltlich erreichen will? Müller: Die Kanzlerin muss versuchen, so viel wie möglich gegen einen sehr unbeweglichen Koalitionspartner durchzusetzen. Letztlich wird die Koalition am Erfolg gemessen. Dazu ist mehr Reformbereitschaft nötig. Wenn diese nicht besteht, muss klar sein, wer hierfür die Verantwortung trägt. SPIEGEL: Wer soll das Profil der Partei schärfen? Müller: Die CDU muss ihre Positionen über den Regierungsalltag hinaus verdeutlichen. Dazu leisten die Ministerpräsidenten ihren Beitrag. Sie sind nicht unmittelbar in die Koalitionsdisziplin eingebunden. SPIEGEL: Die SPD-Spitze hat sich in vielen Punkten mit dem Hinweis durchgesetzt, mehr Entgegenkommen sei mit der Parteibasis nicht machbar. Müller: Beide Parteien haben sich auf einen Koalitionsvertrag verständigt. 28 Es kann nicht sein, dass er zunehmend zur Makulatur wird. Der Vertrag ist ohnehin bereits ein Kompromiss. Ihn dann noch einseitig zugunsten der SPD zu verändern ist nicht zumutbar. SPIEGEL: Müsste die Kanzlerin ebenfalls erklären, welche Konzessionen sie ihren Leuten nicht mehr vermitteln kann? Müller: Wir haben bei wichtigen Entscheidungen wie der Reichensteuer oder dem Antidiskriminierungsgesetz zurückgesteckt. Wir können nicht in allen symbolisch aufgeladenen Bereichen den Sozialdemokraten nachgeben. Auch für die Union gibt es Grenzen dessen, was sie mittragen kann. SPIEGEL: Wo ziehen Sie die? Müller: In diesem Jahr werden zentrale Themen diskutiert, die in den Koalitionsverhandlungen nicht abschließend geklärt wurden, etwa die Reform des Arbeitsmarkts oder der Krankenversicherung und die Energiepolitik. SPIEGEL: Was wollen Sie durchsetzen? Müller: Zum Beispiel müssen die steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Sonst kann ich mir nur schwer vorstellen, dass wir einer Reform zustimmen werden. SPIEGEL: Ist der Koalitionsvertrag keine gute Grundlage für das Regieren? Müller: Mich sorgt, dass der Vertrag immer weiter durchlöchert wird. Elterngeld, Hartz IV, Betreuungskosten – das Regierungshandeln weicht häufig vom Koalitionsvertrag ab und in der Regel zu Lasten des Haushalts. Auf Dauer kann das nicht gutgehen. Interview: Ralf Neukirch d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 gen Reformpolitik, die das Fundament der heutigen Staatsverschuldung legte. Die Länderchefs können ihre Bürger nicht mit solchen Wohltaten beglücken, im Gegenteil: Wulff hat in Niedersachsen das Blindengeld fast komplett gestrichen, in Hessen mussten Schuldnerberatungsstellen und Frauenhäuser schließen, der saarländische Ministerpräsident Peter Müller macht sogar knapp ein Drittel der Grundschulen des Landes dicht. „Nachhaltiges Sparen muss auch zum Markenzeichen der Berliner Regierung werden“, fordert nun Wulff. In Nordrhein-Westfalen weist man ebenfalls darauf hin, dass die Landesregierung sich gegen Steuererhöhungen und für Sparen entschieden hat – anders als die Bundesregierung, lautet der Unterton. „NRW wird da, wo es nötig ist, seine Stimme erheben und sich für Korrekturen einsetzen“, droht Landeschef Jürgen Rüttgers. „Das haben wir bisher schon getan.“ Ihm und den Kollegen geht es um die Sache – aber nicht nur. Die Regierungschefs sind nicht frei von Eitelkeit. Sie haben erkannt, dass sie nun trefflich als Hüter christdemokratischer Grundüberzeugungen posieren können. Die Kanzlerin fällt für diese Rolle aus, weil sie Rücksicht nehmen muss auf die Linken in der eigenen Partei und auf die Sozialdemokraten. Am vergangenen Mittwoch versuchte Merkel auf einer CDU-Regionalkonferenz in Karlsruhe, die ums Unionsprofil besorgte Parteibasis zu besänftigen. Man habe einen Koalitionspartner, „der nun als nicht immer besonders veränderungsfreudig bekanntgeworden ist“, stichelte die Kanzlerin. Der neue SPD-Chef Kurt Beck griff sofort zum Hörer: Nicht die Sozialdemokraten, nein, die Union sei der eigentliche Reformverweigerer, ließ er in der „Süddeutschen Zeitung“ anderntags verbreiten. „Wer den Fuß auf der Bremse hat, sollte nicht auf den Motor schimpfen.“ Die Ministerpräsidenten nickten wohlgefällig. Auf Rückendeckung aus ihren Reihen kann eine Moderatorin Merkel nicht bauen. „Die CDU muss ihre Position über den Regierungsalltag hinaus verdeutlichen. Dazu leisten die Ministerpräsidenten ihren UMFRAGE: GROSSE KOALITION „Setzt sich in der Großen Koalition im Bund eher die SPD oder die CDU durch?“ SPD 17 % 59 % CDU beide 13 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 9. bis 11. Mai; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe UMFRAGE: BUNDESKANZLERIN „Wie wünschen Sie sich Bundeskanzlerin Angela Merkel?“ Als Politikerin, die den Ausgleich der verschiedenen Interessen sucht 25 % Als Politikerin, die ihr wichtige Themen verfolgt und wenn nötig ein Machtwort spricht 68 % TNS Infratest für den SPIEGEL vom 9. bis 11. Mai; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe GOETZ SCHLESER Beitrag“, sagt Peter Müller aus dem Saarland. Das sieht Wulff ganz genau so: „In einer Großen Koalition stehen auch gerade die Ministerpräsidenten für das Profil der Union.“ Jetzt beginnen Wulff und Kollegen, die selbstaufgestellte Devise mit Leben zu füllen. Am vergangenen Montag reiste Wulff um fünf Uhr morgens nach Berlin, um in der Hauptstadt an einem Tag gleich zwei Bücher über sich vorzustellen. Das Interviewbändchen „Deutschland kommt voran“ beginnt zwar mit dem Satz: „Ich bin Landespolitiker.“ Dann aber verbreitet Wulff sich auf 216 Seiten über so ziemlich alles, was derzeit bundespolitisch von Interesse ist. Wichtig, so die Essenz des Buchs, seien vor allem mutige Reformen – und genau die kann oder will Merkel jetzt nicht liefern. Günther Oettinger, frisch gewählter Regierungschef aus Stuttgart, drängt in der Unionshierarchie ebenfalls nach oben. Er möchte gern die Lücke füllen, die der Abgang des Unions-Chefreformers Friedrich Merz gelassen hat. Die Wohlfühlpolitik der Großen Koalition ist ihm ein Graus: „Die ordnungspolitischen Grundüberzeugungen der Union müssen erkennbar bleiben“, sagt er. Die Ministerpräsidenten waren schon immer das Kraftzentrum der CDU, aber noch nie stellte die Partei so viele. In den CDU-Präsidiumssitzungen sitzen der Kanzlerin zehn Regierungschefs gegenüber, vier davon verfügen in ihren Ländern über absolute Mehrheiten: Dieter Althaus in Thüringen, Roland Koch in Hessen, Ole von Beust in Hamburg und Peter Müller im Saarland. Die mächtigeren unter ihnen sind wirtschaftsnahe Politiker wie Georg Milbradt, Oettinger und Koch, die von der Notwendigkeit einer Radikalreform in Deutschland überzeugt sind. In der Bundestagsfraktion und der Regierung entscheidet Merkel über Karrieren, über Aufstieg und Fall. Bei den Länderchefs hat sie keinerlei Disziplinierungsmittel. Die Herren sind auch bestens untereinander vernetzt. Allein fünf Regierungschefs – Müller, Wulff, Oettinger, Althaus und Koch – treffen sich regelmäßig mit den Mitgliedern des sogenannten Andenpakts. Der Sozialdemokrat Heil: „Merkwürdiger Vorwurf“ „Wir machen unsere Arbeit“ SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, 33, über die zunehmende Unionskritik am Koalitionspartner SPIEGEL: Herr Heil, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der SPD in der vergangenen Woche mangelnde Veränderungsbereitschaft vorgeworfen. Können Sie das nachvollziehen? Heil: Nein. Das ist ein merkwürdiger Vorwurf. Jeder unser Minister ist für sich entscheidungsfreudiger als alle Unionsminister zusammen. Wenn man sich allein anschaut, was Peer Steinbrück beim Abbau von Steuersubventionen und der Konsolidierung des Bundeshaushalts geleistet hat. Oder was Franz Müntefering bei der Alterssicherung auf den Weg gebracht hat – dann ist der Vorwurf offensichtlich völlig unbegründet. Es ist doch genau anders herum: Wir geben den Takt vor, wir sind die Kraft der Erneuerung. Damit können einige in der Union offensichtlich schlecht leben. SPIEGEL: Woher kommt plötzlich die veränderte Tonlage? Heil: Ich kann da nur spekulieren. Richtig ist, dass viele in der CDU anfangen zu grummeln. Aber das ist manchmal so in Koalitionen. Wir wollen den Erfolg dieser Koalition im Interesse unseres Landes. Deshalb machen wir unsere Arbeit – und erwarten das auch von der anderen Seite. SPIEGEL: Sie haben in der vergangenen Woche der Union die Schuld an der Mehrwertsteuererhöhung gegeben. Machen Sie es sich da nicht sehr einfach? Heil: Nein. Schließlich wollte Bundesfinanzminister Hans Eichel 2003 konsequent Steuersubventionen abbauen. Wenn uns damals nicht die CDU-Ministerpräsidenten im Bundesrat so brutal d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ausgebremst hätten, wäre die nun vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer vermeidbar gewesen. Es sind ja die gleichen Ministerpräsidenten, die in ihren eigenen Ländern in großer Zahl keinen verfassungsgemäßen Haushalt mehr hinbekommen. Jetzt ist es zu spät, jetzt brauchen wir diesen schwierigen Schritt zum 1. Januar 2007. SPIEGEL: Führende Unionsleute werfen Merkel vor, die Koalition agiere zu sozialdemokratisch. Freut Sie das nicht? Heil: Warum sollte es mich ärgern, wenn der Regierungsarbeit sozialdemokratische Handschrift attestiert wird … SPIEGEL: … weil Sie auch erklären, am Erfolg der Koalition interessiert zu sein. Heil: Da sehe ich keinen Widerspruch. Im Übrigen verwundert mich der Vorwurf – als wäre Sozialdemokratie etwas Schlechtes in Deutschland. Wenn CDU und CSU in Ressorts, in denen sie Verantwortung tragen, mehr konstruktive Vorschläge machten, hätten wir überhaupt nichts dagegen. Ich könnte mir zum Beispiel im Wirtschafts- oder auch im Forschungsministerium viel mehr Phantasie und Engagement vorstellen. SPIEGEL: Will die SPD eine starke oder eine eher moderierende Kanzlerin? Heil: Wir haben uns über die Arbeit der Kanzlerin nicht zu beklagen. Tatsache ist, dass jeder seinen Job zu machen hat. SPIEGEL: Ist sie eine starke Kanzlerin? Heil: Das sollen andere beurteilen. Das ist nicht die Kategorie, in der wir miteinander arbeiten. Ich weiß jedenfalls, dass wir starke SPD-Ministerinnen und -Minister haben. Und darauf sind wir stolz. Interview: Horand Knaup 29 mächtige CDU-Männerbund besteht schon seit 1979, und die Mitglieder haben sich versprochen, sich nicht öffentlich zu befehden. Der Ostdeutsche Althaus stieß später dazu. Angela Merkel weiß, wie es zugeht, wenn Parteifreunde gegen einen CDUKanzler intrigieren. Sie war lange genug Ministerin bei Helmut Kohl. Der Pfälzer war zeit seines politischen Lebens von innerparteilichen Widersachern umzingelt, die ihm in aller Regel mehr zusetzten als die Genossen von der SPD. Legendär sind die Kräche mit dem „Männerfreund“ Franz Josef Strauß, der ihn mehr als ein Jahrzehnt mit bissigen Sottisen verfolgte. Kohl werde „nie Kanzler“, polterte der CSU-Recke schon 1976 in seiner berüchtigten Wienerwaldrede. Er sei „total unfähig“. Auch die Methode des niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff, sich als Buchautor gegen die eigene Bundesregierung zu profilieren, hat in der Union Tradition: „Das Defizit an gesellschaftlichen Zukunftsperspektiven ist offenkundig und entwicklungshemmend geworden“, klagte einst der Stuttgarter CDU-Ministerpräsident Lothar Späth in einem Buch, das im Oktober 1985 unter dem programmatischen Titel „Wende in die Zukunft“ erschien. Der frühere Generalsekretär Kurt Biedenkopf kritisierte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass, weil da dieser Mann im Kanzleramt sitzt, dieses Land in Stagnation verfällt.“ Kohl ignorierte beide. Dann versuchten Späth und der langjährige Generalsekretär Heiner Geißler 1989 gegen den Parteichef zu putschen. Der Aufstand misslang, weil Kohl rechtzeitig von der Konspiration erfahren und seine Truppen gesammelt hatte. Von Kohl hat Merkel gelernt, dass sich in schwierigen Situationen vor allem eins empfiehlt: abwarten. Sie hält sich bedeckt und versucht, den Gegnern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ihrem Umfeld hat die Kanzlerin demonstrative Gelassenheit verordnet. Jeder Auftritt wird derzeit als Stimmungstest der Kanzlerin gewertet, auch von ihr selbst. Am vorigen Freitagabend besuchte Merkel die 60-Jahr-Feier der Hamburger CDU. Es war ein Termin, bei dem sie Sympathie tanken konnte, knapp 4000 Parteimitglieder erschienen, rund ein Drittel der Hamburger CDU-Basis. Die Leute tranken Bier und schwenkten CDU-Fähnchen, die ideologischen Schaukämpfe in Berlin interessierten sie wenig. Beifall brandete auf, als Merkel um kurz nach sieben in die Fischauktionshalle einzog. Den Gedanken, die Berliner Missstimmung der vergangenen Tage anzusprechen, hatte sie kurz vorher verworfen. „Ich weiß um die Grenzen der Großen Koalition“, sagte sie. Das musste genügen. Der Satz war als Entschuldigung für die vergangenen Tage gemeint. Hier fand er Applaus – noch. Burkhard Fraune, Ralf Neukirch, Hartmut Palmer, René Pfister 30 XAMAX / PICTURE-ALLIANCE/ DPA Deutschland Schwulenparade (in Berlin): Sanktionen gegen Herrenwitze REFORMEN „Übelriechender Handkäse“ Lange feilte Rot-Grün an der Umsetzung von EU-Richtlinien gegen Diskriminierungen. Die Union und Experten waren dagegen. Nun soll das bizarre Werk in Kraft treten – einem von Kanzlerin Angela Merkel arrangierten Kuhhandel sei Dank. W enn sich die Rechtsgelehrten der Regierungskoalition mit der Bundesjustizministerin treffen, geht es gemeinhin sachlich zu. Der Ton ist ruhig, die Minen sind ernst. Stille Genugtuung über die gelungene Formulierung eines besonders diffizilen Paragrafen ist das höchste der Gefühle. Seit neuestem jedoch lässt die Wortwahl in dem erlesenen Zirkel zu wünschen übrig. Das wurde vor einigen Tagen bei einem Treffen deutlich, zu dem Ministerin Brigitte Zypries die rechtspolitischen Experten von Union und SPD gebeten hatte – es ging um die Umsetzung von EU-Richtlinien in deutsches Recht. Ein Routinevorgang, sollte man meinen. Angefangen, so erinnern sich Teilnehmer, hatte Wolfgang Bosbach, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Was das denn für ein „Schwachsinn“ sei, habe der Rechtsanwalt von der Justizministerin wissen wollen. Ein weiterer Zeuge meint gar, aus Bosbachs Munde das Wort „Scheiße“ gehört zu had e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ben, wenngleich, so der Zeuge, „genuschelt“. Da habe die Ministerin nicht zurückstecken wollen. Als nach Bosbach auch noch der rechtspolitische Unionssprecher Jürgen Gehb einen kritischen Kommentar abgab, habe sie zunächst einen abschätzigen Laut durch die gekräuselten Lippen gelassen. Dann tat sie, „Pffff“, kund, das alles gehe ihr doch „am A vorbei“. Ob sie damit die Änderungswünsche der Kollegen Bosbach und Gehb gemeint hat oder das gesamte Gesetzeswerk, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei ermitteln. Zypries schweigt. Bosbach hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Raum verlassen. „Schwachsinn“, „Scheiße“, „am A vorbei“ – Juristen ahnen es: Wenn sich Fachleute derart geringschätzig über ihre Arbeit äußern, kann es sich nur um die Umsetzung der EU-Richtlinien zum Schutze von gesellschaftlichen Minderheiten handeln. Bereits 2001 hatte die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD) versucht, den in Brüssel erdachten Anti- JENS KOEHLER / DDP Behinderte Tischtennisspieler*: Regulierungswut im Rechtsalltag diskriminierungsplan in deutsches Recht umzurubbeln. Zwei Bundestagswahlen, zwei Gesetzesentwürfe, vier Lesungen und einige Aussprachen im Bundestag sind seither verstrichen. Unter den Beamten des Justizressorts gilt die Arbeit an dem Projekt, das auf ähnlich wundersame Weise wie das Ungeheuer von Loch Ness immer wieder auftaucht, als Höchststrafe. So war es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch die Große Koalition mit dem Thema befasst. Kanzlerin Angela Merkel stellte sich am vergangenen Dienstag persönlich vor die Mitglieder ihrer Fraktion, um den Plan zu verkünden für ein Gesetz zum Schutze von Frauen, Alten, Behinderten, Ausländern, Schwulen, Andersdenkenden und Andersgläubigen, kurzum: für ein „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“. Ein ganz besonders bizarres Beispiel europäischer Regulierungswut wird großzügig in den deutschen Rechtsalltag befördert. Die Große Koalition will einen Plan durchsetzen, den die CDU („Mehr Freiheit wagen“) stets bekämpft hat. Merkel vollendet, was Lobbygruppen einst in Brüssel erdacht haben – der bislang klarste Verstoß gegen Versprechungen, mit denen sie vor sechs Monaten angetreten war. Vor einem „bürokratischen Monstrum“ hatte Merkel im Bundestagswahlkampf noch gewarnt. Volker Kauder, inzwischen Unionsfraktionschef, verstieg sich einst zu einem Vergleich mit den Rassegesetzen der Nazis. Und hatten nicht auch die da* Im Landesleistungszentrum für Behindertensport im mecklenburg-vorpommerschen Greifswald. maligen SPD-Ministerpräsidenten Kurt Beck (inzwischen Parteichef) und Peer Steinbrück (inzwischen Finanzminister) vor gar nicht so langer Zeit protestiert oder gar damit gedroht, das Gesetz im Bundesrat durchfallen zu lassen? Kein Wunder, dass FDP-Chef Guido Westerwelle der Koalition einen wirklich atemberaubend „rasanten Agendawechsel“ bescheinigt. Vergangenen Donnerstag hatten die Liberalen das Thema auf die Tagesordnung einer aktuellen Stunde gesetzt. Und wieder einmal fand sich kaum ein Politiker im weiten Rund des Parlaments, der den jüngsten Plan für ein Antidiskriminierungsgesetz rundherum loben wollte. Justizministerin Zypries sprach lustlos von einem „Kompromiss“. Unionsvertreter Gehb tat kund, das Werk sei wie ein „übelriechender Handkäse“, der lange in der Sonne gegammelt habe. Interessanterweise ist auch die gesamte Opposition unzufrieden. Ilja Seifert, Vertreter der Linken, sagte, er sei enttäuscht; verhalten äußerte sich Irmingard ScheweGerigk von den Grünen. Und der FDP-Politiker Heinrich Kolb meldete sich mit dem Zwischenruf „das ist doch Pipifax“ zu Wort, was manch Unionsabgeordneter mit beifälligem Kopfnicken quittierte. Angefangen hatte alles in Brüssel mit einer Griechin namens Anna Diamantopoulou. Die Sozialistin war 1999 zur EUKommissarin für Arbeit und Soziales aufgestiegen – mit dem Ziel, „Europa ein menschlicheres Antlitz“ zu verpassen. Tatsächlich aber war ihr vor allem das allzu Menschliche ein Dorn im Auge. Diad e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 mantopoulou, 46, störte sich an den Abbildungen barbusiger Damen in europäischen Boulevard-Zeitungen. Um „auf Sex ausgerichtetes, unerwünschtes Verhalten“ europäischer Männer zu ahnden, brachte sie eine Richtlinie gegen die Geringschätzung von Frauen auf den Weg. Drei weitere Richtlinien, um die Sanktionierung von Herrenwitzen zu verfeinern und die Schutzzone auf ethnische Minderheiten und Andersgläubige auszudehnen, folgten. Unterstützt wurde die eifrige Griechin, die erst im Frühjahr 2004 nach Athen zurückberufen wurde, durch die Deutsche Barbara Helfferich, 49. Die Politikwissenschaftlerin aus dem nordrhein-westfälischen Warendorf hatte lange Zeit der Europäischen Frauenlobby vorgestanden, einem Netzwerk, das EU-Geldtöpfe etwa für die Erforschung des „Gender-Mainstreaming“ anzapft. Unter Diamantopoulou gelang Helfferich dann ein Karrieresprung, wie er so wohl nur im Brüsseler Polit-Biotop möglich ist. Die Frauenlobbyistin wurde ins Kabinett der EU-Kommissarin berufen, was die Durchsetzung ihrer Projekte natürlich ungemein erleichterte. Von dem, was sich dann zusammenbraute, schien die rot-grüne Bundesregierung nichts mitzubekommen. Zwar warnte der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt bereits 2000 davor, dass sich in Brüssel ein Projekt voll „zusätzlicher Bürokratie und reinem Quotendenken“ anbahne. Doch die Regierenden in Berlin wiegelten ab. Man schickte einen Beamten aus dem Justizministerium nach Brüssel, um die Sache zu verhandeln. Es herrschte der Glaube vor, bei den Plänen handele es sich um „Schneewittchen-Richtlinien“ (EUJargon) von rein symbolischem Wert. Ein reines Gewissen glaubte man auch zu haben; schließlich ist die Gleichstellung in Deutschland längst umfänglich geregelt. Kaum eine Behörde kommt ohne Gleichstellungsbeauftragte aus. Die öffentliche Verwaltung ist gehalten, bis zu einer bestimmten Quote gleichqualifizierte Frauen bei Einstellung und Beförderung den Männern vorzuziehen. Laut Paragraf 611a des Bürgerlichen Gesetzbuches dürfen Frauen am Arbeitsplatz nicht benachteiligt werden. Laut Bundesjustizministerium ein selten genutzter Paragraf. Allein zum Schutz von Behinderten finden sich in deutschen Gesetzen 86 Einzelvorschriften. Artikel 3 des Grundgesetzes schreibt schon seit der Geburtsstunde der Republik vor, dass niemand „wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. Doch die Gleichstellungsfans der EU wollten mehr, viel mehr. Praktisch jeder Bereich des öffentlichen Lebens müsse auf mögliche Ungleichbehandlung durch31 kämmt werden. Die Strafen für Missetäter sollten drastisch sein. Jedes EU-Mitgliedsland müsse eine Antidiskriminierungsstelle einrichten. Als leuchtendes Vorbild dienten die USA, wo eine gutgeölte Prozessindustrie entstanden ist. Mit der Behauptung, sie sei bei Beförderungen übergangen worden, konnte sich eine Angestellte schon mal zwölf Millionen Dollar von der Investmentbank Morgan Stanley erstreiten. Anwälte und vorgebliche Betroffenenvereine haben sich darauf spezialisiert, die USBehörden und Unternehmen mit Klagen zu überziehen. Die Bundesregierung hätte den Plan der Eurokraten kippen können. Für drei der vier Antidiskriminierungsvorlagen bedurfte es des einstimmigen Votums aller Mitgliedstaaten. Ein Nein aus Berlin hätte gereicht, um den Wahnsinn zu stoppen. Doch die Bundesregierung sagte ja. Damit war sie verpflichtet, die Richtlinien in nationales Recht zu überführen. Widerstand war zwecklos geworden. Bereits im vergangenen Jahr stellte der Europäische Gerichtshof eine Vertragsverletzung fest. Es droht ein Strafgeld von 900 000 Euro für jeden weiteren Tag, an dem die Bundesrepublik die Richtlinien ignoriert. Warum es die rot-grüne Bundesregierung nicht schaffte, den Plan zu Fall zu bringen, gibt selbst der Bundesjustizminis- AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS (L.); HORST WAGNER (R.) Deutschland Ministerin Zypries, EU-Kommissarin Diamantopoulou: Irrsinnsprojekt aus Brüssel terin im Rückblick Rätsel auf. Mehrere Ministerien seien zuständig gewesen, leider, beteuerte Brigitte Zypries einmal. Doch irgendwie habe sich damals keiner so recht darum gekümmert. Das ist bedauerlich: Praktisch alle Fachleute halten die Idee eines allumfassenden Antidiskriminierungsgesetzes in Deutschland, das – Doppelbetroffenheit ist durchaus möglich – alle Frauen (42 Millionen), Rentner (20 Millionen), Ausländer (7 Millionen), Behinderte (8 Millionen) sowie Homosexualität und jedwede Form von Religionen und Weltanschauung mit Minderheitenschutz versieht, für gaga. Sie plädiere für einen „Diskriminierungsschutz mit Augenmaß“, gab Justizministerin Zypries vor zwei Jahren zu bedenken. Es gehöre zu einer freiheitlichen Gesellschaft, „Verhaltensweisen hinzunehmen, die ein vernünftiger Mensch für dumm oder borniert hält“. Es gelte der Satz des französischen Staatsphilosophen Montesquieu: „Wo es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen“, zitierte Zypries damals wörtlich, „ist es notwendig, kein Gesetz zu machen.“ Ähnlich äußerten sich in der vergangenen Legislaturperiode auch der damalige Wirtschaftsminister Wolfgang Clement („Quatsch“) und Innenminister Otto Schi- ly. Der Verzicht auf ein Antidiskriminierungsgesetz wäre ein „echter Beitrag zum Bürokratieabbau“, urteilte Schily. Doch wer damals glaubte, die rot-grüne Regierung würde den Schaden begrenzen und die EU-Richtlinien so sparsam wie möglich umsetzen, sah sich irritierenderweise mit dem Gegenteil konfrontiert. Man überantwortete das Projekt dem GrünenPolitiker Volker Beck („Schwul ist cool“) und der frauenpolitischen SPD-Sprecherin Christel Humme. Als Überzeugungstäter setzten sie alles daran, die Brüsseler Vorgaben zu überbieten. Für das Zivilrecht sahen die EU-Richtlinien lediglich vor, Benachteiligungen auf Grund von Geschlecht, Rasse und ethnischer Herkunft zu verbieten. Die rot-grünen Gleichstellungsfreunde fügten noch die „Diskriminierungsmerkmale“ Religion, Weltanschauung, Alter, Behinderung und sexuelle Identität hinzu. Damit dürften sich sogar Rechtsradikale zur schützenswerten Truppe geadelt fühlen. In braunen Kreisen wartet man schon darauf, sich als bedauernswertes Opfer darstellen zu können, sollte ein Gastwirt den Zutritt für eine Versammlung im Hinterzimmer verweigern. In die Tat umsetzen konnte Rot-Grün den Gesetzentwurf dann aber nicht mehr; die Neuwahlen kamen dazwischen. Die neue Bundeskanzlerin Merkel stellte gleich in ihrer ersten Regierungserklärung klar, dass die EU-Vorgaben nur noch „eins zu eins“ umgesetzt würden. Ihr Missfallen über ein Antidiskriminierungsgesetz hatte sie bereits im Wahlkampf bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck gebracht. Doch jetzt kommt es schon wieder anders als gedacht. Als sich die Spitzen der Großen Koalition vor einigen Tagen trafen, um ihre Positionen zu aktuellen Fragen abzustecken, tauchte auch das Gleichbehandlungsgesetz wieder auf. Zur allgemeinen Überraschung war es Merkel selbst, die das Thema aus der Versenkung holte. Im allgemeinen Koalitionsgeschacher hatte CSU-Chef Edmund Stoiber die SPD bedrängt, einer neuen Subventionierung der von ihm so geschätzten deutschen Bauernschaft zuzustimmen. Die Genossen, vertreten durch ihren Vorsitzenden Kurt Beck, zeigten sich uneinsichtigt. Ohne Kompensationsgeschäft zugunsten der SPD-Klientel werde daraus nichts. Dann nahm die Kanzlerin die Sache in die Hand. Im Sechs-Augen-Gespräch mit Stoiber und Beck führte sie das Antidiskriminierungsgesetz in die Verhandlungsmasse ein. SPD-Mann Beck, sichtlich überrascht, stimmte zu. Vorbereitungen waren bereits im Stillen gelaufen: Schon am 26. April hatte sich Merkel die Vorlage vom geschäftsführenden Fraktionsvorstand der Union absegnen lassen. Auch Vizekanzler Franz Müntefering war eingeweiht. So wird sich der Bundestag bald erneut der Sache annehmen. Ein Textentwurf lag ja noch in der Schublade. An der rot-grünen Vorlage aus der vorigen Legislaturperiode wurden nur sparsame Änderungen vollzogen. So findet sich das Diskriminierungsmerkmal „Weltanschauung“ – Rechtsradikale werden sich freuen – ebenso im Gesetz wieder wie etwa ein Klagerecht von Gewerkschaften und echten oder vorgeblichen Betroffenenverbänden. Auch der Plan zur Schaffung einer staatlichen Kontrollbehörde hat überlebt, um Deutschland endlich, so die Gesetzesbegründung, zu einer „Kultur der Antidiskriminierung“ zu verhelfen. Das Familienministerium der Ursula von der Leyen soll einen Millionenbetrag bekommen. Allerdings gebe es einen „gewichtigen Unterschied“, höhnte FDP-Chef Guido Westerwelle vorigen Donnerstag im Parlament. In der vergangenen Legislaturperiode habe sich noch eine SPD-Ministerin an der Aussicht auf mehr Geld und Einflussmöglichkeit berauscht. Jetzt freut sich eine Ministerin mit CDU-Parteibuch. Das Umfallen seines Beinahe-Koalitionspartners macht den FDP-Mann noch immer fassungslos. „Große Teile der Union“, so Westerwelle, hätten sich ganz offenbar einer „Gehirnwäsche unterzoAlexander Neubacher gen“. Deutschland Neuer SPD-Chef Beck BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO „Holzklotz unterm Hintern“ ze. Er kündigte an, „das Notwendige zu tun, auch wenn es an manchen Stellen weh tut und schmerzhaft ist“. Er sprach von „Einschnitten auch für die, die heute in Rente sind“. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident beherrscht die Kunst, Volksnähe, ein klares Gespür für die Parteisehnsüchte und einen Sinn für das politisch Notwendige zusammenzubringen – auch deshalb soll der Ministerpräsident aus Mainz nun die SPD führen. Die Erwartungen an Beck sind groß. Er soll die Partei sicher durch die Große Koalition leiten und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Parteimitglieder wieder genau wissen, wofür die SPD steht. Er soll ihr Stimme und Profil geben. Vor allem die Parteilinken um ihre Wortführer Andrea Nahles und Niels Annen haben wie ihre Verbündeten in den Sozi- S O Z I A L D E M O K R AT I E Den SPD-Linken droht eine Enttäuschung. Der neue Parteichef Kurt Beck wird kaum von Schröders Reformkurs abweichen – er wird nur anders reden. E s war eine Veranstaltung nach dem Geschmack des Festredners. Eine Ehrung im sauerländischen Sundern für einen verdienten Genossen, der örtliche Musikverein spielte auf, die Uniformen glänzten in der Abendsonne. Der Gast berichtete von frühen Erfahrungen mit der Klarinette. Später, im Festsaal, fanden sich rund hundert Sozialdemokraten ein, es waren viele Ältere darunter, viele verdiente Genossen auch, die die Treue selbst in schwierigen Zeiten gehalten hatten. Gekommen waren sie, um das 40-jährige Parteijubiläum von Vizekanzler Franz Müntefering zu feiern, mit Kurt Beck als Laudator. Es wurde eine typische Beck-Rede, viel Parteifolklore, zwischendurch auch was fürs Herz. „Ich hab mit 14 Jahren meinen ersten Rentenbeitrag bezahlt“, berichtete der gelernte Elektriker über die Jugendjahre, „und damit ich die Feile übers Werkstück gebracht habe, haben sie mir einen Holzklotz unter den Hintern geschoben.“ Als er fortfuhr, so etwas vergesse man nicht, schimmerten die Augen der Genossen feucht. Doch dann packte Beck in seine freundliche Ansprache auch andere, härtere Sät36 MICHAEL WALLRATH / ACTION PRESS Links blinken, rechts regieren Bei seinen ersten Auftritten als designierter Parteichef sah es so aus, als ob Beck gewillt sei, den Wünschen gerecht zu werden. Im Koalitionsausschuss, dem er nach dem Abgang von Matthias Platzeck automatisch angehört, setzte er sich für Elterngeld, Reichensteuer und Gleichstellungsgesetz ein, alles Vorhaben, die dem linken Parteiflügel wichtig sind. Von seinen programmatischen Äußerungen blieb vor allem hängen, dass er den Staat für unterfinanziert hält und weitere Steuererhöhungen nicht ausschließen wollte. Doch allen, die nun mit einer Linkswende unter dem neuen Parteivorsitzenden Beck rechnen, droht eine Enttäuschung. Tatsächlich ist der Mann aus der Südpfalz in seinem bisherigen politischen Leben ja gerade deshalb so erfolgreich gewesen, weil er durchaus zu unterscheiden vermag zwischen dem, was man als sozialdemokratischer Spitzenmann sagen muss, und dem, was pragmatische Politik ist. Zwölf Jahre hat er in Mainz mit der FDP als Koalitionspartner regiert, und er hat das nicht mit der Faust in der Tasche getan. Er versteht es, links zu blinken und dann in die Mitte zu ziehen. Umweltschutz nur so viel wie nötig, Straßenbau, bis das Geld ausgeht, kein Konflikt mit der Industrie – und dabei immer ein offenes Ohr für die Gewerkschaften. Beck bewegt sich auch bei Grundsatzdebatten immer wieder mal außerhalb der sozialdemokratischen Ordnungswelt. So sprach er sich schon mal für eine zweijährige Nullrunde aus oder zog gegen die Ausbildungsumlage zu Felde, als DGB und Jusos die von Rot-Grün verlangten. Und noch in diesem Februar warnte er die Gewerkschaften in einem Interview, in die Rolle der außerparlamentarischen Opposition zu schlüpfen: „Das ist nicht ihre Aufgabe.“ Bei den Gewerkschaften kam das nicht so gut an. In seiner Laufbahn hat er gelernt, Machtverhältnisse einzuschätzen. Derzeit sitzen im Kabinett auf SPD-Seite vor allem Leute, die eher an Reformen interessiert sind als an linker Rhetorik. Es wäre aus seiner Sicht ziemlich unklug, sich in Opposition zu den eigenen Ministern zu begeben. Dass er nicht daran denkt, zu weit vom Agenda-Kanzler abzurücken, machte Beck vergangene Woche deutlich, auf seine Weise. Er traf sich mit Ex-Kanzler Schröder zum Spargelessen im Berliner In-Restaurant Einstein, womit gesichert war, dass genug Journalisten das auch mitbekamen. Die beiden hatten viel zu bereden. Neben Kurt Beck in Rheinland-Pfalz hat in den vergangenen zehn Jahren ein einziger Sozialdemokrat eine absolute Mehrheit erobert – Gerhard Schröder, 1998 in Niedersachsen. Horand Knaup SPD-Linke Nahles, Annen „Anspruch durchbuchstabieren“ alverbänden genaue Vorstellungen, wie das auszusehen hat. Nach drei Jahren Schröder-Agenda, Hartz-Reformen und Steuersenkungen und einer langen Periode der Missachtung durch die SPD-Führung fordern sie jetzt eine Kurskorrektur. Beck ist ein Mann, der – anders als Schröder und Müntefering – Parteigremien ernst nimmt. Und dort sind die Linken stark. „Er muss den Anspruch einer linken Volkspartei ausbuchstabieren“, verlangt Nahles. „Wir kommen aus dem 30-Prozent-Turm nur heraus, wenn unser inhaltliches Angebot dem auch Rechnung trägt.“ Konkret heißt das für sie: keine weiteren Steuererleichterungen für Unternehmen, wie von SPD-Finanzminister Peer Steinbrück geplant, keine Pauschalen in der Gesundheitsreform, wie von CDU-Fraktionschef Volker Kauder vorgeschlagen. Auch bei den Gewerkschaften sind die Erwartungen sehr präzise. In einem VierAugen-Gespräch kurz nach Ostern trug DGB-Chef Michael Sommer dem neuen Obergenossen seine Agenda vor: Mitbestimmung, Kündigungsschutz, Gesundheitsreform – „da setzen wir auf euch“. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland ab, solange diese nicht auf Gewalt verzichtet, Israels Existenzrecht und den FriedensproGRÜNE zess anerkennt. Das ist richtig. Aber im Windschatten der USA sind die Europäer, und mit ihnen Berlin, zu weit gegangen. SPIEGEL: Was meinen Sie? Trittin: Der Boykottbeschluss vom April war bei weitem zu pauschal. Das hätte die EU Der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin, 51, über verhindern müssen. Es nützt doch nichts, die USA-Politik der Großen Koalition und als humanitäre Hilfe Medikamente nach Palästina zu liefern, wenn zugleich Ärzte den Umgang mit dem iranischen Atomprogramm und Krankenschwestern nicht mehr bezahlt SPIEGEL: Herr Trittin, Außenminister Frank- SPIEGEL: Ist das Problem einen Streit mit werden können. Wir dürfen nicht dem Zusammenbruch der zivilen Strukturen zuWalter Steinmeier hat bei seiner Amts- den USA wert? übernahme versprochen, die Kontinuität Trittin: Indien ist ein sehr dramatischer Fall schauen und uns nachher wundern, dass der rot-grünen Außenpolitik zu wahren. mit globalen Konsequenzen. Das Land hat die palästinensische Staatsbildung scheiIst ihm das gelungen? alle Formen der nuklearen Anreicherung tert. Zerfallene Strukturen begünstigen TerTrittin: Teils, teils. Die rot-grüne Position internationalen Kontrolleuren entzogen. ror und gefährden Israels Sicherheit. Jetzt zum Irak-Krieg hat mittlerweile selbst die Das droht zum Vorbild für viele zu werden werden die Fehler halbherzig korrigiert. Kanzlerin stillschweigend übernommen. In – von Brasilien bis Südafrika. SPIEGEL: Was schreckt Sie mehr: ein Iran anderen Bereichen bewegt sich die Regie- SPIEGEL: Dafür redet Kanzlerin Angela mit Atomwaffen oder ein Krieg gegen Iran? rung jedoch in die falsche Richtung. Merkel wenigstens mit dem russischen Trittin: Wer einen Militärschlag wagt, wird eiPräsidenten deutlich offener als Gerhard nen atomar bewaffneten Iran bekommen. In SPIEGEL: Inwiefern? Iran gibt es einen Konsens bis tief in die OpTrittin: Nehmen Sie die Kontrolle der nu- Schröder. klearen Rüstungsprogramme. Das ist im ur- Trittin: Stimmt, das hätten sich die Grünen position, dass das Land ein Recht auf die zieigenen deutschen Interesse. Washington auch von Schröder gewünscht. Merkel be- vile Nutzung der Atomkraft hat. Wir brauerkennt faktisch die Atommacht chen eine Vereinbarung mit TeheIndien an – mitten in den Iranran, die dieses Recht respektiert. Verhandlungen über dessen NuAuf militärische Nutzung muss klearprogramm. Das ist ein fataIran international kontrollierbar les Signal. Regierungen in der verzichten. Dritten Welt fragen mit Recht, SPIEGEL: Das klingt gut. Aber die warum Indiens jahrzehntelange iranische Forschung ist längst Missachtung internationaler Abweiter, als Experten glaubten. rüstungsnormen nun amnestiert Trittin: Wir werden Teheran nicht wird, man aber bei Iran so harsch mehr davon abbringen, das bisvorgeht. Berlin hätte das deutlich her erreichte Forschungsniveau kritisieren müssen. Das ist ein ofbei der Anreicherung von Uran fensichtlicher Kurswechsel. aufzugeben. Alles andere wäre blauäugig. Es geht darum, das SPIEGEL: Angela Merkel und Ex-Minister Trittin: „Bruch mit der Politik der Nichtverbreitung“ auf diesem Niveau einzufrieren. Steinmeier behaupten, sie hätten ihre Bedenken in WashingSPIEGEL: Soll der Sicherheitsrat ton vorgetragen. Sanktionen gegen Teheran verhängen? Trittin: Sie haben lediglich am Zeitpunkt des Deals gemäkelt. Trittin: Viel wichtiger ist nun, Hier wäre Klartext angesagt gedass ernsthaftere Verhandlungen mit Iran Ergebnisse bringen. wesen. Der Atomdeal mit Indien Dazu muss aber auch der Wesgefährdet den Erfolg der Verten einiges beitragen. Iran hat handlungen mit Iran – und das Anspruch auf ein glaubhaftes ist die brisanteste internationale Angebot zur kommerziellen AnKrise im Moment. reicherung von Uran unter inSPIEGEL: Warum agiert Berlin Ihternationaler Kontrolle, etwa gerer Meinung nach so kleinlaut? meinsam mit Russland. Und die Trittin: Weil Merkel und SteinUSA müssen endlich aus ihrem meier Krach mit den AmerikaSchmollwinkel kommen und sich nern vermeiden wollen. Lieber an den Gesprächen mit Teheran nehmen sie einen Bruch mit der beteiligen. Washington muss über Jahre betriebenen deutdeutlich machen, dass es keine schen Politik der Nichtverbrei- Präsident Bush, Kanzlerin Merkel: Kleinlaut agiert? militärische Eskalation will. tung in Kauf. SPIEGEL: Das klingt so, als würden Sie dafür wegt sich hier in der Kontinuität von Josch- SPIEGEL: Welche Rolle könnte Berlin dabei auch auf die Chance verzichten, sich mit ka Fischers Außenpolitik. spielen? Washington zu versöhnen. SPIEGEL: Übertreibt die neue Regierung die Trittin: Frau Merkel sollte ihren heißen Draht nach Washington einfach nutzen. Trittin: Ach was. Ein freundschaftliches Ver- Aussöhnung mit den USA? hältnis liegt in unserem Interesse. Aber in Trittin: Man kann wichtige Fragen nicht gegen Lieber George, sollte sie sagen, – sie duzen unserem Interesse liegt es auch, in essentiel- die Amerikaner lösen, aber auch nicht mit ih- sich ja jetzt – es geht nicht, dass wir alle mit len Fragen eindeutig Stellung zu beziehen. nen allein. Nehmen Sie den Fall der Hamas- den Iranern reden, aber ihr nicht. Diesen Dazu zählt die Einhaltung des internationa- Regierung in den Palästinensergebieten. Satz hätten wir gern gehört. len Kontrollregimes für Nukleartechnik. Deutschland lehnt Gespräche mit der Hamas Interview: Ralf Beste GAMMA / LAIF MARKUS HANSEN / ACTION PRESS „Fatales Signal“ 38 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Behördenchefin Birthler MICHAEL KAPPELER / DDP Warnung vor dem Schlussstrich S TA S I Angriff auf ein Symbol Eine Expertenkommission empfiehlt der Bundesregierung den radikalen Abbau der Stasi-Akten-Behörde. Ende des Jahres könnten zudem die Stasi-Überprüfungen auslaufen. D er Staatsminister für Kultur und Medien, Bernd Neumann, 64, ist bislang kaum aufgefallen: Zur Filmförderung hat er sich geäußert, zur Sanierung der Berliner Museumsinsel, zum Schutz des Urheberrechts oder zum türkischen Thriller „Tal der Wölfe“; Spektakuläres war bislang nicht dabei. Doch nun muss der Mann sich namens der Bundesregierung einer Sache annehmen, die heikler kaum sein könnte. Denn in seiner Hand liegt die Zukunft einer Einrichtung, die formal eine Behörde, im Bewusstsein vieler aber doch wesentlich mehr ist – eine „Apotheke gegen die Nostalgie“, wie ihr erster Chef Joachim Gauck schwärmte, das „Vermächtnis der Revolution“, wie die amtierende Leiterin Marianne Birthler glaubt. Es geht um die – so die offizielle Bezeichnung – „Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, bekannt geworden als „Gauck-Behörde“, heute „Birthler-Behörde“ genannt. Bislang war es tabu, die Existenz dieser Einrichtung mit ihren über 2200 Mitarbeitern und ihrem Etat von 100 Millionen Euro in Frage zu stellen, die den schlimmen Nachlass des DDR-Geheimdienstes verwaltet. Allenfalls kämpften alte StasiKader oder einstige SED-Größen gegen den vermeintlichen „Scharfrichter Gauck“. Nun liegen Neumann, in dessen Zuständigkeit die Behörde fällt, die brisanten „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“ vor. Es ist ein 21-seitiges Dokument voller Hinweise, wie die Arbeit der Gedenkstät40 ten, Forschungseinrichtungen und Archive zur DDR-Geschichte professionalisiert werden könnte. Der politische Zündstoff des Papiers aber findet sich auf Blatt acht, auf dem eine – wie es harmlos heißt – „gleitende Neuausrichtung“ der Behörde der Bundesbeauftragten verlangt wird. Empfohlen wird nichts weniger als ein radikaler Abbau der Stasi-Akten-Verwaltung, die den Nachlass des DDR-Geheimdienstes ans Bundesarchiv abgeben soll. De UMFRAGE: DDR „Der Fall der Mauer liegt jetzt mehr als 16 Jahre zurück. Sollten wir uns weiter mit der DDRVergangenheit beschäftigen, oder sollten wir einen Schlussstrich ziehen?“ Mit der Vergangenheit beschäftigen 41 % Schlussstrich ziehen 56 % „War die DDR Ihrer Meinung nach eine Diktatur?“ Ja 85 59 Nein 14 % 9 TNS Infratest für den SPIEGEL vom West 9. bis 11. Mai; rund 1000 Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe d e r s p i e g e l 31 Ost 2 0 / 2 0 0 6 facto wäre dies der Anfang vom Ende der Birthler-Behörde, die ohne die Spitzelaufzeichnungen ihren Sinn verlieren würde. Neumann und dem von der früheren DDR-Bürgerin Angela Merkel geführten Kabinett stehen deshalb heftige Debatten bevor, in denen es um die Zukunft einer Einrichtung gehen wird, die den Lernerfolg der Deutschen nach ihrer zweiten Diktatur symbolisieren sollte. Im Kern geht es um die Frage, welche Zukunft die Vergangenheit der DDR noch haben soll. Wie lange sollen Mitläufer und Mittäter des Systems noch büßen? Wie lange soll eine eigenständige Behörde signalisieren, dass das Thema DDR-Vergangenheit noch nicht erledigt ist? Ginge es nach den Kommissionsmitgliedern, darunter Historiker und Ex-Dissidenten aus der DDR, würde das entkernte Amt umgewandelt werden in eine Stiftung. Fast wie ein Nachruf auf die BirthlerBehörde klingt das Papier: Sie dürfe „angesichts ihrer besonderen historischen Bedeutung auch nach Erledigung ihrer Hauptaufgaben aus dem Prozess der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur nicht zur Gänze herausfallen“. Im Klartext bliebe wenig übrig von der in der deutschen Geschichte einmaligen Instanz, die Ende des Jahres ohnehin eine ihrer zentralen Funktionen verlieren könnte. Dann enden die Überprüfungen auf Stasi-Tätigkeit im Öffentlichen Dienst – nach 15 Jahren soll Schluss sein mit der sogenannten Regelüberprüfung. „Nach Ablauf der Frist“, heißt es im Stasi-Unterlagen-Gesetz, „darf die Tatsache einer Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst dem Mitarbeiter im Rechtsverkehr nicht mehr vorgehalten und nicht zu seinem Nachteil verwendet werden.“ Birthler aber wehrt sich. Sie warnt vor einem „Schlussstrich“. Erst im Jahr 2020 seien einige ihrer Aufgaben erledigt, „andere gelten unbefristet“. Die Abwicklung der Behörde wäre „ein später Erfolg der Stasi-Offiziere“. Während Experten im Kanzleramt einen möglichst schnellen Anschluss des Stasi-Archivs ans Koblenzer Bundesarchiv befürworten, schlägt der Ost-Beauftragte und Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) schon Alarm: „Wir dürfen die Stasi-Akten noch nicht ins Archiv der Geschichte stellen.“ Die Vergangenheit sei auch durch das „infame Auftreten von alten Stasi-Kadern“, so der aus der 80 % Bürgerbewegung stammende Politiker, „immer noch bedrängend aktuell“. Aufgeschreckt ist auch der Thüringer Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU), der weitere Stasi-Überprüfungen befürwortet, für die das Bundesarchiv ungeeignet ist. „Ob Stasi-Überprüfungen nicht Deutschland mehr sein müssen“, sagt er, „darüber sollen künftige Generationen entscheiden.“ Althaus will deshalb im Bundesrat initiativ werden und das Stasi-Unterlagen-Gesetz ändern. Unterstützung kommt von Sachsen-Anhalts Regierungschef Wolfgang Böhmer (CDU): „Bei Wahlfunktionen sollte es weiter eine Regelüberprüfung geben.“ Auch im Bundestag ist eine große Koalition in Sicht – zumindest für „Anlassprüfungen in Einzelfällen“, die Arnold Vaatz, Vize der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordert. Stephan Hilsberg, Fraktionsvize der SPD, die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt und FDP-Rechtsexperte Jörg van Essen sind ebenfalls dafür. Doch Vaatz personifiziert geradezu die Zerrissenheit beim Thema Stasi-Akten. Einerseits plädiert der einstige Bürgerrechtler für die Fortsetzung von Überprüfungen, andererseits kritisiert er regelmäßig den Zustand der Behörde. Ähnlich wie einige Mitglieder der Expertenkommission ist Vaatz verärgert über Birthlers Leute, die bislang noch nicht ihren Aktenbestand komplett archiviert haben – erst 62 Prozent der Unterlagen in der Berliner Zentrale sind erschlossen. Aus der Empörung darüber resultieren die Sympathien für einen Zuständigkeitswechsel, auf den der Präsident des Bundesarchivs, Hartmut Weber, setzt. Dann käme „zusammen, was zusammengehört“, sagt der Archivchef. Schon 1990 gab es Pläne für diese Art Anschluss des DDR-Erbes an das WestArchiv. Doch die Helden des Herbstes 1989 kämpften für einen Verbleib der Akten im Osten und gegen ihre Übernahme durch das Archiv. Mit einem Hungerstreik erzwangen Revolutionäre wie Bärbel Bohley die Übernahme des Stasi-Akten-Gesetzes der DDR-Volkskammer in den Einigungsvertrag. Ihr Motto: „Die Akten gehören Die Revolutionäre des Herbstes 1989 kämpften nach dem Motto: „Die Akten gehören uns!“ uns!“ Damals war es der westdeutsche Innenminister Wolfgang Schäuble, der erst für „Schlussstrich“ und „Gnade“ warb, dann aber in die Gründung der GauckBehörde einwilligte. Inzwischen hat die Behörde zumindest einen wesentlichen Teil ihres Auftrags erledigt: Rund 1,5 Millionen Menschen haben Akteneinsicht genommen. Mehr als 1,7 Millionen Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes wurden überprüft. Während die Birthler-Behörde zu einer Art Exportschlager wurde, zum Vorbild bei der Aufarbeitung in Polen etwa, ließ das Interesse hierzulande allmählich nach – die Stasi-Überprüfung ist zu einem Auslaufmodell geworden. Selbst das Bundesinnenministerium hat sich still von der 42 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Regelüberprüfung verabschiedet. Und die Konsequenzen von Stasi-Verstrickungen sind mitunter höchst willkürlich: Wegen seiner mutmaßlichen IM-Tätigkeit durfte der Sportreporter Hagen Boßdorf nicht NDR-Sportchef werden, ARD-Sportkoordinator blieb er dennoch. 16 Jahre nach der Wiedervereinigung bezweifeln deshalb nicht nur Anhänger des alten Systems den Sinn weiterer Überprüfungen und mahnen zu mehr Gelassenheit beim Thema Stasi. Die fällt allerdings nicht ganz leicht angesichts der Dreistigkeit, mit der frühere MfS-Zuträger mitunter auftreten. Bis vor den sächsischen Verfassungsgerichtshof will etwa der parteilose Fahr- lehrer Christoph Fröse ziehen. Damit sie ihn endlich reinlassen, in sein Rathaus in Bannewitz bei Dresden. Am 26. Februar hatten die Bannewitzer Fröse mit 52,7 Prozent zum neuen Bürgermeister der Gemeinde gewählt. Fröse war der Stasi weiland als IM „Gallinat“ zu Diensten. 30 Treffs mit einem Führungsoffizier sind belegt, 28 handschriftliche Berichte und 14 Tonbandprotokolle. Es gibt Hinweise auf Prämien und eine Verpflichtungserklärung. Offensichtlich sollte Fröse von 1985 an vor allem Ausreisewillige im Auge behalten. Wählbar sei so ein Mensch nicht, befand das Landratsamt Weißeritzkreis und er- klärte die Wahl für ungültig. Fröse erfülle nicht die „allgemeinen persönlichen Voraussetzungen“, so der Landrat, da er mit dieser Vergangenheit für „die Ausübung des Amtes des Bürgermeisters als untragbar“ erscheine. Doch der frei gewählte Bürgermeister besetzte kurzerhand das Amt. Mitte April saß der Mann eines Tages von 12 bis 18 Uhr in seinem Dienstsitz, bis ein Streifenwagen vor dem Rathaus auftauchte. Fröse erhielt schriftlich von seinem anwesenden Stellvertreter die Aufforderung, umgehend das Amt zu verlassen. Er lehnte ab und verlangte – ebenfalls schriftlich – die Herausgabe der Rathausschlüssel. Die zwei Beamten der Streife be- gutachteten etwas ratlos den Austausch der Noten. Dann zogen sie wieder ab. Ohne Fröse, der inzwischen Klage beim Dresdner Verwaltungsgericht eingereicht hat, damit er sein Amt ausüben darf. Seither zieht der Fall seine Kreise. Die „Sächsische Zeitung“ druckte eine ganze Seite Leserbriefe unter der Überschrift: „Dürfen Ex-IMs Bürgermeister sein?“ Volkes Stimme zeigt, wie umstritten inzwischen der Umgang mit ehemaligen Zuträgern ist. Eine Frau schrieb: „Jedem Straftäter wird eher vergeben.“ Erstaunliche Parallelen weist der Fall Fröse zu einem anderen Eklat in Sachsen auf. 1994 hatten die Einwohner von Kö- nigstein den gerade wegen Stasi-Verstrickungen (IM „Fritz Steuer“) abgesetzten CDU-Bürgermeister Rudolf Maiwald als Parteilosen wieder ins Amt gewählt. 300 Seiten dick war seine Akte, nach nur sieben Stunden im Amt wurde Maiwald seinerzeit vom Landrat beurlaubt. Auch Maiwald zog vor Gericht, ging durch alle Instanzen und marschierte am Ende ins Rathaus ein: Der Leipziger Verfassungsgerichtshof kam zu dem Schluss, dass der Beleg für die Stasi-Mitarbeit allein nicht ausreiche, Maiwald das Amt zu verweigern. Es müsse auch die Bewährung unter rechtsstaatlichen Verhältnissen gewürdigt und eine Prognose über die künftige Amtsführung abgegeben werden. Dasselbe Gericht muss demnächst über Peter Porsch, einen sächsischen Parlamentarier der Linkspartei, entscheiden. Wegen seiner mutmaßlichen Stasi-Verbindung soll er sein Mandat niederlegen. Doch er be- „Niemand darf uns das Recht nehmen, die Dinge beim Namen zu nennen.“ streitet, für die Stasi gearbeitet zu haben, und bleibt als Fraktionschef im Landtag. So wird jeder neue Fall zum Beweis einer gewissen Hilflosigkeit. Anfang Mai erklärte der Überprüfungsausschuss des Thüringer Landtags die Linkspartei-Abgeordnete Ina Leukefeld für parlamentsunwürdig. Sie hatte für die Stasi gespitzelt. Die Erklärung des Ausschusses hat jedoch keinerlei Auswirkungen – es wird keine Sanktionen geben. Leukefeld will dennoch vor dem Verfassungsgericht klagen: Allein ihre Überprüfung sei „unwürdig“. Allerdings: Ihre Vergangenheit kannten die Wähler. Vor Einzug ins Parlament berichteten Zeitungen über ihre Akte, dann errang Leukefeld 2004 mit 42 Prozent der Stimmen in Suhl ein Direktmandat. „Ich bedaure, dass mein Wirken dazu beigetragen hat, Unrecht zu ermöglichen“, sagte die Frau, die in die Offensive ging. Unter dem Motto „Meine Akte. Deine Akte. Akteneinsicht mit Ina Leukefeld“ las sie im März im Gasthaus Tivoli zu Suhl aus ihren Stasi-Unterlagen vor. Angesichts solcher Fälle, beharrt der Theologe Richard Schröder, Vorsitzender des Beirats der Birthler-Behörde, darauf, die Stasi-Vergangenheit auch in Zukunft weiter öffentlich machen zu dürfen. „Egal, wer die Akten verwaltet“, meint er, „niemand darf uns das Recht nehmen, die Dinge beim Namen zu nennen.“ Ansonsten setzt er auf eine biologische Lösung des Problems. Er habe so seine Zweifel, sagt er ironisch, dass unter Bewerbern des Öffentlichen Diensts im Jahr 2007 noch viele Ex-Offiziere der Stasi sein Stefan Berg, werden. Andreas Wassermann, Peter Wensierski, Klaus Wiegrefe, Steffen Winter d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 43 Claudia Rajah mit Söhnen Amin, Sofian (um 2001), Mohammed Rajah mit den Söhnen in Tunesien: „Die Kinder werden geopfert“ K I N DE S R AU B „Holen Sie die mit Gewalt“ Seit Monaten jagt eine deutsche Mutter ihren tunesischen Mann. Denn der hat die gemeinsamen Kinder entführt und flieht nun mit ihnen quer durch die arabische Welt. Von Cordula Meyer A m letzten Morgen ihres normalen Küchentisch ihrer Etagenwohnung hat sie Einschreibebrief kam, spielt sich ihr LeLebens holte Claudia Rajah Bröt- ihre Ordner ausgebreitet: Beschlüsse von ben nicht mehr zwischen Elterninitiative chen für das Frühstück vor dem Gerichten in Ebersberg, München und und Gartencenter ab – sondern zwischen Abschied. Kurz vor zehn Uhr nahm sie Tunis. Einen internationalen Haftbefehl Tunis, Doha und Riad. dann die Reisetasche mit den Shorts und gegen ihren Mann, Korrespondenz mit Sie hat mehr als 60 000 Euro ausgegeben Badehosen ihrer Söhne Amin, 10, und Behörden im Golfstaat Katar, mit dem Ver- für Flugtickets, Anwälte, Telefonkosten. Sofian, 7. Es war Punkt zehn, als die bindungsbeamten des Bundeskriminalamts Sie hat Sorgerechtsbeschlüsse und diesen drei schließlich den Vater der Jungs ab- (BKA) in Saudi-Arabien, Bettelbriefe ans Haftbefehl erwirkt, sie hat getan, was das holten. Auswärtige Amt (AA) und ein paar Le- Auswärtige Amt ihr geraten hat und noch Der gebürtige Tunesier Mohammed Ra- benszeichen ihrer Söhne. viel mehr. Nur: Ihre vom Ehemann entjah lebte von seiner Frau getrennt, aber Claudia Rajah hat blondgesträhnte Haa- führten Kinder hat das nicht zurückgeebenfalls in der Kleinstadt Vaterstetten bei re, wache grüne Augen und trägt rosa bracht. Sie sagt: „Ich habe viel Papier, aber München. Gemeinsam wuchteten sie seine Jeans. Die gelernte Floristin spricht Fran- ich habe nichts erreicht.“ beiden großen Koffer und die schwere zösisch und Arabisch, sie ist eine tatkräfIhr Fall zeigt, was passieren kann, wenn Reisetasche ins Auto. „Das ist aber viel“, tige Frau, die ihre Verzweiflung oft hinter sich ein scheinbar perfekt integrierter dachte sich Claudia Rajah noch. einem Lächeln verbirgt. Denn seit dieser Einwanderer mit deutschem Pass nach Eine Stunde später waren sie vielen Jahren in Deutschland plötzam Münchner Flughafen. Die beilich dem strengen Islam zuwendet. den Jungs und ihr Vater sollten Vor allem aber zeigt das Schickmit Tunis Air nach Tunesien fliesal der Rajahs: Wenn ein Vater gen, angeblich zum Urlaub in der gemeinsame Kinder erst einmal in alten Heimat Mohammeds. Claudie muslimische Welt entführt hat, dia Rajah umarmte ihre Söhne. ist westliches Recht nichts mehr „Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie wert. ganz doll lieb habe – was man so „Auch wenn das islamische Versagt.“ ständnis vom Verhältnis zwischen Es dauerte zwölf Tage, dann kam Mann und Frau nicht den Grundsätein Einschreibebrief, auf Arabisch. zen des deutschen Familienrechts Es war die Vorladung eines Gerichts entspricht, muss es respektiert werin Tunis: Ihr Mann wolle die Scheiden“, schreibt das Auswärtige Amt. dung. Und die Kinder. „Rechtspositionen – mögen sie nach Das ist nun neun Monate her. deutschem Empfinden auch noch Seither schleppt ihr Mann die Kinso eindeutig sein – helfen oft nicht der quer durch die arabische Welt, weiter.“ Das heißt: Vergiss es, und und Claudia Rajah ist zumute, als erwarte nicht allzu viel Hilfe. Denn lebte sie einen Alptraum. Auf dem Brief des Sohnes Amin: „Wieso konnte das passieren?“ ein solcher Streit, so stellt das AA 44 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland fest, sei „eine private und keine außenpolitische Angelegenheit“. Claudia Rajah sagt, sie spüre oft einen unterschwelligen Vorwurf: Sie hätte es doch wissen müssen, wenn sie so einen heiratet. Und ihr Bruder Stefan Maisack, ein Manager aus Bonn, ein sanfter Mann mit dem Glauben an die Vernunft, sagt Sätze, die nicht zu ihm passen: „Öl statt Kinder: Um die Beziehungen zu Saudi-Arabien nicht zu belasten, unternimmt niemand etwas. Und die Kinder werden geopfert.“ Als Maisack von dem Brief aus Tunis erfährt, setzt er sich ins Auto, kommt mitten in der Nacht nach Vaterstetten. Claudia Rajah hat Angst, die Kinder womöglich wochenlang nicht zu sehen. Ihr Bruder sagt: „Claudia, vielleicht werden es Jahre.“ Trotzdem hoffen die beiden, dass Mohammed die Söhne doch zurückbringt. Sie warten am Gate mit der Polizei, als die Maschine landet, mit der die Kinder eigentlich aus den Ferien kommen sollten. Natürlich kommen sie nicht. Aber abends habe ihr Mann angerufen, sagt Claudia Ra- DAVID AUSSERHOFER / JOKER und joggten zusammen, Mohammed bildete sich weiter zum Hotelbetriebswirt. Vier Jahre später kam Amin zur Welt, zwei Jahre danach Sofian, beides Wunschkinder. Zwölf Jahre lang, meint Claudia Rajah, war ihre Ehe glücklich: „Wieso konnte das passieren? Diese Frage stelle ich mir oft.“ Ab 2003 bemerkt Claudia Rajah erste Risse in ihrem Leben. Als ihr Ältester, Fußballer beim FC Parsdorf und Fan der DreiFragezeichen-Krimis, beim Essen sagt: „Ich kann die Wurst nicht essen.“ „Natürlich kannst du die Wurst essen“, sagt seine Mutter. „Die ist aus Geflügel.“ „Siehst du, Papa hat doch recht. Du willst, dass ich in die Hölle komme, und da muss ich über glühende Kohlen gehen und verbrenne.“ Claudia Rajah ist perplex und stellt ihren Mann zur Rede. Der will nun, dass die Kinder nur noch Fleisch von geschächteten Tieren essen. Ein paar Wochen später fahren sie mit Freunden nach Berlin. Sie sitzen in Prenzlauer Berg und diskutieren über den Islam. Verdattert hören Claudia und ihre Freunde Mohammeds neue Position: Religion sei das Wichtigste im Leben. Als seine Frau widerspricht, habe er gedroht, wenn sie sich so verhalte, werde sie ihre Kinder verlieren. Er beginnt, fünfmal am Tag zu beten. Er trinkt kein Bier mehr, will nicht, dass die Familie amerikanische Musik hört. Claudia Rajah beißt die Zähne zusammen: Ihr graut davor, dass all jene, die sie vor dieser Ehe Auswärtiges Amt in Berlin: „Wir lassen sie nicht allein“ gewarnt haben, recht bekommen könnten. jah, er habe gewusst, dass sie mit der PoliAls in der Adventszeit 2004 Claudia zei da waren, und er habe ihr gedroht. Rajahs Mutter zu Besuch kommt, eskaliert Mohammed war nie gewalttätig, aber die Situation. Mohammed weigert sich, das jetzt bekommt Claudia Rajah Angst. Trotz- Haus zu betreten, weil seine Schwiegerdem: Als das AA ihr rät, in Tunesien gegen mutter abends Wein trinkt. Claudia Rajah ihren Mann zu prozessieren, fährt sie los. erfährt, dass ihr Mann in einer Münchner Es ist der 4. September. Moschee verkehrt, die vom VerfassungsEs geht erst nach Genua, dann auf die schutz beobachtet wird und Verbindungen Fähre, auf der sie vor einem Jahr noch mit zur radikalen Muslimbruderschaft haben ihrem Mann in den Urlaub gefahren ist. Sie soll – auch wenn der Staatsschutz später denkt zurück an jenen Abend im Musikclub keine Hinweise auf islamistische Umtriebe „Cave“ in Heidelberg, an dem sie diesen jun- von Mohammed selbst findet. gen Mann aus Tunesien traf, mit den fröhlich An Samstagen, wenn sie im Geschäft blitzenden Augen. Sie verabredeten sich für Blumen bindet, wähnt sie ihre Söhne mit den nächsten Tag. Und dann für jeden an- dem Vater daheim. Stockend rücken die deren in den vier Wochen, die Mohammed irgendwann damit heraus, dass sie dann in Rajah noch in Deutschland bleiben wollte. der Koranschule seien und der Vater ihnen Sechs Wochen später flog Claudia nach Tu- verboten habe, davon zu sprechen. Sofian nesien. Ein halbes Jahr später heirateten die erzählt von Stockschlägen auf die Hände. beiden – trotz der Bedenken des Vaters, der Jetzt reicht es Claudia Rajah. Ihr Bruder lieber einen Banker zum Schwiegersohn ge- Stefan versucht, in einem Gespräch von habt hätte als einen Kellner aus Tunesien. Mann zu Mann zu vermitteln: „MohamDoch Claudia war sich sicher: Das war med, was ist denn? Gibt es Probleme, die der Mann fürs Leben. Sehr lange ging es wir nicht kennen? Wer sind diese Mengut. Vom Islam sprach Mohammed nicht, schen, Mohammed, die dir sagen, dass das er liebte Abende im Biergarten. „Uns war richtig ist, was du tust?“ Mohammed antnie langweilig“, sagt sie. Sie schwammen wortet, so erzählt es Stefan Maisack, d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 47 Deutschland knapp: Die Meinung einer Frau zähle nicht. Und: Der Glaube stehe über allem. Claudia Rajah zieht mit ihren Söhnen aus. Ihr wird mulmig, wenn sie an den Urlaub denkt, den ihr Mohammed mit den Kindern in Tunesien plant. Erst recht, als sie erfährt, dass ihr Mann, wohl wegen seiner fundamentalistischen religiösen Anwandlungen, auch seinen Job als Buchhalter einer Autovermietung verloren hat. Das Amtsgericht Ebersberg macht dann den entscheidenden Fehler: Mohammed erscheint zum Streit um das Sorgerecht ohne den neuerdings üblichen Vollbart, sondern frisch rasiert und mit Krawatte. Er unterzeichnet eine Eidesstattliche Versicherung: „Es ist absurd, wenn mir meine Frau unterstellt, ich würde den geplanten Urlaub dazu hernehmen, meine Kinder nach Tunesien zu entführen.“ Die Richterin glaubt das und macht, was in Scheidungsfällen üblich ist: Sie drängt auf das gemeinsame Sorgerecht von Mutter und Vater, wie das Protokoll ausdrücklich feststellt. Claudia Rajah stimmt schließlich zu, ihrem Mann die Pässe der beiden Söhne zu übergeben. „Das haben die deutschen Behörden durchgesetzt“, klagt sie jetzt. Aber nun, wo die Kinder weg seien, schrieben deutsche Beamte ihr, sie hätten leider „keine Möglichkeiten“, die Söhne zurückzubringen. Claudia Rajah nimmt die Sache selbst in die Hand. In Tunis angekommen, mietet sie sich eine Wohnung, findet einen angesehenen Anwalt, am 12. September ist Verhandlung. Die tunesische Richterin zwingt Mohammed Rajah, die Kinder bei Gericht vorzuführen. Claudia Rajah stürzt auf sie zu, umarmt sie, Amin kullert eine Träne aus dem Auge. Nach dem Termin nimmt der Vater die beiden Kinder an der Hand und zerrt sie weg, ohne Verabschiedung. Beim nächsten Gerichtstermin unterschreibt sie, sie werde nach Tunesien ziehen. Sie kauft Kinderbetten und zeigt die sogar dem tunesischen Kinderschutzbeauftragen. Doch die Kinder kommen nicht. Da nötigt der Kinderschutzbeauftragte Mohammed, die Kinder zu einem Treffen in ein Café zu bringen. Die Mutter nimmt Sofian auf den Schoß, flüstert ihm ins Ohr, wie sehr sie ihn liebe. Sie zeigt Amin die Briefe, die seine Klassenkameraden ihm geschrieben haben. Claudia Rajah hofft, dass sich alles zum Guten wendet, sie ahnt nicht, dass sie ihre Söhne zum letzten Mal sieht. Beim Gerichtstermin vier Tage später geschieht das Wunder: In der Sache Rajah gegen Rajah entscheidet das muslimische Gericht für die Deutsche. Vollstreckt werden kann das Urteil nicht: Vater und Kinder sind da schon spurlos verschwunden. Claudia Rajah fragt, bohrt, nervt, und dann ziehen die tunesischen Behörden mit. Die Grenzpolizei findet heraus: Ihr Mann ist noch am Tag des Urteils geflohen. Richtung Kairo, mit den Kindern. Die Staatsanwaltschaft München erlässt internationalen Haftbefehl, gültig auch für die arabischen Länder. Theoretisch. Mit Hilfe der Behörden findet Claudia Rajah heraus, dass ihr Mann in den Golfstaat Katar weitergereist ist. Was nun? Beginnt in Katar alles von neuem? Die Botschaft schreibt Claudia Rajah ziemlich genau das. Sie müsse hinfahren, die Sorgerechtsbeschlüsse anerkennen lassen und die Herausgabe ihrer Kinder fordern. Und der Haftbefehl, nun ja, der nütze nichts, weil Kindesentziehung durch den Vater in Katar kein Verbrechen sei. Der zuständige Erdinger Kriminalhauptkommissar Alfred Wimmer versucht trotzdem alles, um die Kinder zu finden. Er schaltet Kollegen ein, löchert deutsche Verbindungsbeamte im Ausland. Vergebens. Saudi-Hauptstadt Riad: Die Meinung einer Frau In Vaterstetten schreibt der siebenjährige Alexander, der beste Freund von Sofian, derweil einen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Warum haben Sie alles für Susanne Osthoff getan und nichts für meinen Freund Sofian?“, fragt er. In Hirschberg schreibt Claudia Rajahs Vater, ehemaliger Direktor an einer Landesbank, an den bayerischen Innenminister Günther Beckstein. Ihr Bruder schreibt an Ex-Kanzler Gerhard Schröder, an jeden, der irgendwie helfen könnte. Er ruft auch die Opferschutzorganisation Weißer Ring an. Die Auskunft dort ist ernüchternd: „Holen Sie die Kinder mit Gewalt“, habe der Berater vor Ort gesagt, erinnert ABACA / REFLEX zählt nicht sich Stefan Maisack, „sonst sehen sie die nie wieder.“ Der Weiße Ring hat Erfahrung mit solchen Fällen, 40 betreut er zurzeit. Veit Schiemann von der Bundesgeschäftsstelle wagt sich so weit vor, wie er gerade noch darf: „Wir wollen nicht Detektive mitfinanzieren, die Kinder gegen lokale Gesetze zurückholen, aber das ist eine Grauzone.“ Claudia Rajah nimmt Kontakt mit einer Detektei auf. Doch was sie erfährt, macht ihr Angst. Die Detektive erzählen, wie sie die Kinder normalerweise von der Straße wegfangen, mit K.-o.-Tropfen betäuben, damit sie nicht schreien, und wie sie dann mit den Kindern im Kofferraum davonrasen. „Und dann“?, fragt Claudia Rajah. Der Detektiv sagt, in ihrem Fall müsse sie damit rechnen, dass der Vater die Kinder erneut zurückentführe, er sei ja offenbar zu allem entschlossen. Der Detektiv sagt: Sie brauchen einen neuen Namen, eine neue Identität, ein neues Heimatland. Claudia Rajah lehnt ab. „Wenn ich das gemacht hätte, hätte ich mich auf dieselbe Stufe begeben wie Mohammed.“ Über Weihnachten bleibt Claudia Rajah in Tunesien. Sie hat Angst vor den leeren Kinderzimmern daheim in Bayern. Vor Amins Zimmer, mit der niemals benutzten Schultasche darin, die er sich für den ersten Tag am Gymnasium ausgesucht hatte, mit der Sporttasche vom FC Bayern, dessen Spiele er niemals verpasste. Und vor Sofians Zimmer mit den Speedbooten aus Lego und der „Weltkarte für Kinder“ an der Wand. In Tunesien sind Schäfer und Beduinen eingezeichnet. Im Januar kommt ein Lebenszeichen, Briefe der Kinder. „Wir sind schon zu einer weiteren Sure im Koran gekommen“, d e r schreibt Amin. Die Mutter plant die Reise nach Katar. Aber was sie dort erfährt, ernüchtert sie. Die Anwälte sagen ihr, dass sie als Frau, als Christin, kaum Chancen habe. Sie fährt zum Polizeichef. Der sagt: „Ich verstehe Sie als Mutter. Aber als Muslim bin ich auf der Seite Ihres Mannes.“ Eine deutsche Botschaftsangehörige engagiert sich, als ginge es um ihre eigenen Kinder. Aber: ohne Erfolg. Einmal, als Claudia Rajah im Café sitzt – ganz hinten in der abgetrennten Frauensektion, umgeben von schwarzverhüllten Gestalten –, möchte sie losschreien. Sie macht einen letzten Versuch und schickt ihrem Mann eine E-Mail. Sie wolle ihn abends in Doha an der Eisbahn treffen. Sie wartet. Er kommt natürlich nicht, aber er reagiert: Noch in derselben Nacht flüchtet er aus dem Land. Sie erfährt es erst, als sie in Tunis ist, wo sie wieder vor Gericht erscheinen muss. Die Kinder sind jetzt ein halbes Jahr weg. Die Behörden von Katar bestätigen schließlich: Mohammed Rajah und seine Kinder hätten Katar in Richtung SaudiArabien verlassen. Jetzt geht es nicht mehr weiter – ohne Begleitung eines Mannes darf Claudia Rajah Saudi-Arabien nicht einmal betreten. Der Verbindungsbeamte des BKA in Riad gibt sich große Mühe, Mohammed Rajah wenigstens ausfindig zu machen. Bislang vergebens. Helfen könnte allenfalls Druck von höchster politischer Stelle. „Wir lassen Frau Rajah nicht allein“, heißt es im AA. Aber weil ihre Kinder die doppelte Staatsbürgerschaft haben, „sind den Konsularbeamten bei der Hilfe Grenzen gesetzt“. Vor vier Wochen schreibt Mohammed Rajah die bislang letzte E-Mail an seine Frau. „Mein Kampf um meine Kinder geht auch nach meinem Tod weiter!“ Vom SPIEGEL ebenfalls per Mail zum Fall befragt, schreibt er, „keine Äußerungen an die Öffentlichkeit geben“ zu wollen. Sein Anwalt Eberhard Gloning aus München sagt, er habe seinem Mandaten geraten, nach Deutschland zurückzukehren. Schließlich schaltet Claudia Rajahs Familie eine Anzeige in der „Frankfurter Allgemeinen“. „Wir appellieren dringend an das Auswärtige Amt Berlin und die Herren Minister Dr. Frank-Walter Steinmeier, Dr. Wolfgang Schäuble und Dr. Günther Beckstein, sich endlich für zuständig zu erklären.“ Und Claudia Rajah liegt morgens früh wach in ihrem Bett und lauscht in die Stille. Kein Kind, das zu ihr ins Bett springt, so wie früher. Sie überlegt, wo Amin und Sofian sein könnten. In einer Koranschule? Die Kinder sind jetzt neun Monate weg. Der Fall Rajah sei „ganz typisch“, sagt der Sprecher des Auswärtigen Amts. Nur sei Frau Rajah viel weiter gekommen als die meisten Mütter in den Dutzenden dieser ziemlich aussichtslosen Fälle, die das Amt jedes Jahr bearbeitet. ™ s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 49 Deutschland AU S S E N P OL I T I K „Ein krasser Missgriff“ AMIN AKHTAR / OSTKREUZ Gesine Schwan, 62, Präsidentin der Universität Viadrina und Polen-Beauftragte der Bundesregierung, über den Umgang mit der populistischen Regierung in Warschau und polnische Ängste Uni-Chefin Schwan: „Wir sollten Ruhe bewahren“ nicht gerade eine Mehrheit der Polen. Angesichts der schwachen Wahlbeteiligung spricht es eher für 20 Prozent der Bürger. SPIEGEL: Also alles lieber nicht so ganz ernst nehmen? Schwan: Die Stimmen für Lepper und Giertych bei der Wahl vorigen Herbst zeigen, dass es in ihren Hochburgen im Süden und Osten des Landes erhebliche Ängste gibt. Polen befindet sich in einer schweren Modernisierungskrise. Bei uns erweckt das Bild vom polnischen Klempner Angst vor Billigkonkurrenz, doch auch unsere Nachbarn sorgen sich vor Wettbewerbern – allerdings aus China und Marokko. Viele Menschen suchen aus Verunsicherung heraus ihr Heil in Nationalismus und in wohlfahrtsstaatlichen Versprechen. SPIEGEL: Sie plädieren für Geduld mit Polen. Reicht das? Schwan: Das Gegenteil von Geduld wäre doch Emotionalisie- * Am 9. Mai gegen die Berufung von Andrzej Lepper (Plakat o.) und Roman Giertych (u.) ins Kabinett. 50 WOJTEK RADWANSKI / AFP SPIEGEL: Frau Schwan, in Polen hat eine Regierung unter Beteiligung von Nationalisten und Populisten die Arbeit aufgenommen. Droht dem deutsch-polnischen Verhältnis eine Eiszeit? Schwan: Die Deutschen müssen sich keine akuten Sorgen machen, sondern sollten unbeirrt und konstruktiv für eine gemeinsame deutsch-polnische Politik in Europa werben. Alle Umfragen zeigen, dass die Polen eine wachsende Sympathie für die Deutschen aufbringen – mehr übrigens als andersherum. Die Deutschen sollten im Umgang mit Polen derzeit eher langfristig denken. SPIEGEL: Der populistische Bauernführer Andrzej Lepper und der Nationalist Roman Giertych, beide stellvertretende Premierminister, tun wenig zum Abbau von Vorurteilen gegen Deutsche. Giertych klagte einmal, Deutschland und Frankreich würden in der EU allen anderen „das Rückgrat brechen“. Schwan: In Polen selbst ist die Reaktion auf die Regierungsbildung durchaus kritisch. Und das Kabinett repräsentiert auch Studentenproteste in Warschau* „Auch in Polen viel Ärger“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 rung, und die wäre falsch. Wir sollten Ruhe bewahren, das ist nicht arrogant, sondern wird von vielen meiner polnischen Freunde geteilt. Die Polen hatten noch nicht sehr viel Zeit seit 1989, ein stabiles demokratisches Gemeinwesen mit soliden Parteien zu bilden. SPIEGEL: Als die Partei des österreichischen Rechtspopulisten Jörg Haider im Jahr 2000 in die Regierung in Wien einzog, rief die EU den Boykott Österreichs aus. Müsste heute nicht das Gleiche mit Polen geschehen? Schwan: Giertych und Lepper sind nicht dasselbe wie Haider. Der bezog fremdenfeindliche und rassistische Positionen, die mitunter an den Nationalsozialismus erinnerten. SPIEGEL: Antisemitismus findet sich auch bei Giertychs „Liga polnischer Familien“. Jugendliche Liga-Anhänger wurden nach dem Wahlerfolg voriges Jahr beim Hitlergruß gesehen. Schwan: So etwas ist natürlich unerträglich. Die Liga ist wirklich eine Gefahr für die polnische Demokratie. Lepper dagegen ist völlig beliebig. SPIEGEL: Immerhin lobte er, Adolf Hitler habe „die deutsche Wirtschaft auf die Beine gestellt“. Schwan: Das hat ihm auch in Polen viel Ärger eingebracht. Die polnische Gesellschaft ist viel zu freiheitsliebend, als dass sie sich durch organisierten Rechtsradikalismus auf Dauer fangen ließe. SPIEGEL: Nochmals: Im Falle von Österreich waren Sanktionen gerechtfertigt, bei Polen sind sie es nicht? Schwan: Bei Haider konnte ich sie nachvollziehen. Polen würde man durch Sanktionen eher in größere Turbulenzen stürzen. Wir müssen im Kopf behalten, dass die Demokratie dort noch nicht wirklich gefestigt ist. Eine Isolation würde das Land in eine gefährliche Krise stürzen. SPIEGEL: Verteidigungsminister Radoslaw Sikorski hat gesagt, dass ihn die Planung der Ostseepipeline von Russland nach Deutschland an das Vorgehen beim HitlerStalin-Pakt erinnere. Schwan: Das war ein krasser Missgriff. SPIEGEL: Welches Signal könnte Bundespräsident Horst Köhler in Polen für diese neue Phase der deutsch-polnischen Beziehung setzen, wenn er am Donnerstag nach Warschau fährt? Schwan: Der Bundespräsident hat bislang eine sehr gute Rolle gespielt, indem er unprätentiös, ruhig, mit echter Zuwendung zugehört hat, eigene deutsche Positionen geklärt und auf gemeinsame Chancen in der EU hingewiesen hat. Genau so sollte er weitermachen. SPIEGEL: Rechnen Sie damit, dass das neue Kabinett in Warschau sich lange hält? Schwan: Ich habe große Schwierigkeiten zu glauben, dass diese Regierung eine langfristige und in sich schlüssige Politik entwerfen und durchsetzen kann. Deshalb bezweifle ich auch, dass sie von langer Dauer ist. Interview: Ralf Beste Deutschland SICHERHEITSPOLITIK Angriff des Verteidigers Mit einer neuen Sicherheitsdoktrin profiliert sich Verteidigungsminister Jung als strammer Konservativer. Den Entwurf seines SPD-Vorgängers ließ er umschreiben, kürzen und verschärfen. äußerer Sicherheit getrennt werden. „Daher braucht man im Grundgesetz eine Klarstellung“, sagte Jung. Mit wenigen Sätzen hatte der Verteidigungsminister unter Beweis gestellt, dass er das Holzen auch im neuen Amt nicht verlernt hat. Der Koalitionspartner heulte erwartungsgemäß auf. „Ich warne vor einer Diskussion, die statt Sicherheit Unsicherheit produziert“, schimpfte SPD-Chef Kurt Beck umgehend aus Mainz, und der sozialdemokratische Verteidigungsexperte Rainer Arnold ging sofort zum Gegenan- HENNING SCHACHT / ACTION PRESS I Jung-Vorgänger Struck Angestaubtes Papier im Panzerschrank INGO WAGNER / DPA n seinem früheren Leben galt der hessische Landespolitiker Franz Josef Jung eher als rauflustig: In der Fußballmannschaft des Landtags spielte er auf dem linken Flügel, im Parlament holzte er bevorzugt rechts. Gnade kannte er dabei selten, so dass der (auch nicht gerade zimperliche) Grüne Joschka Fischer einst giftete, der Christdemokrat stürme in der „Stahlhelmtruppe“ um Roland Koch. Der hessische Ministerpräsident beschrieb die Rolle seines Vertrauten dagegen so: „Einer muss die Pfeile auf sich ziehen.“ In seinem neuen Leben ist es ruhig um Franz Josef Jung geworden. Zwar dient er bereits seit knapp sechs Monaten Kanzlerin Angela Merkel als Verteidigungsminister, aber bislang ist der bekennende Konservative öffentlich kaum aufgefallen. Doch in der vergangenen Woche beendete Jung die lautlose Phase seiner Amtszeit. Vor einem Schnellboot der Bundesmarine ging der Verteidigungsminister am vergangenen Freitag überraschend zur Attacke über. „Wir müssen mit Terrorangriffen rechnen, die vergleichbar sind mit kriegerischen Angriffen früherer Art“, diktierte Jung den Reportern in den Block. Ein derartiger Angriff sei auch als Verteidigungsfall zu werten. In Deutschland könne nicht mehr strikt zwischen innerer und griff über: „Die Ausweitung des Verteidigungsfalls halten wir für falsch, gefährlich und nicht sachgemäß.“ Leichter hat es ein Minister selten gehabt, sich zu profilieren. Seine Partei sehnt sich danach, dass der SPD endlich Grenzen aufgezeigt werden, doch die eigene Führungsmannschaft hat diese Erwartung enttäuscht. In dieses Vakuum ist nun Jung vorgestoßen, der bislang so unauffällige Abgesandte des Merkel-Rivalen Koch. Mit wenigen Bemerkungen hat er die konservative Flagge gehisst und den Parteifreunden demonstriert, dass er bereit ist, notfalls auch allein den Konflikt mit dem Koalitionspartner zu suchen. Der Vorstoß des Verteidigungsministers ist alles andere als spontan. Bereits seit Monaten hat Jung unter strengster Geheimhaltung seinen Planungschef Ulrich Schlie, einen gelernten Historiker, ein 106Seiten-Papier ausarbeiten lassen, das den Minister wieder zurück in die politische Auseinandersetzung katapultieren sollte. Mit dem „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und zur Zukunft der Bundeswehr“ legt Jung ein Grundsatzdokument vor, in dem die offizielle Sicherheitsdoktrin der neuen Regierung festgelegt werden soll. Seit 1994 hat es keines dieser amtlichen Strategiedokumente mehr gegeben, die im Kalten Krieg noch ziemlich regelmäßig erschienen waren. Ein Entwurf Rudolf Scharpings kam nicht weit, weil der Sozialdemokrat 2002 entlassen wurde. Nachfolger Peter Struck scheiterte an Außenminister Joschka Fischer. Der wollte auf keinen Fall die Wehrpflicht festschreiben lassen. Doch Strucks Entwurf überlebte angestaubt im Panzerschrank des Verteidigungsministeriums. Jung suchte gezielt den Konflikt mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner – und ließ das Struck-Papier umschreiben, kürzen und an entscheidenden Stellen verschärfen. Vor allem der außenpolitische Entwurf seines Vorgängers müsse „essentiell“ verändert werden – hin zu einer „werteund interessenorientierten Sicherheitspolitik“. Das Ergebnis sind eine deutlich pessimistischere Einschätzung der Weltlage – und bisweilen nationalistische Töne. Hatte der rot-grüne Entwurf zum Beispiel die Globalisierung auch als „große Chance“ beschrieben, politisch an der Ge- Minister Jung, Marinesoldaten: „Man braucht im Grundgesetz eine Klarstellung“ 52 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 PATRICK LUX / DPA Deutschland Hochwasser-Einsatz in Dannenberg: Ministerium für Heimatschutz nach US-Vorbild? staltung einer friedlichen Welt mitzuwirken, so sieht Jung darin nur noch „Risiken und Gefährdungen“. Rot-Grün benannte Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit als „oberste Ziele“ der Regierung. Für Jung geht es mit nationalem Pathos darum, „Recht und Freiheit des deutschen Volkes zu verteidigen“ sowie „Sicherheit und Schutz der Bürger zu gewährleisten“. Neben Terrorismus, „Störungen der Rohstoff- und Warenströme“ oder Seuchen sollen nun auch Flüchtlinge und „unkontrollierte Migration“ von Ausländern als Bedrohung deutscher Sicherheit zählen. So hatte Jung schon den geplanten KongoEinsatz damit verteidigt, man müsse den Zustrom von Afrikanern nach Europa eindämmen. In seinen Katalog nationaler Interessen nahm Jung gleich den „ungehinderten Welthandel“ mit auf. Um deutsche Interessen zu wahren, gelte es eben auch „militärische Mittel“ einzusetzen und sich „insbesondere Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden“, heißt es ganz auf Linie der aktuellen US-Politik. Der Verteidigungsminister will aber nicht nur in der Außenpolitik einen Kurswechsel. Ganz im Sinne seines Parteifreunds und Innenministers Wolfgang Schäuble wirbt er nun dafür, alle Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zu „vernetzen“ und die Verfassung zu modifizieren, um die Bundeswehr leichter im Inneren einsetzen zu können. Jung möchte dazu nicht nur den Artikel 35 des Grundgesetzes ändern, der Hilfe der Militärs bei Naturkatastrophen oder Unglücken regelt. Er will auch den Begriff der „Verteidigung“ neu definieren. Es seien Terroranschläge „Realität“ geworden, die sich „mit dem herkömmlichen Begriff des Verteidigungsfalls gleichsetzen lassen“. Den Forderungen Schäubles kommt Jung ein großes Stück entgegen: Die Bundeswehr müsse tätig werden können, wenn 54 d e r nur sie über die „erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um den Schutz der Bevölkerung oder kritischer Infrastruktur zu gewährleisten“. Der Begriff „kritische Infrastruktur“ ist weit gefasst: Atomkraftwerke gehören dazu, Rechenzentren, Staudämme, Flughäfen oder Gaspipelines. Um die Zusammenarbeit von Militär und zivilen Behörden zu stärken, entwickelt Jung zudem weitreichende Vorschläge für einen völlig neuen Sicherheitsapparat. „Alle Institutionen der staatlichen Sicherheitsvorsorge“ – gemeint sind Polizei, Geheimdienste, Militär und Katastrophenschutz – sollen ihre Arbeit danach in sogenannten nationalen Schutzzentren koordinieren. Die wolkige Formulierung lässt offen, ob Jung so ein „Ministerium für Heimatschutz“ nach amerikanischem Vorbild anstrebt. Dass der Koalitionspartner SPD die Vorschläge als Angriff empfindet, bekam Jung schon vergangenen Montag bei einem Frühstück mit Kabinettskollegen zu spüren. Außenminister Frank-Walter Steinmeier warnte davor, das hergebrachte „Ressortprinzip“ und die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit zu „durchbrechen“. Justizministerin Brigitte Zypries bekräftigte, ein BundeswehrEinsatz im Inneren „ist mit uns nicht zu machen“. Kaum waren im Lauf der Woche Auszüge aus dem Jung-Papier publik geworden, legte SPD-Fraktionsvize Walter Kolbow vergangenen Freitag noch einmal nach: „Für eine Militarisierung des Denkens und Handelns stehen die Sozialdemokraten nicht zur Verfügung.“ Das Weißbuch müsse mit den SPD-Ressorts abgestimmt werden. Wenn das nicht einvernehmlich gelinge, weil Jung auf seinen Positionen beharre, so der vormalige Parlamentarische Staatssekretär im Wehrressort, „dann gibt es eben kein Weißbuch“. s p i e g e l Alexander Szandar, Konstantin von Hammerstein 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland Strafgefangene im offenen Vollzug in Prozent, ausgewählte Bundesländer 32,9 BERND WÜSTNECK / PICTURE-ALLIANCE / DPA 30,6 1996 2004 Quelle: Dünkel/Kunkat, destatis 29,0 31,3 31,2 27,3 14,6 13,1 10,1 7,5 9,5 3,0 Berlin Nordrhein- Thüringen Hamburg Westfalen Hessen SchleswigHolstein Gefängnis (in Mecklenburg-Vorpommern): „Eklatanter Rechtsbruch“ Wettlauf der Schäbigkeit Jedes Bundesland soll künftig entscheiden dürfen, wie es seine Häftlinge behandelt – Experten warnen vor „drohender Kleinstaaterei“. I m kleinen Kreise hadert Hessens Justizminister Jürgen Banzer, 51, schon mal mit seinem Hardliner-Image: „Ich bin in meiner Partei eigentlich ein Liberaler“, behauptet der Christdemokrat. Die Forderung der Hessen-CDU nach dem „härtesten Strafvollzug Deutschlands“ habe er sich nie zu eigen gemacht, er rede lieber vom „erfolgreichsten Strafvollzug“. Und Erfolg werde er schon haben, wenn das Land erst komplett selbst bestimmen dürfe, wie es mit Verbrechern umspringt. Was sich Banzer und einige seiner Amtskollegen etwa aus Bayern, BadenWürttemberg, Hamburg oder Niedersachsen sehnlich wünschen, ist für andere eine Horrorvision: Im Zuge der Föderalismusreform soll die Gesetzgebungskompetenz für den Strafvollzug vom Bund auf die 16 Länder übergehen. In dieser Woche wollen Bundesrat und Bundestag dazu Experten anhören. Mehrere, wie der Rechtswissenschaftler Bernd Maelicke von der Universität Lüneburg, warnen schon jetzt vor einer drohenden „Kleinstaaterei“ mit einem Wust von regionalen Regelungen und populistischen Verschärfungen. An seiner Seite weiß Maelicke die Praktiker von Richterbund und Anwaltsverein, Anstaltsleiter und Vollzugsbedienstete, Bewährungshelfer und Gefängnisseelsorger. Fachpolitiker wie der Kieler Justizminister Uwe Döring (SPD) befürchten, die chronisch klammen Länder könnten eigene Strafvollzugsgesetze vor allem dazu nutzen, bei teuren Sozialtherapien 56 oder Vollzugslockerungen den Rotstift blockiert. Ohne ausreichende Begründung, anzusetzen. befand das Gericht und entschied, dass „unAllenfalls am Rande jedoch dürfte bei verzüglich mit dem Einstieg in Lockerungsder Anhörung zur Sprache kommen, dass maßnahmen begonnen werden muss“. Doch vieles davon sich längst eingeschlichen hat: darauf, sagt der Rechtsvertreter des HäftWer beispielsweise in einen Hamburger lings, Bernhard Schroer, „warten wir bis Knast einfährt, muss schon heute mit weit- heute“ – die Behörden ließen sich immer aus strikteren Haftbedingungen rechnen neue Auflagen einfallen. als ein Häftling in Berlin. Denn auch ohne Kein Einzelfall, meinen Anwälte, die eigene Gesetze gehen die Länder mit Hil- Ende März beim 30. Strafverteidigertag in fe von Verordnungen im Strafvollzug un- Frankfurt am Main eine „Renitenz der terschiedliche Wege – und nehmen es da- Vollzugsexekutive gegenüber der rechtbei manchmal sogar mit Gerichtsurteilen sprechenden Gewalt“ beklagten. Das Pronicht mehr genau. blem: Wer hinter Gittern sitzt, hat keinen „Der Wettlauf der Schäbigkeit hat längst Hebel, Entscheidungen gegen die Anstalt begonnen“, klagt Frieder Dünkel, Krimi- auch durchzusetzen. „Es gibt im Strafvollnologie-Professor aus Greifswald. Nord- zug keine Möglichkeit der Vollstreckung, rhein-Westfalen oder Berlin gewähren nach etwa durch einen Gerichtsvollzieher“, sagt Dünkels Zahlen relativ viel Hafturlaub Schroer. Die Richter können nach Rechtsoder verlegen Gefängnisinsassen in den lage nicht einmal Zwangsgelder gegen Anoffenen Vollzug, um sie auf das Leben in staltsleiter verhängen. Freiheit vorzubereiten. Hamburg und HesSo beklagte im vergangenen Dezember sen hingegen, die vor zehn Jahren noch das Gießener Landgericht die Weigerung rund ein Drittel ihrer Gefangenen im offe- der Vollzugsbehörde, gerichtlichen Entnen Vollzug untergebracht hatten, haben scheidungen zu folgen. Angesichts des die Anzahl dieser Plätze seitdem mehr als „eklatanten Rechtsbruchs“ wussten sich halbiert (siehe Grafik). In Bayern und ost- die Richter nicht mehr anders zu helfen, als deutschen Ländern war offener Vollzug einem Häftling in Butzbach zu raten, sich schon immer selten – obwohl alle Länder an die Abgeordneten des Hessischen Landdemselben Strafvollzugsgesetz und der tags zu wenden – oder besser noch an „die Pflicht zur Resozialisierung unterliegen. Presse und sonstige Medien“. Doch in der Praxis, klagt Barbara SauerDas Wiesbadener Justizministerium beKopiƒ von der Vereinigung Hessischer Straf- hauptet, dass es Gerichtsentscheidungen verteidiger, böten nicht einmal Gerichts- „ohne Wenn und Aber“ akzeptiere. In Einentscheidungen Gewähr dafür, dass Locke- zelfällen seien lediglich „individuelle Fehrungen auch umgesetzt werden. „Immer ler bei der Umsetzung“ gemacht worden. wieder“ würden Häftlingen die von Gut- Minister Banzer glaubt, den Strafvollzug achtern und Gerichten gefordermit eigenen Gesetzen sicherer ten Erleichterungen und Entlasmachen zu können. Darüber sungsvorbereitungen versagt. hinaus könne man aber auch viel für die Häftlinge tun, etwa Im nordhessischen Schwalmdurch eine bessere Berufsausbilstadt etwa erstritt ein 59-Jähriger, dung in den Haftanstalten. einsitzend unter anderem wegen Das aber könnte der MinisKörperverletzung, Anfang Noter auch heute schon, wenn er vember, dass sein Sozialverhalten denn wollte: per einfacher Verdurch begleitete Ausgänge erordnung – und durch das Beprobt werden solle. Diese Haftreitstellen des dafür nötigen Gellockerung wurde nach Feststeldes. lung des Landgerichts Marburg Minister Banzer Matthias Bartsch, vom Wiesbadener Ministerium Fehler im Vollzug Caroline Schmidt, Markus Verbeet ARNE DEDERT / PICTURE-ALLIANCE / DPA JUSTIZ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland SPI EGEL-GESPRÄCH „Wir brauchen einen langen Atem“ Der scheidende Generalbundesanwalt Kay Nehm über das schwierige Verhältnis zur Politik und den Kampf gegen den Terrorismus SETH MCALLISTER / AFP ANTONIO BELLO / THEMA dem Sie die Ermittlungen an sich ziehen. Was ist Ursache, was Wirkung? Nehm: Die Diskussion ist nicht durch uns in Gang gekommen, sondern durch Politikeräußerungen. Das mediale Echo spielt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eine nicht unwesentliche Rolle. Wenn die überregionale Reaktion im Potsdamer Fall gleich null gewesen wäre, hätten wir das Verfahren nicht übernehmen dürfen. SPIEGEL: Als Neonazis 1992 in Rostock mit Molotowcocktails ein Flüchtlingsheim attackierten, hat Ihre Behörde sich herausgehalten. Mussten Ihre Beamten erst lernen, wie groß die Gefahr von rechts ist? Nehm: Ohne Kollegenschelte zu betreiben – die Brandanschläge sind damals zum Teil in der deutschen Justiz nicht mit der gebotenen Sorgfalt als versuchter Mord beChefermittler Nehm: „Kritik von allen Seiten ausgesetzt“ wertet worden. Seither hat es aber einen Denkprozess gegeben, sowohl beim BunNehm, 65, leitet seit 1994 die Bundesan- Hintergrundes besonders berufen sind? Im desgerichtshof als auch bei uns. Der Staat waltschaft in Karlsruhe. Der parteilose Übrigen ist es nicht Aufgabe eines Innen- wird nicht erst dann gefährdet, wenn sich Jurist wird am 31. Mai von Monika ministers, sich aus den Ermittlungen un- eine staatsfeindliche Organisation gebildet Harms, bisher Richterin am Bundesge- terrichten zu lassen, um uns dann zu hat. Er wird ebenso durch Einzelne bekritisieren. richtshof, abgelöst. droht. Wenn Menschen aus anderen KulSPIEGEL: Sie begründen Ihre Zuständigkeit turkreisen oder mit anderer Hautfarbe SPIEGEL: Herr Nehm, hat der Generalbun- auch mit der hohen öffentlichen Aufmerk- durch fremdenfeindliche Übergriffe das desanwalt ein gestörtes Verhältnis zu deut- samkeit. Schönbohm argumentiert dage- Gefühl vermittelt wird, manche Regionen schen Innenministern? gen, Sie schüfen dieses Interesse erst, in- seien für sie nicht betret- oder bewohnbar, Nehm: Nein. Wie kommen Sie darauf? ist die innere Sicherheit ebenSPIEGEL: Brandenburgs Innenminister Jörg so in Gefahr wie durch die Schönbohm hat Ihnen unlängst Fehler vorBildung einer terroristischen geworfen, weil Sie die Potsdamer ErmittVereinigung. lungen gegen zwei Verdächtige an sich geSPIEGEL: Auch die Gefahr zogen haben, die einen Deutsch-Äthiopier durch islamistischen Terror halbtot geprügelt haben sollen. Solche Kriwurde lange unterschätzt. Im tik hat es schon häufiger gegeben. Jahr 2000, also vor den Anschlägen des 11. September, Nehm: Ein Generalbundesanwalt ist nun drängte das Bundeskriminaleinmal dem Risiko ausgesetzt, von allen amt (BKA) auf ein ErmittSeiten kritisiert zu werden. lungsverfahren, um die deutSPIEGEL: War es denn richtig, dass Sie das sche Struktur von al-Qaida Verfahren an sich gezogen haben? aufzuklären. Warum haben Nehm: Die in einer Mailbox-Aufzeichnung Sie sich damals geweigert? festgehaltenen fremdenfeindlichen Äußerungen begründeten eindeutig den AnNehm: Das trifft so nicht zu. fangsverdacht für ein Staatsschutzdelikt. Wir ermitteln seit Mitte der Also waren wir und nicht die Landesneunziger Jahre gegen Islamisstaatsanwaltschaft zuständig, unabhängig ten. Bei dem von Ihnen angevom späteren Ergebnis der Ermittlungen. sprochenen Fall ging es nicht Es ist eine Erfahrungstatsache, dass der um al-Qaida, sondern um ein Staatsschutzcharakter eines Delikts nur bestimmtes Verfahren … von uns sachgerecht beurteilt werden SPIEGEL: … gegen den in kann. Glauben Sie denn ernsthaft, dass Hamburg lebenden DeutschBeamte eines Landes, das den AnfangsSyrer Mamoun Darkazanli, verdacht eines Staatsschutzdelikts nicht der Geschäfte für Osama Bin wahrhaben will, zur Aufklärung dieses Anschläge vom 11. September 2001: Zu spät ermittelt? Laden gemacht haben soll. 58 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ALEX GRIMM / REUTERS Deutschland Mutmaßlicher Schläger aus Potsdam*: „Bedrohung durch Taten Einzelner“ Nehm: Rechtlich bestand dazu keine Mög- zweimal vorgelegt. Wir haben uns gegen die Einleitung eines Verfahrens entschieden, weil wir einhellig der Meinung waren, dass eine Übernahme der in Hessen geführten Ermittlungen aus Rechtsgründen nicht in Betracht kam. SPIEGEL: Dafür sind Sie vom damaligen SPD-Bundesinnenminister Otto Schily massiv kritisiert worden. Nehm: Eine solche Kritik ist mir nicht bekannt. Im Übrigen kann ein Generalbundesanwalt seine Berufsehre nicht aufs Spiel setzen, weil Politiker bestimmte Erwartungen an die Justiz haben. Würden wir diesen Erwartungen entsprechen, wäre spätestens beim Ermittlungsrichter Schluss. SPIEGEL: Auch Kanzleramt und Justizministerium haben Ihnen in einer Sitzung am 3. Oktober 2001 heftige Vorwürfe gemacht. Nehm: Ich werde mich nicht zu vertraulichen Sitzungen äußern. Nur so viel: Wenn man dort der Meinung gewesen wäre, ich hätte aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen falsch entschieden, hätte man mich ohne weiteres anweisen können. SPIEGEL: Haben Sie damals eine Weisung bekommen? Nehm: Nein. SPIEGEL: Sie hätten lieber eine Weisung gehabt? Nehm: Das hätte zumindest die Verantwortlichkeiten klargestellt. Im Übrigen hat sich die Angelegenheit dann dadurch geklärt, dass neue Informationen einen Anfangsverdacht begründet haben. SPIEGEL: Vor dem Untersuchungsausschuss des Bundestages, der nun die Praxis der Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den Terrorismus beleuchtet, werden Sie dazu wohl als Zeuge aussagen müssen. Empfinden Sie es rückblickend als Fehler, nicht früher gegen al-Qaida ermittelt zu haben? lichkeit. Damals war die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland nicht strafbar. Das hat sich erst im Jahr 2002 geändert. SPIEGEL: Die Bilanz der Ermittlungen zum 11. September ist ernüchternd: Der Hamburger Abdelghani Mzoudi wurde freigesprochen, im Verfahren gegen Mounir alMotassedeq hob der Bundesgerichtshof das erste Urteil auf. Was lief schief? Nehm: Wenn Sie die Urteile sorgfältig lesen, ist das Ermittlungsergebnis um die Hamburger Terrorzelle erstaunlich gut ausgefallen. Wir wissen sehr genau, was Mohammed Atta und seine Gesinnungsgenossen gemacht haben. Aber wir hatten massive Probleme mit zwei Gefangenen … SPIEGEL: … den Qaida-Strategen Chalid Scheich Mohammed und Ramzi Binalshibh, die bis heute von den USA an einem geheimen Ort festgehalten werden. Nehm: Beide standen uns nicht zur Verfügung, obwohl sie wichtige Zeugen gewesen wären. Ich bin sogar in die USA gereist und habe versucht, die Vernehmung in Deutschland oder anderenorts zu ermöglichen. Leider haben wir keinen Erfolg gehabt. Das hat das Verfahren sehr erschwert. Wir haben uns bemüht, mit dem Problem nach den Regeln der deutschen Strafprozessordnung umzugehen. Wenn ACTION PRESS (L.); ULRICH PERREY / DPA (R.) Nehm: Diesen Komplex hat das BKA uns Islamisten Motassadeq, Mzoudi * Am 21. April nach der Vernehmung in Karlsruhe. 60 Abfuhr aus Amerika d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ein Gericht dabei unseren Vorstellungen nicht folgt, haben wir das hinzunehmen. Den unglücklichen Eindruck, der dadurch entstanden ist, sollte man nicht der Bundesanwaltschaft in die Schuhe schieben. Im Übrigen: Das Motassadeq-Verfahren ist noch nicht beendet. Wir werden in der Revision versuchen, erneut eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord zu erreichen. SPIEGEL: Sind die Amerikaner schuld an den Schwierigkeiten? Nehm: Hier muss man zwischen den Nachrichtendiensten und der Justiz unterscheiden. Die amerikanischen Staatsanwälte haben die gleichen Schwierigkeiten wie wir. Offensichtlich hatten dort die Interessen der Geheimdienste Vorrang. Diesen ging es primär nicht um die juristische Aufarbeitung der Terroranschläge. SPIEGEL: Wie stehen Sie dazu, dass deutsche Beamte den von der CIA entführten Deutsch-Syrer Mohammed Zammar in einem Foltergefängnis verhört haben? Nehm: Herr Zammar ist freiwillig ausgereist, was sein gutes Recht ist, denn einen deutschen Haftbefehl gab es nicht. Mit seinem weiteren Schicksal hat die Bundesanwaltschaft nicht das Geringste zu tun. SPIEGEL: Das stimmt nicht ganz. Sie haben das BKA mit den Ermittlungen gegen Zammar beauftragt – und BKA-Leute gehörten zur Verhördelegation in Damaskus. Das BKA hat Ihnen anschließend die Befragungsergebnisse zugeleitet. Sie waren also unterrichtet. Halten Sie es für richtig, Zammar in Damaskus zu befragen? Nehm: Die Frage stellt sich nicht. SPIEGEL: Wir stellen sie. Nehm: Zum Fall Zammar will ich mich nicht weiter äußern. Sie wissen, dass sich der Untersuchungsausschuss dieser Problematik annehmen wird. Ich lege aber Wert auf die Feststellung, dass die Bundesanwaltschaft in Damaskus nicht tätig geworden ist und auch keinen Auftrag zu dieser Befragung erteilt hat. Auf einem anderen Blatt steht, was mit den gewonnenen Erkenntnissen zu geschehen hat. Sie können nicht von der Herkunft einer Aussage auf die Rechtswidrigkeit ihrer Verwendung schließen. Wenn Sie die Rechtswidrigkeit eines Vorganges prüfen, müssen Sie ihn erst einmal zur Kenntnis nehmen. SPIEGEL: Wären Sie mitgeflogen, wenn man Sie gefragt hätte? Nehm: Nein. Mit Sicherheit nicht. SPIEGEL: Bei Darkazanli, einem Bekannten der Todespiloten, reicht es bis heute nicht für eine Anklage. Der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hatte dagegen keinerlei Probleme, einen Haftbefehl auszustellen. Zaudern Sie zu lange? Nehm: Davon kann überhaupt keine Rede sein. Andere Länder, andere Gesetze. Die Spanier haben einen anderen Begriff der terroristischen Vereinigung als wir. Mit solchen Unterschieden muss man in Europa leben. Im Übrigen rate ich zur Zurückhaltung bei der Kritik: Ich habe in New York Deutschland dere zu Unrecht anschwärzen könnten, nur um Strafrabatt zu bekommen. Nehm: Diese Gefahr ist eine theoretische. Bei Drogendelikten gibt es schon lange eine Kronzeugenregelung, die sich bewährt hat. Sie wird in deutschen Gerichtssälen tagaus, tagein gehandhabt. Mir ist kein Fall in Erinnerung, in dem ein Mitbeschuldigter nachweislich zu Unrecht angeschwärzt wurde. SPIEGEL: Der Fall des Qaida-Aktivisten Shadi Abdallah, der sich 2003 im Verfahren gegen Mitglieder der Terror-Organisation al-Tawhid als Kronzeuge anbot, hat doch gezeigt, dass Ankläger auch ohne Gesetz mildere Urteile bewirken können. Nehm: Nein, wir haben als Ankläger nichts anbieten können. Abdallah war ein Glücksfall. Er konnte auch ohne diese rechtlich verbindlichen Garantien überzeugt werden, dass seine Kooperationsbereitschaft im Urteil zu seinen Gunsten berücksichtigt wird. Viele Angeklagte sind aber nur dann bereit zu reden, wenn man ihnen von vornherein verbindlich etwas anbieten kann. SPIEGEL: Auf die Höhe des Strafrabatts kommt es also weniger an? Nehm: Die feste Zusage ist das eigentlich Wichtige. Ein Beschuldigter muss wissen, dass er mit einer reduzierten Strafe rechnen kann, wenn er uns hilft. SPIEGEL: In den Gefängnissen sitzen noch vier Ex-Mitglieder der RAF, darunter Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Sie haben unlängst mit dem Bundespräsidenten über eine Begnadigung gesprochen. Wäre es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen und die beiden freizulassen? Nehm: Es ist ein guter Brauch, dass sich die Bundespräsidenten zu dieser Frage vom Generalbundesanwalt unterrichten lassen. Zu Einzelheiten möchte ich mich nicht äußern, weil über Begnadigungen der Bundespräsident entscheidet. Allgemein ist festzustellen, dass die Rechtslage in den letzten Jahrzehnten für Entspannung gesorgt hat. Lebenslang bedeutet nicht mehr unbedingt lebenslang. Auch ein Lebenslänglicher muss wissen: Es hat irgendwann ein Ende – er muss deshalb an dem Ziel der Resozialisierung mitarbeiten. Das gilt auch für die von Ihnen angesprochenen Verurteilten. SPIEGEL: Nach Anweisung der damaligen Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin mussten Sie Interviews im Ministerium zur Genehmigung vorlegen. Sie haben deshalb lange nicht mehr offen mit der Presse gesprochen. Nehm: Ein Spitzenbeamter der Staatsanwaltschaft legt seine Interviews nicht vor. Im Übrigen: Fragen Sie diejenigen, denen eine solche Anweisung zugeschrieben wird. SPIEGEL: Lassen Sie sich dieses Gespräch in Berlin absegnen? Nehm: Nein. SPIEGEL: Herr Generalbundesanwalt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Nehm, SPIEGEL-Redakteure*: Lücke im Gesetz * Holger Stark und Dietmar Hipp in Nehms Büro. 62 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ANTONIO BELLO / THEMA MIGUEL VILLAGRAN / ACTION PRESS erfassen ist, bedarf intensiver Überlegungen. SPIEGEL: Seit auch die Unterstützung einer ausländischen Terrorvereinigung strafbar ist, sind deutsche Ermittler weltweit tätig – etwa nach der Verschleppung von Susanne Osthoff. Wird demnächst das BKA Kriminelle durch den Irak jagen? Nehm: Es ist eine wohl eher journalistische Vorstellung, dass wir den Krieg im Irak mit den Mitteln des Strafrechts fortführen. Dazu wird es sicher nicht kommen. Wir müssen darauf hoffen, dass die Heimatstaaten zur Strafverfolgung bereit sind oder dass wir diese Beschuldigten im Ausland stelNehm-Kontrahent Schönbohm: Fachlich nicht berufen len können. Dafür brauchen wir einen langen Atem. mit amerikanischen Staatsanwälten auch SPIEGEL: Kommen Sie mit dem neuen Unüber den Fall Darkazanli gesprochen. Da- terstützer-Paragrafen auch zu Verurteibei habe ich die Kollegen gefragt, was sie lungen? denn tun würden, wenn Darkazanli mor- Nehm: Wir haben seit Inkrafttreten dieser gen in New York aus dem Flugzeug steigen Vorschrift fünf Anklagen wegen Mitgliedwürde. Die Antwort war eindeutig: nichts. schaft in einer ausländischen terroristiMir scheint, dass die Auseinandersetzung schen Vereinigung erhoben. Davon betrefum die Einleitung eines Ermittlungsver- fen vier Fälle die im Irak bestehende terfahrens von interessierter Seite zu sehr roristische Vereinigung Ansar-e Islam. Ein hochgepuscht worden ist. Angeklagter ist rechtskräftig verurteilt, ein SPIEGEL: Der Tunesier Ihsan Garnaoui, der weiteres Verfahren wegen Mitgliedschaft 2003 offenkundig einen Anschlag in Berlin bei al-Qaida hat gerade vor dem Oberlanvorbereitete, wurde nur wegen Delikten desgericht Düsseldorf begonnen. wie Waffenbesitz verurteilt. Die Richter SPIEGEL: Bundesjustizministerin Brigitte trauten V-Mann-Aussagen nicht, die bloße Zypries bereitet derzeit eine Neuauflage Vorbereitung eines Anschlags durch einen der Kronzeugenregelung vor, die aussageEinzeltäter ist bislang nicht strafbar. Ist ein willigen Mitgliedern von kriminellen und Phänomen wie al-Qaida überhaupt mit den terroristischen Vereinigungen Strafrabatt Mitteln des Rechtsstaates zu fassen, oder gewähren soll. Ein richtiger Vorstoß? Nehm: Sicher. Die alte Regelung war wünschen Sie sich neue Gesetze? Nehm: Die Anklage gegen Garnaoui war nicht optimal, aber sie hat zum Beispiel völlig in Ordnung, sonst hätte sie das Kam- die Aufklärung der Strukturen der kurdimergericht nicht zugelassen. Was die In- schen PKK möglich gemacht. Wir wären strumentarien betrifft, sollten wir gründlich längst nicht so weit gekommen, wenn darüber nachdenken, ob wir wirklich neue nicht einige Mitglieder geredet hätten. Das Gesetze brauchen. Meines Erachtens reicht hat dazu beigetragen, dass die PKK ihdas geltende Recht. Das Problem ist die ge- re terroristischen Anschläge in Deutschgenwärtige, immer noch enge Auslegung land inzwischen aufgegeben hat. Mehr des Vereinigungsbegriffs. Al-Qaida ist ein kann man sich als Strafverfolger nicht schwer zu fassendes Gebilde, es spalten sich wünschen. Kleingruppen oder Einzelpersonen wie SPIEGEL: Der Richterbund, dessen Mitglied Garnaoui ab, die durch die Welt reisen und Sie sind, warnt davor, dass Verdächtige anAnschläge vorbereiten. Wenn man hier in einem frühen Stadium zugreift, steht man als Strafverfolger oft mit fast leeren Händen da. Für ein klares Beweisbild hat man zu früh zugegriffen, zum weiteren Abwarten war aber keine Zeit. Wenn das kein Einzelfall bleibt, ist zu überlegen, wie diese Lücke geschlossen werden kann. Die Ausbildung in einem ausländischen Terrorcamp ist ein Indiz für die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung. Ob dieser Aspekt in einer rechtsstaatlichen Strafbestimmung zu Deutschland KOM M U N E N V Kokerei der Zeche Zollverein in Essen: Fliegendes Rathaus am Transporthubschrauber chenbau einziehen soll. Er inspiziert seine Baustelle: 45 Millionen Euro Steuergelder fließen in den Umbau, und doch, fürchtet er, könne sein Haus als Bauruine enden. Eine Großausstellung in dem geplanten Museum ist eines der Kernprojekte für 2010 – in dem Jahr soll Essen, und mit der Stadt der ganze Kohlenpott, europäische Kulturhauptstadt werden. Aber noch ist völlig unklar, wer zum Beispiel die Betriebskosten für Borsdorfs Renommierprojekt bezahlen soll. „Alle möchten irgendwie profitieren vom Kulturhauptstadt-Titel“, klagt der Museumsmann, „aber wenn’s ans Geld geht, ist vom 64 des alten Reviers zeigen. Sie möchten aus den Köpfen der Europäer endlich das Bild von den Kohlengruben tilgen und auch das neuere von der Jammerregion, die nach dem Niedergang der Montanindustrie in Selbstmitleid versank. Unter dem betulichen Motto „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“ sollen Schöngeister zudem schaffen, was Politikern nicht gelang: eine geeinte RuhrMetropole mit 5,3 Millionen Einwohnern. Für den Sieg im Auswahlverfahren haben die Ideen gereicht, doch nun bedroht das Gezänk ums Geld die in langen Konzepten beschworene, aber noch nie real d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Recklinghausen Dorsten Moers Herne 42 Bottrop Gelsenkirchen Oberhausen Essen 40 Bochum Duisburg Krefeld ACHIM SCHEIDEMANN / DPA om Dach der alten Kohlenwäsche der Zeche Zollverein in Essen, aus 40 Meter Höhe, scheint sie zum Greifen nahe, die Vision einer Ruhrstadt: Der Gasometer von Oberhausen ist ebenso zu sehen wie die weißglänzende Schalke-Arena Gelsenkirchen und die Essener City. Bald werde das Ruhrgebiet eine einzige „gigantische Großstadt im Grünen“ sein, schwärmt Ulrich Borsdorf. Zwei Treppen tiefer holt ihn die Realität wieder ein. Borsdorf, 61, ist designierter Direktor des Ruhrmuseums, das in den Ze- 43 3 n Mit schönen Plänen hat sich Essen den Titel „Kulturhauptstadt Europas“ geholt – nun stellt sich heraus, dass das Geld fehlt. Lippe Rhei Tollkühnes Manöver Zusammenhalt des Ruhrgebiets wenig zu spüren.“ Während Bürger und Politiker in der Bewerbermetropole Essen in den vergangenen Wochen das Votum der von der EU-Kommission eingesetzten Jury für die Kulturhauptstadt Ruhr feierten, macht sich bei Praktikern wie Borsdorf Ernüchterung breit. Mit ebenso gewaltigen wie schönen Plänen haben die Politiker aus dem Revier Konkurrenten wie Görlitz und Potsdam aus dem Rennen geschlagen – ein tollkühnes Manöver. Denn für viele der Vorhaben fehlt das Geld. Und nun kabbeln sich die Verantwortlichen, wer denn den Spaß nachher bezahlen soll. Zehn Leitprojekte wollen die Macher im Jahr 2010 zu Lande, zu Wasser und in der Luft verwirklichen. So soll das Ruhrgebiet ein „Fliegendes Rathaus“ als mobile Mitte bekommen, das womöglich mit Hilfe von Transporthubschraubern den Ort wechseln wird. Besucher, so eine weitere Idee, sollen in Stollen in bis zu 1000 Meter Tiefe digitale Kunst erleben. Und auf der Ruhr könnten 25 große Kunstinseln schwimmen. Die Tourismusstrategen des Ruhrgebiets wollen der Welt die pralle Kulturlandschaft Mülheim Ruhr Zeche Zollverein 10 km existierende Einheit der 53 Ruhrkommunen. Eine „gerechte Verteilung der Fördermittel“ mahnt etwa Horst Schiereck (SPD), Oberbürgermeister von Herne, an. Essen dürfe nicht „den Großteil des Geldes einstreichen“. Der Essener Kulturdezernent und Bewerbungskoordinator Oliver Scheytt appelliert bereits, die Lokalfürsten dürften die Chancen von 2010 nun bloß nicht durch Kirchturmdenken verspielen. Und Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff, Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei und Kulturstaatssekretär, beklagt schon die „Subventionsmentalität“ der Ruhrkommunen. Die müssten gefälligst „auch selbst Geld für 2010 in die Hand nehmen“: „Da müssen wir noch Klartext reden.“ Reden kann er, aber viel ist da nicht zu holen: Etliche Städte im Ruhrgebiet haben einen Nothaushalt. So wie Dorsten, wo Bürgermeister Lambert Lütkenhorst sogar die Gehälter der Beamten auf Pump bezahlen muss: „Die Kulturhauptstadt darf uns keinen Cent kosten“, sagt er. Ein Basisbudget von 48 Millionen Euro hat Essen bei der Jury angegeben. Davon wollen das Land Nordrhein-Westfalen und der Regionalverband Ruhr jeweils 12 Millionen Euro beisteuern, der Bund 9 Millionen, die Wirtschaft des Ruhrgebiets 8,5 Millionen, die Stadt Essen 6 Millionen und die EU 500 000 Euro. Nur: Die Organisatoren rechnen mit Kosten in Höhe von 78 Millionen Euro – das fehlende Geld muss noch irgendwie hereingeholt werden. Sie hoffen auf Firmen sowie den Verkauf von Eintrittskarten. Das ist bisher freilich ziemlich ungewiss, und außerdem türmen sich weitere Probleme auf: Dem Ruhrmuseum etwa fehlen jährlich rund vier Millionen Euro für die Betriebskosten – und ein Träger. Auch für die gesamte Zeche Zollverein – Essener Weltkulturerbe auf einer Million Quadratmeter Fläche – müssen Träger gefunden werden. Inzwischen will der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers (CDU) in Berlin mehr Geld lockermachen. Die Idee seiner Leute: Auf jede Million, die die Essener irgendwo herzaubern, legen Land und Bund je noch eine drauf. Ob das gelingt, ist allerdings fraglich: Denn auch die Regierungen müssten dann Geld hergeben, das nicht da ist. Andrea Brandt Deutschland TSV-1860-Fans in München Das Sterben nur verlängert FIRO weiter im gemeinsamen Stadion spielt, damit der teure Bau besser ausgelastet wird. Die elf Millionen sind also kein Geschenk, sondern Teil eines Schachzugs: Vier Jahre läuft das Darlehen, verzinst mit 6,5 Prozent, und in dieser Zeit gehören die Anteile der Sechziger an der neuen Allianz Arena den Bayern. Jetzt sind die Roten also alleinige Hausherren in dem funkelnden Prunkbau im Norden der Stadt, der je nach Bedarf in die Farben Rot oder Blau getaucht werden kann. Aber die für die „Löwen“, wie die Sechziger auch genannt werden, einzige Alternative wäre der schnelle Tod gewesen – kein Geld, keine Profi-Lizenz. Und das Risiko ist auch jetzt noch groß: Kann das Geld nicht zurückgezahlt werden, sind die Anteile der Löwen an dem 340 Millionen Euro teuren Stadion wohl für immer futsch. Jetzt können die Löwen mit den elf Millionen gerade mal die dringlichsten Verbindlichkeiten begleichen und haben nur das Sterben etwas verlängert. „Lieber wär i g’storben, als dass i von de Rot’n a Geld nimm“, flucht Helmut, ein korpulenter Mittfünfziger, der sich auf den linken Bizeps einen riesigen Löwen hat tätowieren lassen. Und Hans Hartl überlegt, ob sie das Management nicht wegen Betrugs anzeigen sollten: Schließlich habe man sogar den Delegierten des Vereins den Schuldenberg verschwiegen. Der Schlamassel ist typisch für Fußballvereine, die von ganz unten regiert werden, von der Heerschar der aufgeheizten Anhänger. Um oben mitzuspielen, glauben sie nahezu jedem Messias, der die Meisterschale verspricht und nachher stattdessen Millionen versenkt. Sie sind leichte Beute für populistische Verführer, die vom Fußball wenig Ahnung haben, aber als vermeintliche Heilsbringer auf dem Präsidententhron ihr eigenes Süppchen kochen. So hievten die Löwen etwa 1974 den CSU-Mann Erich Riedl an die Spitze, der dort vor allem Wählerstimmen sammelte und einen Schuldenberg anhäufte, der die Sechziger die Bundesligalizenz kosten sollte. Und während beim FC Bayern mit Uli Hoeneß und KarlHeinz Rummenigge zwei ehemalige Spitzenspieler und kluge Unternehmer das Vermögen mehrten, unterwarfen sich die Blauen dem bulligen Metzger- FA N K U LT U R Masochisten mit Herzweh Ein Millionenkredit rettet den Fußball-Kultverein 1860 München – das Geld kommt ausgerechnet vom Erzrivalen FC Bayern. Die Fans empfinden das als unerträgliche Demütigung. 66 entschlossen, den verarmten Feinden zu helfen. Diese Demütigung erschüttert derzeit München und trifft die Fans mitten ins Herz. Zugleich ist sie symptomatisch für den Niedergang einer ganzen Szene: Ob in Köln oder Hamburg – kultige Clubs mit Underdog-Image gehen in die Knie, weil gefühlsduselige Fans und selbstherrliche Präsidenten sie im knallharten Profi-Fußball nicht mehr retten können. Auch die Manager des FC Bayern sind weit entfernt von irrationalen Anwandlungen, die bei den Blauen so weit verbreitet sind. Nur so sind die Bayern geworden, was sie sind: einer der reichsten Fußballclubs Europas, mit rund 160 Millionen Euro Festgeld auf dem Konto. Der FCB ist durchaus daran interessiert, dass 1860 SVEN SIMON D ie Stimmung ist ganz unten, die eigene Mannschaft steckt tief im Tabellenkeller, aber den Männern an ihrem Stammtisch im Münchner Löwenstüberl ist zumindest der Appetit noch nicht vergangen. Schweinsbraten gibt es mit Knödeln und zwei, drei dunkle Weizen. Die in weiß-blaue Vereinsfarben gekleideten Fans des kultigen Fußballvereins TSV 1860 München reden wenig, und wenn, dann geht es meist um das „Begräbnis“. Gemeint ist, was sie auch den „Sündenfall“ nennen: dass man, wie es Hans Hartl vom Fan-Stammtisch nennt, dem „Teifi d’Hand geben hat müssen“. Der Pakt mit dem Teufel ist ein Deal des traditionsreichen Arbeitervereins ausgerechnet mit dem FC Bayern München, dem Club der Schönen und Reichen, dem Rekordmeister und Dauerpokalsieger, dem FC Beckenbauer. Der FC Bayern („die Roten“) ist für SechzigerFans („die Blauen“) nicht nur Gegner, er ist Feind. Jetzt aber hat ihr Verein sogar elf Millionen Euro Kredit vom Feind nehmen müssen, und ausgerechnet Bayern-Manager Uli Hoeneß durfte den Blauen Ende April öffentlich erklären, wie es um den Verein steht: dass er komplett pleite ist. Und weil 1860-Geschäftsführer Stefan Ziffzer nun ehrlich die Zahlen auf den Tisch gelegt habe, hätte der FC Bayern sich Allianz Arena: Anteile für immer futsch? d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Deutschland RETO ZIMPEL ULLSTEIN BILDERDIENST / HORSTMÜLLER fen ein kleiner Bub barfuß nach dem Ball trat: Franz Beckenbauer. Der sollte später erzählen, dass man in Giesing deshalb so ein flinker Techniker werden musste, weil man sich sonst an den Scherben im Sand die Füße zerschnitten hätte. Vielleicht wurde das Schicksal der Blauen ja an jenem Tag 1965 entschieden, als der junge Franz zum ersten Mal in einem Lokalderby in der Bundesliga auflief – aber eben nicht für die Sechziger, sondern für den FC Bayern. Respekt hatten die Löwen damals noch keinen. Am Saisonende 1966 wurden sie das erste, allerdings auch das einzige Mal Deutscher Meister, auch dank Torwartlegende Petar „Radi“ Radenkovic. Während 1860, der mal in die Bayernliga zurückrutschte und sich dann wieder an die Spitze emporkämpfte, der Verein der kleinen Leute blieb, stiegen die Bayern auf zum FC Hollywood, dem Club der Siegertypen. Der Verein der Roten war von jeher kein Auffangbecken für die Arbeiterklasse, im Gegenteil: 1900 entstand er im Künstlerviertel Schwabing, kickte vornehmlich mit Studenten und war später den NatioTorwartlegende Radenkovic*: Das erste und einzige Mal Meister nalsozialisten ein Dorn im Auge, weil in meister Karl-Heinz Wildmoser und seinem und Fliege auftraten. Da sollte Giesing eine den Reihen der Bayern auch Juden willSohn „Heinzi“. Der Vater führte die Wiege des Fußballs werden: 1911 zogen die kommen waren. Neben der Fußballlegende Beckenbauer Löwen zwar in die Bundesliga zurück, Sechziger an die Grünwalder Straße. Dort doch dann versank 1860 zusammen mit spielten sie bald in einem reinen Fußball- sitzen heute wichtige Menschen wie Minisden Wildmosers im Schmiergeldsumpf um stadion, damals die Ausnahme, wo die terpräsident Edmund Stoiber oder Fraudie Allianz Arena: Sohn Heinzi soll für Fans zu Tausenden an der Außenlinie kleb- enliebling Boris Becker regelmäßig in der VIP-Lounge. Bei den Löwen schwingen gute Tipps an eine Baufirma 2,8 Millionen ten, hautnah am Ball. Euro kassiert haben. Das „Grünwalder“ wurde nicht nur zur Münchens Stadtoberhaupt Christian Ude Nach ähnlichem Muster lief es bei Kultstätte Münchens, es wurde zur Hei- und der frühere CSU-Chef Theo Waigel anderen Großstadtclubs ab, die wie die mat des TSV 1860. Und zu genau dem Fuß- den weiß-blauen Schal, willkommene ProLöwen in München vom Rebellenimage ballplatz, auf dem die tausendprozentigen minenz zwar, aber eben nicht so schillernd. Doch die reine Wahrheit liegt, wie ein leben, beim FC St. Pauli in Hamburg etwa, Löwen-Fans jetzt ihren Verein am liebsten der gegenüber dem HSV auf keinen grü- wieder kämpfen sehen wollen – ein ver- Trainer-Bonmot sagt, auf dem Platz: Kaum nen Zweig kommt, aller Kiezseligkeit zum querer Heimatbegriff, der im modernen ein Verein in der Ersten oder Zweiten Liga Trotz. Viel zu lange setzten die Kiez-Kicker Profi-Fußball unweigerlich zu Einnahme- hat in letzter Zeit so oft das Management auf den Rechtsanwalt Otto Paulick als Ver- verlusten führt. Sie wollen keine eleganten oder die Trainer gewechselt – genützt hat einschef, der schließlich wegen angeblicher Schalensitze in den blitzblanken moder- es nichts. Teure Spieler und ungünstige Verfinanzieller Ungereimtheiten auffiel. Oder nen Arenen, in die die Besucher hineinge- träge verschlangen Millionen, die erhofften bei Fortuna Köln – der Verein aus der Köl- hen, als würden sie, wie Ex-Bayern-Spieler Tore und Punkte aber blieben aus. Am Ende ner Südstadt kämpfte so lange gegen den Paul Breitner bemerkte, eine Oper an- hatte auch Hauptsponsor „Festina“ die Nase 1. FC Köln, bis die Insolvenz unausweich- sehen. „Heimat ist, wo das Herz wehtut“ voll von den „Löwen“ und kündigte. lich war. Auch die Fortuna wurde von hatten die Anhänger bei einem der letzten Jetzt hängen sie am Tropf des FC Bayern. Demagogen ins Elend geführt. Den Club Spiele ihres Clubs im Grünwalder Stadion Gelächter und Hohn begleiten die gebeusah Aufsteiger Jean Löring zeitweise als auf ein Transparent gemalt. telten Fans durch München. Selbst vom sein Eigentum an – von der Ära des geGiesing war nach dem Krieg vom geho- noch kleineren Stadtkonkurrenten Unterlernten Elektrikers blieb nur die Legende, benen Wohnquartier zum Arbeiterviertel haching hagelt es Spott: „Ohne Hoeneß wärt dass er bei einem Flutlichtausfall zwei heruntergekommen, in dessen Hinterhö- ihr gar nicht hier“, brüllen Unterhachings Kabelenden so lange zusammengehalten Fans nun gern. Und: „Eigenes habe, bis sein Club den Sieg unter Dach Stadion, wir haben ein eigenes und Fach gebracht hatte. Stadion.“ Da hilft nur Trotz. Auch die Münchner Blauen sind KumWährend der FC Bayern vermer gewohnt. Und aus der Rolle der gangenes Wochenende pomUnderdogs leiten sie ihren Kultstatus ab. pös einen weiteren deutschen Dabei waren die Löwen einst die Größten Titel feierte, behalten die und einer der ersten Fußballvereine MünStammgäste im Löwenstüberl chens, entstanden im Stadtteil Giesing. in Giesing ihre Löwen zuminEs war die Zeit, als hauptsächlich gebildest tief im Herzen: „Mir samdetes Bürgertum der Jagd nach dem Ball ma Masochisten“, sagt Willi, folgte und Linienrichter noch mit Anzug „des muasst sei. Sonst hätt’ ma uns scho lang in Mühlbach neigschmissn. Aber traurig * Im August 1969 mit Löwen-Maskottchen und Mannis.“ schaftskameraden. Löwen-Fans Hartl, Wagner: „Dem Teifi d’Hand geben“ Conny Neumann 68 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Gesellschaft Szene Was war da los, Herr Piskunow? „Für mich hat sich durch den Rummel um den Jahrestag nichts geändert, ich messe weiterhin die Verstrahlung der Menschen, die in der Gegend arbeiten, und entnehme Erdproben auf einem Versuchsgelände am Rand der Sperrzone. Der Boden soll mit speziellem Düngemittel rekultiviert werden. In der Nähe werden Pferde gezüchtet. Die untersuchen wir auch regelmäßig, es geht ihnen gut. Seit 1992 arbeite ich im Staatsforst im Schichtdienst: Zehn Tage bin ich hier, danach für zehn Tage bei meiner Frau in Minsk. Meine Frau macht sich Sorgen; ich habe mich an die Arbeit gewöhnt. Auch wenn hier noch in 300 Jahren Cäsium und Strontium gefunden werden – ich habe keine Angst. Nach Dienstschluss dusche ich und lasse meinen Anzug reinigen.“ BI LDBÄNDE Verlorenes Vergnügen eit seiner Eröffnung vor circa hundert Jahren haben sich Künstler und FotoS grafen für den New Yorker Vergnügungs- PETER GRANSER park Coney Island interessiert. Hier sollte ein Traum wahr werden: gleichberech- Granser-Foto „No Couple“ (2003) VIKTOR DRACHEV / AFP Der weißrussische Biologe Wladimir Semjonowitsch Piskunow, 56, über seine Arbeit in der Sperrzone von Tschernobyl Piskunow beim Messen der Strahlenbelastung tigte Menschen, die in Riesenrädern Erholung suchen. Nun rottet der Park vor sich hin, teils unter Denkmalschutz. Sein „morbider Charme“ reizte den österreichischen Fotografen Peter Granser. In seiner gerade in der Tübinger Kunsthalle ausgestellten und als Bildband erschienenen Coney-Island-Serie präsentieren sich schrille Besucher vor pittoresker Kulisse, in der – wie bei jedem sich selbst überlassenen Ort – die menschliche Ordnung abgeschafft scheint: Menschen waten durch Plastikmüll, Papierkörbe sind leergefegt. Wo die Karussells sich noch drehen, zeigen Gransers Bilder laut Katalog die „unbarmherzige Neigung von Einsamkeit und Entfremdung, sich mitten im schönsten Vergnügen bemerkbar zu machen“. Peter Granser: „Coney Island“. Hatje Cantz Verlag, Ostfildern; 100 Seiten; 35 Euro. d e r CLUBS Stricken für Pakistaner m Anfang wollten sie nur mit dem Rauchen aufhören und suchten A einen Beschäftigungsersatz für ihre unruhigen Hände. So brachte vor sechs Jahren eine Gruppe junger Frauen und Männer in London Strickzeug mit in die Pubs – und hatte sofort Bewunderer und Sympathisanten. Die Gemeinschaft der Stricker an öffentlichen Orten wuchs so schnell, dass die Initiatoren einen Club gründeten. Heute zählt „Cast Off“ (deutsch: „Leinen los!“) über tausend eingetragene Mitglieder. Die Stricker treffen sich regelmäßig an immer neuen Orten und sorgten schon mal für Aufruhr: Als sie in der „American Bar“ des noblen Londoner SavoyHotels für ihre friedliche Beschäftigung und den Verzicht auf Zigaretten warben, wurden sie rausgeworfen. Nachdem sich die Mitglieder erfolgreich von der Sucht abgewandt haben, widmet sich die ständig steigende Zahl der strickenden Nichtraucher inzwischen auch humanitären Zielen: Die Cast-Off-Mitglieder versorgen pakistanische Flüchtlinge in Großbritannien mit jeder Menge selbstgestrickter Socken. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 71 Gesellschaft Szene Jung, vorbestraft, sucht … Warum ein Thüringer für seinen Traum ins Gefängnis soll F rüher war es ganz einfach. Da Raum. Aber zweimal im Monat kam hat Lars L. ein Mädchen, das ihm Nicole zu Besuch, zweimal im Monat gefiel, mit seinen blauen Augen konnte er sie anrufen, und jeden Tag angezwinkert. „Willst du mal einen schrieb er ihr einen Brief. Jeden Tag Kaffee mit mir trinken?“, hat er dann kam ein Brief zurück. Fünf Monate gefragt und sich die blonden, welligen lang. Dann nichts mehr. Haare zurückgestrichen. Und fast imAls Lars L. aus dem Knast kam, war mer wollte das Mädchen. Sagt er. die Wohnung leer, Nicole weg, die Heute geht das nicht mehr, schon Möbel, das Auto, der Job, nur Schulden seit drei Jahren nicht. Denn irgendgab es noch. Als er André im Superwann würde das Mädchen nach Lars markt traf, schlug er ihm ins Gesicht. L.s Geschichte fragen, und er müsste Zweimal. Jeder hätte das so gemacht, sie erzählen. Das wäre dann das letzte glaubt er. André lebt jetzt mit Nicole Treffen, glaubt er, und mittlerweile gibt zusammen, Lars L. bekam Bewährung. es im thüringischen Ebeleben mit seiDie Bekanntschaftsanzeige von nen knapp 3200 Einwohnern ohnehin Michaela las er an einem Sonntag, er niemanden mehr, der nicht weiß, dass Lars L. im Knast war. Auf seinem rechten Unterarm ist ein Adler tätowiert, den stechen sich die Insassen der JVA in Untermaßfeld in die Haut. Eine Familie hätte Lars L., 31, gelernter Dachdecker, gern. Ein bürgerliches Leben. Die Wohnung dafür gibt es schon. Da hängt ein Kranz aus Blumen an der Tür, auf dem gekachelten Couchtisch liegt ein Platzdeckchen, und darauf stellt Lars L. zwei Untersetzer, wenn er ein Bitburger aufmacht: einen für die Flasche und einen für das Glas. Junge Leute gibt es kaum noch in Ebeleben. Sie sind in den Westen gegangen, wo es Arbeit gibt und mehr als drei Kneipen. Die Dorfdisco ist seit Jahren dicht, weil es ständig Prügeleien gab, die Bahn hat den Personenverkehr wegen Bedeutungslosigkeit eingestellt, die Ebeleben Post ihre Filiale geschlossen. Vor fünf Jahren ging Lars L. in den Knast, er war ohne Führerschein gefahren und ohne Kennzeichen, eine Dummheit. Vielleicht auch eine Häufung von Dummheiten, weil er andauernd erwischt wurde und einmal nicht anhielt, als die Polizei ihn stoppen wollte. Ein Jahr und neun Monate. Pass gut auf meine Frau auf, hatte er seinen besten Freund André gebeten. Mit Nicole aus dem Nachbardorf war er gerade drei Monate verheiratet. Und glücklich. Eklig war es im Gefängnis, in der Drei-Mann-Zelle mit der Toilette im Aus der „Bild“-Zeitung 72 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 hatte gerade eine Flasche auf den Untersetzer gestellt, daneben lag der „Allgemeine Anzeiger“. Michaela, 29, geschieden, ein Kind. Ein Foto gab es nicht, aber das war ihm egal. Sie suche eine ernsthafte Beziehung, habe viel durchgemacht, stand da. Vielleicht hatte sie so viel durchgemacht wie er. Irgendwann musst du es ja noch mal probieren, dachte er. Aber nicht in Ebeleben, wo die Leute mit dem Finger auf ihn zeigen und wo sie neidisch sind, weil er nach dem Knast wieder einen Job gefunden hat, als Lagerarbeiter, wo hier doch so viele arbeitslos sind. Vielleicht könnte er Michaela seine Gedichte zeigen. 500 Stück hat er geschrieben, damals im Knast. Sie heißen „Wenn du eine Blume wärst“ und „Schau mir doch ins Gesicht“. Lars L. nahm an, er würde direkt mit Michaela sprechen können, als er die Nummer in der Annonce wählte. Als sich eine Partnervermittlung meldete, dachte er sich nichts dabei. Sie würden den Kontakt herstellen, sagten sie ihm. Wenige Tage später saß eine Mitarbeiterin der Agentur auf Lars L.s Sofa, eine Frau Mitte vierzig, seriös, selbstsicher. Sie habe ihren Mann auch über eine Anzeige kennengelernt, sagte sie, und noch immer seien sie glücklich verheiratet. Lars L. müsse einen Vertrag abschließen, wenn er die Kundin treffen wolle, das koste 1500 Euro. Dann könne er auch auf Single-Partys gehen. Dahin wollte Lars L. nicht, er wollte Michaela, und er unterschrieb. An seine Schulden, seinen Offenbarungseid, wollte er in diesem Moment nicht denken. Der Brief kam nach zwei Wochen, aber er war nicht von Michaela. Die Frau hieß anders, war älter als er, und auf dem Bild sah sie aus, als könnten sich drei Mann hinter ihr verstecken. Seine Kündigung nahm die Agentur nicht an, sie schickte Mahnungen, und irgendwann kam die Gerichtsvorladung. Lars L. habe nie vorgehabt, die Gebühr zu bezahlen, befand der Richter, den sie in Ebeleben „Richter Gnadenlos vom Kyffhäuserkreis“ nennen, das Geld hätte er nie aufbringen können. Wegen Betrugs verurteilte der Richter ihn zu sechs Monaten Haft. Lars L. hat Berufung eingelegt. Er hätte das Geld gezahlt, sagt er, in Raten, er hätte es sich irgendwie zusammensparen wollen. Aber nur für Michaela. Kristina Allgöwer HANSJOERG HOERSELJAU / PHOTOGUERILLA.COM EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Gesellschaft S E X UA L I TÄT Die Gleichstellungsdroge Ein Spray-Schuss in jedes Nasenloch, und gleich reißt man sich die Kleider vom Leib. Den Traum von der perfekten Lustdroge träumt die Pharma-Branche nicht erst seit Viagra. Bald, verspricht eine amerikanische Firma, ist es so weit – Zeit für die nächste sexuelle Revolution. Von Ralf Hoppe 74 eine Ausbildung als Parfümeur; seine Sensibilität gegenüber Gerüchen sei in seiner Kindheit gelegentlich beängstigend gewesen, sagt er. Er roch die Fäulnisbakterien in der Milchflasche, lange bevor die Milch umkippte, er witterte Hunde, bevor sie um die Ecke bogen, und er litt, als sein Sohn in die Pubertät kam und plötzlich nach Ziegenbock und Käse roch. Sein Haus an der schottischen Küste, direkt am Meer, ist vollgestopft mit Duftkatalogen, Regalen voller Glasfläschchen und Aluminiumkartuschen, mehr als 10000 verschiedene Aromen, darunter hawaiisches Tiara-Lilienöl für 29 000 Euro den Liter ebenso wie der auf Flaschen gezogene Geruch von Lachslaich, und wenn er es nicht mehr aushält, tritt er vor die Tür, atmet Meer, Salz, Tang. Wenn nur die verdammten Schafe nicht wären. Hier hat er einen Duftstoff entworfen, der dem Botenstoff Dopamin ähnelt und das Gehirn verführen soll, überzeugen, dass es Zeit ist für Sex. Aber sanft. Denn wenn es um Sex und das Gehirn geht, soll man behutsam sein, findet Dodd. Der Saal ist voll besetzt, außer ihm sind etwa 60 Wissenschaftler gekommen an diesem Morgen. Das Vortragsthema ist ein Stoff namens Bremelanotid, ein sogenanntes Heptapeptid, acht Aminosäuren, sie- ben davon in Ringform, ein Tausendstel eines Proteins. Sie nennen es PT-141. Der aktuelle Stand der Forschung soll referiert werden, na ja, mal sehen. Und wie war noch der Name der Firma, die daran arbeitet? George blättert im Programmheft: Ah ja, Palatin Technologies, New Jersey. Vorne tritt jetzt der Redner ans Pult, Koteletten, silberner Ohrring, noch jung, George schätzt ihn auf Ende 40. Beugt sich vor, „good morning“, ich bin Jim Pfaus, Professor für Verhaltensforschung an der Concordia-Universität von Montreal. George pustet auf seinen Kaffee, gähnt verstohlen. 15 Minuten später ist er so wach, als hätte man ihm den Stuhl weggezogen. Das Zeug soll über die Nase verabreicht werden, das immerhin haben sie gemein, George und diese Palatin-Leute, aber ansonsten sind sie viel radikaler. PT-141 ist nicht sanft und stimuliert ein bisschen das olfaktorische System, sondern der Spray geht, peng, durch die Blut-Hirn-Schranke direkt ins Gehirn. Und die referierten Testdaten sind gut, sogar bestürzend gut, die Tests an Ratten, die dieser Jim Pfaus präsentiert, laufen seit vier Jahren, dazu die Resultate der zweiten Testphase an weiblichen Testpersonen. George überschlägt TOM KIDD PHOTOGRAPHY L üsterne Frauen und wüste Kerle, Orgasmen, Gerüche und Sportwagen – alles Moleküle. Die Welt besteht aus Molekülen, niemand weiß das besser als George, der sanfte George, der Moleküle anbetet, wie er sagt, schon von Berufs wegen, und übrigens hat er sich einen neuen Jaguar XS bestellt, nachtblau, innen Aluminium, dunkles Leder. Was soll’s, er ist jetzt 63, es wird Zeit, Geld auszugeben; außerdem kommt genug Geld herein. Denn George Dodd, Ire, promovierter Biochemiker, Wohnsitz in Schottland, hat ein Molekül designt. Ein Molekül, das dem Gehirnstoff Dopamin ähnelt; ein Molekül, das Lust machen soll auf Sex. Die Serienproduktion lässt sich gut an. Daher auch der nachtblaue Jaguar, und darum ist er jetzt hier in Lissabon auf dem Internationalen Kongress der Sexologen. Hier trifft sich vier Tage lang die Elite derer, die alles über Sex wissen wollen und der Menschheit mehr Sex oder besseren oder überhaupt Sex bescheren wollen, und George ist jetzt einer von ihnen. Außerdem will er mal sehen, was die Konkurrenz so treibt. Es ist kurz vor halb sieben. In wenigen Minuten soll der Vortrag beginnen, ausgerichtet von einer Biotech-Firma, die angeblich etwas ganz Ähnliches auf den Markt bringen will wie George Dodd – ein Aphrodisiakum. Daran sitzen sie alle, es ist das große Versprechen der Zukunft, die Sexformel. George, morgenfrisch und rotäugig, sitzt in einer der hinteren Reihen im Konferenzraum „Berlin“ im Untergeschoss des Marriott-Hotels von Lissabon. Er ist ein stämmiger Mann, und auch wenn er mit seinen Sandalen, dem Vollbart und dem Pferdeschwanz aussieht wie ein Komparse für einen unterfinanzierten Mittelalterfilm, ist er kultiviert, humorvoll, ein Opern-Fan, jedes Jahr ein Marathonlauf, gebügelte Taschentücher – er zieht eines hervor und putzt umständlich die Brille. Dann winkt er einem der Kellner nach Kaffee. Beugt sich über die Tasse. Schließt die Augen. Und – wie ist der Kaffee, George? Nussig, rauchig, pfeffrig, muskatig, holzig, mit einer Nuance nach Seife, er spricht sanft, konzentriert. Bevor er nach Oxford ging, um Biochemie zu studieren, absolvierte George Dodd Moleküldesigner Dodd: „Ich glaube an die Macht der Düfte“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 MAURITIUS IMAGES Und nun? Wird an diesem Freitagmorgen die Revolution Nummer drei verkündet im Konferenzraum des Marriott anhand von flimmernden Säulendiagrammen und Testreihen von Ratten und Menschen? Wird ein profaner Nasenspray die Gesellschaft versexen, uns unabhängig machen von Lust und Unlust, werden wir Sex haben können ohne innere Sammlung, ohne innere Stimmung? Es würde die Gesellschaft verändern, die Sexualität würde ihres Mysteriums beraubt, der dunkle Kontinent erobert, unterworfen. Und profitieren würden die Jungen, die vor lauter Arbeitsstress und Hektik des modernen Alltags nicht mehr zueinanderfinden, ebenso wie die Alten, deren Libido erlahmt, Sex sofort, auf Knopfdruck, für alle, für immer. Während Jim Pfaus, der Ratten-Professor, und die anderen Palatin-Referenten, natürlich im seriösen Konjunktiv, diese Zukunft malen, sitzt der sanfte George Dodd wie versteinert auf seinem Stuhl. Eigentlich ist er nach Lissabon gekommen, weil er nur mal sehen wollte, was die Kollegen und Konkurrenten so treiben. Und jetzt weiß er es, sie wollen den Markt erobern, und das nicht auf die sanfte Art. Das Marriott-Hotel befindet sich an der Avenida dos Combatentes, der Straße der Krieger, ein passender Ort für diesen Kongress, unsichtbare Frontlinien durchziehen das Treffen, Sex ist ein umkämpftes Terrain. Auf den ersten Blick sind die vier Tage, mit 86 Vorträgen und 184 Teilnehmern, eine einzige Datenorgie. Man lernt viel über Menstruationszyklen, den Cortisolausstoß bei pornofilmkonsumierenden Hausfrauen und erfährt Ungeahntes über Cybersex in portugiesischen Chatrooms – Referate, Diskussionen, Symposien, am Abend ist man allerdings sexmüde. Auf den zweiten Blick erkennt man verschiedenen Fraktionen. Die Frontlinien verlaufen zwischen harter und weicher Wissenschaft, zwischen Seele und Molekülen und der Industrie. Wem gehört das Terrain wirklich, wem gehört Sex? Man kann die Sexologen einteilen in drei soziale Gruppen. Gruppe Nummer eins, die Psychiater und Psychologen, erkennt man bereits an Äußerlichkeiten: Die Frauen kommen vorzugsweise aus Holland oder dem amerikanischen Mittelwesten, sie haben ei- Paar beim Liebesspiel: Wird Sexualität ihres Mysteriums beraubt? die Ergebnisse, eine Erfolgsquote von etwa 72 Prozent im Verhältnis zu 22 Prozent bei der Placebo-Gruppe, das ist sensationell. In einigen Monaten, erzählen die Palatin-Leute, wollen sie die Schlussphase einleiten, angeblich machen die Verhandlungen mit der amerikanischen Zulassungsbehörde Fortschritte. Und während Georges Kaffee kalt wird, breitet sich im Konferenzsaal unter all den Fachleuten, den Endokrinologen, Gynäkologen, Biochemikern, Andrologen, so etwas wie eine weihevolle Stimmung aus: Diese Leute könnten es schaffen. Eine Lustdroge, die funktioniert. Die erste sexuelle Revolution begann Ende der sechziger Jahre. Es war die Befreiung von den Zwängen der Moral, mit ausgelöst durch ein Produkt der Firma Schering, die Anti-Baby-Pille, und die Sehnsucht nach einem freieren Leben. Es waren die Jungen, die diese Revolution machten und davon profitierten. Die zweite sexuelle Revolution nahm ihren Anfang 1998, abermals ausgelöst durch eine Pille, ein kleines hellblaues Ding. Viagra erlöste die Männer von ihrer Angst zu versagen, vor den Unwägbarkeiten ihres Körpers. Es war diesmal eine Revolution, von der vor allem die Alten profitierten. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 75 SIPA (L.), ARNAL / GERAL / STILLS PRESS (R.) Gesellschaft Frauen als Lustobjekt*: Sex wurde zur Industrie nen Lehrstuhl für „gender studies“ inne, tragen dunkle sackförmige Kleider, EthnoSchmuck und ziehen ihre Unterlagen vorzugsweise aus weichledernen Umhängetaschen. Sie zögern nicht, wenn ihnen ein Vortrag nicht passt, ihren Unwillen durch lautes Murren zu zeigen. Ihre männlichen Fakultätskollegen bevorzugen Kreppsohlenschuhe, ausgebeulte Tweedsakkos und haben rindslederne Aktentaschen, die sie geschäftig aufschnappen lassen. Ihre Studien beweisen, was man irgendwie schon wusste. Davon unterscheiden sich phänotypisch die Gynäkologen, Urologen, Mikrobiologen, Biochemiker, Endokrinologen. Sie sind, falls aus Mailand oder London angereist, deutlich eleganter, Chanel-Kostüme, An jenem Freitagmorgen, nach der Palatin-Präsentation, im Konferenzraum des Marriott, ist noch etwas Zeit für Fragen. Unter den Zuhörern sind nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch einige Sextherapeuten und Psychologen. Sie stehen auf, während sie ihre spitzen und kritischen Fragen stellen, nach sozialem Kontext und dem Sinn eines solchen Mittels. Und wenn sie sich wieder setzen, schauen sie sich beifallheischend um, und während der Antwort schütteln sie den Kopf, um durchblicken zu lassen, dass sie das Ganze irgendwie falsch finden. Vielleicht haben sie recht. Sie treibt ja nicht nur die Sorge, dass da mit den verabscheuungswürdigen Mitteln der Chemie eingebrochen wird in ihre Psycho-Blabla-Domäne – obSeit Viagra sucht man in allen Labors wohl diese Sorge berechtigt ist, siehe Viagra. Ihr durchaus inständig nach einem neuen Wundermittel. richtiger Gedanke ist: Was ihr Pumps, Ermenegildo-Zegna-Anzüge. Ihr da macht, ist von der Natur nicht vorAuftreten ist kühler. Ihre Referate strot- gesehen. zen von Fakten, sie haben eine Vorliebe für Die Palatin-Referenten sind vorbereiBlackberrys, und es ist unwahrscheinlich, tet. Je kritischer die Frage, desto höflicher dass sie je Erich Fromm gelesen haben. antworten sie. Sie streichen den theraDie dritte Gruppierung sind Herren in peutischen Nutzen heraus. Sie betonen, dunklen, teuren Anzügen, lieber etwas dass ihr Lustspray keine Partydroge sei, abseits stehend, mit Einstecktüchern und um Gottes willen, nicht zum Vergnügen Visitenkarten, auf denen klingende Namen gedacht, sondern allenfalls ergänzend verstehen: Pfizer, Boehringer, Procter & abreicht, in Ergänzung zu einer sensiblen Gamble, Eli Lilly. Sie sind sehr diskret, Psychotherapie, und sie schmeicheln und trotzdem wird man den Eindruck nicht los, winden sich, und was sie nicht sagen, ist: dass sie es sind, denen Sex gehört, die Verehrte Kollegen, dies wird wirksamer wahren Herren des Terrains. sein als alle Gesprächstherapien der Welt, und wir wollen damit viel Geld verdienen, und wenn ihr könntet, würdet ihr’s ge* Links: Sofia Loren und Jayne Mansfield (1954); rechts: Bikini-Show in Paris (1998). nauso machen. 76 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 George Dodd hat zugehört, still, aufmerksam. Am Ende der Veranstaltung spendet er höflich Beifall, dann stellt er seine Tasse ab und geht hinaus. Er wirkt fast ein bisschen geknickt. War dies die Stunde der Wahrheit? Die Stunde der Mythen jedenfalls schlägt in der Hotelbar, bei Bier und Erdnüssen, und erzählt wird zum 100. Mal die Geschichte vom Zufallsfund des „kleinen blauen Diamanten“. Wie sie Mitte der Neunziger in den Pfizer-Labors da oben im südenglischen Sandwich nach einem Mittel gegen Angina Pectoris fahndeten und fast schon entnervt aufgeben wollten, als sie plötzlich durch einen irren Zufall feststellten, dass es andernorts, eine Etage tiefer, durchaus wirkt – und wie der Laborleiter das Zeug selbst probierte, um dann erschrocken tagelang mit einer betonharten Erektion rumzulaufen. Man kichert, bestellt noch ein Bier. Und der jährliche Umsatz liege seitdem bei zwei Milliarden, sagt einer. Dazu der Schwarzmarkt, seufzt ein anderer. Der Erfolg hat der Pharma-Branche gezeigt, was möglich ist. Seitdem fahndet man in allen Labors inständiger denn je nach einem neuen Wundermittel – vor allem für Frauen. Procter & Gamble arbeitet an einem Testosteronpflaster unter dem Arbeitstitel „Intrinsa“, aber bisher hat die Federal Drug Administration (FDA), die amerikanische Zulassungsbehörde, das Mittel nicht zugelassen. BioSante Pharmaceuticals aus Illinois arbeitet ebenfalls an einem Testosteron-Gel. Überhaupt gibt es Erektionsfördernde Mittel * Striptease-Künstlerin Dita Von Teese. 78 Ohne eigene Begierde geht nichts d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 voluminös wie ein gehäufter Teelöffel Griesbrei. Hier werden Hormone wie alpha-MSH, Testosteron und Östrogen zu den Zellen gesandt, hier setzen Botenstoffe wie Dopamin und Serotonin an und leiten Erregung weiter über das Rückenmark an die Geschlechtsorgane. Sofern der Blutdruck und das Herz mithalten, läuft der Rest der Erregungskaskade von selbst und endet in einem wahren Silvesterfeuerwerk, danach herrscht Ruhe, alles wieder unter Kontrolle. Jeder Erwachsene kennt ein paar Mittel, um Erregung auf- und Dämpfung abzubauen. Alkohol enthemmt, macht aber auch dumpf und müde. Ein Joint, mit eingedrehten Krümeln von Tetrahydrocannabinol, kann Lüste wecken, entfacht vielleicht aber nur einen albernen Redeschwall. Kokain gilt als zuverlässige Sexdroge, ist jedoch teuer und verboten. George Dodd für seinen Teil glaubt nicht an Drogen, er glaubt an einen aufgeräumten Keller und an die sanfte Macht der Gerüche. Gelegentlich trinkt er Rotwein, zusammen mit seinem Sohn; einmal im Jahr kauft er eine Flasche für 300 Pfund (450 Euro), die sie feierlich leeren. Sein Aphrodisiakum, eingetragen unter der Patentnummer 2386555, ist ein Duftstoff, der möglichst über 24 Stunden immer wieder eingeatmet werden soll. Der Molekularaufbau ähnelt Dopamin, jenem Botenstoff, der sexuelles Verlangen steuert. Der Unterschied zu PT-141 ist die Labilität des Duftstoffs, er dockt nur kurz und sanft an und wird wieder abgeworfen oder zerfällt. In Lissabon, während die Konferenz ihren Lauf nimmt – Probleme der Östrogenbehandlung, psychosexuelle Profile bei Frauen mit Genitalschmerzen, Hirnaktivität bei Musik und deren Einfluss auf das Lustgefühl, ein Vortrag nach dem anderen –, sucht George nach Jim Pfaus, dem Ratten-Professor. Am Nachmittag kann er ihn am Kaffeestand abpassen, irgendwann sieht man die beiden Wissenschaftler, angeregt plaudernd, George erzählt von Opern und Düften, Jim Pfaus von der Entdeckung von PT-141. Es war am Health Sciences Center an der University of Arizona, wo neun Monate im Jahr die Sonne knallt und wo sie nach einer Sonnenmilch suchten, die bei hellhäutigen Männern die Pigmentbildung BOB MUSSELL / RETNA / INTER-TOPICS MARTIN GERTEN / DPA 1400 Biotech-Firmen in den USA, mehr als 4000 auf der Welt, nach einer Studie des Wirtschaftsberaters Ernst & Young, und alle wissen, dass die Sex- und Lustformel die begehrteste der Branche ist. Dagegen war Viagra ziemlich primitiv. Ein Erektionsmittel setzt nicht im Gehirn an, es funktioniert hydraulisch. Viagra unterdrückt ein Enzym namens Phosphodiesterase-5, kurz PDE-5, und dieses PDE5 wiederum hat im Körper die Funktion, den Blutfluss zu regulieren, indem es Botenstoffe zersetzt, die „mehr Blut“ signalisieren. Wird das Enzym gehemmt, können die Botenstoffe, vor allem ein Stoff namens cGMP, ihre Signale unbehelligt senden, mehr Blut, mehr pralle Schwellkörper, mehr Marktanteile. Bedingung für eine Erektion ist allerdings die sexuelle Stimulation des Mannes. Falls der nicht will, bewirkt Viagra gar nichts, höchstens Kopfschmerzen und Lustobjekt Tänzerin*: Wo ist der Sex-Knopf im Hirn? Durchfall. So sind wir Geiseln dieses Organs, und Aber wenn man nun Lust nicht nur eres verbittet sich jedwede Einmischung. möglichen, sondern erschaffen wollte? Aber die Lustmacher wie George Dodd, Sex findet im Bett statt, meistens jedenfalls; aber wo und wie fällt die Entschei- der Biochemiker aus Schottland, und die dung, ob Sex stattfindet? Ist es sein Palatin-Forscher wollen genau dies: den Aftershave, sein Geld, sein Lächeln? Ihre Knopf finden. Das Belohnungszentrum für Sex liegt Stimme, ihr Busen, ihr Mund? Die Entscheidung, gleichsam eine Ab- im limbischen System, im Hypothalamus, stimmung aus vielen Einzelentscheidun- einem evolutionär alten Areal, etwa so gen, wird getroffen inmitten eines Zellklumpens von durchschnittlich 1300 Gramm, unter der Schädeldecke, zwischen limbischem System und den weiten Feldern des Neocortex. Die Sinnesorgane, Augen, Ohren, Nase, Haut, fühlen, schmecken, sehen nichts, sie können mit Schall und Licht und Düften so viel anfangen wie ein Laptop mit einer EMail – sie übersetzen sie in elektrische Impulse und schicken sie weiter, und das Gehirn baut ein neuronales Korrelat dazu auf, das Bewusstsein eines Sonnenaufgangs, das Gefühl, die Brust einer Frau zu berühren. Wenn eine Inspiration nicht kommt, kommt sie nicht. Wer keine Lust auf Sex verspürt, will nicht. Man kann zwar Voraussetzungen schaffen, die Bürotür schließen, ein Glas Rotwein trinken, ein romantisches Kaminfeuer anzünden; aber der Rest muss sich von selbst ergeben, für das Gehirn hat das Gehirn keine Weisungsbefugnis. CHARLY KURZ / LOOKATONLINE Gesellschaft Palatin-Forscher im Labor: Sie nannten das Zeug „Leidenschaft“ sogar 48 Prozent. Die Dunkelziffer, sagen die Wissenschaftler, sei erheblich höher. Ein Viagra für Frauen, hier war ein Markt. Die Palatin-Forscher machten sich daran, die Peptidstruktur von Melanotan II zu modifizieren. Sieben Jahre unterzogen ihre Wissenschaftler den Wirkstoff allen möglichen molekülverändernden Prozeduren, so lange, bis die unsichtbar winzige Peptidform genau in nur eine Rezeptorform passte – wie ein passend gefeilter Schlüsselbart in ein Schloss. Alle anderen Signale waren ausgeschaltet: der Bräunungseffekt, die Dämpfung des Hungergefühls, die entzündungshemmende Wirkung. Was blieb, war die Stimulation aufs limbische Rattenweibchen durften die Sex-Entscheidung System. Sie nannten das Zeug PT141, und intern hieß es „pastreffen – „sie wollten es ständig“. sion“, Leidenschaft. Im Jahr 2001 trafen sich die Palatin-Forschert. Die FDA hätte sich sturer gestellt als scherin Shadiack und der Ratten-Forscher ohnehin schon. So gab es Melanotan II, und niemand Pfaus in San Diego. Pfaus kann sich lebhaft wollte es. Bis Palatin zugriff, eine Firma erinnern, Palatin bescherte ihm einen Foraus New Jersey, damals 20 Mitarbeiter, schungsauftrag auf Jahre hinaus. Aber keilachhaft, den Kampf aufzunehmen, allein nen Millimeter würde er von seiner wisbei Pfizer in Sandwich arbeiten mehr als senschaftlichen Objektivität abweichen, sagt Pfaus. „Palatin will sauberes Daten3000 Leute. Gründer und Präsident von Palatin, der material, die wären idiotisch, wenn sie Molekularbiologe Carl Spana, und seine getürkte Studien bestellen würden – und Laborchefin, Annette Shadiack, jedoch sa- ich wäre noch blöder, sie ihnen zu liefern.“ hen eine Chance: Frauen. Und deren sexuPfaus entwarf spezielle Käfige, in denen elle Unlust. Nach einer großen europäi- die Weibchen die Entscheidung über Sex schen Studie an 2467 Befragten hat eine treffen konnten. Die Ergebnisse seien frapvon zehn jungen Frauen drastische Proble- pierend, eine vier- bis sechsfache Steigerung me mit ihrer Libido, und bei Frauen über ihres sexuellen Appetits. „Glauben Sie mir, 50 Jahren, nach der Menopause, sind es ich kenne diese Tiere, sie wollen es ständig.“ anregt. Die Forscher arbeiteten mit einem Stoff, der dem Humanhormon Melanotropin ähnelte und den sie Melanotan II nannten. Melanotropin setzt den Bräunungsprozess in Gang. Die Probanden wurden in der Tat bronzefarben; aber nicht nur das. Zusätzlich registrierten die Tester, dass das Mittel den Appetit zügelte, entzündungshemmend wirkte, Lust auf Sex machte und zu „phantastischen Erektionen“ führte, wie Pfaus es ausdrückt. Diese breite Wirkungspalette war jedoch ein großes Problem. Kein Mensch will ein Mittel einnehmen, das ihm ein halbes Dutzend zusätzlicher Effekte be- 80 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Was bedeutet das für Menschen? „Ratten sind natürlich andere Wesen. Doch unser und ihr Gehirn haben große Übereinstimmungen. Ich würde sagen, wenn meine Rattenweibchen auf einen Wirkstoff reagieren, dann kann man ziemlich sicher sein, dass Menschen fast genauso reagieren.“ PT-141 oder Bremelanotid wurde inzwischen an mehr als tausend menschlichen Versuchspersonen ausprobiert, die Tests werden von neutralen Fremdfirmen, geheim und im Placebo-Doppel-Blind-Verfahren, durchgeführt. 72 Prozent der getesteten Frauen hätten ein Gefühl genereller Erregung verspürt; 67 Prozent hätten eine deutliche Steigerung ihres sexuellen Appetits registriert. Zieht man die Reaktionen der Placebo-Vergleichsgruppe ab, bleibt immer noch ein Ergebnis, das die PalatinLeute hoffen lässt auf den großen Coup, das Millionengeschäft in ein, zwei Jahren. Knapp tausend Menschen haben an der Entwicklung bisher mitgearbeitet, etwa 150 Millionen Dollar, so der Chef Carl Spana, hat die Forschung gekostet. Palatin braucht ständig Geld, jetzt erst recht, in der Schlussphase, und ein- bis zweimal in der Woche trifft Carl Spana sich mit Bankiers, Venture-Investoren, Analysten in New York, in San Francisco, in London, und zwischendurch bereitet er die Hearings bei der FDA vor. Procter & Gamble hat die erste Schlacht um „Intrinsa“ verloren, Carl Spana will seine gewinnen. Man bekommt, unter der Hand und nicht zu überprüfen, auch ein paar Beurteilungen, die aus einer frühen Testphase stammen sollen. Da werden ältere Probanden zitiert, die dank Nasenspray gleich mehrfach hintereinander Sex hatten. Da schwärmen Frauen von plötzlichen Lustattacken, und Versuchsperson 041 gibt seiner Erektion auf der Skala von null wie „nichts“ bis fünf wie „hervorragend“ die Note sechs. Gestreute PR oder Wahrheit? Es könnte die Wahrheit sein, das Gehirn ist ein abgeschottetes System. Doch wenn man erst mal drin ist, kann man es manipulieren. An seinem letzten Abend im Lissabonner Marriott-Hotel verabschiedet sich George Dodd, der bärtige Parfümeur und Biochemiker, etwas früher. Das letzte Referat dieses Tages lässt er ausfallen, er fährt mit dem Fahrstuhl aufs Hotelzimmer im vierten Stock, zieht seinen dunkelblauen Business-Anzug an und dazu schwarze, feine Sandalen, ein Geschäftsessen mit Investoren und Lizenznehmern, er muss ihnen erklären, warum sein Duftstoff zwar sanft, aber wirksam ist. Das Referat, das George verpasst, handelt von vorzeitigen Ejakulationen und was dies im Einzelnen für den Befriedigungsgrad der beteiligten Frau bedeutet – leider nichts Gutes. Aber ein neues Marktsegment ist es, zweifellos. ™ Gesellschaft Blüh’ im Glanze Ortstermin: In Berlin-Neukölln werden 54 Ausländer zu deutschen Bürgern. A FOTOS: MARCO-URBAN.DE Buschkowsky klingt wie ein Lehrer. Man uf den hölzernen Tischen liegen das Neukölln ging. Neukölln ist ein Beispiel Grundgesetz und der Text der deut- geworden. Wann immer es um Parallel- hat viele Rechte als Neudeutscher. Aber schen Hymne. Hinter den Tischen gesellschaften geht, dem Ruf nach Leitkul- auch viele Pflichten. Zum Beispiel die Insitzen 54 Erwachsene und Kinder aus tur, wenn ein Schlagwort gesucht wird für tegration. Buschkowsky sagt: „Integration Togo, Argentinien, dem Irak, Portugal, der die verworrene Lage, die Hilflosigkeit, die heißt, sich zu öffnen. Das ist natürlich auch Türkei, Vietnam, Frankreich und einigen Versäumnisse, hört man oft: Neukölln. So anstrengend, klar.“ Er schaut auf die Einanderen Ländern, deren Namen Michael wie Kreuzberg früher immer ein Beispiel bürgerungswilligen, die meisten jung, in Büge, Neuköllner Bezirksstadtrat, gerade war für die Buntheit des Lebens. Mitten- Jeans und T-Shirt. Sie gucken schüchtern auf die Kameras und auf Buschkowsky, vergessen hat. Vielleicht ist es auch nicht drin sitzt Buschkowsky. Der Slum-Chef. mehr so wichtig, wo man mal herkam. EntDie Musik-Chefs sind zwei Männer in den dicken Mann in dem seltsamen Anzug. An Buschkowsky und der Zeremonie scheidend ist, wo man hingeht. Alle 54 wol- schwarzen Anzügen. Ein Keyboard und len heute die Staatsbürgerschaft wechseln, ein Violoncello. Sie spielen ein „Potpour- lässt sich gut erkennen, wie sich die Dinri aus verschiedenen Nationalhymnen“. ge verändert haben. Es gibt so etwas wie Deutsche werden. Draußen rauschen die Straßen von Genauer gesagt: die Marseillaise, ein viet- den Heinz-Buschkowsky-Effekt, deutschNeukölln. Drinnen, im Saal des Rathauses, namesisches Lied und die Hymne Ägyp- landweit. Die große Politik hat sich seinen stehen Kamerateams und Fotografen. In tens, stellvertretend für alle Nationen. Die Neuköllner Positionen angenähert. BuschDeutschland reden gerade alle über Inte- türkische Hymne kann man nicht spielen, kowsky war vielleicht der erste Sozialdemokrat, der eine linke gration: Was das bedeutet. Idee für gescheitert erklärWie man das macht. Wer zute: die Multkulti-Gesellständig ist. Die Einbürgerung schaft. Erdacht von der ist, wenn man so will, die „Mafia der Gutmenschen“. höchste Stufe der IntegraBuschkowsky bekam viel tion. Deshalb kommen jetzt Ärger für diese Äußerundie Reporter und fragen gen. Heute redet niemand nach Gefühlen. Die Gefühle mehr über Multikulti. Der sind gut, sagen Tanja KleberBegriff scheint zu sterben Barbera aus Frankreich und wie die Videokassette und Nabaz Dargalaee aus dem der Filterkaffee. Irak. Vermutlich sind sie Womöglich wirkt die Zeund die anderen 52 die Letzremonie im Neuköllner Ratten ihrer Art. Eingebürgerte haus deshalb bereits wie ohne Wissenstest, ohne Ineine Zeugnisvergabe. Die 54 tegrationskurs, ohne Eid, ohWilligen waren bisher ein ne die ganzen neuen Innengutes Beispiel für die gelunminister-Einbürgerungsvorgene Annäherung an Demoschläge. Deutsche light. kratie und Deutschsein, solEinbürgerung heißt hier len jetzt aber nicht vom im Rathaus: Man geht als Weg abkommen und ParalFranzose oder Iraker durch lelgesellschafter oder Ehreneine schwere Holztür. Nach Bürgermeister Buschkowsky (M.), Neubürgerin: Potpourri der Hymnen mörder werden. einer Stunde geht man wie„Sie haben sich entschieden, Teil des der hinaus und ist Deutscher. Damit da- wegen der Kurden. Die vietnamesische zwischen irgendwas passiert, gefühls- und auch nicht, wegen der Südvietnamesen. deutschen Volkes zu sein“, sagt Buschbewusstseinsmäßig, damit man ankommt Balkan ist auch schwierig. Am Ende ist die kowsky. „Sie treten damit in einen neuen Kulturkreis über. Meine Bitte an Sie ist, im Deutschsein, gibt es eine Einbürge- Herkunft immer stärker als ein Pass. rungszeremonie mit Musik, Reden und Heinz Buschkowsky steht auf, geht zum dass Sie die Prinzipien einer freien GeSekt. Das ist wohl die Idee. holzgetäfelten Rednerpult und schiebt die sellschaft leben.“ Auf den Tischen liegt Reden wird Heinz Buschkowsky, Bezirks- große Brille zurecht. Er ist ein dicker Mann das Grundgesetz wie eine Mahnung. Die bürgermeister (SPD). Er ist 57 Jahre alt und in einem eierschalenfarbenen Anzug. Er Musiker spielen die „Ode an die Freude“, wohnte immer in Neukölln. Man könnte wird später die Einbürgerungsurkunden Heinz Buschkowsky überreicht die sagen, er ist perfekt in den Bezirk integriert. überreichen – er ist heute der Deutschma- schmucklosen Einbürgerungsurkunden, Ein Vorbild. Dazu ist Buschkowsky der be- cher. Aber erst mal redet Buschkowsky. Die sein Händedruck wird stürmisch, wenn kannteste Bezirksbürgermeister Berlins. Das Kameras drehen sich ihm zu. Heinz Busch- jemand ein „echter Neuköllner“ ist. So kowsky könnte ein Beispiel sein, wie man wie er selbst. liegt an Buschkowsky. Und an Neukölln. Am Ende stehen alle auf und singen. 54 In Neukölln gibt es die Rütli-Schule, in als Deutscher integriert. Was man einfordert Neukölln spielt Detlev Bucks Film „Knall- – oder anbietet. Was in Neukölln richtig ist, Deutsche. Blüh’ im Glanze dieses Glückes. hart“, und Wolfgang Schäuble benutzte könnte auch anderswo richtig sein. Eigent- Blühe, deutsches Vaterland. vor kurzem das Wort „Slum“, als es um lich ist er heute der wichtigste Mann. Jochen-Martin Gutsch d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 81 Medien Frère VEIT METTE / LAIF ISOPIX / ACTION PRESS Trends Bertelsmann-Zentrale in Gütersloh BERTELSMANN Filetierung statt Börsengang I m Konflikt um einen möglichen Börsengang des Medienkonzerns Bertelsmann hat der Minderheitsaktionär GBL ein bislang unbekanntes Druckmittel in der Hand. So hat sich die vom belgischen Stahlbaron Albert Frère dominierte GBL offenbar von Anfang an in einer zusätzlichen Vereinbarung das Recht einräumen lassen, ihren Anteil von 25,1 Prozent an Bertelsmann gegen gleichwertige Unternehmensbereiche einzutauschen, falls der Börsengang nicht ernsthaft vorbereitet werde oder das Management die Zusammenarbeit verweigere, so ein Insider. Damit habe Frère die Möglichkeit, eine „Realteilung“ von Bertelsmann zu fordern. Der Vorteil für Frère: Konkrete Unternehmensteile oder Geschäftsbereiche ließen sich, anders als die Beteiligung am Gesamtkonzern, leichter an Dritte weiterverkaufen. Der Wert des GBL-Anteils wird auf deutlich über drei Milliarden Euro geschätzt. Bertelsmann wollte sich in einer Stellungnahme nicht näher zu dem Vorgang äußern: „Für den Inhalt von Verträgen gilt in der Regel Vertraulichkeit, so auch in diesem Fall.“ VERLAGE Nayhauß von Merkel abgestraft? om Bundeskanzleramt abgestraft fühlt sich MainV hardt Graf von Nayhauß, der RUEBENBERG / FACE TO FACE neben seiner wöchentlichen „Top Ten“-Liste in „Bild“ mittlerweile auch regelmäßig für die „Bunte“, die „Super Illu“ und die „Netzeitung“ kolumMerkel (auf Dienstreise im Regierungs-Airbus) niert. Obwohl er sich frühzeilosophiert, sondern auch ausgeplaudert, tig um die Mitreise bei dem am Wochenwer dafür verantwortlich zeichnete – ende beginnenden China-Besuch der Merkels Visagistin werde, so Nayhauß’ Kanzlerin bemüht habe, sei ihm der Beobachtung, auf der Delegationsliste Platz im Regierungs-Airbus mit dem als „Assistentin, Bundeskanzleramt“ Verweis auf „Platzmangel“ verwehrt geführt. Er sei nicht vergrätzt, sagt der worden. Nayhauß, der schon seit den Kolumnist, wundere sich aber über die Tagen Helmut Schmidts im Kanzleramt „rasche Abstrafung nach wenigen regelmäßiger Gast in den Jets der FlugMonaten“. Er lasse sich indes bereitschaft ist, hat einen andenicht so einfach abhängen: ren Verdacht: Im Januar hatte Nayhauß fliegt jetzt Linie vorer Angela Merkel auf ihrer ersaus und freut sich über einen ten Washington-Reise begleitet unerwarteten Nebeneffekt: und in seiner „Netzeitung“Sein Flug ist knapp 200 Euro Kolumne nicht nur über Merkels „perfektes Make-up“ phigünstiger als die Kostenbeteiligung für die Beförderung im Kanzlerinnen-Airbus. Nayhauß 82 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 MICHAEL KAPPELER / DPA PRESSE Vorkötter verlässt die „Berliner Zeitung“ ie neuen Eigentümer des Berliner Verlags müssen sich für ihr FlaggD schiff „Berliner Zeitung“ einen neuen Chefredakteur suchen: Amtsinhaber Uwe Vorkötter wird das Blatt verlassen. „Die Entscheidung ist gefallen“, sagt ein mit dem Vorgang Vertrauter. Der genaue Zeitpunkt wird offenbar derzeit abgestimmt – es gehe, so der Insider, noch „maximal um wenige Wochen“. Offenbar soll vorher noch eine Nachfolgeregelung gefunden werden. Tatsächlich wurden bereits Gespräche mit potentiellen Kandidaten geführt, unter anderem mit den Stellvertretern Vorkötters. Der hatte bis zuletzt offen gegen den Verkauf des Verlags an den britischen Investor David Montgomery und das Beteiligungsunternehmen Veronis Suhler Stevenson opponiert und deren Renditeerwartungen und Pläne intern als „falsch für das Haus“ bezeichnet (SPIEGEL 51/2005). Auf eine SPIEGEL-Anfrage reagierten am Freitag weder Vorkötter noch die neuen Verlagseigentümer. Medien Fernsehen D O K U M E N TAT I O N Schüler voller Frust, Gewalt und Wut, überforderte Pädagogen, notorische Schwänzer, hilflose Eltern, weinende Lehrer: Neun Monate lang haben die SPIEGEL TV-Reporterinnen Amai Haukamp, 35, und Kathrin Sänger, 39, in der Berliner Pommern-Schule mit der Kamera beobachtet, wie ein Sozialarbeiter und eine Familienpädagogin versuchen, Ordnung in das Hauptschulchaos zu bringen – bevor es den Fall Rütli-Schule gab. Die ersten vier Folgen der Doku-Soap „S.O.S. Schule – Hilferuf aus dem Klassenzimmer“ im ZDF erreichten bis zu 13,5 Prozent Marktanteil – abends zwischen 22 und 23 Uhr ein echter Zuschauererfolg. SPIEGEL: Frau Sänger, wie kam es zu dem Projekt? Sänger: SPIEGEL TV hat zwei soziale Betreuer engagiert und eine Schule gefunden, die interessiert war, sich helfen und sich dabei filmen zu lassen. Wir wollten zeigen, wie es im Klassenzimmer zugeht, denn was da wirklich los ist, wissen ja nicht mal die Eltern. Und wir wollten wissen, ob es etwas bringt, Sozialarbeiter einzuschalten. Der Direktor und einige Lehrer der PommernSchule waren aufgeschlossen und haben uns sehr unterstützt. SPIEGEL: Was haben die Schüler gesagt? Sänger: Erst mal haben wir Elternabende gemacht, um die Mütter und Väter zu überzeugen. Die Schüler fanden es im Prinzip gut, aber manche hatten natürlich auch Angst, dass wir sie als blöd vorführen könnten. Da musste viel Vertrauensarbeit geleistet werden. SPIEGEL: Wie viele Stunden haben Sie gedreht? Sänger: Man kann sagen, rund um die Uhr. An Material waren es am Ende ungefähr 1800 Stunden – für 6 mal 45 Minuten Sendezeit. Wir haben uns als Teil des Projekts empfunden. Da kannst du nicht irgendwann nach Hause gehen und einfach abschalten. SPIEGEL: Was durften Sie drehen, wann musste die Kamera draußen bleiben? Sänger: Bei den Lehrern, die sich grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereiterklärt hatten, durften wir alles drehen. Aber wir haben nicht alles gezeigt. SPIEGEL: Zum Beispiel? Sänger: Persönliche Geschichten über sexuellen Missbrauch und Drogen. Wenn man das dokumentieren will, muss man einen anderen Film machen. SPIEGEL: Eine Lehrerin bricht weinend an ihrem Pult zusammen … 84 d e r ELISABETH KOLB / DER SPIEGEL „Weinend am Lehrerpult“ Reporterinnen Sänger, Haukamp Sänger: … und bestand darauf, dass wir weiterdrehen. Sie fand es in Ordnung, dass die Zuschauer sehen, wie weit die Auseinandersetzungen gehen können. SPIEGEL: Welchen Einfluss hatte die Anwesenheit des Fernsehens auf die Schüler? Sänger: Am Anfang waren sie lammfromm. Und haben sich dann in den Stunden ausgetobt, in denen wir nicht dabei waren. Aber irgendwann hatten sie uns vergessen. SPIEGEL: Wie lange hat das gedauert? Sänger: Monate. SPIEGEL: Und keiner hat extra aufgedreht, weil die Kamera dabei war? Sänger: Nachdem die Anfangssensation vorbei war, hatten wir das Gefühl, dass sie sich authentisch verhielten. SPIEGEL: Hat das Projekt die Lage an der Schule verbessert? Sänger: Auf jeden Fall. Bis auf drei besonders aufsässige Schüler ist es wieder möglich, in den Klassen zu unterrichten. Diese drei haben an einem Intensivprogramm mit Berufspraktika und gesondertem Unterricht teilgenommen. Sie werden, wenn alles gutgeht, ihren Hauptschulabschluss machen und eine Ausbildung beginnen. Für einen Schüler kam die Hilfe zu spät. Er kann sich nicht mehr integrieren. Gelegentlich kommt er noch zum Unterricht, aber was aus ihm wird – wahrscheinlich ist er verloren. Dafür hat sich seine kleine Schwester berappelt. Die war Monate nicht zur Schule gegangen. Jetzt geht sie hin und hat im Computerkurs sogar eine Eins. SPIEGEL: Wie geht es nun an der Schule weiter? Sänger: Die beiden Coaches bleiben bis Ende des Schuljahres. Der Senat hat der Schule einen Sozialarbeiter genehmigt. Und wir werden zum Ende des Projekts noch einmal drehen, um zu zeigen, was aus den Leuten geworden ist. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Medien Fernsehen TV-Vorschau Die schönsten Jahre Von Elke Heidenreich („Lesen!“) stammt die Geschichte zu diesem Film. Die Journalistin Nina (Ulrike Kriener) besucht ihre alte Mutter (Doris Schade). Eigentlich will die Tochter danach allein weiter nach Budapest fahren, aber dann nimmt sie die alte Dame doch im Auto mit. Die Fahrt ist mehr als ein touristischer Trip, denn Nina hat sich erotisch neu orientiert und will mit einer Freundin in der Donaustadt eine gleichgeschlechtliche Begegnung Bucerius, Ehefrau in „Der Herr der ‚Zeit‘“ suchen. Die Überraschung: Auch die alte Dame hatte eine intensive lesbiRastlosigkeit geprägt war. Rudolf sche Erfahrung. Nach dem Buch von Augstein löste für sich das Rätsel Scarlett Klein hat Gabi Kubach das Bucerius, als er seinen VerlegerkolleÜbersetzen zu neuen sexuellen Ufern gen einmal in hektischer Bewegung liebevoll, aber vielleicht zu harmonietanzen sah: Bucerius sei in Wahrheit bedacht inszeniert. ein Derwisch. Montag, 0.25 Uhr, ZDF Ben (Hanno Koffler) ist Anfang zwanzig und träumt davon, als Reisejournalist die Welt zu entdecken. Die Realität sieht anders aus: Mit seinem arbeitslosen, übergewichtigen Vater Karl (Peter Kurth), der den Tod seiner Frau und die Folgen der Wende nicht verkraftet, wohnt Ben in einer winzigen Plattenbauwohnung am Stadtrand von Halle. Hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, für seinen Vater da zu sein, und der Sehnsucht, sein eigenes Leben zu leben, organisiert Ben Einstellungsgespräche – doch Karl will keine Veränderung mehr. Bewegend erzählt der Film der Nachwuchsregisseurin Susanne Irina Zacharias (Buch: Sarah Esser, Ivan Dimov) von der Kraft, die es kostet, neue Wege zu gehen. Trau’ niemals deinem Schwiegersohn! Dienstag, 20.15 Uhr, Sat.1 Es ist eine unerschöpfliche Quelle des Humors, ehemaligen 68ern dabei zuzusehen, wie ihre Ideale an der Gerd Bucerius – Der Herr der „Zeit“ Tatort: Stille Tage Donnerstag, 23.15 Uhr, ARD Sonntag, 20.15 Uhr, ARD Die Autoren dieses Films, Florian Huber und Knut Weinrich, lassen den Hamburger Verleger (1906 bis 1995) auf ebenso sachliche wie unterhaltsame Weise lebendig werden. Die Mischung aus Zeitzeugen-Statements, Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen ist sehr gelungen. Es entsteht das Bild eines kopfgesteuerten Mannes, dessen Leben von innerer Spannung und Der Bremer „Tatort“ auf gewohnter qualitativer Höhe. Ein spannendes Buch (Jochen Greve), eine sorgfältige Regie (Thomas Jauch) und vor allem ein furioser Joachim Król als dubioser Witwer sowie Karoline Eichhorn in der Rolle einer unheimlichen Nachbarin. Erfreulich zu sehen, wie Hauptkommissarin Lürsen (Sabine Postel) schauspielerisch mithalten kann. TV-Rückblick Klinge, Lenk, Sittler in „Trau’ …“ Realität zuschanden gehen. In dieser rundum gelungenen Komödie (Buch: Annette Simon, Regie: Michael Kreihsl) trifft es den altlinken Anwalt König (Walter Sittler), dessen Tochter (Jana Klinge) sich in den vermeintlichen Nichtstuer Chris (Arne Lenk) verliebt. Statt mit klassenbewusster Toleranz reagiert der Vater wie ein Spießer und unternimmt alles, um seiner Tochter den jungen Mann madig zu machen. Ein kleines komödiantisches Fest findet da statt, auf dem sich neben Sittler die beiden jungen Schauspieler Klinge und Lenk gut behaupten können. 9. Mai, NDR Wie Menschen mit den psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs umgehen, schilderte dieser Film von Liz Wieskerstrauch unaufgeregt und leise. Alles lebte von historischen Bildern, die Berichte NDR SAT 1 Kriegstrauma Archivbild aus „Kriegstrauma“ 86 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 der Traumatisierten, ihrer Angehörigen und der Therapeuten machten das Elend der seelischen Verwundungen klar. Wie konnte ein Tischlermeister seine Erinnerungen an eine Kindheit voller kriegsbedingter Verlassenheit jahrzehntelang verschweigen? Wieso musste eine Familie auf die extreme schmerz- und geräuschempfindliche Genervtheit ihres Vaters Rücksicht nehmen, ohne von der Ursache zu erfahren, den Fronterlebnissen? Jetzt, nach dem Ende des Arbeitslebens, brechen die Verdrängungswälle zusammen. Man sah in dem Film weinende Großväter, alte Damen, die bis heute den Schrecken des Krieges (von Vergewaltigung bis Gefangenschaft in Russland) nicht verarbeitet haben. Am Ende versuchte eine Therapeutin das jahrzehntelange Verschließen der Kriegstraumata zu rechtfertigen: Wenn die Deutschen nicht verdrängt hätten, wäre der Wiederaufbau nicht möglich gewesen. NDR / ZEIT-STIFTUNG Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD Hallesche Kometen MATHIAS BOTHOR / WDR Medien Darsteller Dittrich als „Dittsche“, als Comedian (mit „RTL Samstag Nacht“-Kollege Boning), als Schlagzeuger von Texas Lightning: „Okay, ganz S TA R S Ansichten zu einem Clown Olli Dittrich und seine Band Texas Lightning vertreten am Samstag die Bundesrepublik beim Eurovision Song Contest in Athen. Der Künstler ist allerdings nur Musiker im Nebenberuf. Vier prominente Stimmen und eine Zwischenbilanz zu einer sehr deutschen Karriere. Von Thomas Tuma E hrlich gesagt müsste man die Gruppe Texas Lightning einen musikalischen Verkehrsunfall nennen. Eine künstlerische Tempo-30-Zone. Einen Witz ohne Pointe. Was soll das sonst sein? Diese absurden Cowboy-Klamotten! Diese Sängerin, deren Stimme in der Autoscooter-Kasse prima „Unwiddaeineneuefahrt“ ins Mikro quetschen könnte! Dieses ganze Country-Quintett, das wirkt, als hätte es gerade noch das Seniorenfest einer Schrebergartenkolonie beschallt und wäre nun ins Hamburger Schauspielhaus gebeamt worden. Es ist Freitagabend vergangener Woche, und in dem Theater sitzen sehr viele, sehr wichtige Medienmenschen. Gruner + Jahr und der „Stern“ verleihen ihre Henri-Nannen-Preise, formerly known as Kisch-Preis. Smoking war erbeten. Günther Jauch moderiert. Am Ende des roten Teppichs bleckt Top-Prominenz wie Cherno Jobatey die Zähne. Es ist eine pompöse Party für Leute, die ihre journalistische Eitelkeit einmal im Jahr mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung verwechseln möchten. 88 Realität muss leider draußen bleiben, wenn man von dieser Vorstadt-WesternKolonne absieht, die irgendwann auf die Bühne muckelt. Und wenn man jetzt noch ehrlicher ist, muss man zugeben: Diese Band ist wahrscheinlich der Höhepunkt des Abends, denn sie sieht aus, als käme sie aus einer wirklichen Welt mit Imbissbuden, U-Bahnhöfen und Hartz IV. Der Verlag könnte stolz sein. Weil bekanntlich nichts erregender ist als die Wahrheit. Weil Texas Lightning die Republik beim Schlager-Grand-Prix am kommenden Samstag in Athen repräsentieren wird. Weil das hier ihr letzter Auftritt vor der Abreise ist und ihr „No no never“ zurzeit aus jeder Supermarkt-Decke quillt. Vor allem aber, weil am Schlagzeug Olli Dittrich sitzt, die wohl stillste Größe des deutschen Unterhaltungsgeschäfts. Meist wirkt er schrecklich blässlich, oft wie fehl am Platz, als sei er gerade aus jedem Kontext gefallen und müsse sich nun erst sortieren. Zum Sortieren gibt es für ihn jetzt genug: Interviews und Auftritte und Sendungen und Proben und … d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Er ist jetzt ein richtiger Star. So viel ist klar. Aber sonst? Je mehr man ihn sieht, über ihn liest, von ihm hört, umso schwieriger scheint eine Antwort auf die Frage, wer Olli Dittrich wirklich ist, wenn man mal von den üblichen lexikalischen Faktenfitzelchen absieht. Dittrich, Oliver Michael (auch: Olli): geb. 20. 11. 1956 in Offenbach, aufgewachsen in Hamburg. Zweiter von drei Söhnen eines Journalisten und einer Künstlerin. Mittlere Reife, Lehre als Theatermaler, arbeitslos. Desaströse Versuche, als Musiker Karriere zu machen. Jobs als Produktmanager einer Plattenfirma, Songschreiber, Packer, Conférencier von Nonsens-Veranstaltungen. * „Wir hatten so eine Art internen Konkurrenzkampf, wer von uns beiden vorher erfolgloser war“, erinnert sich Wigald Boning, der Dittrich Anfang der neunziger Jahre kennengelernt hat. Boning weiß noch, wie er ihm damals beim ersten Treffen die letzten beiden Biere aus dem Kühlschrank soff. Das war das „Vorher“. WALTER RAMIREZ / ACTION PRESS (M.); SCHRAPS / BABIRADPICTURE (R.) dicht ist er nicht, aber auf sehr sympathische Weise“ Dann kam 1993 diese neue Show namens „RTL Samstag Nacht“, bei der sie schon als Team anheuerten. Dann kamen Ideen wie „Zwei Stühle – eine Meinung“ mit Dittrich als Pavarotti oder Beckenbauer und Boning als Interviewer-Frettchen in Kunstrasenanzügen. Dann schwollen die Quoten an, und Boning/Dittrich machten auch noch als „Die Doofen“ Musik. Plötzlich stand Dittrich vor 70 000 Menschen auf dem Nürburgring und intonierte Texte der Sorte: „Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke, denn sonst sag ich winke, winke.“ Es schien, als fielen die Erfolge umso größer aus, je bekloppter die Inhalte wurden. Sie rieben sich wund an diesem Erfolg. Boning weiß noch, wie sie mit „Zwei Stühle – eine Meinung“ anfingen. Donnerstagabends fuhren sie dazu in ein Kölner Steakhaus. Meist stand das Konzept, bis das Fleisch auf den Tisch kam. Von Woche zu Woche und von Saison zu Saison dauerte es länger – bis sie als letzte Gäste immer noch an den Texten feilten. „Olli hat einen Hang zu rigorosem Perfektionismus“, sagt Boning heute. „Dieser Fleiß … Mir ging das immer ab.“ Er erzählt, wie sie nach drei Jahren zum ersten Mal gemeinsam zu ihren RTL-Chefs sagten, man müsse anfangen, über ihre Nachfolger nachzudenken. Wohl auch, weil alle viel Geld verdienten, ging es dann doch noch zwei Jahre weiter bis 1998. Natürlich nervten sie einander, natürlich stritten sie sich auch. Aber Boning legt Wert darauf, dass diese Kräche nie echte Bedeutung bekamen. Am Ende trennten sie sich als Gag-Team wie als „Doofen“Duo, „weil die gemeinsamen Konzepte einfach ausgereizt waren. Wir waren leer“. Solo fiel jeder in sein eigenes Loch. Boning sortierte sich noch, da sah er Dittrich als Außenreporter von „Wetten, dass …?“ wieder im Fernsehen. Es gab Leute, die das peinlich fanden oder mitleiderregend. Boning wusste, dass Dittrich es nicht wegen des Geldes oder des TV-Millionenpublikums machte: „Olli liebt seine Arbeit. Aber manchmal macht Liebe auch blind.“ * Dienstagnachmittag mitteleuropäischer Zeit: Thomas Gottschalk hat in Kalifornien gerade seinen Sohn zur Schule gebracht. Er soll was zu Dittrich sagen? Klar. Natürlich. Überhaupt sagen alle, die man darum bittet, gern etwas zu Dittrich: Bevor Olli 1998 bei mir anfing, die Außenwetten zu moderieren, waren die „Doofen“ ja schon eine Riesennummer für die jüngere Zielgruppe. Darauf muss ein alter Sack wie ich achten, auch wenn ich mit Freuden feststellte, dass Olli nicht viel jünger ist als ich. Dabei dachten manche: Spinnt der? Also ich meine: er. Olli hat es gern gemacht und gut, denn das mit den Außenwetten ist eine schwierige Sache: Du hast da entweder einen Selbstdarsteller stehen oder jemanden, der es gar nicht kann. Olli hatte nur das Problem mit all den Bürgermeistern und Feuerwehrhauptmännern, die da rumstehen an Skischanzen und auf Marktplätzen und alle mal ins Bild wollen. Außerdem wollte er immer in irgendwelche Figuren schlüpfen, womit er recht hat, denn ein Herr Dittrich an sich ist ja auch schwer vermittelbar. Er ist ein totales Chamäleon. Irgendwann haben er und ich gemerkt, dass der Job ihm keine berufliche Zukunft bietet. Stress gab’s dabei keinen. Einem wie Olli kann d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 man sowieso nicht böse sein. Er ist ein … ja … ein reizender Mensch, nachdenklich, wahnsinnig tiefschürfend. Eigentlich mehr ein Konzeptkünstler. Eher valentinesk in seinem Humor. Mit einem heiligen Ernst, der manchmal nicht von dieser Welt zu sein scheint. Ich selbst bin quasi Vorsitzender des Olli-Dittrich-Fanclubs, Außenstelle Malibu. Er hat, was mir fehlt: diese Melancholie, dieses Grenzdepressive. Okay, ganz dicht ist er nicht, aber auf sehr sympathische Weise. Man kann mit ihm ganz ernst über alles reden. Alles. Als vor zwei Jahren meine Mutter starb, hat er mir einen langen Brief geschrieben. Handschriftlich. Mit Füller. So etwas erlebt man in unserem Geschäft nicht oft. * Die „Wetten, dass …?“-Aushilfe lief bis 2000, bis zu dem Jahr, in dem das ZDF es auch mit Dittrichs „Olli, Tiere, Sensationen“ probierte. Das Format war grandios, die Quote elend. Absetzung nach zwei Staffeln. Eine kleine Idee überlebte: „Blind Date“. Inzwischen gibt es sechs dieser winzigen Kammerspiele und drehbuchfreien Spontanbegegnungen zwischen einem Mann (Dittrich) und einer Frau (Anke Engelke), bei denen nur die Rollen vorher festgelegt werden, aber keine Dialoge. SPIEGEL: Welchen Anteil haben Sie am Erfolg von „Blind Date“? Engelke: Keine Ahnung. Ich rede da immer von „Wir“. Aber das ist 100 Prozent Olli – bis hinein in den Schnitt dieser so eigenen wie eigenartigen Begegnungen. SPIEGEL: Wie haben Sie Dittrich eigentlich kennengelernt? Engelke: Glaubt einem zwar kein Mensch – aber das war mal auf dem Flughafen. Je89 mand wollte ein Foto mit mir machen und drückte Olli, der gerade vorbeilief, achtlos die Kamera in die Hand. Auch ich erkannte ihn erst, als er das Ding wieder runternahm. Damals war er bei „RTL Samstag Nacht“ und ich bei der Sat.1„Wochenshow“. So fing das an. Wir verstanden uns sofort. Er ist auch ein wahnsinnig spiritueller Mensch. SPIEGEL: Bitte? Engelke: Jaja, das klingt jetzt so bescheuert. Aber zwei Begriffe werden Sie von Olli immer wieder hören: „Kraft“, jede Rolle hat für ihn ihre eigene Kraft. Und dann erst kann jener „Zauber“ entstehen, der ihm wichtig ist bei allem, was er tut. Deshalb ist Goebbels-Darsteller Dittrich: Tiefe Grundtraurigkeit das auch gar kein Widerspruch – seine akribische Perfektion und Dittrich ist später im fertigen Film kaum die Spontaneität von „Blind Date“. Der ei- eine Minute lang zu sehen. Die Rolle sei gentliche Dreh ist ja quasi nur noch der auch nie größer angelegt gewesen, sagt Schluss- und Höhepunkt aller Vorbereitung. Baier, der gern wieder mit diesem so junSPIEGEL: Sie werden sich dieses Jahr zum genhaften Verwandlungskünstler drehen siebten „Blind Date“ treffen? würde, in dem er eine tiefwurzelnde Engelke: Sicher. Wir kennen ja inzwischen Grundtraurigkeit vermutet. Im Grunde sei beide das komplette Stimmungsspektrum Dittrich ein unglaublich ernster Mensch. von hysterischer Fan-Verehrung bis Total* Akribie und Ad-hoc-Comedy, Wahnsinn verriss. Da bedeutet „Blind Date“ auch Ruhe und Einverständnis. Wir müssen uns und Methode, Improvisation und Diszinichts mehr beweisen. Und Olli – das ist plin, Witz und Melancholie, Verstand und immer ein unglaublicher Facettenreichtum, Verzweiflung, Lacher und Lächerlichkeit – seit eineinhalb Jahren kulminiert das alohne krampfig oder verkopft zu sein. les in der „Eppendorfer Grill-Station“, wo * Mal tauchte er in der Rolle eines ent- Dittrich jeden Sonntagabend eine Livenervten TV-Redakteurs in Helmut Dietls Folge von „Dittsche – Das wirklich wahre „Late Show“ auf, mal als Ossi-Karikatur in Leben“ dreht. der Kino-Komödie „Der Wixxer“. Dann Dittrich spielt Dittsche nicht, er ist Dittkam dieser Auftrag in Berlin. Der Dreh sche. Von Goebbels bis zu den „Doofen“ hatte noch gar nicht begonnen, aber Ditt- wird plötzlich alles eins: Dittsche ist rich war schon – Joseph Goebbels. Deutschland. Eine unglaublich feinnervige Der Regisseur Jo Baier kann sich noch Unterschichten-Ikone, Loriot in Hartz-IVsehr gut daran erinnern. Er hatte für sein Land. Dieser arbeitslose Verlierer, der beim „Stauffenberg“-Projekt etliche Schauspie- Bierholen en passant die Welt deutet, verlerkataloge durchforstet auf der Suche steht nichts, kann aber alles erklären. Er nach einem Darsteller. Dittrich habe dem ist rechthaberisch, detailversessen, gedanPropagandaminister wirklich erschreckend kenverloren, kompliziert, verstört, offen, ähnlich gesehen. Baier traf ihn und wusste verbohrt und komisch nur in seiner Tragik. sofort, dass er der Richtige wäre. Dittsche ist 41, Dittrich wird dieses Jahr Und wie Dittrich sich dann vorbereitet 50. Er hat nun jeden Medienpreis gewonhabe … Wahnsinn! Monatelang. Doku- nen, jede Demütigung mindestens einmal mentationen geguckt. Gelesen. Goebbels selbst erlebt. Er war ganz unten und ganz bis in feinste Nuancen der Körperhaltung oben, wieder unten und ist nun erneut hinein studiert. Etliche Kilo abgespeckt. oben mit dieser ganz und gar deutschen Baier sagt, ihn selbst habe auch und ge- Ganz-unten-Rolle seines Lebens. Der rade dieser Kontrast interessiert – von den Mann ist angekommen – mit Bademantel „Doofen“ zu Goebbels. Das sei auch ein im Imbiss und mit Cowboyhut in einer Risiko gewesen. Für Dittrich. Für den Film. komischen Country-Band. Beide hätten ja aneinander scheitern Er wird sein Bestes geben in Athen. Es ist können. nicht davon auszugehen, dass Schlager-JuAber dann sei dieser Morgen gekom- roren in Kroatien oder Norwegen das kamen auf dem alten Berliner Militärgelände. pieren werden. Aber das ist auch nicht Baier erinnert sich, wie er Dittrich kurz wichtig. Dittsche könnte es erklären. Nur, begrüßte, der da schon in Goebbels’ Ges- mal wirklich ehrlich: Das würde auch nieten zu verschwinden begann. mand verstehen. Das ist ja der Zauber. ™ 90 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 MATTESCHECK / SWR Medien Medien genommen, der den BND bereits im vergangenen Oktober in arge Erklärungsnöte GEHEIMDIENSTE gebracht hatte: Damals musste die BNDSpitze einräumen, dass der Geheimdienst über Jahre willfährige Journalisten als Quellen geführt und dabei auch Details über kritische Kollegen gesammelt hat. Doch nun werden neue Details über Art Der BND sammelte widerrechtlich Informationen aus und Umfang des Journalisten-Programms der Medienbranche. Dafür führte er bekannt, die der einstige Spitzenbeamte Journalisten als Quellen – wohl bis in die jüngere Vergangenheit. Schäfer in seinem rund 170-seitigen Rapport zusammengetragen hat. Begonnen hater Termin war für ein Grundsatz- Der Grüne Hans-Christian Ströbele nennt te die Operation, nachdem der Weilheimer bekenntnis bestens geeignet. Als die Spitzel-Affäre „einen gravierenden Publizist Erich Schmidt-Eenboom im SomErnst Uhrlau, 59, am Donnerstag- Vorgang“, der „den Kern der Pressefreiheit mer 1993 ein kritisches Buch mit diversen mittag vergangener Woche zur Festrede berührt“. In einer Sondersitzung soll sich Interna über den BND publiziert hatte. anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des das parlamentarische Kontrollgremium Anders jedoch, als vom damaligen Bundesnachrichtendienstes (BND) anhob, diese Woche mit dem Bericht beschäfti- BND-Präsidenten August Hanning im verlauschten Kanzlerin und Bundesinnenmi- gen. Auch der Deutsche Journalistenver- gangenen Herbst dargestellt, war der nister geradezu andächtig. „Transparenz“, band und der Zeitungsverlegerverband for- Dienst sogar bis in die jüngere Vergangenlobte der BND-Chef, sei heutzutage auch dern die „rückhaltlose Aufklärung“ der heit daran interessiert, von und über Jourim Gewerbe der Geheimen möglich. Die Vorwürfe. nalisten Informationen zu erhalten – noch Rund ein halbes Jahr lang hat Schäfer als vergangenes Jahr führte er einen Mitarparlamentarische Kontrolle stelle ja sicher, „dass die Dienste nach Recht und Gesetz externer Gutachter im Auftrag der Parla- beiter eines westdeutschen Nachrichtenarbeiten“. Als hätte der Allmächtige Cho- mentarier jenen Vorgang unter die Lupe büros unter dem Decknamen „Sommer“. reografie geführt, fiel ein Erst im Herbst 2005, als die Sonnenstrahl durch das Affäre bereits ihren Lauf geGlasdach und tauchte den nommen hatte, kappte der Schlüterhof des Deutschen BND den Kontakt. „SomHistorischen Museums in mer“ hatte sich den Gestrahlendes Mittagslicht. heimdiensten über die JahDas Treuebekenntnis re immer wieder als verkann Uhrlau allenfalls als trauenswürdiger Partner Versprechen für die Zuangeboten, und er hatte sich kunft gemeint haben. Denn auch ans Kanzleramt geam Abend vor dem Festakt wandt. Bislang hatten Hanhatte der pensionierte Bunning und Uhrlau lediglich desrichter Gerhard Schäfer Altfälle der neunziger Jahre den parlamentarischen Koneingeräumt und beteuert: trolleuren in geheimer Sit„Journalisten als Fliegenzung einen Bericht präsenfänger zu benutzen geht tiert, der das glatte Gegennicht“ (Uhrlau). Die Praxis, das legt der teil glauben macht: dass der BND zuweilen eine Bericht des Sonderermittlers nun nahe, sah offenbar Behörde ist, die es mit dem Gesetz nicht sehr genau ein Jahrzehnt lang anders aus. Mehr als 600 000 Mark nimmt, wenn der Informa- Geheimdienstzentrale in Pullach: „Handfester Skandal“ tionshunger allzu groß ist. soll allein der Journalist Wilhelm Dietl erhalten haEindeutig „rechtswidrig“ ben, der jahrelang für das nennt der Sonderermittler Münchner Magazin „Fomanche Operationen des cus“ gearbeitet hat – und Dienstes, vor allem die Oboffenbar zwischen 1982 und servation diverser Redak1998 unter anderem unter teure, die der BND seit 1993 dem Decknamen „Dali“ im Visier hatte und zum dem BND diente. Dietl, Teil jahrelang bis ins Privatvom SPIEGEL bereits Ende leben ausspionierte. Konse2005 mit den Vorwürfen quenzen dieses „handfesten konfrontiert, spricht von Skandals“ (FDP-Chef Gui„Gesprächen auf gegenseido Westerwelle) scheinen tiger Basis“ und beteuert, mittlerweile nicht mehr auser habe „zu keinem Zeitgeschlossen. Thomas Steg, punkt den Auftrag gehabt, der stellvertretende Regieden SPIEGEL auszuforrungssprecher, spricht von schen“. „Focus“ hat sich „unehrenhaften Versuchen mittlerweile von ihm geder Infiltration“, gegen die trennt. Dietl hatte in den die Bundesregierung „vorneunziger Jahren auch Kongehen“ werde, sollten sich takte zum SPIEGEL und eidie Vorwürfe bewahrheiten. SPIEGEL-Verlagshaus, Publizist Schmidt-Eenboom: Altpapier abgeholt Großer Hunger STEFAN HAERTEL / VARIO-PRESS (L.); PETER SCHINZLER (R.) STEFAN SAHM D 92 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 nen Vorvertrag als Mitarbeiter, der aber von SPIEGEL-Seite gelöst wurde, als erste Hinweise auf Dietls BND-Nähe auftauchten. In Geheimdienstkreisen heißt es, man habe Dietl „nie als Journalisten betrachtet, sondern eher als Nachrichtenhändler“, der vor allem aus dem Nahen Osten lieferte. Brennend interessiert war der BND offenbar an der Arbeit des SPIEGEL. Mit Hilfe verschiedener Journalisten versuchte die Behörde, an allerlei Redaktionsinterna zu kommen, etwa über die Plutonium-Affäre des BND, die der SPIEGEL 1995 enthüllt hatte. Als 1997 mit Hans Leyendecker einer der beiden Autoren der PlutoniumTitelgeschichte den SPIEGEL verließ, ließ sich der BND von einem Zuträger aus der Medienbranche über die vermeintlichen Hintergründe füttern. Auch über Arbeitsverträge und Abfindungen sammelte die Behörde offenbar, was sie kriegen konnte. Insgesamt finden sich in den Akten die Namen einer Handvoll SPIEGEL-Leute. Bei „Focus“ führte der BND noch einen zweiten Mitarbeiter als Kontaktmann, in den Akten unter dem Decknamen „Kempinski“ abgelegt. Bei mehreren Treffen mit dem damaligen Abteilungsleiter Volker Foertsch spekulierte „Kempinski“ laut Treffberichten auch über mögliche Quellen des SPIEGEL in der BND-Führungsetage. Die Berichte zeichnete Foertsch persönlich ab und reichte sie in die Fachabteilungen weiter. Die redaktionellen Interna, heißt es bei Ex-BNDlern, seien eher ein Abfallprodukt gewesen; der Wert der Liaison mit „Kempinski“ habe in seinen guten Beziehungen in den Ostblock gelegen. „Kempinski“ selbst sagt, er sei offenbar „abgeschöpft“ worden. Aufklärer Schäfer nennt insgesamt ein halbes Dutzend Zuträger, die dem Dienst als inoffizielle Mitarbeiter zu Diensten waren, darunter einen freien Journalisten, der in verschiedenen Krisenregionen umherreist. Der Reporter war für den BND wegen seiner guten Kontakte interessant – er berichtete aber auch, was er beispielsweise über den „Focus“-Redakteur Josef Hufelschulte erfuhr. Schäfer rügt die Methoden des BND allerdings nicht komplett. Er hält Teile des Vorgehens für legitim, etwa die Überwachung Schmidt-Eenbooms, die bis 2003 erfolgte. Der Dienst habe zu Recht ein vitales Interesse daran, Maulwürfe in den eigenen Reihen aufzuspüren, dafür dürfe er auch Mittel wie Observationen einsetzen. Bei dem Geheimdienst-Experten Schmidt-Eenbooms allerdings waren die Schnüffler nicht gerade clever vorgegangen. Immer donnerstagnachts holten Beamte heimlich das Altpapier vor dem Büro des Publizisten ab, in der Hoffnung, Hinweise auf Informanten zu finden. Weil die Ermittler aber vergaßen, die abgeräumten Bestände mit Ersatzpapier aufzufüllen, wunderten sich Hausbewohner alsbald über die außerplanmäßige AltpapierbeHolger Stark seitigung. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 93 Wirtschaft Trends IBM Teile und herrsche B JOERG SARBACH / AP eim Deutschland-Ableger des Computerherstellers IBM brodelt es in der Belegschaft. Nachdem der Konzern vergangenes Jahr bereits Niederlassungen geschlossen und sogar erstmals in Deutschland betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen hatte, kündigte die Geschäftsleitung in Stuttgart Anfang 2006 auch noch an, die stattlichen Betriebsrenten der langjährigen Mitarbeiter kürzen zu wollen. Rund 50 Millionen Euro sollen so pro Jahr gespart werden. Die betriebliche Altersversorgung kann IBM-Deutschland-Chef Johann Weihen jedoch nur mit der Zustimmung des Konzernbetriebsrats ändern. Der aber weigert sich bislang hartnäckig, überhaupt über das Sparpaket zu verhandeln, da es „keine sachlichen Gründe“ gebe, „die massive Einschnitte in die bestehenden Pensionspläne rechtfertigen“. Nun spitzt Containerterminal von Eurogate in Bremerhaven POLLEX / STRANGMANN / ACTION PRESS LOGISTIK Weihen sich der Streit weiter zu. Ende April kündigte Weihen die Betriebsvereinbarung zum Urlaubsgeld und treibt damit einen Keil in die Belegschaft. Während vom drohenden Wegfall des Urlaubsgelds alle Mitarbeiter betroffen sind, soll durch den Kahlschlag bei den Pensionsplänen nur die Hälfte der rund 22 000 IBM-Beschäftigten in Deutschland leiden. Bahn interessiert sich für Eurogate D eutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn hat seine Pläne noch nicht aufgegeben, in das aus Sicht des Logistikkonzerns lukrative Hafengeschäft einzusteigen. Nachdem Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust im Januar die Gespräche mit der Bahn über eine Beteiligung an der städtischen Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) abgebrochen hat, streckt Mehdorn seine Fühler nun nach Europas größtem Betreiber von Containerterminals, der in Bremen ansässigen Eurogate, aus. Das Unternehmen, 1999 aus der Fusion der Containersparte der Bremer LagerhausGesellschaft und der Hamburger Eurokai hervorgegangen, hat im vergangenen Jahr rund 12,1 Millionen Container umgeschlagen, was Eurogate ein Rekordergebnis von 75,4 Millionen Euro bescherte. Mehdorn hat in den vergangenen Monaten mehrfach um ein Gespräch mit Eurokai-Eigentümer Thomas Eckelmann gebeten – was aus Termingründen bislang nicht zustande kam. Jetzt ist ein Treffen zwischen dem Bahnchef und Eckelmann, zugleich Vorsitzender der Eurogate-Geschäftsführung, für Juni vorgesehen. Außerdem interessiert sich die Bahn für eine Mehrheitsbeteiligung am Duisburger Hafen. Mit dem Einstieg ins Terminalgeschäft will der Staatskonzern seine Transportkette vervollständigen und so noch stärker als bisher vom weltweiten Logistikboom profitieren. A F FÄ R E N BERNWARD COMES Weitere Ermittlungen gegen Uhl I n der VW-Affäre um Lustreisen für Betriebsräte und Tarnfirmen von Top-Managern haben die Braunschweiger Staatsanwälte ihre Ermittlungen gegen den langjährigen Geschäftsführer des VWGesamtbetriebsrats Hans-Jürgen Uhl ausgedehnt. Uhl d e r s p i e g e l Sie ermitteln gegen Uhl nun auch wegen des Verdachts auf Abgabe einer falschen eidesstattlichen Versicherung. Das bestätigt ein Staatsanwalt dem SPIEGEL. Uhl hatte in einer eidesstattlichen Versicherung beteuert, er habe nie private Vergünstigungen auf Firmenkosten erhalten. Der Deutsche Bundestag, dem Uhl seit 2002 angehört, hat bereits im vergangenen Jahr die Immunität des SPDAbgeordneten aufgehoben. Uhls Anwalt Michael Nesselhauf sagt zu den neuen Ermittlungen nur: „Die eidesstattliche Versicherung ist richtig.“ 2 0 / 2 0 0 6 95 FRANK DARCHINGER Trends Telekom-Zentrale in Bonn V E R H A LT E N S K O D E X Tugend bei der Telekom D ie Deutsche Telekom verordnet sich und ihren weltweit rund 240 000 Mitarbeitern einen Verhaltenskodex. „Wir möchten garantieren, dass unser Handeln jederzeit ethisch einwandfrei, korrekt und vorbildlich ist“, schreibt Konzernchef Kai-Uwe Ricke im Vorwort einer internen Broschüre mit dem Titel „Unser Code of Conduct. Gemeinsam Werte leben. Zusammen Werte schaffen“. Unter der B Kapitelüberschrift „Integrität“ ruft der Verhaltenskodex alle Beschäftigten des Konzerns dazu auf, „jegliche Form korrupten Verhaltens zu unterlassen“. Den Telekom-Mitarbeitern sei es verboten, „Entscheidungsträger in Unternehmen, Behörden oder staatlichen Institutionen unerlaubt zu beeinflussen, indem sie diesen Vorteile anbieten, versprechen oder gewähren“. Auch dürfen die Beschäftigten VERBÄNDE ALLIANZ Hambrecht beerbt Pierer Korruptionsfall bei EDV-Tochter EUGENE HOSHIKO / AP ASF-Chef Jürgen Hambrecht übernimmt am 18. Juli den Vorsitz des Asien-Pazifik-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft (APA). Hambrecht löst Ex-SiemensVorstand Heinrich von Pierer Hambrecht ab, der den APA seit dessen Gründung 1993 führt. Der Ausschuss, der von allen großen deutschen Wirtschaftsverbänden getragen wird, unterstützt deutsche Firmen im Wettbewerb um die asiatischen Märkte. Hambrecht hat mehrere Jahre im Rang eines BASF-Vorstands in Hongkong residiert und das Asiengeschäft des größten Chemiekonzerns der Welt aufgebaut. Erst im vorigen Jahr eröffnete Hambrecht den Verbundstandort im chinesischen Nanjing – mit 2,9 Milliarden Dollar die größte Auslandsinvestition der BASF. 96 selbst keinerlei Vorteile von den Entscheidungsträgern annehmen. „Wir achten das Recht und erwarten dasselbe von unseren Geschäftspartnern“, heißt es in dem Verhaltenskodex. Mit der Umsetzung ihrer Vorsätze will die Telekom Ernst machen. In der Konzernzentrale wird eine „Ethikline“ eingerichtet, bei der Mitarbeiter Verstöße gegen den Verhaltenskodex melden können – wenn gewünscht, anonym. In den kommenden Wochen werden die Führungskräfte in die Bonner Konzernzentrale bestellt, wo sie auf den Verhaltenskodex eingeschworen werden sollen. Erscheinen ist Pflicht. d e r G egen zwei leitende Mitarbeiter der Allianz-EDVDienstleistungstochter Agis ermittelt die Frankfurter Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsverdachts. Nach den Erkenntnissen der Ermittler sollen ein Abteilungs- und ein Referatsleiter seit Ende 2002 Aufträge an eine in Eschborn ansässige Firma vergeben haben, die eine der Ehefrauen unter ihrem Mädchennamen betrieben hat. Zudem habe die Firma Mitarbeiter an die Agis ausgeliehen, deren Stundensätze dann überteuert abgerechnet worden seien. Die überhöhten Rechnungen wurden anschließend offenbar von einem Sachbearbeiter abgezeichnet, der für seine falschen Testate Schmiergeld erhalten haben soll. Als die Allianz-Konzernrevision davon erfuhr, packte der Sachbearbeiter aus. Der Abteilungsleiter, seine Frau und der Referatsleiter waren bereits Ende März festgenommen worden. Während das Ehepaar inzwischen wieder auf freiem Fuß ist, sitzt der Referatsleiter wegen Verdunkelungsgefahr noch in Untersuchungshaft. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Geld IMMOBILIENFONDS Geld für Steinbrück E HANS CHRISTIAN PLAMBECK ntgegen verbreiteten Befürchtungen besonders unter SPD-Linken hat die Einführung börsengängiger Immobilienfonds, sogenannter Reits, keine Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Folge. Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) fließen im Gegen- teil zusätzliche Steuereinahmen in die Staatskassen – in den ersten Jahren jährlich zwischen 200 und 300 Millionen Euro. Diese kämen vor allem zustande, weil beim Verkauf von Immobilien an die Fonds stille Reserven gehoben würden, die nach den Plänen Steinbrücks mit dem halben Körperschaftsteuersatz versteuert werden sollen. Auch die Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer würden durch die Belebung des Immobilienhandels steigen, kalkulieren die BMF-Experten. Seit Monaten streitet sich Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, mit Teilen der SPD-Fraktion über die Einführung der Finanzmarktinnovation. Die Gegner kritisieren vor allem, dass die Fonds, wie in anderen Ländern üblich, von der Steuer befreit werden sollen. Steuerpflichtig sind allein die Anteilseigner. Steinbrücks Widersacher befürchten, die Konstruktion eröffne neue Möglichkeiten für Steuertrickser und koste den Fiskus deshalb Milliarden. In dieser Woche wollen sich die Kontrahenten noch einmal zur Aussprache treffen. Steinbrück AIR BERLIN Im Visier der Heuschrecken D er flaue Börsenstart von Deutschlands zweitgrößter Fluglinie Air Berlin in der vergangenen Woche macht Firmenchef Joachim Hunold und den begleitenden Banken schwer zu schaffen. Nur wenige Stunden hielt sich die Aktie über dem Emissionspreis, dann Aktienkurs in Euro, Intraday-Handel Donnerstag Freitag 12,50 12,00 Ausgabepreis: 12,00 ¤ Quelle: Bloomberg 11,00 d e r rutschte der Kurs zum Entsetzen aller Beteiligten deutlich ab. Doch nicht nur die schlechten Quartalszahlen der Lufthansa und die Kursschwäche bei den Konkurrenten Ryanair und Easyjet zwangen Air Berlin in den Sinkflug. Die als Heuschrecken verschrienen Hedgefonds wetteten offenbar auf einen Wertverlust. „Leerverkäufer sind in den Markt gegangen und haben auf fallende Kurse spekuliert“, bestätigt ein Frankfurter Banker. Die Fonds profitierten davon, dass die Konsortialbanken Commerzbank und Morgan Stanley versuchten, den Kurs in der Höhe des Emissionspreises zu stützen. Mit dem Auf und Ab konnten die Fonds Kasse machen. Zeitweise fiel die Aktie gar unter die Schwelle von elf Euro. In den Reihen der Schweizer Großbank UBS dürfte darum in diesen Tagen ein bisschen Schadenfreude herrschen. Bis vergangenen Herbst teilte sich die Commerzbank die Air-BerlinBeratung noch mit den Schweizern. In deren internen Berechnungen soll die Air-Berlin-Aktie anfänglich mit einem Preis von rund zehn Euro bewertet worden sein. Aufgrund unterschiedlicher Analysemethoden bezüglich der Flugzeugleasing-Verträge lag man unter dem von der Commerzbank berechneten Firmenwert. Ein Air-Berlin-Sprecher bestreitet, dass UBS dafür jemals ein offizielles Mandat seines Unternehmens hatte. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 97 Sicherheitsleitstelle (in der Frankfurter Commerzbank-Arena): Es steht weit mehr auf dem Spiel als viel Geld TORSTEN SILZ / DDP KON Z E R N E Die Maut lässt grüßen Der Aufbau eines digitalen Netzes für Polizei und Feuerwehr droht sich weiter zu verzögern: Die Ausschreibung für das Milliardenobjekt verlief unter merkwürdigen Umständen, die Entscheidung ist umstritten, und eine unterlegene Firma droht mit Klage. E ine Dienstreise der eher ungewöhnlichen Art führte etliche Beamte des Bonner Beschaffungsamts Anfang Mai nach Helsinki. Ihr Ziel: ein bläulich schimmerndes, siebenstöckiges Gebäude in einem tristen Gewerbegebiet am Rande der finnischen Hauptstadt. Hier, in hermetisch abgeriegelten Labors des Handy-Riesen Nokia, trafen die Staatsdiener Experten des Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns EADS. Die mussten ihren Gästen zahllose Fragen beantworten. Die Antworten fielen offenbar zu deren Zufriedenheit aus. Und wenn der Rest der Prüfungen ebenfalls positiv verläuft, wird das Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums Ende Juni einem von EADS, Nokia und dem deutschen Elektronikkonzern Siemens gebildeten Industriekonsortium den Zuschlag für ein Milliardengeschäft erteilen. Es ist einer der größten Staatsaufträge, die Deutschland seit dem Maut-Projekt zu vergeben hat – und er könnte ebenso brisant werden. Es steht weit mehr auf dem Spiel als viel Geld: die Sicherheit der Bürger. Denn was in Helsinki getestet wird, ist ein neues, abhörsicheres Mobilfunknetz für Behör98 den und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS). Spätestens im Jahr 2010 soll das bundesweit einheitliche BOS-Netz den Flickenteppich der veralteten Analognetze ablösen. Dann sollen Grenzschutz und Polizei, Feuerwehren, Sanitätsdienste und Technische Hilfswerke genauso miteinander reden und Daten austauschen können, wie es für private Handy-Nutzer längst selbstverständlich ist. Rund 3,5 Milliarden Euro muss die öffentliche Hand für das digitale System ausgeben. Allein der Aufbau des Netzes, dessen Auftrag für EADS zum Greifen nahe ist, wird mit rund einer Milliarde Euro veranschlagt. Hinzu kommen die Kosten für rund eine Million Endgeräte sowie den Betrieb des Netzes, den die Deutsche Bahn übernehmen soll. Umso verwunderlicher erscheinen nicht nur Mitbewerbern die Umstände, unter denen dieser Auftrag vergeben wird. Konkurrenten des EADS-Konsortiums wittern gar Mauschelei. Sie sprechen von einer gezielten Steuerung des Vergabeverfahrens. Bis März hatten sich noch vier internationale Industriekonsortien Hoffnungen gemacht, zumindest einen Teil des weltd e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 weit größten Auftrags im BOS-Geschäft zu ergattern. Neben EADS durften auch der Mobilfunkriese Vodafone und die britische Traditionsfirma Marconi Angebote abgeben. Als Favorit aber galt der US-Konzern Motorola, unterstützt von der TelekomTochter T-Systems und dem Münchner Elektronikspezialisten Rohde & Schwarz. Monatelang hatten die vier Konsortien nicht nur Tausende Fragen in den kilo- Einsätze von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk: FINNLAND Digitaler Behördenfunk in Europa* Wirtschaft SCHWEDEN RUSSLAND DÄNEMARK IRLAND GROSSBRITANNIEN Konkurrierende Systeme: n Tetra n Tetrapol n noch nicht entschieden NIEDERLANDE POLEN BELGIEN DEUTSCHLAND Quelle: Rohde &Schwarz TSCHECHIEN SLOWAKEI FRANKREICH SCHWEIZ ÖSTERREICH SPANIEN ITALIEN * Entscheidung gefallen, zum Teil im Aufbau oder bereits im Betrieb Die Entscheidung, meint Kerkhoff, „dürfte die Steuerzahler viel Geld kosten“. Ehe es zu Preisverhandlungen gekommen sei, bei denen sich erfahrungsgemäß Nachlässe von bis zu 40 Prozent aushandeln ließen, und noch bevor das ausgewählte Unternehmen bewiesen habe, dass es die Technik wirklich beherrscht, habe sich der Bund an einen einzigen Anbieter gefesselt. Das sei „schlichtweg dilettantisch“. Selbst Beamte des Beschaffungsamts sprechen von einer „unglücklichen Situation“. Denn sollte EADS jetzt auch noch die ausstehenden Feldversuche in Berlin und Stuttgart bestehen, verlangen die Ausschreibungsregeln, dass der Auftrag an EADS vergeben werden muss. Wie konnte es zu solch einer Situation kommen? Warum haben sich Bund und Länder in eine Lage manövriert, in der ein Anbieter Preise, Technik und Lieferzeiten quasi nach Belieben diktieren kann? War es Unfähigkeit? Absicht? Oder Zufall? Das müssen möglicherweise Gerichte klären. Der US-Konzern Motorola, der den NORBERT MILLAUER / DDP SASCHA RHEKER / ATTENZIONE schweren Ausschreibungsunterlagen beantwortet. Alle hatten auch Vorbereitungen getroffen, um der Vergabebehörde in praktischen Tests beweisen zu können, dass ihr System den hohen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik genügt. Doch dazu wird es nicht mehr kommen. Nachdem das Beschaffungsamt Vodafone bereits im Februar eine Absage erteilt hatte, wurden am 8. März auch Motorola und Marconi endgültig aussortiert. Nach Bewertung der schriftlichen Unterlagen seien entscheidende „Mindestanforderungen nicht erreicht“ worden. Deshalb, teilten die Beamten mit, könne „auf Ihr Angebot kein Zuschlag“ erfolgen. Lediglich EADS blieb im Rennen – nach nur einer von drei vorgesehenen Prüfungsphasen. Auch unabhängige Experten kritisieren die frühzeitige Festlegung auf nur einen Anbieter. Das sei ein „fataler Schildbürgerstreich“, sagt etwa Gerd Kerkhoff, Chef des international renommierten Beratungsunternehmens Kerkhoff Consulting. GRIECHENLAND Ersatzteile nur noch vom Flohmarkt d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Weltmarkt im BOS-Geschäft dominiert, will sein frühzeitiges Ausscheiden im Kampf um den prestigeträchtigen Auftrag jedenfalls so nicht hinnehmen. Deutschland-Chef Norbert Quinkert sieht gravierende Mängel in der Ausschreibung und droht öffentlich mit Klage. Die Notwendigkeit zur Einführung des digitalen Blaulichtfunks ist spätestens seit den Terroranschlägen auf das World Trade Center in New York oder auf den Nahverkehr in London und Madrid auch unter deutschen Experten unumstritten. Immer noch arbeiten die Sicherheitskräfte hierzulande mit unterschiedlichsten Systemen, deren Reichweite nicht selten an Stadt- oder Landesgrenzen endet und die nur eines gemeinsam haben: Sie können leicht abgehört werden, sind unzuverlässig und nicht in der Lage, Fingerabdrücke oder Fahndungsfotos zu übertragen. Damit, spotten Kenner, stehe Deutschland auf einer Stufe mit Albanien, das ebenfalls über kein flächendeckendes Digitalfunknetz verfügt. Um Ersatzteile für ihre veralteten Funkgeräte zu bekommen, müssen Polizisten und Feuerwehren nicht selten sogar die Flohmärkte abgrasen. Obwohl der Unterhalt der alten Blaulichtnetze ständig teurer wird, wurde bis vor einem Jahr verbissen über Kosten und Technik gestritten. Dabei hatten sich die EU-Staaten bereits 1990 verpflichtet, kompatible Funksysteme aufzubauen. Während fast alle Nachbarländer relativ schnell entsprechende Beschlüsse fassten, sorgte der Föderalismus in Deutschland für einen Investitionsstau. Denn für die Polizei sind größtenteils die Länder zuständig, für die Feuerwehr die Kommunen, der Bund zeichnet für Zoll, Grenzschutz und das Bundeskriminalamt verantwortlich. Doch wer welchen Anteil an dem Projekt zahlen sollte, blieb immer umstritten – und ist selbst heute nicht endgültig geklärt. Auch die Technik geriet zum Zankapfel. Vornehmlich zwei unterschiedliche Digitalsysteme standen zur Diskussion, obwohl das EU-Institut ETSI bereits 1995 unter dem Namen Tetra 25 eine Technik genormt hatte, die von vielen Firmen – darunter Motorola und Nokia – angeboten wird. Davon ließ sich EADS nicht beeindrucken und machte sich mit einem Heer von Lobbyisten – darunter Arne Schönbohm, der Sohn des brandenburgischen Innenministers Jörg Schönbohm – für das firmeneigene System Tetrapol stark. Die ursprünglich vom französischen Rüstungskonzern Matra entwickelte Technik wird beispielsweise in Frankreich, Spanien und der Schweiz eingesetzt. Obwohl die Blaulichtnetze spätestens zur Fußballweltmeisterschaft 2006 digital sein sollten, setzte sich erst kurz nach der Jahrtausendwende eine Expertengruppe aus Bund und Ländern zusammen, um die äußerst anspruchsvollen technischen Merkmale des neuen BOS-Netzes zu definie99 PAUL WHITE / AP Von dort, so lauten Vermuren. Bis dann auch die Finantungen in der Branche, könnzierungsfrage zumindest im ten Ausschreibungsdetails vorGrundsatz gelöst war, dauerte ab an EADS weitergeleitet wores noch einmal Jahre. den sein. Anders sei kaum zu Die Einigung, die Anfang erklären, dass Motorola an acht 2005 vom damaligen InnenmiMindestanforderungen gescheinister Otto Schily (SPD) inititert sei, während EADS mit iert wurde, sieht vor, dass der dem Nokia-System alle Hürden Bund ein Rumpfnetz aufbaut, gemeistert habe. das rund 50 Prozent der StaatsDas Beschaffungsamt wiegelt fläche abdeckt. Dieses Netz, ab: Bei den Beratern handele entschied Schily ohne Auses sich um anerkannte Fachschreibung, soll von der Bahn leute, die schon vor der Ausbetrieben und von den Ländern schreibung benannt und den erweitert werden. Bietern mitgeteilt worden seiObwohl klar war, dass die en. Damals habe keiner BedenEinführung des neuen Polizeiken gegen die Aachener angefunks zur Fußball-WM nicht Terroranschlag in Madrid 2004: Hohe Sicherheitsanforderungen meldet, obwohl deren Gemehr zu realisieren sein würde, machte sich das Beschaffungsamt sofort an cherheitsbeamte mit Geschenken in Form schäftsbeziehungen zu Siemens und EADS die Vorbereitung der Ausschreibung, bei von Reisen und VIP-Karten beeinflusst ha- bekannt gewesen seien. Aber wie konnte Motorola dann so eklader EADS mit dem Tetrapol-System allge- ben sollen. Zwar wurden die Verfahren gegen Zah- tant patzen? Alle Fragen seien wahrheitsmein wenig Chancen eingeräumt wurden. Zwar hatten sich Bund und Länder nicht lung deftiger Geldbußen eingestellt, aber gemäß beantwortet worden, behauptet der auf eine Funknorm festgelegt, doch die Motorola beharrt darauf, dass EADS ei- Weltmarktführer. Wohl anders als bei der Zahl der Experten, die sich für die Tetra- gentlich „wegen strafrechtsrelevanter Konkurrenz habe man sogar klar darauf Technik einsetzten, wuchs. Und nachdem Handlungen vom Vergabeverfahren aus- hingewiesen, dass bestimmte Anforderungen nach „derzeitigem Stand der Technik sich 2004 auch Österreich für Motorola und zuschließen“ gewesen wäre. EADS hält den Vorwurf für absurd, zu- noch nicht zur Verfügung stehen und bis Tetra entschieden hatte, sanken die Chanmal das Projektteam nach dem unappetit- zum endgültigen Netzaufbau erst entcen für EADS und Tetrapol gegen null. Da traf es sich gut, dass Nokia die Freu- lichen Zwischenfall komplett ausgetauscht wickelt“ werden müssten. Offenbar, schreibt Motorola in einer ofde an seiner BOS-Sparte verloren hatte. wurde. Das Beschaffungsamt lehnt die fiziellen „Rüge“ an das Beschaffungsamt, Denn der Handy-Konzern, der unter an- Forderung von Motorola ebenfalls ab. Die Affäre ist aber nur ein Mosaikstein habe diese Ehrlichkeit dazu geführt, dass derem die Tetra-Netze in Finnland und Belgien aufgebaut hatte, bekam Ärger mit in einer Reihe von Merkwürdigkeiten. wichtige Leistungsmerkmale als „nicht vorseinen staatlichen Auftraggebern, weil zu- Immer wieder weisen Konkurrenten auch handen“ gewertet wurden. Dies stelle eine gesagte Leistungen offenbar nicht realisiert auf die engen Beziehungen zwischen „unverhältnismäßige Abwertung“ dar, auf wurden. In Großbritannien und den Nie- EADS und einer Aachener Firma hin, die Motorola möglicherweise mit einer derlanden, wo Nokia ebenfalls den Zu- die das Beschaffungsamt als Berater enga- Klage reagieren werde. Vielleicht, sagen Berater der Motorolaschlag bekommen hatte, gaben die Finnen giert hat. Konkurrenten, sei der Branchenprimus sogar den Auftrag zurück. Der ging dann in einfach nur zu arrogant gewesen. So ist es beiden Ländern an Motorola. für Experten etwa völlig unverständlich, Um im Rennen zu bleiben, übernahm warum Motorola eine „fiktive NetzplaEADS vergangenes Jahr in aller Eile die Erste Auswertung des Ausschreibungsnung“ mit nur rund 1800 Basisstationen kränkelnde BOS-Sparte von Nokia. Seither verfahrens für den digitalen Behördenfunk eingereicht habe, die unter Realbedingunwirbt EADS mit glühenden Worten für den in Deutschland gen nicht funktionieren kann – und an die„offenen Standard“ von Tetra 25, der den sen Zahlen hielt Motorola sogar auf NachAnwendern „kostengünstigere und größefrage fest. Die Konkurrenten hatten für die re Auswahl bei höherer Qualität“ sichere. geforderte „Modellrechnung“ mit mindesUnd als hätte der Bund genau darauf gemit Siemens und Nokia tens 4000 Basisstationen kalkuliert, die der wartet, veröffentlichte er kurz darauf seine Realität näherkommen, ihre Angebote 1530 Seiten starke Ausschreibung. Funktechnik Tetra allerdings auch teurer machten. Gleichwohl waren viele Experten davon alle Kriterien erfüllt Gleichgültig, welche Version sich am überzeugt, dass der EADS-Schwenk zu Ende als richtig erweist – für Bund und spät kam. Umso mehr überraschte die EntLänder ist die nun entstandene scheidung, die das BundesSituation heikel. Besteht EADS innenministerium dann im alle Tests, sind die SicherheitsMärz bekanntgab: EADS habe behörden von einem Lieferan„das wirtschaftlichste und fachabgelehnt wegen Funktechnik Tetra ten und dessen Preisen abhänlich beste Angebot“ abgegeben Funktechnik fünf Kriterien gig. Fällt EADS durch, muss die und erfülle als einziger BewerGSM-BOS nicht erfüllt Ausschreibung neu aufgerollt ber sämtliche technischen Anwerden. Zieht Motorola vor Geforderungen. richt, muss die Vergabe bis zur Klärung Das wollen die Unterlegenen nicht hinverschoben werden. nehmen, zumal es schon im Vorfeld des Die Chancen, das Netz bis zum Jahr Milliardenpokers zu einem Eklat gekommit T-Systems, Rohde & Schwarz 2010 endgültig in Betrieb zu nehmen, sinmen war. Da leitete die Staatsanwaltschaft Funktechnik Tetra ken damit erheblich. in Ulm Ermittlungsverfahren gegen fünf Frank Dohmen, acht Kriterien nicht erfüllt Klaus-Peter Kerbusk EADS-Manager ein, die Politiker und Si- Ohne Konkurrenz 100 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Wirtschaft BMW-Chef. Gegenüber Audi, die stets mit ihrer erfolgreichen Aufholjagd prahlen, hat AU TOI N D U ST R I E er sich in den vergangenen fünf Jahren glatt verdoppelt. „Aufgrund dieser Fakten von Aufholen zu sprechen, fällt mir schwer.“ BMW will spätestens 2008 1,4 Millionen Autos verkaufen. „Jetzt sagt Audi, sie wolDer Autokonzern BMW fährt der Konkurrenz davon, doch die len 2008 eine Million Fahrzeuge verkauöffentliche Aufmerksamkeit gilt den Wettbewerbern Mercedes fen“, sagt Panke. Der Abstand wird weiter und Audi. Jetzt planen die Münchner eine neue Modelloffensive. wachsen. Ganz zu schweigen vom Gewinn, der bei BMW 2005 fast dreimal so hoch war wie bei Audi. Und die Mercedes Car Group musste im vergangenen Jahr sogar einen Verlust hinnehmen. Auf die Show der Rivalen reagiert man in München zunehmend genervt. Ein BMW-Manager sagt: „Wir verkaufen kein einziges Auto mehr, wenn unser Vorstandsvorsitzender Gitarre spielt.“ Lieber lässt man Fakten sprechen und gewährt sogar Einblick in die strenggeheime „LUP 2011“, die Langfristige Unternehmensplanung bis 2011. Aus ihr geht hervor, dass BMW nach der Einführung der Geländewagen X3 und X5 nun die zweite Stufe seiner Offensive zündet. Eine Reihe zusätzlicher Modelle soll den Vorsprung noch vergrößern. Das gilt nicht nur für BMW, sondern auch für die zum Konzern gehörenden Marken Rolls-Royce und Mini. Gefährlicher als Mercedes-Benz und Audi könnte den Münchnern schon bald BMW-Chef Panke: „Unser Vorsprung ist größer geworden“ Lexus werden, die Luxusmarke von Toyoelmut Panke hat ein Problem: Er ist beharrlich als „raumfunktionales Konzept“ ta. In den USA verkauft Lexus bereits erfolgreich. Der von ihm geführte ankündigt. Das klingt nach sozialem Woh- mehr Fahrzeuge als BMW. In Europa und Autokonzern BMW ist Spitze. Er nungsbau oder bestenfalls nach moderner selbst in Japan spielt Lexus noch eine hat den jahrzehntelang führenden Kon- Kunst – aber gewiss nicht nach einem Außenseiterrolle. Doch Toyota hat bewiesen, wie beharrlich der japanische Konkurrenten Mercedes-Benz überholt und sportlichen Auto. Doch nun reicht es dem studierten zern den langfristigen Erfolg anstrebt. Audi immer weiter hinter sich gelassen. Deshalb mindert Panke auch nicht den Physiker. Lange ließ er im BMW-Vorstand Gefeiert aber werden andere. Für Fachzeitschriften wie „Auto Motor diskutieren, ob man auf den PR-Wirbel Druck, nachdem BMW die Führung in der und Sport“ ist Audi-Chef Martin Winter- reagieren solle, den vor allem Audi-Chef Oberklasse erreicht hat. Er lässt seinen korn der Star. Der Entwicklungsexperte Winterkorn entfacht. Das könnte als unfein Führungskräften keine Zeit zum Feiern. („Ich kenne jede Schraube“) streichelt gelten. Aber vor der Hauptversammlung Manager der zweiten Ebene klagen, dass schon mal mit der Hand über die Rück- am Dienstag dieser Woche legte Panke los. ihr Unternehmen militärisch straff geführt leuchten eines Autos und sagt: „Wie bei „Unser Vorsprung gegenüber der Kon- werde. Jeder sichere sich mehrfach ab, bekurrenz ist größer geworden“, sagte der vor er eine Entscheidung fälle. einer schönen Frau“. Besonders unter Beschuss ist geFür Analysten und Wirtschaftsgenwärtig Vertriebsvorstand Michablätter ist DaimlerChrysler-Chef el Ganal, weil er nicht annähernd Dieter Zetsche der Größte. Er hat 1400 für so viel Wirbel wie seine KolleChrysler saniert, will jetzt 14500 ArGewinn gen bei Audi sorgt. Ganal wird zubeitsplätze streichen und erhält vor Steuern Pkw-Absatz in tausend dem vorgeworfen, dass er nicht gedennoch Applaus von der Beleg2005 nug für weitere Modelle kämpfe. schaft. Der Mann mit dem WalrossBMW bart wirkt stets nett und freudlich, Das erledigt bei BMW neben dem 1175 inkl. Rolls-Royce und Mini und er beherrscht die Show. Auf eiEntwicklungschef überraschender1127 3,3 Mrd. ¤ nem Autosalon tritt Zetsche mit der 1053 weise vor allem der Vorsitzende des E-Gitarre auf, oder er spielt Violine Betriebsrats, Manfred Schoch. „Die 1093 1000 Mercedes mit einem Kammerorchester. beste Beschäftigungssicherung ist eine Car Group Und BMW? Na ja, die Münchner gute Modellpolitik“, sagt Schoch. Das inkl. Smart und sind erfolgreich. Aber das ist auf ist seine Lehre aus den beiden großen Maybach 822 829 Dauer ja eher langweilig. Krisen von BMW. 1959 verfügte –0,5 Mrd. ¤ Die Automobilindustrie lebt wie BMW mit dem 502 über ein zu großes Audi kaum eine andere Branche nicht und mit der Isetta nur über ein sehr inkl. Lamborghini nur von Zahlen und Fakten, sonkleines Modell. Es drohte die Über653 1,3 Mrd. ¤ dern auch von Glitzer und Glanahme durch Daimler-Benz. mour. Und BMW-Chef Panke ist 1999 brachte Rover den Konzern 2000 2005 2008 Planung einer, der ein zusätzliches Modell ins Wanken. Die britische Tochter JOERG KOCH / DDP Die zweite Stufe H Wachwechsel in der Oberklasse 102 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 CARLOS OSORIO / AP Wirtschaft BMW-Stand auf der Detroit Motor Show 2005: Neue Modelle sichern vorhandene Jobs 104 Die Entwickler im Forschungs- und Innovationszentrum von BMW arbeiten derzeit an so vielen neuen Modellen, dass auch Eingeweihte fast den Überblick verlieren. Sie entwerfen einen kleinen Geländewagen, der Kunden ansprechen soll, die eine höhere Sitzposition wünschen, denen der X3 aber zu groß ist. Erste Zeichnungen gibt es für einen Sportwagen, der vom 6er abgeleitet ist, aber über vier Türen verfügt. Weiterwachsen soll auch die Marke Mini. Es wird einen kleinen Kombi geben. Diskutiert wird ein Zweisitzer, der dem bislang einzigen Modell dieser Art, dem Smart, Konkurrenz machen könnte. Er soll möglicherweise Mini-Mini heißen. Und bei Rolls-Royce gibt es Pläne, neben dem Phantom für 375 000 Euro ein Modell zu konstruieren, das preislich etwas niedriger angesetzt ist – einen Rolls für rund 250 000 Euro. Die Ausweitung der Modellpalette birgt allerdings eine Gefahr: Sie treibt die Kosten in die Höhe, und es ist ungewiss, ob die neuen Autos auch genügend Käufer finden. Mercedes-Benz hat nach Einschätzung des neuen Chefs Zetsche bereits das eine oder andere Nischenmodell zu viel. Die R-Klasse, eine seltsame Mischung aus HUCKFELDT / AUTOBILD hatte zuerst ein Mittelklasseauto, den Rover 75, entwickelt, statt den neuen Rover 25 herauszubringen, der in größeren Stückzahlen verkaufbar gewesen wäre. Dieses Fahrzeug hätte Rover möglicherweise retten können. Derzeit steht BMW vor dem gleichen Dilemma wie alle anderen Autohersteller. Die Münchner steigern ihre Produktivität jährlich um rund fünf Prozent. Jahr für Jahr müsste BMW dann aber auch fünf Prozent der Arbeitsplätze streichen, wenn es dem Konzern nicht gelänge, den Absatz ebenfalls um fünf Prozent zu steigern. In den vergangenen Jahren konnte BMW 12 000 neue Stellen schaffen, die meisten davon in Deutschland. In naher Zukunft aber wird es kaum zusätzliche Arbeitsplätze geben, selbst wenn der Erfolg anhält. Nach der internen Planung steigt der Absatz ungefähr so schnell wie die Produktivität. Die zusätzlichen Modelle können nur die vorhandenen Jobs sichern. Aber auch das ist schon viel in Zeiten, in denen Mercedes-Benz Tausende Arbeitsplätze streicht. Für das Wachstum bei BMW soll unter anderem ein sportlicher Kombi („Luxury Sports Cruiser“) sorgen. Es ist jenes Modell, das der BMW-Chef stets als raumfunktionales Konzept bezeichnet. Das Auto wird nicht wie die R-Klasse von MercedesBenz mit sechs Sitzen vollgestellt, sondern verfügt über vier bequeme Einzelsitze und großen Laderaum. Vom kleinen 1er wird zusätzlich ein Cabrio produziert. Aus seinen beiden Geländewagen X3 und X5 will BMW eine ganze Baureihe machen. Beschlossen ist die Produktion eines sportlichen Geländewagens X6, der im US-Werk Spartanburg gebaut wird und damit die Abhängigkeit vom Dollarkurs verringert. Geplanter Luxury Sports Cruiser „Raumfunktionales Konzept“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Kombi und Geländewagen, verkauft sich schwächer als erwartet. Mercedes-Benz leidet auch darunter, dass die Stuttgarter ihr Wachstum schlechter geplant haben als BMW. So können die A- und B-Klasse wegen der speziellen Bauweise keinen Motor der übrigen Baureihen verwenden. Bei BMW dagegen werden zusätzliche Baureihen von bestehenden Modellen abgeleitet. Der 1er übernahm rund 60 Prozent der Teile, die beim 3er eingebaut werden. Das senkt Entwicklungs- und Einkaufskosten. Überlegen ist BMW seinen Wettbewerbern auch durch das Produktionssystem, das Vorstand Norbert Reithofer aufgebaut hat. Selbst Experten von Toyota, die die effizientesten Fabriken der Branche installiert haben, suchen mittlerweile um Besichtigungstermine in BMW-Fabriken nach. Die Werke in München, Dingolfing, Regensburg und Leipzig sind hochflexibel. Die Kunden können ihren Auftrag noch bis sechs Tage vor Montagebeginn ändern. In jedem Monat nutzen rund 140 000 BMW-Käufer diese in der Branche wohl einmalige Gelegenheit. Und die meisten von ihnen bestellen Zusatzausstattungen, mit denen BMW seinen Umsatz und Profit deutlich erhöht. Diese solide Basis sorgt dafür, dass Fehlgriffe BMW derzeit zwar bremsen, aber nicht stoppen. Nachdem das missglückte Design des 7er dem Unternehmen viel Spott eingebracht hatte, wurden die gröbsten Macken in einer teuren Modellpflegeaktion beseitigt. Das hochkomplizierte Bedienungssystem i-Drive wurde vereinfacht. Und weil der Roadster Z4 zu teuer geriet, prüft BMW nun, ob es zusätzlich einen kleineren und preiswerteren Zweisitzer auf den Markt bringen sollte. BMW-Chef Panke könnte seinen Job richtig genießen, wenn die Konkurrenten sich nicht stets als Sieger präsentierten, obwohl sie dazu nach seiner Meinung keinerlei Veranlassung hätten. Sogar in Sachen Allrad ist BMW in der Oberklasse mittlerweile vorn. BMW verkaufte im vergangenen Jahr 250 000 Autos mit Allradantrieb, und damit mehr als Konkurrent Audi, der sich gern als Pionier dieser Technik feiern lässt. Auf der Hauptversammlung will der BMW-Chef vielleicht noch einmal sagen, wer wirklich vorn steht. Aber dann soll auch wieder Ruhe herrschen. Die Anerkennung der Haupteigentümer von BMW, der Familie Quandt, ist Panke gewiss. Für ihn soll es eine Ausnahme von der Regel geben, dass ein Vorstand bei BMW nur bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres auf seinem Posten bleiben soll. Ein Vertreter der Kapitalseite im Aufsichtsrat sagt: Pankes Vertrag, der bis 2007 läuft, soll verlängert werden. Im Gespräch ist eine neue Laufzeit bis 2010. Panke wäre dann 63. Dietmar Hawranek Wirtschaft GEWERKSCHAFTEN Sieg gegen die Wölfe In der DGB-Spitze wächst die Sorge, Vizechefin Ursula Engelen-Kefer könne erneut für den Vorstand kandidieren. Die Gewerkschaftsbosse fürchten eine Blamage. W Juni, wenn eigentlich längst ihre Nachfolgerin im Amt sein soll. Engagiert pflegt sie ihre treuen Unterstützergruppen in der gewerkschaftlichen Sozial- und Frauenszene. Vor wenigen Wochen etwa initiierte sie ein sogenanntes Netzwerk für eine gerechte Rente, bei dem auch gewerkschaftsnahe Lobbygruppen wie die „Volkssolidarität“ oder der „Sozialverband Deutschland“ mitmachen dürfen. Vergangene Woche nahm sie Vorstandsfrauen von DGB-Gewerkschaften mit zu einem Gesprächstermin bei Familienministerin Ursula von der Leyen. Und für diesen Montag hat sie die Gewerkschaftsvertreter der Krankenkassen zu einer Fachdiskussion über die Gesundheitsreform geladen. Ich bin eine von euch, so signalisiert sie den Kollegen – und wenn ihr wollt, bleibe ich im Spiel. DGB-Chef Michael Sommer, der seine nervige Stellvertreterin endlich loszuwerden hofft, ist alarmiert. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die Gewerkschafterin den Versuch überlebt, sie zu stürzen. Mal wollte Gerhard Schröder sie aus dem Verwaltungsrat der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit kippen. Mal hatten sich die mächtigen Bosse der Einzelgewerkschaften verbündet, um sie aus ihren DGB-Ämtern zu drängen. Geklappt hat es nie. Regelmäßig erhielt sie so viel Unterstützung aus dem Unterholz des Apparats, dass ihre Gegner klein beigaben – und sie schließlich alle überlebt hat. Ob ihr das auch diesmal gelingt, ist offen. Wenn am kommenden Dienstag die Vorstandswahlen auf dem Programm des DGB-Kongresses stehen, erwarten die Experten ein spannendes Duell: Eine offene Kampfkandidatur gegen Sehrbrock hat Engelen-Kefer zwar ausgeschlossen. Was aber passiert, wenn sie vorgeschlagen wird? Und wie wird sie sich verhalten, wenn Sehrbrock im ersten Wahlgang weniger als 50 Prozent erhält? Dann, so glauben viele, wird Engelen-Kefer antreten. Sie selbst hält sich alle Optionen offen. Ob sie im Fall der Fälle kandidieren wird? „Diese Frage beantworte ich erst, wenn sie sich stellt“, sagt sie. Vom Personalvorschlag der Gewerkschaftsbosse hält sie allerdings wenig: „Viele Gewerkschafter sehen ein Problem darin, dass die Sozialpolitik offensichtlich nicht mehr von dem oder der stellvertretenden Vorsitzenden repräsentiert werden soll.“ Dafür, so soll das heißen, will die Funktionärin kämpfen – ganz so, wie sie es auch schon in ihrem AustralienTraum tat, als sie sich plötzlich von mordlustigen Bestien umringt sah. „Ich stelle mich der Gefahr in den Weg“, so Engelen-Kefer damals, „und besiege die Wölfe, die meine Herde dezimieren wollen.“ Michael Sauga ANDREAS FROESE enn Ursula Engelen-Kefer von einem anderen Leben träumt, führt sie dies an einen Ort, wo auch ihre ärgsten Gegner sie hinwünschen: ganz weit weg, auf die andere Seite der Erdkugel, nach Australien. Dort, so vertraute sie der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ an, würde sie gern einmal als Aussteigerin leben: mit nichts weiter als einer Schafherde, einer Hütte und einem treuen Gefährten. „Ich bin die gute Hirtin“, so stellt sie es sich vor, „und Hund Tim ist der Wächter für die Schafe.“ Nicht ausgeschlossen, dass ihre Gegner noch einige Zeit warten müssen, bis sich der Traum erfüllen kann. Ende Januar hatten die Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften einmütig beschlossen, die streitbare Vizechefin mit ihren 62 Jahren aufs verdiente Altenteil zu setzen. Doch inzwischen wächst in der DGB-Spitze die Sorge, dass sich die Sozialexpertin über das Votum hinwegsetzen und erneut für das Amt bewerben wird – als Überraschungskandi- datin auf dem DGB-Kongress kommende Woche in Berlin. „Wenn sie antritt“, gruselt sich ein hochrangiger Gewerkschaftsfunktionär, „hat sie gute Chancen, auch gewählt zu werden.“ Kein Wunder, dass in der Berliner DGBZentrale die Nerven blank liegen. Sollte der Putsch gelingen, wären nicht nur sämtliche Gewerkschaftsbosse, von DGB-Chef Michael Sommer bis zum IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters und Ver.di-Chef Frank Bsirske, blamiert. Es wäre auch ein Affront gegen die Regierungspartei CDU: Engelen-Kefer würde ausgerechnet Ingrid Sehrbrock verdrängen, die einzige Christdemokratin im Personalpaket der Funktionäre. Und so tobt im sonst so zentralistisch regierten Gewerkschaftsapparat seit Wochen ein höchst bizarrer Wahlkampf. Während die Vorsitzenden Engelen-Kefer zur durchgeknallten Egomanin abstempeln, die aus verletzter Eitelkeit die gesamte Gewerkschaftsbewegung schädige, macht die umtriebige Funktionärin fleißig Basisarbeit. Sie besucht Regionalvorstände und Fachgremien, kämpft um ihre vielen Aufsichts- und Verwaltungsratsmandate, gibt eine Pressekonferenz nach der anderen und macht mit jeder ihrer Aktivitäten klar, dass sie überhaupt nicht daran denkt aufzuhören. „Eine Engelen-Kefer“, so erklärte sie jüngst einem Vorstandskollegen, „geht nicht vorzeitig in Rente.“ Erst kürzlich setzte sie im geschäftsführenden DGB-Vorstand eine Aktionswoche zu den anstehenden politischen Reformvorhaben bei Gesundheit und Kündigungsschutz durch – und zwar für den DGB-Führung Engelen-Kefer, Sommer: „Wenn sie antritt, hat sie gute Chancen“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 113 ENERGIE Harte Hand des Staates U nvorbereitete Zuhörer könnten sich nach manchen Sätzen des hessischen Wirtschaftsministers eher in der Gegenwart eines Sozialisten wähnen als in der eines CDU-Wirtschaftspolitikers: „Der Staat muss die Verbraucher vor Ausbeutung durch Monopolisten schützen“, mahnt Alois Rhiel, 55, öfter an. In Sitzungen hören seine Ministerialen ihren Chef häufig schimpfen, dass „die Aktionäre der Stromkonzerne das Versagen des Staates ausnutzen, um sich zu bereichern“. Auch bei seinen Parteifreunden stößt der Katholik aus Fulda nicht selten auf Unverständnis, wenn er erklärt, er wolle schwerreichen Unternehmen „unverdiente Gewinne“ abjagen. Besonders verunsichert aber zeigten sich die Chefs der 50 hessischen Energieversorger, die erfahren mussten, dass HANS-GÜNTHER OED / VARIO-PRESS Hessens CDU-Wirtschaftsminister Alois Rhiel legt sich mit den Stromkonzernen an. Er will sie zwingen, ihre Preise zu senken. Strommasten: „Die Verbraucher vor Ausbeutung durch Monopolisten schützen“ TORSTEN SILZ / DDP Aber nun holt auch Roland Kochs Wirtschaftsmann zum nächsten Schlag aus: In einer Schublade seines Ministeriums liegen die ersten fertigen Bescheide an die 37 hessischen Stromfirmen mit eigenen Leitungsnetzen. Rhiel will die von ihnen erhobenen Entgelte für die Durchleitung von Strom massiv kürzen – um bis zu 27 Prozent. Dabei schäumen die Stromunternehmen schon jetzt: Der Regionalversorger Ovag beklagte sich bei Rhiels Untergebenen schriftlich über die „offenkundige Befangenheit“ des Ministers. Dessen „rechtswidrige“ Entscheidung widerspreche einer „jahrelangen Praxis“ anderer Politiker – die bislang Preiserhöhungen meist einfach durchwinken. Das Wiesbadener Unternehmen ESWE wähnt sich als Opfer einer „Hexenjagd“. Bislang jedoch blieben die Proteste erfolglos. Die Ovag, die sich als erste der betroffenen Stromfirmen auf den Rechtsweg wagte, scheiterte mit einem Eilantrag gegen das Rhiel-Ministerium. Das Gießener Verwaltungsgericht verwies auf die überaus satten Stromgewinne des Unternehmens. Der Ovag drohe ohne Preisaufschlag „keineswegs die Insolvenz oder auch nur ein tatsächlicher Verlust“, heißt es im Gerichtsbeschluss. Zudem hielten die Richter Rhiels Argumentation für plausibel, dass die NetznutzungsentKollegen Rhiel, Koch: „Unverdiente Gewinne“ gelte sinken könnten – und damit die Stromverteilungskosten der Anbieter. der promovierte Volkswirt so etwas durchaus Denn schließlich will Rhiel genau das ernst meint: Als einziger Landeswirtschafts- jetzt mit der harten Hand des Staates minister hat Rhiel bisher sämtliche Anträge durchsetzen. Er hält die derzeit verlangauf Strompreiserhöhungen für 2006 in sei- ten Entgelte für stark überhöht. Im Schnitt nem Bundesland rigoros abgelehnt. müssten sie um deutlich mehr als zehn ProUnd der Streit um den Strom wird nun zent fallen, haben seine Preisprüfer in den noch härter: Die Frankfurter RWE-Tochter vergangenen Monaten bei den hessischen Süwag hat Ende April Klage gegen das Netzbetreibern eruiert. In einem Fall wolRhiel-Ministerium eingereicht, vor weni- len sie sogar eine Absenkung um 27 Progen Tagen zog E.on nach. Die Kasseler zent anordnen. Sämtliche Bescheide sollen Tochter des Stromkonzerns schraubt zu- noch im Mai verschickt werden. dem ihre Preiserhöhungswünsche inzwiJuristisch sieht sich Rhiel dabei auf der schen fast monatlich weiter nach oben – ab sicheren Seite. Die Macht dazu gebe ihm Juni sollen die Verbraucher schon rund das Energiewirtschaftsgesetz, an dessen 17 Prozent mehr zahlen. Formulierung der Minister als Verhand114 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 lungsführer der Unionsländer selbst beteiligt war. Fallen die Durchleitungsgebühren durch den Druck des Staates um ein gutes Zehntel, könnten die Endkundenpreise um vier bis fünf Prozent sinken, haben Rhiels Leute ausgerechnet. Doch während manche den Wirtschaftspolitiker schon als „Robin Hood der privaten Haushalte“ („Frankfurter Rundschau“) feiern, gibt es auch warnende Stimmen. Am Ende könne Rhiels Politik den großen Konzernen nutzen, unkt Erich Pipa (SPD), Landrat des Main-Kinzig-Kreises bei Frankfurt. Seine „Kreiswerke Gelnhausen“ etwa seien auf große Vorlieferanten mit Sitz in anderen Bundesländern angewiesen, die ihre Preise schon stark erhöht hätten, weil sie dort niemand stoppt. Diese Kosten dürften hessische Unternehmen aber nicht an die Verbraucher weitergeben – mit der Folge, dass sie dann irgendwann womöglich von den Großen „geschluckt“ würden, warnt Pipa. Rhiel hält dagegen, dass auch die kommunalen Versorger noch stattliche Gewinne machten – nur dass diese teilweise zur Subventionierung etwa des öffentlichen Personennahverkehrs abgezweigt würden. Auch das ist dem Minister ein Dorn im Auge, weil dergleichen fairen Wettbewerb bei Bussen und Bahnen verhindere. Überhaupt wehrt er sich vehement dagegen, als reiner Verbraucherschutzminister missverstanden zu werden. Staatsgläubigkeit und plumper Neoliberalismus seien ihm gleichermaßen fremd, sagt der CDUMann und empfiehlt seiner eigenen Partei einen „ordoliberalen Kurs“: Freier Wettbewerb habe im Prinzip Vorrang, aber dort, wo er versage, müsse der Staat streng regulieren. Was das konkret bedeutet, haben die hessischen Netzbetreiber gespürt, als Rhiel sie im April schriftlich aufforderte, die Kalkulationen für ihre Netzentgelte offenzulegen. Sollten sie sich weigern, drohte Rhiel den Firmen, werde sein Ministerium die neuen Entgelte eben „im Wege der Schätzung bestimmen“. Matthias Bartsch Wirtschaft Teil seiner Aktien hat er zwischenzeitlich verkauft. Und das ist Teil seines Problems UNTERNEHMER mit der BaFin. Die untersucht, ob beim Handel mit AWD-Aktien immer alles mit rechten Dingen zuging. Gleich mehrere Abteilungen befassen sich mit dem Fall. Die Finanzmarktkontrolleure fordern immer neue Carsten Maschmeyer hat es zu einem der reichsten Männer des Unterlagen an. Landes gebracht. Jetzt muss er sich gegen eine Flut von Grundlage der BaFin-Untersuchung sind Anzeigen zweier Hamburger AnwaltsKlagen enttäuschter Anleger und die Börsenaufsicht wehren. kanzleien, die im Auftrag enttäuschter ehen Gelddingen vertraut Altbundeskanz- che Untersuchung wegen möglicher Kurs- maliger AWD-Mitarbeiter aktiv sind. Die ler Gerhard Schröder seinem Freund manipulationen in Aktien des AWD dauert Kanzlei Weiß, Walter, Fischer-Zernin wirft Carsten Maschmeyer aus Hannover. an“, bestätigte eine BaFin-Sprecherin ver- Maschmeyer vor, durch unrichtige Angaben beispielsweise über die Höhe der Der Chef des Finanzdienstleisters AWD gangene Woche. AWD ist die Firma, die der begnadete Schadensersatzforderungen der AWDberiet Schröder bei den VertragsverhandVerkäufer mit dem abgebrochenen Medi- Kunden oder die wahre Zahl der Verlungen für dessen Autobiografie. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. zinstudium 1988 gegründet hatte. Sie funk- triebsmitarbeiter den Kurs der AWD-Aktie Nach Branchenschätzungen dürfte der tioniert als pure Vertriebsmaschine. Eigene nach oben manipuliert zu haben. Der Hamburger Verlag Hoffmann und Campe Produkte gibt es keine. Eine hierarchisch AWD bestreitet die Vorwürfe entschieden. Zudem wird in einem Schreiben der für die Rechte an dem Buch, das im Okto- aufgebaute Verkaufskolonne von mehreber erscheinen soll, zwischen 700 000 und ren Tausend selbständigen Handelsvertre- Kanzlei vom 16. Januar an die BaFin tern vertreibt europaweit Versicherungen, mit Bezug auf die Tochtergesellschaft in knapp einer Million Euro bezahlen. Auch sonst bekommt Schröder viel Hilfe Aktienfonds, Konsumentenkredite und so- Italien der Vorwurf der Bilanzmanipulavon Maschmeyer. Als der Ex-Kanzler im gar Eigentumswohnungen. Rund 630 Mil- tion erhoben. Es bestehe „der Anschein, Februar nach der Trauerfeier für Alt- lionen Euro Provisionen flossen vergan- dass der Bereich Italien von dem Konzern genutzt wird, um Kapital bundespräsident Johannes Rau als Gast- genes Jahr von Anbietern für Vergleichszahlungen, redner schnell zum „Cash Power-Talk“ vor wie etwa Allianz oder 70 AWD-Aktienkurs Gerichtskosten, AnwaltsSchweizer Wirtschaftsgrößen nach Zürich Postbank in die Kassen in Euro 60 kosten und Akquisition musste, nahm ihn sein Freund in einem des AWD. Einen Teil dazu verwenden, ohne den von bekommen die Vergemieteten Learjet mit. 50 Aktionär in Kenntnis Viele Kunden des AWD dürften nicht mittler – aufgrund eines 40 setzen zu müssen“, heißt ganz so zufrieden sein mit den Leistungen kaum durchschaubaren es da etwas nebulös. von Maschmeyer. Da die Vertriebsleute des Verteilungsschlüssels. 30 Undurchsichtige KasMaschmeyer und seine selbsternannten Finanzoptimierers gegen 20 sen beim AWD? Die Enthohe Provisionen auch mal gern riskante Familie halten an dem wicklung der italieniProdukte verkaufen, streitet sich der AWD Unternehmen, das an der 10 Quelle: Thomson Financial Datastream schen Tochter war in der Börse mit 1,2 Milliarden in vielen Fällen mit Kunden vor Gericht. 0 Tat desaströs. 2005 verAber auch mit der Finanzaufsicht Ba- Euro bewertet wird, noch 2000 2002 2004 2006 ursachten die 100 italieFin hat Maschmeyer Ärger. „Eine förmli- 30 Prozent. Einen großen nischen Berater bei einem Umsatz von 3 Millionen Euro einen stolzen Verlust von 10,8 Millionen Euro. AWD-Finanzvorstand Ralf Brammer weist die Vorwürfe als „haltlos und völlig aus der Luft gegriffen“ zurück. Der AWD habe eine Tochterfirma in Italien geschlossen und sich von früheren Mitarbeitern getrennt, rechtfertigt er den hohen Verlust. In engem Zusammenhang mit der ersten Anzeige steht der Verdacht auf Insiderhandel, den die Kanzlei Creon gegen Maschmeyer erhebt. Der AWD-Großaktionär hatte am 12. März 2005 überraschend 20 Prozent der AWD-Aktien, die ihm und seinen beiden Söhnen Marcel Jo und Maurice Jean gehörten, für 236 Millionen Euro an der Börse verkauft. Kurz zuvor, am 10. Februar, hatte Maschmeyer verkündet, dass seine Firma in Deutschland im ersten Quartal um zehn Prozent wachsen will: „Wir liegen voll im Plan.“ Tatsächlich kam es 2005 in Deutschland zu einem Umsatzeinbruch von über 25 Prozent, der am 6. Oktober in einer Gewinnwarnung beim AWD gipfelte. Wie von Experten erwartet, konnte der AWD wie andere Finanzvertriebe auch keinen Konzernchef Maschmeyer: Finanzmarktkontrolleure fordern immer neue Unterlagen an Ein begnadeter Verkäufer ULLSTEIN BILDERDIENST / DDP I 116 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Wirtschaft Grund – wie beim Vorwurf der Kursmanipulation –, eine förmliche Untersuchung einzuleiten. Maschmeyer kämpft aber nicht nur mit der Finanzaufsicht. Seit geraumer Zeit ist seine Truppe damit beschäftigt, an der Kundenfront Altlasten zu beseitigen. Drei Buchstaben stehen dabei für den mit Abstand größten Krisenherd: DLF. Die Dreiländerfonds des Stuttgarter Immobilienfondsinitiators Walter Fink beschäftigen seit Jahren bundesweit die Gerichte, sie wurden hauptsächlich in den neunziger Jahren über das AWD-Netz abgesetzt. Die hannoversche Verkaufskolonne überzeugte insgesamt 14 000 Kunden von der vermeintlich sicheren Geldanlage. Allein aus dieser Quelle flossen Fink rund 360 Millionen Euro zu. Vor allem der der Gegenpartei einen Vergleich und vereinbarten Stillschweigen. Geheime Deals gehören inzwischen zum Standardrepertoire, anders wäre die jüngste Prozessflut nicht zu bewältigen. Weil nämlich das reformierte Schuldrecht seit 2002 nur noch 3 statt 30 Jahre Verjährung vorsieht, stürmten die Anleger Ende 2004 nochmals das Landgericht in Hannover. Über vierhundert Klagen mit einem Streitwert in zweistelliger Millionenhöhe gingen ein, viele davon betrafen den AWD. Und der einigt sich inzwischen aus Effizienzgründen wie am Fließband mit seinen Gegnern, heißt es in Anwaltskreisen. Ohne eine Schuld anzuerkennen, zahlt der Finanzvertrieb ein paar tausend Euro und verlangt dafür Stillschweigen. Zur Zahl der Vergleiche und der zugesagten Vergleichssumme will der AWD keine Stellung nehmen. Man verweist auf den BGH, der „jüngst in zwei Entscheidungen bundesweite Rechtsprechungen der Oberlandesgerichte im Sinne des AWD bestätigt hat“. Das Urteil von Celle passt allerdings nicht in diese Verteidigungslinie. Das Immobiliengeschäft der Vergangenheit könnte Maschmeyer auch weiterhin Prozessrisiken bescheren. Von den über drei Milliarden Euro, die die insolvente Münchner FalkGruppe für ihre Immobilienfonds eingesammelt hatte, stammen nämlich sieben Prozent von AWD-Kunden. Während sich verschiedene Anwälte von Falk-Anlegern auf die nächste Auseinandersetzung vorbereiten, gibt sich der AWD gelassen. Man sehe „keinerlei Ansatzpunkte für etwaige Schadensersatzansprüche“, weil der AWD keinen der Fonds vermittelt habe, die die schwierige wirtschaftliche Lage der Falk-Gruppe verursacht haben. Zumindest langfristig betrachtet können sich die AWD-Juristen tatsächlich entspannen. Denn die Prozesspotenz deutscher Anleger wird schleichend und systematisch ausgehöhlt. Abgesehen von der drastischen Verkürzung der Verjährungsfrist bricht künftig die Finanzkraft der potentiellen AWD-Gegner, also seiner Kunden, weg. Wer das Kleingedruckte der vom AWD vermittelten Rechtsschutzversicherungen genau liest, weiß, warum. Immer mehr Anbieter schließen auch Kapitalanlagegeschäfte aus dem Rechtsschutz aus. Damit verkauft der AWD oft eine juristische Waffe, die keiner mehr gegen ihn richten kann. Eine Klageflut wie bei den Dreiländerfonds wird in Zukunft immer unwahrscheinlicher. Beat Balzli, Christoph Pauly WEGER / STAR PRESS Ersatz für die provisionsträchtigen Kapitallebensversicherungen finden, die noch bis zum 31. Dezember 2004 steuerbefreit waren. „Es ist davon auszugehen, dass Maschmeyer bereits im Februar über die Insiderinformation verfügte, dass die Geschäfte rückläufig waren“, sagt der Hamburger Anwalt Jascha Alleyne. Dann hätte er die Öffentlichkeit mit seinen optimistischen Prognosen getäuscht, um den Verkaufserlös seiner Aktien zu maximieren. Der BaFin wurden als Beweis interne Ranglisten der besten Mitarbeiter vorgelegt, die per Ende Februar 2005 im Vergleich zum Vorjahr einen Umsatzrückgang auf sämtlichen Hierarchieebenen offenbaren. Bei den 15 Direktoren, die die höchsten Umsätze generieren, habe der Freunde Maschmeyer (2. v. r.), Schröder*: Gemeinsam im Learjet nach Zürich Rückgang gegenüber den beiden Monaten 2004 bei 22 Prozent gelegen, auf der zweiten Hierarchieebene gar bei 43 Prozent. Dem hält Brammer entgegen, dass sich Anfang 2005 beispielsweise die Zahl der Direktoren fast verdoppelt habe und deshalb die Zahlen nicht vergleichbar seien. Aus dem Geschäft einzelner Mitarbeiter ließe sich nicht die Entwicklung der Konzernerlöse ersehen. Maschmeyer selbst gibt den von seinem Freund Schröder im Mai 2005 angesetzten Bundestagsneuwahlen die Schuld am schlechten Geschäft: „Durch die Bundestagsneuwahl hat sich die Unsicherheit der Kunden und dadurch ihre Kaufzurückhaltung erheblich verstärkt.“ Die BaFin prüft nach wie vor die Vorwürfe wegen Insiderhandels gegen Maschmeyer, sieht aber bisher keinen * Bei einer Geburtstagsfeier am 31. Januar 2004 in Hannover. 118 Fonds 94/17 bescherte den Anlegern wenig Freude. Er hatte den Musical- und Freizeitkomplex Stuttgart International für den Musicalbetreiber Stella finanziert, doch der musste 1999 Insolvenz anmelden. Statt hoher Erträge erzielten die Anleger Verluste. Die Klagewelle dieser enttäuschten Kunden gegen den AWD hält bis heute an. Sie fordern Schadensersatz, weil sie sich falsch beraten fühlen. Neben vielen juristischen Siegen im Fall DLF musste Maschmeyer die größte Niederlage ausgerechnet in der niedersächsischen Heimat einstecken. Im August 2002 bestätigte das Oberlandesgericht in Celle ein Urteil aus Hannover. Nach Ansicht der Richter hatte der AWD den Kunden unzureichend über die Risiken des Dreiländerfonds 94/17 aufgeklärt. Die Schlacht vor der nächsten Instanz, dem Bundesgerichtshof (BGH), fiel dann aber aus. Eine Niederlage vor den höchsten Richtern wollten die AWD-Juristen offenbar nicht riskieren. Sie schlossen mit d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Ausland IRAN Kontakt zum Großen Satan NIGERIA Ruin trotz Reichtum ie Ölvorräte sind für das westafrikanische Land mehr Fluch als D Segen: Freitag voriger Woche starben etwa 200 Menschen, als eine Pipeline 45 Kilometer östlich von Lagos explodierte. Diebe und Bewohner des Dorfes Ilado hatten aus einer angebohrten Leitung Treibstoff gezapft. Zu solchen Unglücken kommt es immer wieder: Bei einer Explosion 1998 waren sogar mehr als tausend Menschen verbrannt. Nigeria gehört zu den großen Hoffnungen im internationalen Ölgeschäft, die Förderung soll sich in den nächsten zehn Jahren verdoppeln. Obwohl das Land schon heute sechstgrößter Ölexporteur der Welt ist, verhindern Misswirtschaft IRNA / DPA n Teheran sorgt der künftige Umgang mit dem Erzfeind USA für Konfliktstoff. Durch den Brief von Staatschef Mahmud Ahmadinedschad an US-Präsident George W. Bush fühlen sich sowohl die erzkonservative Gefolgschaft des iranischen Obereiferers als auch das gegnerische Reformlager provoziert. Der erste Kontakt eines iranischen Führers mit dem Erzfeind Amerika seit der Revolution 1979 sei der „Bruch eines traditionellen Tabus“, empörte sich der frühere Vizepräsident Mohammed Ali Abtahi. Auch der Sprecher des von den Konservativen dominier- Ahmadinedschad (vor Chamenei-Poster) ten Parlaments ließ eher Ablehnung erkennen. Der Brief dürfe auf keinen Fall „als Beginn eines Heilungsprozesses“ der Beziehungen gewertet werden, spielte Gholam-Ali Haddad Adel die Bedeutung des Präsidentenvorstoßes herunter. Tatsächlich hatte Ahmadinedschad in dem 18-seitigen Schreiben über Saddam Hussein und Jesus Christus schwadroniert und prophezeit, dass „die Ideologie und das Gedankengut liberaler demokratischer Systeme zerbrechen und untergehen“. LANDOV / INTER-TOPICS I Der liberalen Fraktion wiederum, die auf ein Comeback hofft, fehlt ein konkretes Angebot an Washington. Ganz im Sinne des Reformlagers forderte Ex-Staatschef Mohammed Chatami seinen Amtsnachfolger eindringlich auf, „den Dialog weiterzuführen“. Chatamis eigenen Versuch einer Annäherung hatten die Konservativen seinerzeit torpediert. Noch während seines Staatsbesuchs in Indonesien Mitte vergangener Woche legte Präsident Ahmadinedschad nach und versprach „einen Dialog ohne Grenzen“. In Teheran kündigte ein Regierungssprecher „weitere Schreiben an andere Staatschefs“ an. Bestärkt sieht sich der fanatische Präsident durch Rückendeckung von der höchsten Instanz des Gottesstaates, Ajatollah Ali Chamenei. Der religiöse Führer, dem in Teheran seit geraumer Zeit durchaus eine gewisse Altersweisheit zugeschrieben wird, hatte direkten Kontakten zu dem „Großen Satan“ schon vor Wochen seinen Segen gegeben. Ahmadinedschad kann sich bei seiner Initiative zudem auf ein historisches Vorbild berufen, das für gläubige Muslime geradezu sakrosankt ist: Auch der Prophet Mohammed hatte an die Herrscher der damaligen Großreiche geschrieben – um sie zum Islam zu bekehren. Besetzung der US-Botschaft (1979) ökologischen Kollaps. Weil zu wenig und Korruption, dass die Bevölkerung Raffinerien im Lande funktionieren, von dem Reichtum profitiert. Dabei muss der Ölgigant Nigeria sogar Benzin fährt der Staat 80 Prozent der Erlöse aus dem Ausland einführen. ein, nur 4 Prozent bleiben bei den Ölkonzernen. Etliche Rebellengruppen und Räuberbanden kämpfen um Zugang zum Öl und eine gerechtere Verteilung der Einkünfte. Sie haben sich eine lukrative Einkommensquelle erschlossen, indem sie beinahe wöchentlich Mitarbeiter ausländischer Konzerne entführen und Lösegeld erpressen. Große Teile des Nigerdeltas stehen zudem durch die rücksichtslose Ausbeutung vor dem Rettungsarbeiten bei Ilado d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 121 AKINTUNDE AKINLEYE / REUTERS Panorama Panorama RUSSLAND Angst vor Regress D MANISH SWARUP / AP (L.); BINOD JOSHI / AP (R.) ie Führung in Moskau fürchtet Schadensersatzforderungen Polens und der drei baltischen Republiken, wenn es zum Bau der geplanten nordeuropäischen Gaspipeline durch die Ostsee kommt. Das geht aus Unterlagen des russischen Kabinetts hervor, die dem SPIEGEL vorliegen. In zwei Schreiben an den Konzern Gasprom und das Energieministerium verweist die „Abteilung für Soziale Entwicklung und Umweltschutz“ der Regierung auf Warnungen des Moskauer Umweltexperten Wladimir Anikijew. Der hält ein juristisches Vorgehen Polens und der baltischen Länder wegen Ökoschäden durch den Pipelinebau für sehr wahrscheinlich. Nach Ansicht Anikijews könnten sich die Forderungen auf „mehr als zehn Milliarden Dollar im Jahr“ belaufen – vor allem wegen der versenkten deutschen Giftgasbestände aus dem Zweiten Weltkrieg, die dort verstreut auf dem Meeresboden liegen Putin und durch den Pipelinebau aufgewühlt werden könnten. Anlass für die Befürchtungen ist eine internationale Tagung von Meereskundlern und Ökoexperten im litauischen Klaipeda Ende Mai. Dort wollen Spezialisten aus den Ostseeanrainern, weiteren EU-Staaten und den USA mögliche Risiken des Projekts diskutieren. Zur Eröffnung der Konferenz soll Litauens Präsident Valdas Adamkus sprechen. Der gelernte Umweltingenieur gilt als scharfer Kritiker des Gasröhrenprojekts, dessen Aufsichtsrat Ex-Kanzler Gerhard Schröder leitet. MISHA JAPARIDZE / AP Maoistischer Kämpfer in Butwal N E PA L Maoisten ins Boot Der norwegische Entwicklungshilfeminister Erik Solheim, 51, über die Chancen einer Friedensmission im HimalajaKönigreich Solheim: Dass König Gyanendra Ende April das Parlament wieder einsetzte, war ein historischer Wendepunkt. Ich wollte meine Solidarität zeigen. Das Volk, die Parteien und auch die Maoisten wollen endlich Frieden. Das verdient volle Unterstützung. SPIEGEL: Will sich Norwegen offiziell als Schlichter engagieren? Solheim: Die internationale Gemeinschaft sollte nicht vorpreschen, sondern abwar- SPIEGEL: Sie vermitteln seit sieben Jahren zwischen den Bürgerkriegsparteien auf Sri Lanka, sind aber vergangene Woche überraschend nach Nepal gereist. In neuer Mission? wegung und linker Gruppen waren wegen des laufenden Disziplinarverfahrens gegen die Richter Mahmud Makki und Hischan Bastawissi auf die Straße gegangen. Die beiden Juristen hatten Manipulationen bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Herbst vorigen Jahres kritisiert. ÄGYPTEN Offensive gegen die Opposition or dem Prozess gegen zwei regimekritische Richter am Donnerstag drohen in Kairo erneut Auseinandersetzungen zwischen Oppositionellen und Sicherheitskräften. Erst vergangene Woche wurden in Ägyptens Hauptstadt Demonstrationen brutal niedergeschlagen. Mehrere hundert Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft, der liberalen Kifaja-Be- Gaskompressoren in Russland Verhaftung von Demonstranten in Kairo 122 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 GORAN TOMASEVIC / REUTERS VIKTOR KOROTAYEV / REUTERS V Ausland Mit Schlagstöcken ging die Polizei gegen die Demonstranten vor, Hunderte wurden verhaftet – unter ihnen der bekannte OnlineJournalist Alaa Seif al-Islam. Beobachter werten das harte Durchgreifen der Sicherheitskräfte als Zeichen der Schwäche des Regimes. Noch vor einem Jahr hatte Präsident Husni Mubarak demokratische Reformen versprochen. Inzwischen jedoch verlängerte die Regierung den Ausnahmezustand, welcher seit 1981 in Kraft ist, um weitere zwei Jahre. Druck aus Washington muss der Präsident nicht erwarten. Die Amerikaner hatten zwar noch vergangenes Jahr auf Reformen gepocht, mittlerweile fürchten sie jedoch die steigenden Wahlchancen der Islamisten im Land. H. SCHWARZBACH / ARGUS den seien. Die neue und bislang zweite Unterwassertrasse gilt als ehrgeizigstes Projekt der 18 Schafsinseln. Für die zweispurige Fahrröhre zwischen den Hafenstädtchen Klaksvik und Leirvik mussten 420 000 Kubikmeter Fels weggesprengt werden. Der Tunnel, jubelten die Organisatoren, verbinde jetzt 85 Prozent der Bevölkerung durch Straßen – wobei es nur rund 47 000 Inselbewohner gibt. Autocruisen allerdings gehört zu deren beliebtesten Freizeitbeschäftigungen: Rund 17 000 Haushalte hatten 2003 immerhin 24 000 Autos angemeldet. Schon bald übrigens soll das nächste Bauprojekt in Angriff genommen werden: ein rund zwölf Kilometer langer Tunnel zur südlichen Insel Sandoy. Der wiederum kostet nochmals fast 70 Millionen Euro – zu Lasten Kopenhagens. Siedlung auf Vagar FÄ R Ö E R Freie Fahrt auf den Schafsinseln E in gigantisches Tunnelprojekt der dänischen Inselgruppe im Nordatlantik irritiert die Öffentlichkeit im Mutterland. Ein 6,3 Kilometer langer Tunnel, der – in bis zu 150 Meter Tiefe – die Inseln Eysturoy und Bordoy verbindet, kostete etwa 355 Millionen Kronen (umgerechnet 48 Millionen Euro). Das macht über die Hälfte der jährlichen Kopenhagener Finanzbeihilfen für die Insulaner aus. Auf die möchten die Anhänger der Unabhängigkeit der teilautonomen Färöer allerdings auch im Falle eines Austritts aus der „Reichsgemeinschaft“ nicht verzichten, was alle Verhandlungen um die Zukunft der Färöer bisher ins Stocken brachte. Kritiker werfen den Inselpolitikern eine „grenzenlos naive nationale Eitelkeit“ vor – und verlangen die Rückzahlung von Schulden in Höhe von insgesamt etwa 1,1 Milliarden Euro, die „für alle Brücken und Tunnel verpulvert“ wor- FÄ RÖ ERI N SEL N Eysturoy 20 km Suduroy D ie tristen Wohnblocks an der Haberdasher Street und am Charles Square im trendigen Londoner Stadtteil Shoreditch gelten als Problemviertel; jeder zweite Anwohner wurde hier schon einmal überfallen. Sicher ist’s nur daheim, vor dem Bildschirm, und der überträgt neuerdings, in vorerst 200 Wohneinheiten, eine ganz besondere s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Bordoy Sandoy Nachbar passt auf d e r Klaksvik Leirvik Torshavn G R O S S B R I TA N N I E N Kameras in der Victoria Station Streymoy Vagar BERNHARD CLASSEN / VARIO-PRESS ten. Die Nepalesen haben bisher nur angedeutet, dass sie bei Verhandlungen mit den Maoisten neutrale Beobachter gut gebrauchen könnten. Deshalb habe ich mein Land nicht als Vermittler angeboten, sondern lediglich Hilfsbereitschaft signalisiert, sofern auch andere Mächte mitmachen. Vor allem Indien sollte sich engagieren. SPIEGEL: Sind die Konflikte in Nepal und Sri Lanka vergleichbar? Solheim: Auf Sri Lanka kämpfen ethnische Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen und Religionen um territoriale Vorherrschaft. Im bitterarmen Nepal geht es dagegen eher um Verteilungskämpfe. Dieses Land braucht dringend demokratische Institutionen, die seinen Bürgern politische und wirtschaftliche Rechte garantieren. SPIEGEL: Sie sind selbst Sozialist und haben sich auch mit dem Chef einer kommunistischen Partei getroffen, die den Maoisten nahesteht. Worum ging es dabei? Solheim: Wir haben über künftige Herausforderungen gesproSolheim chen und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Der Marxismus als wissenschaftliche Theorie dürfte sowohl für Asien als auch für Europa wieder wichtiger werden, da er hilft, aktuelle Probleme der Globalisierung besser zu verstehen. SPIEGEL: Bislang wurden die Maoisten von der Regierung bekämpft, jetzt soll es Verhandlungen geben. Woher kommt der Meinungswandel? Solheim: Der Konflikt in Nepal hat sehr reale Ursachen, die erst politisch und später militärisch eskalierten. Um ihn zu lösen, müssen auch die bewaffneten Gruppen mit ins Boot. Tunnel Damm Reality-TV-Show: Livebilder von 30 Videokameras, die an neuralgischen Punkten das öffentliche Leben filmen. Privatleute können seit vorigem Montag in „Shoreditch TV“ hineinzappen und Bobby spielen. Fällt ihnen etwas Ungewöhnliches auf, benachrichtigen sie die Polizei. Die verantwortliche Firma Shoreditch Trust hofft, dass 70 000 Haushalte bei dieser Form des „neighbourhood watch“, der aufmerksamen Nachbarschaft, mitmachen und im Ernstfall Alarm schlagen. Kritiker warnen vor der totalen Überwachungsgesellschaft, doch allein in der Hauptstadt sind rund 400 000 Kameras installiert, jeder Londoner wird angeblich bis zu 300-mal am Tag von elektronischen Spionen erfasst. Außerdem können die Befürworter der flächendeckenden Kontrolle auf einen großen Erfolg verweisen: Nach den Attentaten auf die Londoner U-Bahn im vorigen Juli wurden einige der Täter schnell identifiziert und festgenommen. Man brauchte nur genügend Videos auszuwerten. 123 Ausland USA Im Visier der Datenfischer Um Terroristen auf die Spur zu kommen, speicherte die Abhörbehörde NSA Milliarden Daten über Telefongespräche von Amerikanern. Der von George W. Bush genehmigte Lauschangriff schadet dem Präsidenten: Er sieht sich in Kommentaren als neuer Nixon verhöhnt. NSA-Hauptquartier bei Fort Meade: „Wir weichen nicht zurück“ E inwohner nennen ihre Stadt „Crypto City“. Sie liegt in der Nähe von Fort Meade im US-Bundesstaat Maryland unweit von Washington und ist auf keiner Landkarte verzeichnet. Wäre sie es, die Heimat der National Security Agency (NSA) wäre eine der größten Gemeinden des Staates mit 17000 Parkplätzen, 50 Kilometer Straßen und einer eigenen Polizei. „Wir weichen nicht zurück“, gibt ein riesiges Banner das Motto des teuersten Geheimdienstes der USA wieder. An den Kiosken im riesigen Operations Center, in den Washingtons Kongressgebäude gut viermal hineinpassen würde, sind Schokoriegel und Kopfschmerztabletten die Verkaufsschlager. Abhören strengt an. Und das Pensum der Angestellten von Crypto City ist gewaltig. Millionen abgehörte Telefonate, E-Mails, Daten von angezapften Computern laufen hier täglich ein. Amerikanische U-Boote haben Abhörstationen der NSA auf dem Grund der Ozeane stationiert, wo die großen Kabelstränge einer vernetzten Welt lagern, und 124 von dort, wie von Kommunikationssatelliten aus dem All, schwappen die Bits und Bytes der elektronischen Kommunikation in einer riesigen Welle nach Maryland. Und jeden Tag werden es mehr. Alle hundert Tage verdopple sich der Datenverkehr im Internet, behauptet ein Plakat in der Operationszentrale, allein 35 Millionen Botschaften würden jede Stunde auf Anrufbeantwortern hinterlassen. Und genau dafür interessiert sich die NSA. Da ist es geradezu ein Wunder, dass die Amerikaner wähnten, ausgerechnet ihre gutvernetzte Nation werde von der Sammelwut der Behörde verschont. Schließlich garantierten einschlägige Gesetze, dass nur ein Gericht das Abhören eines US-Bürgers anordnen kann. Seit voriger Woche wissen die Amerikaner es besser: Über eine Milliarde Verbindungsdaten hat die NSA von den großen Kommunikationskonzernen erhalten und gespeichert. Wie Big Brother weiß nun eine der größten Datenbanken der Welt, wer wann mit wem wie lange in Verbindung gestanden hat. Nicht mehr nur, d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 wer einen Anruf oder eine Mail aus SaudiArabien oder Afghanistan erhalten hat, kann von modernsten Rechnern aus der Datenflut herausgefiltert werden, sondern auch jeder, der mit diesem Empfänger in Verbindung stand. So kristallisieren sich Verhaltensmuster heraus, so werden Gruppen definiert, ungeahnte Verbindungen erkennbar. Aus einem Verdächtigen werden schnell Hunderte, Tausende, Zehntausende. Der Pool mit den Verbindungsdaten amerikanischer Fernsprechteilnehmer ist die Grundlage für die Entscheidung, wessen Kommunikation dann lückenlos überwacht wird. Nichts davon wird vernichtet, jeden Tag landen Abermillionen neue Datensätze in dem Pool, die Tag, Zeit und Dauer der Anrufe festhalten. Und wer heute noch unverdächtig ist, kann vielleicht schon morgen ins Visier der Datenfischer geraten. Solche Erkenntnisse über die Kommunikationsgewohnheiten der Amerikaner, in der vergangenen Woche durch die Zeitung „USA Today“ enthüllt, haben zu GREG E. MATHIESON / PICTURE-ALLIANCE / DPA TIM SLOAN / AFP Kopfschütteln und Empörung ausdrücklichen Ermächtigung geführt. Sie haben als falsch des Foreign Intelligence Surenttarnt, was die Regierung veillance Court abhängig. Das von George W. Bush bisher Gericht, das in einem abhörals Entschuldigung für bereits sicheren Saal im obersten bekannt gewordene Fälle von Stockwerk des US-JustizAbhörskandalen vorgeschoministeriums tagt, war eingeben hat: Nur eine geringe richtet worden, nachdem Zahl ganz konkreter Verdächwährend des Vietnam-Kriegs tiger sei betroffen. Jetzt lässt Tausende Kriegskritiker beder Lauschangriff auf Amerilauscht worden waren. Nie ka selbst treueste Bush-Anwieder sollten die beinahe hänger an ihrem Präsidengrenzenlosen Möglichkeiten ten zweifeln. John Boehner, der NSA gegen ihre eigenen Mehrheitsführer der RepubliBürger eingesetzt werden. kaner im Abgeordnetenhaus, Diese juristischen Sicheverlangt vollständige Aufrungen wollte das Weiße klärung über den Umfang Haus nach dem Attentatsder Aktion, die als „Spezielles schock nicht mehr gelten lasZugangsprogramm“ höchster sen, der Präsident unterGeheimhaltung unterliegt. Sezeichnete eine großzügige nator Arlen Specter, Chef Abhörvollmacht für die NSA. des mächtigen JustizausschusZutiefst ist Bush überzeugt ses im Senat, will die bisdavon, dass er wirklich einen her beharrlich schweigenden Krieg führt, und im Krieg geVorstandsvorsitzenden der nießt der Präsident als OberUS-Kommunikationskonzerbefehlshaber annähernd unne per Vorladung zur Aussage beschränkte Vollmacht. Die zwingen. „Wollen Sie uns sanutzt das Team im Weißen gen, dass Millionen AmerikaHaus denn auch nach Kräften ner mit al-Qaida in Verbin- Designierter CIA-Chef Hayden (M.), Dienstherr Bush*: „Stunde null“ aus. Da wurden Terrorverdung stehen?“, wütet der dedächtige an Länder überstellt, mokratische Senator Patrick Leahy in bei einer Aussage vor dem Kongress, ge- die dafür bekannt sind, ihre Gefangenen setzliche Auflagen würden es sogar un- zu foltern. Verhörmethoden wurden entRichtung des Präsidenten. „Wir schürfen und fischen nicht im Pri- möglich machen, Osama Bin Laden ab- wickelt und abgesegnet, die in Guantanavatleben Millionen unschuldiger Amerika- zuhören, wenn er in die USA käme. Er mo und Abu Ghureib zu Menschenrechtsner“, beteuert Bush, aber genau danach brauche mehr Flexibilität, um Gefahren verletzungen führten. Die Administration sieht es aus. Was genau sein Geheimdienst abzuwenden. behielt sich das Recht vor, im Namen ihres Die hatte er sich damals längst genom- heiligen Kriegs das Recht zu brechen. da getrieben hat, will er nicht preisgeben, men. Am 10. September 2001, einen Tag „das hilft nur dem Feind“. Sogar die Rechte amerikanischer BürDas erste Opfer der Empörung über das vor den Attentaten, die Amerika verän- ger waren nicht mehr sicher. Von einer Ausschnüffeln einer ganzen Nation droht derten, hatten die Antennen der NSA zwei „wahrhaft atemberaubenden Ausweitung jetzt ausgerechnet Michael Hayden zu wer- Anrufe aus Afghanistan aufgefangen: der Regierungsgewalt“ sprach Bushs deden, den Bush als neuen CIA-Direktor no- „Morgen ist die Stunde Null“, hieß es in ei- mokratischer Wahlgegner Al Gore. miniert hat. Der Vier-Sterne-General war nem, „Das Spiel beginnt“ in dem zweiten. Als bevorzugtes Mittel, seine imperiale von 1999 bis 2005 Chef der NSA und hat Aber die Hinweise blieben unbeachtet. Präsidentschaft abzusichern, galt das sosich – mindestens – der groben Irreführung Hayden, berichteten Freunde, war zutiefst genannte Präsidial-Statement anlässlich eischuldig gemacht. Im Oktober 2002, als erschüttert. Der größte Geheimdienst der ner Gesetzesunterzeichnung. Darin erklärt seine Behörde schon längst alle juristischen Weltgeschichte hatte versagt. der Präsident, wie er ein vom Kongress Noch größer als seine Sorge vor Vor- verabschiedetes und von ihm unterzeichHemmungen über das Abhören von Landsleuten abgelegt hatte, jammerte er würfen aber war die Angst vor einer zwei- netes Gesetz interpretiert, und wie er es zu ten Angriffswelle an der Westküs- befolgen gedenkt. te. US-Geheimdienstler fürchteSo hat der Kongress im Dezember mit ten, dass al-Qaida bereits weitere großer Mehrheit ein striktes Folterverbot Attentäter in die USA einge- erlassen, und Bush hat das Gesetz auch unschleust hatte. Um sie zu finden, terzeichnet. In einem separaten Statement entschloss sich der NSA-Chef, die hat er aber gleichzeitig festgelegt, dass die riesigen Ressourcen der Agency Ausführungsbestimmungen „mit der verfür die Suche nach ihnen einzu- fassungsmäßigen Autorität des Präsidenten setzen. Er ließ Abhörantennen übereinstimmen müssen, einer einheitlichen landeinwärts drehen. Exekutive vorzustehen“. Soll heißen: Wenn An eine juristische Ermächti- der Präsident es für erforderlich hält zu folgung für diesen Schritt dachte tern, kann er, Gesetz hin oder her, den Bezunächst niemand. Dabei sind fehl dazu geben. 750 solcher Statements hat Abhöraktionen der NSA gegen er bereits abgegeben; sollen die ParlamenAmerikaner seit 1978 von einer tarier doch ein Amtsenthebungsverfahren einleiten, wenn sie es denn wagen. Natürlich wagte es – bisher – niemand: * Mit dem Geheimdienstkoordinator John Wer will dem Oberbefehlshaber schon in Negroponte im Oval Office. Abhörstation in Maryland: „Elektronische Brühe“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 125 JOHN MOORE / AP Ausland Einzelhaft-Käfig in Abu Ghureib: „Das ist der Krieg, den wir führen“ den Arm fallen, solange der vermeintliche Krieg noch tobt? Die im Terrorkrieg genehmigte Abhöraktion folgt der Logik der Rasterfahndung: Weil niemand verdächtig ist, sind erst einmal alle verdächtig. „Wir müssen uns nun mal auch in Sackgassen verirren, um den einen, entscheidenden Hinweis zu finden“, rechtfertigte Hayden das Schleppnetz der Verbindungsdaten. „Das ist der Krieg, den wir führen“, assistiert General Keith Alexander, sein Nachfolger. So klein bleibt der Kreis der Eingeweihten, dass nicht einmal die Anwälte des Nationalen Sicherheitsrats im Weißen Haus um ein Rechtsgutachten gebeten wurden. Erste Enthüllungen hatte Bush im Dezember noch versucht zu verhindern, indem er die Chefs der „New York Times“ ins Oval Office lud und an ihre patriotische Gesinnung appellierte. Als das Blatt dennoch Teile der Abhöraktion bekannt machte, behauptete der Präsident, nur wer mit dem Ausland kommuniziere, könne überhaupt in Verdacht geraten. Auch das erweist sich jetzt nur als halbe Wahrheit. Denn jeden Tag tauchte die NSA ihre Schöpfkelle tiefer in die elektronische Brühe. Um Schritt zu halten, hat sich die Behörde von jeher auf eine enge Kooperation mit der US-Industrie verlassen. Schon heute läuft gut ein Drittel der weltweiten Kommunikation durch amerikanische Netze, und die NSA drängt darauf, den Anteil noch zu erhöhen. Wie reibungslos die klandestine Kooperation mit Branchengrößen wie AT&T verläuft, hat unlängst der ehemalige Firmentechniker Mark Klein offengelegt. 2003 sei gleich neben einer Schaltzentrale in San 126 Francisco ein Abhörraum der NSA eingerichtet worden. Geheimdienstler hätten ihre Geräte mit den Knotenpunkten des Internet und des AT&T-Telefoncomputers verbunden. In Seattle, Los Angeles, San Diego und San Jose sei die NSA ebenfalls aufgetaucht. Klein, der 22 Jahre für den Konzern arbeitete, will seine Vorwürfe mit Hilfe von Dokumenten beweisen. Eine Bürgerrechtsgruppe hat AT&T verklagt, aber auf Antrag der Firma und des US-Justizministeriums müssen die 140 Seiten der Klage vorerst unter Verschluss bleiben. Im Schatten der Vorgänger Zustimmung zur Amtsführung in Prozent* 0 10 20 30 Clinton Bush junior Reagan Kennedy Eisenhower Nixon Eisenhower Bush senior Ford Carter Clinton Johnson Reagan Truman 1998 Bush junior 2006 40 50 2002 1986 1962 1954 1970 1958 1990 1974 1978 1994 1966 1982 1950 * jeweils zur Mitte der Amtszeit; Präsidenten seit 1945 Quelle: Charles Franklin, www.mysterypollster.com d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 60 Big Brother lauscht nicht, er sammelt nur, lautet Bushs Verteidigung: „Es gibt einen Unterschied zwischen der Suche und dem Abhören.“ So argumentiert auch die NSA: Nicht die Kontrolle durch Maschinen, sondern nur durch Menschen soll als Bruch des Fernmeldegeheimnisses gelten. Um den Aufruhr zu dämpfen, wird der Bush-Administration wohl nichts anderes übrigbleiben, als jetzt endlich mit den angeblich so sensationellen Erfolgen der Abhöraktion herauszurücken. „Tausende Leben wurden gerettet“, behauptet beispielsweise Vizepräsident Dick Cheney. Inzwischen muss sich der Präsident, der unmittelbar nach dem Irak-Krieg in Umfragen noch Beliebtheitsrekorde eingefahren hatte, sogar mit Richard Nixon vergleichen lassen – einem Mann, der noch immer als der Inbegriff eines Gauners im höchsten Staatsamt gilt. US-Kommentatoren erinnern die juristisch zweifelhaften Abhörvollmachten für die Geheimdienste an Nixons legendären Ausspruch: „Wenn es der Präsident tut, ist es nicht illegal.“ Zeitungsanzeigen von Bürgerrechtsgruppen zeigen Bilder der beiden Republikaner-Präsidenten. Bildzeile zum NixonPorträt: „Dieser Mann stand nicht über dem Gesetz.“ Unterschrift zum Bush-Bild: „Dieser auch nicht.“ Noch nie ist ein Präsident zu einer Halbzeitwahl mit derartig geringer Zustimmung angetreten. Nur noch 31 Prozent der Amerikaner schätzen die Arbeit ihres Präsidenten. Eine Ära geht zu Ende: Der Mann, der mit unverrückbarem Selbstbewusstsein die Antwort des Westens auf die Herausforderung von al-Qaida diktierte, hat nur noch wenige Freunde. Schon machen sich die Demokraten Hoffnungen, dass sie bei den Wahlen im November endlich wieder die Mehrheit im Kongress zurückgewinnen könnten. Sicherstes 70 Anzeichen dafür, dass so etwas wie Panik das Weiße Haus befallen hat, ist die Aufgabe, die Bush bei der Neuordnung seines Stabs seinem Vertrauten Karl Rove überantwortet hat. Der geniale Wahlkampfstratege soll sich ausschließlich darum kümmern, die zerbrochene Wählerkoalition wieder aufzubauen. Längst sind auch die republikanischen Granden im Kongress auf Distanz zu ihrem Präsidenten gegangen. Der hat seine Parteifreunde angefleht, kein Haushaltsgesetz zu verabschieden, welches das riesige Defizit noch weiter verschärft. Umsonst: Nach dem Motto „Rette sich, wer kann“ verteilten die Republikaner in der vorigen Woche eifrigst teure Geschenke an ihre Hans Hoyng, Wähler. Georg Mascolo Ausland Mafiöses Netzwerk MICHEL EULER / AP Jacques Chirac beendet seine Karriere als tragische Figur – der Präsident und sein Premier geraten immer tiefer in den Strudel des Clearstream-Skandals. vorwürfe im Zusammenhang mit dem milliardenschweren Verkauf von Fregatten an die Inselrepublik Taiwan. Zum großen Politikum wurden die Anschuldigungen, weil sie als Munition in einer Schmutzkampagne gegen den heutigen Innenminister Nicolas Sarkozy dienten – sie waren aber ganz offenbar manipuliert. Sarkozy und die Namen weiterer Prominenter aus Politik, Wirtschaft und Hochfinanz erscheinen auf ominösen Kontolisten des Luxemburger Finanzdienstleisters Clearstream, die dem Pariser Untersuchungsrichter Renaud Van Ruymbeke Partner de Villepin, Chirac: Diktatur des Gerüchts und der Verleumdung? D er 27. Mai ist kein Gedenktag der Fünften Republik, doch für die Biografie von Jacques Chirac besitzt das Datum durchaus Bedeutung: An jenem Frühlingstag im Jahre 1974 bezog der Nachwuchspolitiker aus Frankreichs ländlichem Südwesten das Hôtel Matignon. Zum ersten Mal saß der erfolgreiche Elitebeamte, zuvor Staatssekretär, Landwirtschafts- und Innenminister, als Regierungschef an den zentralen Schalthebeln der Macht. Er hat sie nie mehr ganz aus der Hand gegeben. Seit über drei Jahrzehnten gehört Chirac, ob als Premier, Pariser Bürgermeister oder Präsident, zum Inventar der französischen Führungskaste, und doch besteht am diesjährigen Jubiläumstag kaum Grund zum Feiern. Ausgerechnet jetzt, auf der letzten Etappe seiner Polit-Karriere, wird Chirac von den Verwicklungen des Clearstream-Skandals eingeholt. Götterdämmerung im Elysée: Der Präsident und mit ihm sein Premierminister Dominique de Villepin werden in den Pariser Medien als Zeugen oder Mitwisser einer dubiosen Verleumdungsaffäre dargestellt, ja sogar als deren Drahtzieher und Kulissenschieber. Das entsprechende Wissen stammt offenbar aus Ermittlungsakten. Es geht in erster Linie gar nicht mehr um die – längst entkräfteten – Korruptions128 im Frühsommer 2004 zugespielt wurden. Absender war, so der Verdacht, Jean-Louis Gergorin, Top-Manager des Luftfahrtkonzerns EADS, ein „brillanter Kopf“, wie ihn Kollegen beschreiben. Gergorin informierte aber nicht nur die Justiz, sondern drei Monate zuvor schon seinen Kumpel Dominique de Villepin – welcher damals noch Außenminister war. Und der biss offenbar an. Statt Sarkozy und andere inkriminierte Kollegen zu informieren, beorderte de Villepin in klarer Übertretung seiner Kompetenzen den Geheimdienstmann Philippe Rondot in sein Büro am Quai d’Orsay. Im Beisein von EADS-Manager Gergorin betraute ihn der Minister mit unauffälligen Ermittlungen. Offenbar sollte der gewiefte Abwehrmann mit Hilfe der Clearstream-Listen kompromittierendes Material gegen de Villepins Intimfeind Sarkozy zusammentragen. Glaubt man den Aussagen und Niederschriften Rondots, wusste auch Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie von der Privatfehde mit Sarkozy, selbst Präsident Chirac war von Anfang an eingeweiht. „Meine Zweifel bestehen weiter“, notiert ein skeptischer Rondot am 19. Juli 2004. Und der treue Beamte ist sogar besorgt – „Das Risiko: Der PR (Präsident der d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Republik) könnte in Mitleidenschaft gezogen werden.“ Genau das ist nun passiert. Mittlerweile verstricken sich Chirac und de Villepin in immer neue, zuweilen widersprüchliche Einlassungen. Nein, der Name Sarkozy sei bei einem Gespräch mit Gergorin und Rondot nie gefallen, behauptet Minister Sarkozy de Villepin. Oder doch, so das Eingeständnis ein paar Tage später – aber nicht im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen. Chirac wiederum verteidigt sein Interesse an den ClearstreamVorgängen mit dem „Kampf gegen mafiöse Netzwerke“. Aber Politiker auszuforschen, nein, so etwas habe der Präsident nie in Auftrag gegeben, heißt es aus dem Elysée. Ob sich aus einer Wagenburg unablässiger Dementis heraus die Krise noch länger beherrschen lässt, ist fraglich. Zu den ersten Kollateralschäden zählt bereits EADSManager Gergorin; er beschloss, „auf eigenen Wunsch“ seine Aufgaben im Konzern ruhen zu lassen, um sich „besser auf seine Verteidigung vorzubereiten“. Auch Untersuchungsrichter Van Ruymbeke fällt als Bauernopfer: Die Beförderung des Juristen wurde zurückgestellt, weil er die Identität seines Informanten Gergorin verschwieg. Zugleich rüstete die Regierung Ende voriger Woche zum Gegenangriff. Justizminister Pascal Clément kündigte rechtliche Schritte gegen die Medien an – sie hatten aus Ermittlungsakten zitiert. Viel helfen solche Ablenkungsmanöver offenbar nicht. Sogar in der Regierungspartei wächst der Druck auf Chirac, den umstrittenen Regierungschef nun zu entlassen. Angeheizt wird die Stimmung von Sarkozys Seilschaften im Parlament, während sich der Innenminister nach außen hin in der Rolle des unschuldigen Opfers gefällt – Mobbing mit Methode. Noch hält der Präsident fest zu seinem Premier. „Die Republik ist keine Diktatur des Gerüchts oder der Verleumdung“, doziert Chirac pathetisch und versichert, er habe „Vertrauen in die Regierung von Dominique de Villepin“. Eine nächste Nagelprobe auf diese Solidarität ist schon in Sicht: Am Dienstag werden die Sozialisten einen Misstrauensantrag gegen de Villepin stellen. Sollte die eigene Fraktion den Premier mit einem nur mageren Votum abstrafen, wäre er politisch kaum noch zu halten. Dann träte jenes unheilvolle Szenario ein, von dem de Villepin mit Blick auch auf den Präsidenten bereits im Juli 2004 ahnungsvoll orakelt haben soll: „Wenn diese Sache ans Licht kommt, sind wir beide geliefert.“ Stefan Simons GILLES BASSIGNAC / GAMMA / STUDIO X FRANKREICH Ausland Papst Benedikt XVI., Kardinal Zen MAURIZIO BRAMBATTI / ANSA / DPA „Eine Wende Pekings würde honoriert“ CHINA „Alle wollen dem Papst folgen“ Der Hongkonger Kardinal Joseph Zen über die Beziehungen zwischen Peking und dem Vatikan, den Streit über die Ernennung von Bischöfen und die Lage der katholischen Kirche Bischof Zen, 74, wurde von Benedikt XVI. jüngst zum Kardinal ernannt, er gehört zu den wichtigsten Beratern des Papstes in der China-Politik des Vatikans. Die Beförderung hat Peking verärgert, da Zen sich in Hongkong aktiv für demokratische Reformen einsetzt. gen zwischen dem Vatikan und Peking über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen stecken in einer Krise. Gibt es noch eine Chance, dass Kirche und Kommunistische Partei zusammenkommen? Zen: Die chinesische Seite stellt dafür zwei Bedingungen. Diese zu erfüllen sollte nicht so schwer sein: Der Vatikan hat sich schon bereit erklärt, statt Taiwan künftig Peking diplomatisch anzuerkennen. Peking besteht außerdem darauf, die katholischen Bischöfe selbst zu ernennen. Das ist für uns unannehmbar. Allerdings hat der Chef des staatlichen Religionsbüros, Ye Xiaowen, hier Verhandlungsbereitschaft angekündigt. Unglücklicherweise gibt es in jüngster Zeit eine neue Entwicklung, die aus unserer Sicht völlig unrechtmäßig ist. SPIEGEL: Die Ernennung von drei Bischöfen ohne Zustimmung des Vatikans. Zen: Ich hoffe, dass die Initiative dazu nicht von der obersten Führungsspitze kam, son130 REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST SPIEGEL: Herr Kardinal, die Verhandlun- Pekings St.-Joseph’s-Kirche (Ost-Kathedrale) Geteilte Kirche Seit das Land nach der Machtübernahme der KP 1951 die Beziehungen zum Vatikan abgebrochen hat, sind Chinas etwa 14 Millionen Katholiken gespalten: in eine offizielle Kirche, die sich Patriotische Vereinigung nennt und sich dem Staat und der Partei unterordnet, und in eine – sehr viel größere – Untergrundkirche, die ausschließlich den Vatikan anerkennt. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 dern von untergeordneten Stellen wie der Patriotischen Vereinigung … SPIEGEL: … wie sich Chinas von der Partei kontrollierte katholische Kirche nennt … Zen: … und vom staatlichen Religionsbüro. Ich hoffe, die Führungsspitze wird dem ein Ende bereiten. Sonst würden Verhandlungen keinen Sinn mehr machen. SPIEGEL: Der Vatikan hat die Ernennung der Bischöfe ungewöhnlich scharf kritisiert. Dabei hat China in den letzten Jahrzehnten immer wieder eigene Bischöfe berufen, ohne sich mit Rom abzustimmen. Warum diese Aufregung? Zen: Die chinesische Seite verbreitet viele Lügen, lassen Sie mich die Fakten geraderücken: Als China noch von der Außenwelt isoliert war, ernannte die Regierung die Bischöfe allein. Das war völlig inakzeptabel. Aber die Geistlichen wussten genau, dass sie keine Legitimation besaßen und dass der Papst das letzte Wort haben muss. Als sich China Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre öffnete, baten sie den Heiligen Vater um Verzeihung und beantragten, sie nachträglich anzuerkennen. Meistens erfüllte der Papst diese Bitte. SPIEGEL: Was geschah dann? Zen: Später wandten sich die Bischofskandidaten schon vor ihrer Ernennung an den Papst. Sie akzeptierten die Beförderung nur nach grünem Licht aus Rom. Im Jahr 2000 zum Beispiel nahmen von zwölf Kandidaten nur fünf das Amt an, einige allerdings ohne die Erlaubnis des Heiligen Vaters. Offenkundig standen sie unter starkem Druck. Denn wer ohne das Ja des Papstes die Bischofswürde akzeptiert, wird von Geistlichen und Gläubigen isoliert. In letzter Zeit wurden fast alle Bischöfe vom Heiligen Stuhl gebilligt. SPIEGEL: Die chinesische Regierung hat diese Praxis stillschweigend toleriert? Zen: Sie droht allen mit Strafen, die über ihre Verbindung zum Vatikan offen sprechen. Die neuen Bischöfe dürfen im Gottesdienst nicht die Ernennungsurkunde Roms verlesen, nur die der sogenannten staatlichen Bischofskonferenz. SPIEGEL: Was war anders bei den jüngsten Fällen? Zen: Ein Kandidat war vom Heiligen Stuhl gebeten worden zu warten, weil die Überprüfung noch nicht fertig war. Den anderen hatte der Papst schon im Februar abgelehnt. Er sagte damals seine Ordination ab. Wir wissen nicht, warum er plötzlich das Amt akzeptierte. SPIEGEL: Warum ist Rom eigentlich so stark an Beziehungen mit einer kommunistischen Diktatur wie China interessiert? Zen: Manche halten den Vatikan für naiv. Aber ich glaube, wir sollten nicht für unseren Optimismus verurteilt werden, wonach selbst eine kommunistische Partei zur Vernunft kommen kann. Denn eine Nor- Ausland 132 ZYPERN Früchte des Starrsinns Die Dichterin Nese Yasin tritt als erste türkische Zyprerin zur Parlamentswahl im griechischen Süden an – doch eine Lösung für die geteilte Insel liegt in weiter Ferne. JIHAN AMMAR / AFP malisierung wäre nicht nur für den Vatikan sinnvoll, der sich dann um Millionen von Gläubigen direkt kümmern könnte, sondern auch für die Regierung. China würde harmonischer werden. Die Katholiken könnten ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten, zum Beispiel mit Sozialarbeit. Derzeit dürfen wir nur in der Kirche beten. Außerdem würde eine solche Wende Pekings international honoriert. SPIEGEL: Ist die Angst vor der katholischen Kirche innerhalb der chinesischen KP nicht durchaus nachvollziehbar? Denken Sie an Polen: Dort hat der Klerus wesentlich zum Sturz des kommunistischen Regimes beigetragen. Zen: Es ist lächerlich, China mit Polen zu vergleichen. Polen ist zu 95 Prozent katholisch, in China sind wir eine kleine Minderheit. In Polen stand die sowjetische Armee, hier sind wir alle Chinesen. Es herrscht keinerlei Hass. SPIEGEL: Dennoch fürchtet die KP die Kirche – weil sie ähnlich gut organisiert ist? Zen: Sie fürchtet alles, was sie nicht vollständig kontrollieren kann. SPIEGEL: Wo sehen Sie Kompromissmöglichkeiten zwischen Rom und Peking? Zen: Die Grundbedingung ist: Die letzte Entscheidung über die Ordination eines Bischofs gehört dem Heiligen Stuhl. Aber die Regierung kann ihre Meinung äußern. Der Vatikan präsentiert Namen und hört die andere Seite an. SPIEGEL: Was würde sich im Alltagsleben der chinesischen Katholiken ändern, falls Vatikan und KP sich einigen? Zen: Käme es zu wirklicher Religionsfreiheit, würden die Patriotische Vereinigung und das staatliche Religionsbüro überflüssig. Noch allerdings leidet die Kirche unter zahllosen Restriktionen. Die Hälfte der Vorstände in den Priesterseminaren sind staatliche Funktionäre. Solch eine Situation ist einfach lächerlich, so etwas gibt es nirgendwo in der Welt. SPIEGEL: Die Repressionen haben nicht nachgelassen? Zen: Die Kommunikation zwischen Vatikan und Gläubigen ist besser geworden, die offizielle Kirche und die Untergrundkirche kommen einander näher. Alle wissen, dass sie denselben Glauben teilen. Alle wollen dem Papst folgen. Die Untergrundkirche betet nun sogar für die offiziellen Priester, damit sie mehr Kraft haben, dem Druck der Regierung zu widerstehen. SPIEGEL: Immer noch sitzen zahlreiche Priester im Gefängnis, Bischöfe stehen unter Hausarrest, weil sie dem Vatikan nicht abschwören. Ist ihre Freilassung Bedingung für die Aufnahme von Beziehungen? Zen: Ja. Wie kann es anders sein? Wir wissen, dass sie keine Kriminellen sind. SPIEGEL: Ist Papst Benedikt stärker an China interessiert als sein Vorgänger? Zen: Papst Benedikt nimmt bedeutende Dinge selbst in die Hand. China ist wichtig für ihn. Interview: Andreas Lorenz Kandidatin Yasin (in Nikosia): Vages Gefühl von Verlust N ese Yasin lag in ihrem Bett, sie war 17 Jahre alt, sie war traurig. In ihr Album schrieb sie ein Gedicht: „Liebe dein Land, sagt mein Vater, doch mein Land ist entzwei. Welche Hälfte soll ich lieben?“ Sie dachte nicht, dass ihr Gedicht etwas Besonderes sei, aber dann wurde es in einem angesehenen Magazin gedruckt. Der griechisch-zyprische Musiker Mario Tokas komponierte eine Melodie dazu, und das Lied wurde berühmt auf der Insel Zypern. Jeder kannte es fortan, es lief in Cafés und im Radio, im Norden und im Süden, auf Griechisch und auf Türkisch. Vielleicht ist dieses Lied nach 32 Jahren der Trennung das Einzige, was alle Zyprer noch verbindet – das vage Gefühl von Verlust. Nese Yasin ist heute 47 Jahre alt, eine der bekanntesten Schriftstellerinnen des Landes. Sie hat ihre rotgeblümte Bluse unter ihrem Dekolleté verknotet und sitzt auf einem Sofa in ihrer hellen Wohnung im Süden der Hauptstadt Nikosia. Sie gibt jetzt viele Interviews. Sie kandidiert für das Parlament der Republik Zypern – als erste türkische Zyprerin seit der Teilung des Landes. Bei der Wahl am kommenden Sonntag tritt sie für eine linke Splitterpartei an, die d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 derzeit nur einen Abgeordneten stellt: die Vereinigten Demokraten. Sie macht sich wenig Hoffnungen, dass sie den Sprung ins Parlament schafft, aber sie sagt: „Falls ich gewählt werden sollte, wäre das für Zypern eine Revolution.“ Nese Yasins Kandidatur ist vor allem ein Symbol. Aber in diesem Land, in dem alle Politik symbolisch ist und sich realpolitisch seit zwei Jahren nichts mehr bewegt, ist das schon viel. Am 24. April 2004 zerschlugen sich alle Hoffnungen, dass das Zypernproblem endlich gelöst werde: 76 Prozent der griechischen Zyprer lehnten an diesem Tag den Friedensplan von Uno-Generalsekretär Kofi Annan ab, der beide Landesteile zu einer Föderation mit weitgehenden Selbstbestimmungsrechten zusammengeführt hätte. Die türkischen Zyprer allerdings hatTürkische Republik Nordzypern nur von der Türkei anerkannt Demarkationslinie seit 1974 Nikosia Republik Zypern griechischer Teil Larnaka Limassol 50 km kei vorerst weiterhin Soldaten im Norden hätte stationieren dürfen, weil auch Zehntausende türkische Siedler im Lande geblieben und verlorengegangene Grundstücke der Griechen nicht vollständig zurückgegeben worden wären. Befürworter des Uno-Projekts erklärte der Präsident kurzerhand zu Verrätern und versprach einen „besseren“ Plan. Eine Lösung hat im Wahlkampf keine der Parteien zu bieten. Präsident Papado- REPORTERS / LAIF ten mit 65 Prozent zugestimmt. Einmal mehr war das Land geteilt. Am 1. Mai desselben Jahres trat Zypern der Europäischen Union bei – offiziell als Ganzes. Weil aber die „Türkische Republik Nordzypern“ von keinem Land der Welt anerkannt wird, außer von der Türkei selbst, ist de facto nur der griechische Süden EU-Mitglied. Seither fordern die griechischen Zyprer im Süden neue Verhandlungen – die Re- Griechisch-zyprischer Soldat an der Uno-Pufferzone: „Welche Hälfte soll ich lieben?“ gierung des türkisch besetzten Nordens hält unverdrossen am Annan-Plan fest. Auf diese Weise hat sich die EU einen anachronistischen Territorialkonflikt ins Haus geholt, um den sie sich am liebsten gar nicht kümmern würde – einen Konflikt in einem Land, das so weit im Osten liegt, dass es sogar auf den EuroScheinen fehlt. Die Situation ist absurd: Der Beitrittskandidat Türkei erkennt eines der EU-Mitgliedsländer nicht an und verweigert Schiffen und Flugzeugen aus Zypern den Zugang zum eigenen Territorium. Die Republik Zypern indessen droht damit, den EU-Beitritt der Türkei mit ihrem Veto zu verhindern. Für Brüssel wird die Zypernfrage immer mehr zu einem Problem. Der Ausgang der Wahl im südlichen Inselteil wird an dieser Situation kaum etwas ändern. Präsident Tassos Papadopoulos, 72, ist noch bis 2008 im Amt und unverändert populär – seine Zustimmungsrate liegt bei 60 Prozent. Die Umfragen sagen seiner buntgemischten Koalition, bestehend aus Postkommunisten, Sozialdemokraten und der eigenen Mitte-rechts-Partei, eine klare Mehrheit voraus. Papadopoulos hatte die Ablehnung des Annan-Plans vor dem Referendum zur patriotischen Pflicht erhoben – weil die Tür- poulos wiederholt nur unentwegt, der Friedensprozess sei tot, falls man zu früh wieder verhandle – und dann scheitere. Welche Lösung ihm vorschwebt, ist völlig unklar. Gegenüber einem französischen Magazin stellte er vor zwei Wochen sogar den bisher kleinsten gemeinsamen Nenner in Frage und forderte statt der Föderationslösung einen einheitlichen Staat. Nach Protesten ruderte er zurück: Er sei „falsch verstanden“ worden, so sein Sprecher. Auf beiden Seiten sitzen noch immer jene an den politischen Schalthebeln, die sich zuvor jahrzehntelang bekriegten. Präsident Papadopoulos zum Beispiel gehörte in den fünfziger Jahren der gefürchteten Eoka an, der Untergrundarmee der Griechen, die gegen die britischen Kolonialherren und die türkischen Zyprer kämpfte. Auf beiden Seiten werden die eigenen Kämpfer heroisiert, Verbrechen den Gegnern zugeschrieben. Verhandlungen sind für beide Lager ein Nullsummenspiel, nachgeben will keiner. Die Früchte des Starrsinns lassen sich mitten im Zentrum von Nikosia besichtigen. Die Ledra-Straße, eine belebte Shopping-Meile im griechischen Süden, endet unversehens an einer hohen Mauer mit Aussichtsplattform, die von einem gelangweilten Soldaten bewacht wird. Verirrte d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Strandtouristen und Schulklassen besichtigen hier die Uno-Pufferzone, die den Norden vom Süden der Stadt seit 1964 trennt, einen knapp hundert Meter breiten Streifen, in dem sich die Straße gespenstisch fortsetzt – zerschossene Häuser aus dem Krieg stehen hier, unberührt seit mehr als 40 Jahren und von Unkraut überwuchert. Gegenüber, auf der türkischen Seite, führt eine weiße Brücke aus Metall in die Pufferzone. Sie ist gesperrt. Eigentlich sollte hier, im Herzen von Nikosia, bald ein weiterer Übergang zwischen Nord und Süd eröffnet werden. Doch die Griechen sind wütend, weil die Türken die Brücke ohne Absprache gebaut haben und die Abfertigungshäuschen in der verbotenen Pufferzone stehen. Die Türken ihrerseits weigern sich, die Brücke wieder abzureißen. Dafür haben sie ein Transparent aufgehängt: „An jene, die von der Mauer der Schande herübersehen – hier steht die Brücke des Friedens.“ Der Übergang bleibt vorerst geschlossen. Trotz des täglichen Propagandakleinkriegs gibt es seit dem EU-Beitritt wieder einen Grenzverkehr zwischen Nord und Süd – 7000 Pendler strömen täglich in den reichen griechischen Teil, viele von ihnen Bauarbeiter. Die griechischen Zyprer wiederum gehen in den Norden, um dort billig einzukaufen. Der lange isolierte türkische Teil erlebt seither einen Wirtschaftsboom – das Bruttoinlandsprodukt ist in zwei Jahren um über 30 Prozent gewachsen, allerdings auf einer niedrigen Grundlage. Die Käufer reißen sich um Immobilien, türkische Investoren bauen monströse Hotelanlagen. Die EU will nun auch den Norden mit 139 Millionen Euro unterstützen – eine Geste der Ratlosigkeit angesichts ihres geteilten Mitgliedslandes. Das eigentliche Zypernproblem, sagt Nese Yasin, seien die Politiker. „Sie sind gar nicht daran interessiert, es zu lösen. Sie leben ja davon.“ Ihr ganzes Leben hat sie für eine Einigung gekämpft. Sie hat sich in Friedensgruppen engagiert und ist früher auf Schmugglerwegen illegal vom Norden in den Süden geschlichen, bis sie vor neun Jahren endgültig in den Süden zog – um ein Zeichen zu setzen. Um zu demonstrieren, dass man als türkische Zyprerin nicht unbedingt nur im Norden leben muss. Nese Yasin will an die Tage erinnern, als türkische und griechische Zyprer friedlich nebeneinander lebten, so wie in ihrem Heimatdorf Peristerona, aus dem sie mit ihrer Familie 1963 vertrieben wurde. Sollte sie gewählt werden, will sie im Parlament Türkisch reden und sich die griechischen Debatten von einem Dolmetscher übersetzen lassen. Sie sagt, dass sei ihr verfassungsmäßiges Recht. Und: „Was wäre das für ein Signal – wenn im zyprischen Parlament wieder Türkisch gesprochen würde!“ Mathieu von Rohr 133 Demonstration für die Unabhängigkeit* SERBIEN UND MONTENEGRO Ungedeckte Schecks Im Südosten Europas droht die nächste Sezession: Die Montenegriner müssen entscheiden, ob es bald einen weiteren Zwergstaat geben wird. I m Kulturzentrum der montenegrinischen Küstenstadt Kotor skandiert eine fast tausendköpfige Menge „Srbija, Srbija“ (Serbien, Serbien). Fahnen der serbisch-montenegrinischen Staatenunion werden geschwenkt, und alle paar Minuten dröhnt wie aus einer Kehle ein „Ne“ durch den Saal: „Nein“ – zur Unabhängigkeit. In Kotor wird an diesem Abend gegen die drohende Eigenständigkeit der Heimat demonstriert. Kommenden Sonntag sollen die wahlberechtigten Bürger der 630 000 Einwohner zählenden Minirepublik entscheiden, ob es in Europa einen neuen Zwergstaat geben wird – oder die mit Serbien eingegangene Union bestehen bleibt. Bei Gründung des Staatenbundes im Jahr 2003 war Montenegro das Recht auf eine Volksabstimmung drei Jahre später zugestanden worden. Doch die Hoffnung der EU auf einen funktionierenden Gemeinschaftsstaat wurde enttäuscht; auch Bemühungen, die in zwei unversöhnliche Lager gespaltene Bevölkerung Montenegros zum Einlenken zu überreden, fruchteten nicht. Während sich die einen als ethnische Serben fühlen, berufen sich die anderen auf eine montenegrinische Nation, welcher der Berliner Kongress 1878 schon einmal Eigenstaatlichkeit zugestand. Nun soll abgestimmt werden über die Zukunft der Republik. Alle sehen sie in düsterstem Schwarz – für den Fall, dass die jeweilige Gegenseite gewinnt. Die proserbische Allianz, angeführt von Opposi134 und verspricht seinen Anhängern – ungeachtet klarer Dementis aus Brüssel – schnelle EU-Mitgliedschaft, den Nato-Beitritt und wirtschaftlichen Segen. Ausländische Investoren könnten laut Djukanoviƒ das Land in eine „Schweiz des Balkans“ verwandeln oder in eine Attraktion wie Monte Carlo. Letzteres ist allerdings genau die Sorge der internationalen Gemeinschaft: Sie fürchtet, ein unabhängiges Montenegro könnte zu einem Dorado für Schmuggler und GeldRUMÄNIEN wäscher verkommen, zur Heimstatt brummender BOSNIENBelgrad Spielcasinos und der rusHERZEsischen Mafia. Immerhin SERBIEN UND GOWINA tionsführer Predrag Bulastand die Küstenrepublik MONTENEGRO toviƒ, zählt in Kotor die lange im Ruf, Zentrum Montenegro vermeintlich schrecklides internationalen ZigaKosovo chen Folgen einer Unabrettenschmuggels zu sein. Kotor Podgorica hängigkeit auf: In Serbien Die italienische Justiz erlebende Montenegriner mittelt seit Jahren gegen Adria würden schlagartig zu den montenegrinischen ALBA- MAZEDONIEN NIEN 100 km passpflichtigen AuslänRegierungschef – Djukadern, Tausende montenoviƒ soll in den profitanegrinischer Studenten blen „Transit“ unverzollmüssten serbische Uniter Glimmstengel über versitäten verlassen, und montenegrinische Häfen der Tourismus wäre manverwickelt sein. gels serbischer Urlauber Die Siegeschancen des bald bankrott. Premiers sind dennoch Für die Schwankenden gut, auch wenn die Unhält Bulatoviƒ die Komabhängigkeitsbefürworter promissversion eines mindestens 55 Prozent Bundesstaates bereit: 90 der gültig abgegebenen Prozent aller republik- Premier Djukanoviƒ Stimmen einfahren müsrelevanten Entscheidun- Siegesfeier schon geplant sen, um internationale gen würden weiter autoLegitimität zu erlangen. nom von der montenegrinischen Regie- Ein riskantes Manöver: Denn wenn das rung gefällt; lediglich die Verteidigung, Ergebnis in der Grauzone zwischen 50 und einige Aspekte der Außen- und Innenpoli- 55 Prozent liegt, werden sich beide Seiten tik sowie der Außenhandel fielen der Zen- als Gewinner sehen. tralführung zu. Selbst den Euro – seit 2002 Djukanoviƒ ist nach jüngsten Umfragen in Montenegro offizielles Zahlungsmittel – von seinem Triumph überzeugt, die Einlawolle man im Gegensatz zu Belgrad als dungen zur Siegesfeier sind gedruckt. Währung beibehalten. Grund genug für Serbiens Justizminister Solche Verheißungen sind eher irre- Zoran Stojkoviƒ, die Sezessionisten noch führend. Belgrad hat längst klargestellt: einmal zu verwarnen: 260 000 MonteneEine Niederlage der Unabhängigkeitsbe- griner, die oft schon seit Generationen in fürworter würde das Ende montenegrini- Serbien leben und kein Stimmrecht beim scher Privilegien bedeuten. Die Machtzen- Referendum haben, könnten nach der trale wäre künftig in Belgrad, Podgorica Trennung die Arbeitsämter ihrer urnur der folgsame Statthalter an der Adria. sprünglichen Heimat überschwemmen – Doch auch die Gegenseite wirbt mit un- als „Ausländer“ sei ihnen der Job in Sergedeckten Schecks. Chefpropagandist ei- bien nicht mehr sicher. nes souveränen Montenegro ist Premier Wie die Abstimmung auch ausgehen Milo Djukanoviƒ mit seiner Demokrati- mag: Ein Teil des gemeinsamen nationalen schen Partei der Sozialisten, unterstützt Erbes könnte künftig allein in Podgoricas von den Liberalen und den Sozialdemo- Zuständigkeit fallen. Die Tochter des jüngst kraten sowie den albanischen und bos- verstorbenen Slobodan MiloΔeviƒ, die in nisch-muslimischen Minderheiten. Montenegro lebt und dessen StaatsbürgerEin selbständiges Montenegro werde schaft besitzt, hofft auf die Exhumierung nicht mehr Geisel einer nationalistischen ihres in Serbien begrabenen Vaters. serbischen Politik sein, gelobt Djukanoviƒ Er soll in der Erde seiner Vorfahren ruhen, fordert sie. Im Staate Montenegro. DIMITAR DILKOFF / AFP RISTO BOZOVIC / AP Raus aus der politischen Geiselnahme * In Herceg Novi. d e r s p i e g e l Renate Flottau 2 0 / 2 0 0 6 ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL Jüdische und indische Händler vor der Diamantenbörse in Antwerpen: Angst vor der neuen Ordnung BELGIEN Curry-Spieß und Pflaumenzimmes Nach einem halben Jahrtausend haben die jüdischen Diamantenhändler von Antwerpen ihre Vorherrschaft im Geschäft mit den teuren Steinen abgegeben. Die Kaufleute vom indischen Subkontinent sind die erfolgreicheren Global Players. W enn Jumi Hoffmann, Teilhaber des koscheren Imbissbetriebs „Hoffis Take away“ in der Lange Kievitstraat, an die Zukunft der jüdischen Gemeinde von Antwerpen denkt, dann wird ihm froh und bang zugleich. Dass seine Heimatstadt die größte jüdisch-orthodoxe Gemeinde Europas beherbergt und dass das auch so bleiben wird, das macht ihn froh. Dass die meisten seiner 20 000 Glaubensbrüder, die hier leben, scheinbar unaufhaltsam in die Armut abgleiten, das macht ihn ganz krank vor Sorge. „Der jiddische Mensch verliert sein Brot“, sagt Jumi Hoffmann. Soll heißen: Die jüdischen Händler haben ihre führende Rolle im Antwerpener Diamantengeschäft aufgeben müssen. Früher erwirtschafteten sie 70 Prozent des Umsatzes, heute ist es nur noch ein Viertel. Bei weiterhin sinkender Tendenz. Jetzt beherrschen Händler aus Indien das Geschäft. 136 Mehr als 500 Jahre nach der Ankunft spanischer und portugiesischer Sepharden in Flandern geht eine Ära zu Ende. Weil Jobs fehlen, wandern jedes Jahr 1000 bis 2000 Juden aus Antwerpen ab. Die meisten nach Israel und Amerika, viele auch nach Deutschland. Dass die Gemeinde trotzdem nicht kleiner wird, liegt daran, dass die meisten Familien noch mehr Kinder haben als die deutsche Familienministerin Ursula von der Leyen. Jumi Hoffmann ist elffacher Vater. Acht Kinder gehen noch zur Schule, zwei lernen Apotheker, einer Rabbi. Diamantär will keiner mehr werden. Vor 20 Jahren arbeiteten in den Straßen rund um die Börse an der Hoveniersstraat 30 000 Diamantenschleifer. Zehnmal so viele wie heute. Die Machtübernahme an der großen Diamantenbörse hat sogar die Speisekarte in der Kantine verändert. Früher wurden hier fast nur koschere Gerichte serviert. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Heute essen Juden auch Curry-Spieß und Inder auch Pflaumenzimmes. Es ist ein bisschen wie in dem alten jiddischen Gleichnis: As a milner schlogt sich mit n kojmenkerer, wert der milner schwarz un der kojmenkerer wajs. Auf Deutsch: Wenn sich der Müller mit dem Kaminfeger prügelt, wird der Müller schwarz und der Kaminfeger weiß. Über dem Konklave der Diamantenhändler hängt ein Kammerton in Moll. Man spricht leise und gedämpft. Abschlüsse werden per Handschlag besiegelt und von einem frommen Wunsch begleitet: masl un broche, Glück und Segen. Auch die Asiaten benutzen diese Formel. Aber Jiddisch verliert langsam seine Rolle als Hauptbörsensprache. Mit Englisch kommt man auch ganz gut durch. Der Hohe Diamantenrat, die Standesorganisation der Händler, hat die Wende noch nicht vollzogen. Obwohl mindestens 15 der 23 Milliarden Euro Umsatz auf die Ausland Flandern-Metropole Antwerpen: Wenn der Wind weht, soll man Windmühlen bauen Amsterdam, die Antwerpen äußerlich sehr ähnlich ist, findet hier nicht statt. Die Angst vor militanten Muslimen und vor der neuen Ordnung in der Welt der Diamanten hat die politische Szene Flanderns auch um eine bizarre Facette bereichert. Eine wachsende Minderheit der Antwerpener Juden sympathisiert mit dem Vlaams Belang, der erfolgreichsten Rechtsradikalenpartei Europas, die seit 2004 die stärkste Fraktion im flandrischen Regionalparlament stellt. Der Vlaams Belang gibt sich betont Israel-freundlich. Er fordert auch ein schärferes Vorgehen gegen marokkanische Einwanderer, die aus ihrer Feindschaft gegenüber Juden keinen Hehl machen. Der Flirt belgischer Juden mit den rechten Ultras bereitet prominenten Juden Sorge. Der Nobelpreisträger und AuschwitzÜberlebende Elie Wiesel hat die flämische Gemeinde ermahnt, bei der Auswahl ihrer Freunde etwas umsichtiger zu sein. „Kein Jude sollte sich nach rechtsaußen wenden.“ Rabbiner und Rechtsanwalt Henri Rosenberg, dessen Eltern ebenfalls den Holocaust überlebten, sieht das pragmatischer. In Zeiten der Not müsse man sich fragen dürfen, was gut sei für die jüdische Gemeinde. Er könne verstehen, wenn Juden sich politisch an den Vlaams Belang anlehnten, deren Fraktionschef Filip Dewinter vermutlich der nächste Bürgermeister von Antwerpen sein werde. Im handwerklichen Teil des Geschäfts mit den teuren Steinen haben die früheren Platzherren ihr Monopol energischer verteidigt. Von den Hochkarätern gehen die meisten immer noch durch die traditionsreichen jüdischen Schleifereien. „Nicht wegen unserer guten Beziehungen, wie immer behauptet wird, sondern weil wir besser sind als andere“, sagt Mosche Weiss, der Branchen-Doyen. Mosche Weiss und sein Sohn Joseph beschäftigen 32 Schleifer. An die teuersten Stücke legt der Chef meist persönlich mit Hand an. Joseph hat gerade einen Stein von 52 Karat in Arbeit. Ein Traumstück in Rosa. „Bei den großen Schmucksteinen sind wir die Nummer eins. Big is beautiful.“ Groß ist aber auch relativ. In den großen Pranken von Joseph Weiss wirken selbst zehnkarätige Steine ganz klein. Mit Hilfe der Computertechnik kann der Schleifer die Edelsteine noch edler machen. Der Rohling wird gescannt, gewogen, vermessen und dann dreidimensional auf den Monitor projiziert. Weiss kann den virtuellen Stein nach Belieben drehen und wenden und schließlich bestimmen, wo er den Schnitt und den Schliff ansetzt. Man müsse das Licht aus dem Stein herausholen, sagt er, das mache ihn lebendig. Die Maschine und die Software kommen aus Israel. Das Programm überträgt die Koordinaten, die Weiss am Bildschirm festgelegt hat, auf die rechnergesteuer- 2 0 / 2 0 0 6 137 Inder entfallen, stellen sie im Hohen Rat nur eine Minderheit der zwölf Direktoren. Sie machen sich aber nichts daraus, weil der Hohe Rat weniger Einfluss auf die Geschäfte hat, als er glaubt. Die wirklich großen Deals werden nämlich überwiegend in den kleinen Büros über dem Börsensaal abgeschlossen. Obwohl sie hart miteinander konkurrieren, haben Juden und Inder keine Nachbarschaftsprobleme. Es gibt sogar einige jüdisch-indische Ehepaare in Antwerpen. „Das Judentum und unser Jainismus haben Berührungspunkte“, sagt Diamantenhändler Ramesh Mehta. Juden und Jainas seien es gewohnt, hart zu arbeiten, und sie lehnten jede Form von Gewalttätigkeit ab. Noch wichtiger: Juden wie Indern sei es nicht fremd, global zu denken und zu handeln. Sie wissen auch, dass sie sich aufeinander verlassen können. Ein indischer Trader lässt sich keine Quittung geben, wenn er seinem jüdischen Kollegen ein Säckchen Juwelen gibt, damit der es über Nacht im Tresor verwahrt. Die indischen Händler stammen fast alle aus dem Bundesstaat Gujarat, dem Zentrum des indischen Diamantenhandels. Sie sind bescheidene Leute und ernähren sich vegetarisch. Aber sie haben auch keine Probleme damit, ihren Wohlstand in Szene zu setzen, wenn sie meinen, dass der Anlass es gebietet. Vergangenes Jahr ließ Diamantenhändler Vijay Shah für seinen Sohn und seine Tochter hier eine Doppelhochzeit ausrichten, deren Pracht der königlichen Familie würdig gewesen wäre. Kenner schätzten den Aufwand auf 14 Millionen Euro. Bei den Cricket-Spielen, die jedes Jahr von einer der großen indischen Familien veranstaltet werden, versucht jeder Clan, den Ausrichter vom Vorjahr an Prunk und Luxus zu übertreffen. Dem jüdischen Viertel hinterm Hauptbahnhof sieht man es an, dass es schon bessere Zeiten erlebt hat. Die Fassaden sind grau geworden, das Pflaster hat Kaugummiflecken. An einigen Türen und Fenstern hängen Mesusa-Kapseln. Die Zitate aus den religiösen Schriften der Juden, die darin stecken, sollen gegen sündige Versuchung schützen. Die Stadtverwaltung verlässt sich lieber auf dicke Betonklötze auf den Gehwegen und auf Videokameras. Etwas wohltemperierter Alarmismus gehört zur psychologischen Grundausstattung der Antwerpener. Die Sicherheitslage ist aber nicht dramatisch. Der entwurzelte Kosmopolitismus der Grachtenmetropole Diamantenhandel in Belgien Nordsee 80% aller Rohdiamanten werden über Antwerpen gehandelt. Brüssel BELGIEN FRANKREICH LUX. 23 Mrd.¤ Umsatz 1500 Diamantenfirmen Diamantenhändler Jahwery: „Ein Geschäftsmann muss flexibel sein“ HEMISPHERES / LAIF ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL NIEDERLANDE Antwerpen d e r s p i e g e l FRANKLIN HOLLANDER Ausland Indische Händler in der Diamantenbörse: Masl un broche – Glück und Segen 138 werpen haben ihre Wurzeln in Palanpur: die Mehtas, die Shahs, die Jahwerys. In den siebziger und achtziger Jahren sind sie nach Antwerpen gekommen, angelockt von den riesigen Umsätzen, aber auch von den liberalen belgischen Einwanderungsgesetzen. Weil neun von zehn Erben im Diamantengeschäft sich ihre Ehepartner im eigenen Umfeld suchen, sind die großen unter den 300 indischen Familien von Antwerpen auch fast alle miteinander verwandt. Ein Geschäft, das in wesentlichen Bereichen von der eigenen Familie kontrolliert würde, sagt Jahwery, sei der Konkurrenz immer haushoch überlegen. So sehen es wohl auch die anderen Unternehmenschefs aus Gujarat. Sie bauen auf ihren weltweiten Familienverbund und ihre Firmenniederlassungen auf allen Kontinenten. Das ist es, was sie von den früheren Marktführern unterscheidet: Die indischen Clans, nicht die jüdische Mischpoke sind die wirklichen Global Players. Ashwin Jahwery hat Niederlassungen in Taiwan, Thailand, China, Australien, Großbritannien und Spanien, die von seinen Vettern geleitet werden. Seine zwei Söhne studieren noch an der Antwerpener Universität, der eine Betriebswirt- ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL te Schleifanlage. Weil sie auf einen Hundertstelmillimeter genau arbeitet, sind Schmucksteine heute viel ebenmäßiger als früher. Der Computer rechnet auch aus, welche Form am wenigsten Abfall verursacht – Tropfen, Herz, Princess oder Emerald. Vater und Sohn Weiss haben immer die neuesten Maschinen. Deshalb sind ihre Steine brillanter als die der Konkurrenz. Und deshalb haben sie ihren Vorsprung am Markt erfolgreicher als andere verteidigt. Zu ihren Kunden gehören die Großen und Reichen: Könige und Showstars, die Firmen Tiffany, Van Cleef & Arpels. Bei Weiss lassen auch viele von den großen indischen Händlern schleifen. „Die Juden sind fünf- bis zehnmal teurer als unsere Schleifer in Bombay, aber auch besser“, sagt Ashwin Jahwery, der Chef des Grossisten „Diabelge“. Die Kalkulation ist ganz einfach. Bei den Hochkarätern ist der Arbeitskostenanteil minimal. Ein großer Stein bringt leicht 100000 Euro mehr, wenn man 5000 statt 1000 Euro in den Schliff investiert. Ashwin Jahwery sieht die Zukunft für die jüdischen Diamantärs nicht so schwarz wie die Juden selbst. Solange sie handwerklich besser seien als die Inder, meint er, würden sie immer genügend Gewinn machen. Es ist allerdings nur noch ein Teil des Geschäfts. Die kleinen Steine, bei denen die Arbeitskosten stärker ins Gewicht fallen, werden heute vorwiegend in Indien geschliffen. Die jüdischen Händler, meint Jahwery, brauchten mehr Kampfgeist. „Sie klagen zu viel, und sie vergessen: Wenn der Wind bläst, muss man Windmühlen bauen und nicht nach Schutz suchen.“ Jahwery stammt aus der Stadt Palanpur in Gujarat. Sein Urgroßvater bearbeitete dort die Diamanten noch auf einem Schleifrad, das über ein Pedal angetrieben wurde. Viele große Diamantärs von Ant- Koscher-Gastronom Hoffmann „Der jiddische Mensch verliert sein Brot“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 schaft, der andere Schleiftechnik. Ihre Positionen im Handelsimperium des Vaters sind schon reserviert. Seinem bescheidenen Büro kann man Jahwerys geschäftliches Kaliber nicht ansehen: auf dem Schreibtisch ein Berg unordentlicher Akten und ein Mikroskop mit Doppelokular, an der Wand ein Ölgemälde, auf dem eine Frau vor einem Reetdachhaus Hühner füttert, in der Ecke ein großer, alter Tresor. Anders als die jüdische Gemeinde kultivieren die Inder keine sentimentalen oder heimatlichen Gefühle für Antwerpen. Sie leben und verdienen hier gut, sie können aber gegebenenfalls auch schnell umdisponieren. Ein guter Geschäftsmann, meint Ashwin Jahwery, müsse flexibel sein. Und zwar im weltweiten Rahmen. Man muss das wohl als Drohung verstehen. Er sagt: „Wenn die belgische Regierung uns schikaniert, hat der Standort Antwerpen keine Zukunft. Was ich brauche, um an einem anderen Punkt auf der Welt neu anzufangen, ist in weniger als zwei Stunden gepackt.“ Einige seiner Landsleute sind dem Lockruf des neuen, aufstrebenden Diamantenstandorts schon gefolgt und nach Dubai umgezogen. In Antwerpen fühlen sich die Händler vor allem von Verordnungen drangsaliert, mit denen die Brüsseler Regierung den Handel mit den sogenannten Blutdiamanten zu bremsen versucht. Antwerpen ist nicht nur der größte Diamantenmarkt, sondern auch der größte Diamantenschwarzmarkt der Welt. Hier setzen afrikanische Diktatoren und Rebellenführer die Steine ab, mit denen sie ihre verheerenden Kriege finanzieren. Der Preis eines Diamanten wird von den berühmten vier hohen C bestimmt: Cut, Clarity, Color, Carat, dem Schliff, der Reinheit, der Farbe und der Anzahl der Karat. Der Hohe Diamantenrat, der in Antwerpen auch den Verhaltenskodex regelt, hat ein fünftes C hinzugefügt. Es steht für „confidence“, Vertrauen. Das war eine schöne Geste. Aber für die Praxis war sie belanglos. In den Juwelierläden am Hauptbahnhof fragen Händler nicht nach Ursprungszertifikaten, wenn ihnen ein Fremder ein Säckchen Rohdiamanten zum Kauf anbietet. Der Hohe Rat behauptet zwar, das Problem sei unter Kontrolle. Doch das ist Wunschdenken. Die Einfuhr und Ausfuhr von Juwelen lässt sich nicht wirksam kontrollieren. Einfach, weil sie so klein sind. Und mit einer Hosentasche voll Klunker kann ein afrikanischer Warlord genug Kalaschnikows kaufen, um eine ganze Armee auszurüsten. Als der Markt in Antwerpen noch fest in jüdischer Hand war, konnte man sich auf die Selbstkontrolle des Kartells ganz gut verlassen. Das ist nun vorbei. Erich Wiedemann Ausland KA IRO Leben auf der Kippe Global Village: Ein junger Ägypter sammelt Müll für eine Textilfirma in China. G STILL PICTURES / ULLSTEIN BILDERDIENST lück ist eine Plastikflasche, auf Krü- tikmüll für Ataullah. Das fertige Granu- ropa einzukaufen, Container aufzustellen melgröße zerschreddert. Glück ist lat holt ein Spediteur und fährt es nach und ein Heer aus ungelernten Tagelöhnern eine Handvoll weißer Schnipsel. Alexandria, von dort werden die Müllsäcke in orangefarbene Uniformen zu stecken. Ataullah hörte aus dem Radio davon. „Uns Genießerisch lässt Saad Ataullah seinen nach Shanghai verschifft. Auch Ataullah entstammt einer Sabba- hat niemand gefragt“, sagt er. Schatz durch die Finger rieseln. „SpitzenDoch der Regierungsakt geriet zum müll!“, sagt er: „Bessere Qualität findest lin-Familie, aber er war schlau und ehrgeizig, studierte Betriebswirtschaftslehre. Flop. Die Kairoer waren nicht bereit, du in ganz Ägypten nicht.“ Dann verschnürt er den blauen Plas- Ein Freund überredete ihn, ins Recycling- höhere Müllgebühren zu zahlen. Die Mäntiksack wieder und klettert vom Dach sei- geschäft einzusteigen. Es wurde ein Erfolg. ner in Orange bekamen kein Gehalt, der ner windschiefen Ziegelbude, die er zärt- Andere folgten dem Beispiel, über 200 sol- Dreck blieb liegen. Die Sabbalin holten lich „my factory“ nennt. Sie besteht aus cher Fabriken entstanden und neue Jobs, sich ihren Abfall nun nachts, heimlich. „Für die Behörden sind wir ein Schandrußschwarzen, fensterlosen Wänden, einer die die Armut lindern. Im Viertel bewundern sie ihn dafür. fleck. Sie wollen uns aus dem Weg räuSchreddermaschine und fünf schwitzenden Männern, die pausenlos Körbe voll „Saad, Saad!“, rufen die Kinder und drän- men“, sagt ein Funktionär des „Verbandes gen sich um den 28-Jährigen, der mit der Müllsammler“. Doch die Sabbalin sind Plastikflaschen hereinschleppen. „My factory“ liegt im Kairoer Elends- gebügeltem weißem Hemd mitten in den Kopten, ägyptische Christen, Leute, die sich immer wieder ihrer unwirtlichen Umviertel Manschija Nasser, einem jener Orte, Abfallbergen steht. „Die Sabbalin verstehen es wie kein an- welt anpassen. Ins Müllgeschäft drängten die in der Welle der gewaltigen Bevölkerungsexplosion unterzugehen drohen. So derer, aus Müll Geld zu machen“, sagt die sie, weil sie keine andere Arbeit in Kairo fanden. Als ihnen die Stadt das eng stehen die Häuser aneinMüllsammeln per Eselskarren ander, dass manche Bewohner verbot, motorisierten sie sich. den Bauch einziehen müssen, Und noch immer leben sie wenn sie sich durch die Gasam Mukattam-Hügel, obwohl sen zwängen. ihre Siedlung oft dem ErdWo aber Platz ist, klaffen boden gleichgemacht werden aasige Sickergruben, türmen sollte. sich Schrottberge. Schwarze Neuerdings parken nicht nur Schweine und klapprige Ziegen Mülltransporter auf den buckwühlen im Abfall und suchen ligen Wegen von Manschija nach Futter. Die Luft riecht verNasser. Manchmal rumpelt goren. Für den Recyclingunterauch ein Touristenbus den Hünehmer Ataullah ist der wüste gel hinauf. Mit gesenktem Standort ein Segen. Genau hier, Blick, peinlich berührt von am Fuße des Mukattam-Berges Schmutz und Armut, stolpern im Osten der 18-Millionendie Fremden weiter bergauf, Metropole, findet er, was er auf dem Weg zu einigen bebraucht: Müll. Und Menschen, rühmten Felsenkirchen. die an Müll gewöhnt sind. Mehrere Kapellen und eine Am Rande von Manschija Koptische Müllsammler: „Ein Schandfleck für die Behörden“ Kathedrale befinden sich auf Nasser haben sich rund 30 000 „Sabbalin“ niedergelassen, Kairos Müll- ägyptische Entwicklungshelferin Laila Ka- dem Mukattam, dort, wo nach koptischer sammler-Kaste. Als gesellschaftliche Parias mil. Was andere als Abfall bezeichnen, Legende vor 1000 Jahren ein Heiliger den leben sie seit Jahrzehnten vom Abfallge- nennen sie „al-Cheir“, das Wertvolle. Etwa Berg spaltete, weil der fatimidische Kalif schäft. Mit ihrer Hilfe will Ataullah hinein 90 Prozent des gesammelten Mülls können al-Muiss einen Beweis für die Kraft des in den Weltmarkt. Seine Ware: geschred- die Sabbalin, die einst als landlose Wan- christlichen Glaubens verlangt hatte. Heudertes PET-Plastik. Sein wichtigster Kunde: derarbeiter aus Oberägypten in die Haupt- te, im Gedränge von Manschija Nasser, ein internationaler Textilkonzern, dessen stadt strömten, weiterverwerten – die sind die Kreuze auf den Häuserwänden Namen Ataullah nicht nennen will. „Mit Recyclingquote für Hausmüll in der Euro- eine Ortsmarke: hier der koptische, dort der islamische Bezirk. Junge Sabbalin lasmeinem Müll machen die in China Fleece- päischen Union liegt unter 30 Prozent. Dass die Sabbalin dafür unter einem sen sich Marienbilder auf den Oberarm Jacken“, schwärmt er. Aus dem gemahlenen Kunststoff lassen Dach mit ihren Schweinen leben, quittieren tätowieren, der Gebetsruf des Muezzin ist sich in chinesischen Fabriken Polyesterfä- die Kairoer mit Naserümpfen. Und sind überall zu hören. In der Felsenkirche steht ein weißbärtiden spinnen, die besonders gern für Sport- doch dankbar, dass ihnen jemand den tägger Priester vor dem Mikrofon, in seiner bekleidung verwendet werden. Gestern lichen Dreck vom Halse schafft. Ginge es nach der Obrigkeit, wären rechten Hand hält er ein intarsiengenoch die Wasserflasche eines durstigen Ägypters, morgen schon die atmungsakti- Ataullah und die Sabbalin längst aus dem schmücktes Kreuz. Die Gläubigen küssen ve Radlerjacke im deutschen Discounter, Geschäft. Anfang 2003 beschloss Ägyptens es, auch Ataullah. Er betet, dass ihm der Zoll und die Regierung, die betagten Kleinlaster der so schön kann Globalisierung sein. 30 Sabbalin-Männer und -Frauen sam- Müllsammler aus dem Stadtbild zu ver- Behörden nicht doch noch das Geschäft meln, waschen und sortieren den Plas- bannen, zwei Entsorgungsfirmen aus Eu- verderben. Daniel Steinvorth 140 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Sport WM 2006 Bei der Weltmeisterschaft vor vier Jahren war Miroslav Klose mit fünf Treffern zweitbester Schütze nach Ronaldo. Keiner aus der deutschen Elf hat sich seitdem als Profi so fortentwickelt wie der Bremer, zugleich ist er boden- ständig und bescheiden geblieben. Eigenschaften, die der spanische Autor Javier Marías schätzt. Im WMGespräch beklagt der Fußballkenner das „Protagonistentum“ von heute: „Früher gab es mehr Würde und mehr Respekt gegenüber dem Gegner“ (Seite 146). FUSSBALL Der unscheinbare Star Der Bremer Miroslav Klose ist der Bundesligaspieler der Saison und Deutschlands Angriffshoffnung für die WM. Der gebürtige Pole strahlt Torgefährlichkeit aus, er gilt als Muster an Eigenmotivation und Natürlichkeit. Sein größtes Plus ist, dass man ihn dauernd unterschätzt. Profi Klose als Bremer Torjäger (M., gegen den MSV Duisburg), als Nationalspieler: „Ich setze mir meine Schwerpunkte: Welche Marke N eulich im Weserstadion stellte sich ihm unversehens Boris Becker in den Weg, der große Becker leibhaftig. Der Tennisstar a. D. trug einen hellen, fast weißen Kamelhaarmantel, aber auch ein Mikrofon des Senders Premiere. Becker brauchte einen O-Ton. Miroslav Klose musterte ihn kritisch, es war, als sammelte nun der Papst die verschwitzten Trikots für die Wäsche ein. Er überlegte kurz und ließ den Sporthelden der Vergangenheit ohne Aufhebens abblitzen. Als Becker Verwirrendes zu Klinsmann, Kahn und der Nationalelf fragte („Als Nationalspieler muss ich Sie die Torwartfrage stellen“), bedeutete ihm der Torjäger von Werder Bremen bündig: „Es ist so, dass ich mich dazu nicht äußere.“ 142 Es ist wohl immer noch so, dass man dem im polnischen Oppeln geborenen Stürmer mit dem scheuen Blick nicht viel zutraut, am wenigsten sein Selbstbewusstsein. Bei „Wetten, dass ...?“ sprach Thomas Gottschalk mit Klose in einem Ton wie mit einem Kleinkind. Er sei ja einer „von den Stillen“, stellte er den scheinbar verklemmten Gast vor. Der Nationalspieler korrigierte ihn mit fester Stimme: „Von den Ruhigen.“ Manchmal leidet Klose, 27, darunter, dass man ihn dauernd unterschätzt, aber er weiß auch, dass er davon profitiert. Bei der Weltmeisterschaft 2002 wurde er so zum Shooting-Star, mit fünf Toren zweitbester Schütze nach Ronaldo. Vier Jahre später haben immer noch nicht alle gemerkt, welche Bedeutung der Spätausd e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 siedler inzwischen für die deutsche WMMannschaft hat. Es ist ihm recht, wenn es die Gegner nicht wissen: Ohne Michael Ballack würde Jürgen Klinsmanns junger Garde der Halt fehlen, ohne Klose die Gefährlichkeit. Er ist gleichzeitig Anspielstation und Passgeber bei den Kombinationen am Strafraum, als Adressat wie als Absender von Flanken geeignet. Sein Bremer Trainer Thomas Schaaf kennt in Deutschland „keinen kompletteren Stürmer im Moment“, Werder-Manager Klaus Allofs hält ihn „bereits jetzt für einen Weltklasse-Spieler“. Das ist ein großes Wort, aber klar ist auch das: Gäbe es jetzt keine WM, müssten ihn die Experten zum deutschen Spieler des Jahres küren. Er war – neben Torwart Jens Leh- Nummer zu groß, die gebeugten Schultern und flügelhaft angewinkelten Arme verleihen seinen Bewegungen etwas Unreifes, Kindhaftes. Selbst sein Humor kommt so unauffällig angeschlichen, dass man ihn kaum bemerkt. Kürzlich hatte er mit dem linken Fuß ein Traumtor gegen den 1. FC Köln erzielt, und Journalisten übermittelten ihm das Lob des Teamkameraden Torsten Frings: „Der kann doch eigentlich mit links gar nicht schießen.“ Klose setzte seinen gleichgültigsten Gesichtsausdruck auf und erwiderte: „Ich kann schon auch was mit links. Ich kann mit links stehen.“ An jenem Samstag hatte er auch zwei kunstvolle Maßflanken mit dem Außenrist des rechten Fußes geschlagen. Es war ein verwirrender Auftritt, bei dem Klose, Regisseur und Stürmer zugleich, fast alles gelang. Als er später von Reportern ausgerechnet auf jene Szene angesprochen Miroslav nennen, warf es ihm zu, ohne sein Fernsehinterview zu unterbrechen, das er im Unterhemd gab. Im Gegenzug fing er das Trikot des Kollegen auf. An der Perspektive, aus der er Podolski betrachtet, erkennt man seine Entwicklung. Klose, Hobbyangler, μkoda-Fahrer gemäß Werbevertrag und inzwischen Vater von Zwillingen, sieht sich im künftigen Münchner selbst: als jungen WM-Debütanten vor vier Jahren. „Da gibt es schon Parallelen“, findet er und redet wie Podolskis Mentor. „Ich habe ihm neulich gesagt: Wenn ihr den Klassenerhalt schafft, kommst du mit Euphorie zur WM. Wenn ihr abgestiegen seid, willst du es allen beweisen und spielst auch sensationell.“ Podolski kommt als Absteiger, Klose als erwachsen gewordener Spieler, im DauerAbstiegskampf des 1. FC Kaiserslautern bis vor zwei Jahren gestählt. Kaum einer hat zwischen zwei WM-Turnieren so große wurde, in der er eine Torchance vergab, ertrug er es mit Fassung. Auf Seiten des Gegners hatte Lukas Podolski, 20, gestanden, gebürtiger Pole, Stürmer und personifizierte WM-Hoffnung der Deutschen wie er. „Poldi“, Liebling der Massen und für die Fachwelt der Talentiertere, trug Fußballschuhe in einer Signalfarbe, die an gelbe Textmarker erinnerten. Seine Anwesenheit war, ohne dass sie etwas bewirkte, ein einziges Ausrufezeichen. Klose dagegen mit seinem gekrümmten Laufstil wirkte mal wieder verhuscht wie ein Fragezeichen, aber am Ende hatte er so viele Marken in seiner Scorerwertung geknackt, dass „Poldi“ stolz sein durfte, beim obligaten Trikottausch sein Hemd erbeutet zu haben. „Mirek“, wie Freunde den Sprünge gemacht. Jetzt sieht er sich als „absoluten Führungsspieler“, auch in der Nationalelf. Er freut sich auf Podolski und „die anderen jungen hungrigen Spieler“, sagt er, als wäre er der Trainer. Klose startete meistens spät, aber immer senkrecht. „Er musste sich stets behaupten“, sagt Schaaf. „Er ist noch ein richtiger Gossenkicker“, sagt der ARD-Angestellte Alexander Schütt, ein früherer Bundesliga-Schützenkönig im Hockey, der ihn in Medien- und Marketingfragen berät. Als Achtjähriger ohne Deutschkenntnisse über das Sammellager Friedland in die pfälzische Provinz gekommen, hatte er mit der Kugel zunächst wenig im Sinn. Mit 18 bezog der Sohn eines Fußballprofis und einer Handballnationalspielerin noch die 800 VLADIMIR RYS / GETTY IMAGES (L.); FIRO / AUGENKLICK (R.) mann, der in England zu Ehren kam – der Mann der Saison. Klose sieht noch „Potential nach oben“, das zeichnet ihn aus. Er gibt sich nicht so leicht zufrieden. Mit dem Mittelfinger deutet er Streckenabschnitte auf der Tischkante an. „Ich setze mir meine Schwerpunkte: Welche Marke ist mir wichtig?“ Die 15 Treffer seiner ersten Bremer Spielzeit waren ihm nicht genug, so mussten es deutlich mehr als 20 in der zweiten sein. Jetzt will er „die fünf Tore knacken“, die Marke seiner ersten WM. „Ich bin ja jetzt vier Jahre weiter.“ Trainer begeistern derlei schlichte Methoden der Eigenmotivation. Thomas Schaaf erkennt große Spieler an der Fähigkeit, immer mit der gleichen Leidenschaft anzutreten – „gegen Barcelona wie gegen St. Pauli. Sie konzentrieren sich auf die persönlichen Ziele“. Im Pokalspiel beim FC St. Pauli war Klose derart motiviert, dass er sich auf gefro- ist mir wichtig?“ renem Boden einen Sehnenanriss in der Schulter zuzog. Die folgende Zwangspause machte ihn bei der Jagd nach seinen „Marken“ nur stärker. „Man wird reifer“, hat er festgestellt. Dazu zählt der selbstsichere Umgang mit großen Tieren, auf dem Platz und daneben. Den Interviewer Boris Becker, erzählt er, hätte er beinahe schon auf dessen unpassende Einstiegsfrage („Wie geht’s?“) hin ins Leere laufen lassen. „Fast hätte ich gesagt: Und selbst so?“ Klose hatte da gerade alle drei Tore gegen Bayern München vorbereitet. Sogar an solchen Glanztagen ist er der unscheinbare Star, auch wenn er sich jetzt blonde Strähnen in die Frisur hat einbauen lassen. Auf dem Platz wirkt die Hose eine d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 143 S.E.T. PHOTO LORENZ BAADER spieler erwarteten einen wie seinen Vorgänger Ailton, der vorne lauerte. Klose wollte aber umherlaufen, „mal kurz, mal lang, mal rechts, mal links“. Es hat dann doch noch gefunkt. „Die Mannschaft“, sagt Klose, „weiß jetzt, wie ich ticke.“ Das fällt vielen nicht leicht herauszufinden. Denn in der Branche wird schnell für naiv und beschränkt gehalten, wer einfach ungekünstelt und ehrlich ist. Auf Kloses Kosten meinte sich mancher schon Scherze erlauben zu dürfen. „Seine Antworten werden schon länger – so anderthalb Worte pro Satz“, witzelte in einer Schein-Eloge der ZDF-Vielredner Rolf Töpperwien. Als Klose gegen Arminia Bielefeld auf einen Elfmeter verzichtete, indem er dem Schiedsrichter die Wahrheit sagte, trug ihm das zwar die Fair-Play-Trophäe der Sportjournalisten ein. Aber auch den Verdacht, nicht professionell genug zu sein. Klose sucht nie das Rampenlicht. Mit dem ebenfalls aus Polen stammenden BeNationalspieler Podolski (l., 2005 gegen Frankreich): „Da gibt es schon Parallelen“ hindertensportler Wojtek Czyz ist er nicht erst beMark Zimmermanns-Lehrgeld. Mit 19 kickkannt, seit der drei Goldte er noch bei der SG Blaubach-Diedelkopf medaillen bei den Paralymin der siebten Liga. Mit 21 stand er, inzwipics abräumte. Er hat ihn schen Regionalligaspieler der Kaiserslauteschon im Krankenhaus einrer Amateure, bei Heimspielen der FCKfach angerufen, wo Czyz Profis im Fanblock 11, im Trikot von Olaf infolge einer FußballverletMarschall. Damals sah er „oben“, bei der zung der linke UnterschenBundesligamannschaft, regelmäßig beim kel amputiert werden mussTraining zu und dachte: „Ich bin nicht te. Klose hatte davon aus schlechter als die. Ich kann das schaffen.“ der Zeitung erfahren. Der Ehrgeiz hatte ihn befallen wie ein Er spielt keine Rollen. An Fieber. Ein Schlüsselerlebnis – er war 14 seinem Vorbild Fritz Walter und zum einwöchigen Lehrgang der Südschätzt er, dass der „immer westauswahl nach Edenkoben eingeladen so geblieben ist, wie er wirkworden – war dafür verantwortlich. Bis 12 lich war“, und er selbst erUhr war Anreise, um 15 Uhr das erste Trai- Showgast Klose*: „Einer von den Ruhigen“ scheint sogar noch in der ning in der Halle. Um 16 Uhr fragte ihn der Trainer, ob er seine Eltern, die ihn herge- Agent Michael Ballacks im Fach Karriere- Werbung glaubwürdig. In einer Kaugumbracht hatten, anrufen wolle. Sie könnten planung eine Kapazität, die Klauseln für ei- mi-Kampagne tritt Klose zusammen mit nen lukrativen Vereinswechsel. Die Abna- Nationalspieler Christoph Metzelder auf. ihn jetzt wieder abholen. Klose, damals einer der Jüngsten im belung von der pfälzischen Heimat kam Im TV-Spot kicken beide im Parkhaus, auf Lehrgang, schwor sich noch auf der Rück- 2004 – ein Jahr zu spät, weiß Klose heute. einer DVD, die dem Produktpaket beiliegt, Denn er meinte, „es den Fans schuldig“ spricht Metzelder davon, wie sehr er sich fahrt: „Euch werde ich zeigen, dass ich doch noch Profifußballer werde.“ Er habe zu sein, so lange zu bleiben, und dachte, es mit der Kaugummi-Marke identifiziere: sei „wichtig, dort zu spielen, wo man ak- „Ich esse täglich Airwaves.“ dann „geschuftet ohne Ende“, sagt er. Dass Klose sich derlei gewundene BeAuch seine Sprungkraft ist kein Zufall, zeptiert wird. Weil man sich alles erst wieund die Geschichte seiner Salti, die er nach der erarbeiten muss“. Er hatte wohl Angst. kenntnisse verkneifen dürfe, sei kein ZuUnd er hatte recht. Er musste sich in Bre- fall, sagt sein Berater. Allerdings erhält wichtigen Toren aufführt, belegt, wie simen seine Stellung wieder erkämpfen. Aus Metzelder für den gleichen Aufwand mehr cher er sich seiner Sache war. Ein Freund aus Diedelkopfs Jugend- Kaiserslautern war er es gewohnt, dass der Geld. Der Bremer ist eben widerstandsmannschaft beherrschte diesen Salto nach Ball hoch und weit nach vorn geschlagen und leidensfähig. Ohne zu murren, setzt er dem Tor. Klose bot die Wette an: „Wenn wurde, da war er als Kopfballspieler ge- sich zur Autogrammstunde in einem Disich mal Bundesliga spiele, kann ich das fragt. Bei Werder musste er sich seinen countmarkt vor eine rote Werbewand zwiauch.“ Ja klar, meinte abwinkend der Platz in der Kette von Kombinationen su- schen Boxershorts und Motoröl. Die Leute mögen diese BodenständigFreund, und Klose verstand nicht, wel- chen und sich ans Spieltempo gewöhnen: chem Teil der Wette die Ironie galt. Er be- „Hier war alles viel schneller.“ Das Beste, keit. Am Spielerausgang des Weserstasorgte sich eine Sprungmatte und übte. Der das einem lernenden Talent passieren kann. dions, wo die Autogrammjäger warten, Klose jedoch kam eine Annäherung an- trug er neulich auch nach dem Duschen Freund hatte eher den angekündigten Bunfangs unmöglich vor: „Wie zwei Pluspole“ wieder ein grünes Werder-Shirt. Er sah aus desligaeinsatz gemeint. Nach seinem Treffer zum 2:0-Sieg gegen hätten sich Mannschaft und Neuzugang zu- wie ein Fan. Dann sprach ihn ein Mann Bremen am 20. Oktober 2000 sprang der einander verhalten. „Die Mannschaft hat auf Polnisch an, ein Souvenirsammler, den Kaiserslauterer Klose seinen ersten Salto. meine Laufwege nicht gefunden.“ Die Mit- er schon länger kennt. Klose schenkte dem Mann ein Trikot. Es war kein WerderEr lernte immer schnell. Nach der WM besorgte ihm Berater Schütt eine Medien- * Mit Thomas Gottschalk in „Wetten, dass …?“ am Hemd, sondern ein rot-weißes. Podolskis Trikot. schulung, der Anwalt Michael Becker, als 4. März in Frankfurt am Main. Jörg Kramer 144 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Fußballanhänger Marías MONTSERRAT VELANDO / CONTACTO / AGENTUR FOCUS „Ein bisschen Angst vor den Deutschen“ WM-GESPRÄCH „Immer etwas Dramatisches“ Der spanische Schriftsteller und Fußballfan Javier Marías über seine Erwartungen an die Weltmeisterschaft, Stilfragen auf dem Rasen und seine Erinnerung an die „Schande von Gijón“ Marías, 54, zählt zu Spaniens bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Der Literaturprofessor ist bekennender Verehrer von Real Madrid. 2000 veröffentlichte er ein Buch mit Essays über den Fußball: „Alle unsere frühen Schlachten“. Jüngst erschien der zweite Band der Trilogie „Dein Gesicht morgen. 2 Tanz und Traum“. SPIEGEL: Señor Marías, ein Bekenntnis zur Fußball-Leidenschaft, die früher als anstößig galt, gehört bei Künstlern heute fast schon zum guten Ton. Warum ist der schweißtreibende Kampf um die Kugel derart gesellschaftsfähig geworden? Marías: Man dachte vielleicht, es wäre frivol, über solch populäre Dinge zu reden. In Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Kramer und Michael Wulzinger. 146 der Zeit des Franco-Regimes war es in Spanien schon aus politischen Gründen nicht gut angesehen. Tatsächlich hat der Franquismus ja auch den Fußball benutzt – etwa um eine Massenteilnahme an Arbeiterdemonstrationen zu verhindern, indem man zeitgleich ein Spiel übertragen ließ. Noch immer ist man allerdings in der Minderheit, wenn man als Schriftsteller öffentlich zugibt, dass man sich für Fußball interessiert. Mir sagen Leser oft, das passe nicht zu mir, das sei nicht seriös. SPIEGEL: Passt es denn zu Ihnen? Marías: Ja, denn wenn ich über Fußball spreche, dann auf eine natürliche Art. Nicht künstlich oder kunstvoll wie andere Schriftsteller, die irgendwelche Parallelen entdecken wollen. So, als schämten sie sich, dass ihnen Fußball gefällt. Als suchten sie eine Rechtfertigung: Fußball sei schließlich eine Metapher für Gott weiß was. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 SPIEGEL: Ersatzreligion, Spiegel der Gesellschaft, so heißt es oft. Oder, wie der Verhaltensforscher Desmond Morris meint: eine rituelle Form der Jagd. Die Waffe werde zum Ball, die Beute zum Tor. Marías: Mir erscheint das alles an den Haaren herbeigezogen. Wenn ich Artikel über Fußball schreibe, suche ich mir keine intellektuellen Vorwände. SPIEGEL: Wie viel planen Sie von der Weltmeisterschaft zu sehen? Marías: Vom 9. Juni bis zum 9. Juli werde ich mich von Verpflichtungen freihalten. Allerdings muss ich am dritten Buch meiner Trilogie schreiben. So werde ich einige Nachmittagsspiele aufzeichnen, um sie später anzuschauen. Das mache ich gelegentlich, aber es ist fürchterlich schwer, das Ergebnis nicht vorher mitzubekommen. Wenn Real Madrid im Europacup spielt, bemerkt man zum Beispiel eine seltsame Stille in der Stadt, wenn das Team verloren hat. Häufig hat auch der Taxifahrer das Radio an. Wie oft habe ich mir im Taxi schon die Ohren zugehalten! SPIEGEL: Der Fußball ist so allgegenwärtig und transparent, dass man automatisch viel über die Mannschaften aus aller Welt erfährt. Beflügelt dieses Wissen Ihre Fußballbegeisterung? Marías: Eigentlich haben Weltmeisterschaften etwas verloren. Als die Vereinsspiele aus anderen Ländern noch nicht so extensiv im Fernsehen ausgestrahlt wurden, hatte das Turnier noch ein Überraschungspotential. Heute kommt Argentinien mit Spielern, die wir alle aus ihren Mannschaften in Italien, Spanien oder England kennen. Wir sehen nur etwas mehr vom Gleichen. Ich finde das schade. SPIEGEL: Was reizt Sie an der WM? Marías: Vor allem, dass viel Fußball zu sehen sein wird. Für mich ist ein Fußballspiel immer etwas Dramatisches. Jedes ist anders, und oft gibt es eine Wendung des Schicksals wie im Theater. Als der AC Mailand im vorigen Jahr im Finale der Champions League 3:0 führte, konnte niemand erwarten, dass Liverpool noch aufholen würde. Das ist spannend wie ein Roman oder ein Film. Und was die WM angeht, so habe ich einen besonderen Favoriten: Trinidad und Tobago. SPIEGEL: Wegen der Exotik? Marías: Und wegen der geografischen Nähe zu der unbewohnten Karibikinsel Redonda … SPIEGEL: … deren König Sie quasi sind. Sie wurden zum Chef der gleichnamigen Künstlergemeinschaft gekürt – zu Xavier I. Marías: Ja, und der berühmteste Spieler von Trinidad und Tobago, Dwight Yorke, ist schon 34. Das ist alles sehr sympathisch. SPIEGEL: Was, glauben Sie, kann der deutsche Fußball zum Gelingen der WM beitragen? Sport Marías: Im dritten Jahr in Folge wird es keinen Titel geben, das ist zuletzt 1951 passiert. Das Problem ist offenbar, dass Spieler wie Zidane, Beckham oder Raúl sich von einem Trainer nichts mehr sagen lassen. Sie müssen sich das so vorstellen, als wenn ich zu William Faulkner, Vladimir Nabokov oder Thomas Mann sagte: So, mein Lieber, dieses Buch hier können Sie noch etwas verbessern. Das wäre doch absurd. Lächerlich. Die würden eine Augenbraue hochziehen und mich mit ihren Blicken zerschmettern. Es ist schwierig, diese Art von Spieler zu disziplinieren. SPIEGEL: Benötigen sie eine starke Hand? Marías: Ich frage mich: Wozu sind Trainer eigentlich da, wo doch die großen Stars schon genug über Fußball wissen? Ich denke, der Trainer dient dazu, eine Tonalität zu vermitteln, einen Geist, eine Art Haltung. Er muss sich die Bewunderung der Spieler verdienen. Der letzte, der das bei Real Madrid nach meinem Gefühl konnte, PAUL MARRIOTT / IMAGO Marías: Man hört, dass er derzeit etwas heruntergekommen ist. Wir Spanier haben immer ein bisschen Angst vor den Deutschen gehabt. Ich erinnere mich gut an das Finale bei der WM in Spanien 1982. Jeder hier war für Italien, gegen die Deutschen. Schon wegen ihres schrecklichen Vorrundenspiels gegen Österreich in Gijón. SPIEGEL: Bei dem sich die Mannschaften offenbar auf ein Ergebnis, das beiden half, einigten und sich dann nicht mehr rührten. Marías: Und Leidtragende waren die Algerier, die ausschieden. Der Spielbericht erschien in einer spanischen Zeitung unter der Rubrik „Verbrechen“. Als dann also Deutschland im Finale beim Stand von 3:0 für Italien plötzlich ein Tor schoss, dachten wir alle: Um Gottes willen, die werden doch nicht … Solchen Respekt hatte man vor ihnen: Nie konnte man davon ausgehen, dass sie besiegt sind. Deutschland war als Mannschaft immer sehr stürmisch. Das machte sie schon mal nicht langweilig. Real-Star Ronaldo (M., im März gegen Arsenal London): „Etwas mehr vom Gleichen“ SPIEGEL: Früher wurden die Deutschen Günter Netzer, Paul Breitner, Uli Stielike bei Real Madrid verehrt. Hätten Sie Michael Ballack, der jetzt nach England geht, auch gern bei Ihrem Lieblingsclub spielen sehen? Marías: Im Moment weiß ich gar nicht, wen oder was ich in meinem Club gern sehen würde. Wir „madridistas“ sind ein bisschen verwirrt. Die Politik, große Stars einzukaufen und sie dann in einem Team zusammenzuwürfeln, scheint ja nicht so gut funktioniert zu haben. Ich weiß nicht, ob Ballack der Retter hätte sein können. Er ist sicher sehr gut, aber nicht der entscheidende Spieler. So etwas hat Johan Cruyff seinerzeit mit dem FC Barcelona geschafft, er holte den Club aus einer Depression. SPIEGEL: Braucht Madrid einen Erlöser? d e r war Fabio Capello. Den haben sie geachtet. Ihm wollten sie es zeigen, um wenigstens ein Schulterklopfen von ihm zu erhaschen – so nach dem Motto: Gar nicht schlecht gemacht, mein Junge. Bei den anderen denke ich: Über die lachen sie. Ein Ballack würde mitlachen. Den würden sie hier anstecken und verderben. SPIEGEL: Sind Sie ein Fußball-Nostalgiker? Marías: Ach, na ja. Neulich sah ich Bayern München spielen, es waren genau zwei Deutsche dabei: Kahn und Deisler. Später kam noch einer. Lamm? SPIEGEL: Philipp Lahm, der Verteidiger. Marías: Okay. Dann sah ich Arsenal London: kein Engländer im Team. Inter Mailand ohne einen Italiener. Das scheint mir eine Perversion zu sein. Als Kinder spielten wir für unsere Schule gegen die Mann- s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 147 M. VELANDO/CONTACTO/AG. FOCUS GPG / PIXATHLON SPIEGEL: Sie haben Spaniens Nationaltrainer Luis Aragonés zuletzt verteidigt, als der den Franzosen Thierry Henry im Gespräch mit dem Stürmer José Antonio Reyes einen „Scheißneger“ nannte. Warum? Marías: Erstens war es ein privates Gespräch zwischen den beiden. Zweitens ist die Übersetzung problematisch, für viele Spanier ist der Begriff kein rassistischer Anwurf. In der spanischen Umgangssprache werden Beleidigungen manchmal liebevoll verwendet: Wie gut spielt dieses Arschloch! Hätte Aragonés sich auf den Tschechen Pavel Nedv¥d bezogen, hätte er auch bloß gesagt: Zeig dem Scheißblonden, dass du besser bist. Ich erzähle Ihnen zum Verständnis eine Geschichte. SPIEGEL: Bitte. WM-Teilnehmer Trinidad und Tobago: „Wendung des Schicksals wie im Theater“ Marías: Vor 20 Jahren, als ich in den USA einen Kurs leitete, sprach ich mit einem schaft der anderen Schule. Wenn Kinder SPIEGEL: Können Sie das präzisieren? Wie Kollegen an der Uni über eine Gruppe Studentinnen, die in der Nähe stand. Er sagte: von außerhalb hinzukamen, sagten wir: ist der italienische Stil? Nein, hier spielen nur die aus unserer Marías: Die Italiener stapeln immer tief. Die mit den Jeans ist intelligent. Es trugen Schule, nur aus dieser Stadt. Es muss doch Ginge es um eine Liebeseroberung, müss- aber drei von den vier Mädchen Jeans. Ich te man sagen: der Typ Mann, der versucht, fragte: Welche denn? Er antwortete: Die ein Element der Identifikation da sein. SPIEGEL: Sie waren als Kind schon für das bei der Frau etwas Mitleid zu erheischen. das Haar offen trägt. Es hatten aber drei ihr Tritt schüchtern auf, und im unerwar- Haar offen. Das ging so hin und her, er verSpiel entflammt? Marías: Neulich habe ich mir auf dem teten Moment legt er die Karten auf den suchte einfach zu vermeiden zu sagen: die Flohmarkt das Sammelbilder-Album der Tisch. Vier Asse. Die Franzosen dagegen Schwarze. Dabei wäre der Begriff rein deSaison 1958/59 beschafft, das ich schon als sind naiver, fröhlicher. Haben Spaß am skriptiv gewesen – wie der Blonde oder die Kind besaß. Großartig, nicht? Ich weiß schönen Spiel. Um auf das spanische Team Dünne. Für mich war der Kollege ein Rassist. noch: Es war ganz schwierig, das Bild von zurückzukommen: Ich leide nicht mit ihm. SPIEGEL: Ihr Urteil fällt oft hart aus. Als der Mendonça, einem Spieler von Atlético Wenn es ganz schlecht spielt, bin ich so- FC Valencia 2001 im Elfmeterschießen das Madrid, zu bekommen. Ich habe es im gar in der Lage, mitten im Spiel die Fern- Champions-League-Finale gegen Bayern Tausch erhalten gegen viele andere Bilder, bedienung zu nehmen und zu sagen: München verlor und Torwart Santiago einschließlich des kleinen Fotos meiner Das war’s. Cañizares hemmungslos heulte, fanden Sie Tante Tina. Sie war sehr hübsch. Einer der SPIEGEL: In einem Ihrer Fußball-Artikel das zum Schämen. Darf ein Geschlagener Jungen mochte sie halt. Jetzt ist sie 80. Ich schreiben Sie von einem wöchentlichen nicht weinen? habe mich neulich in einem Artikel bei ihr Wiedereintauchen in die Kindheit. Was Marías: Jeder, der in der Niederlage eine entschuldigt, dass ich sie mit sieben Jahren meinen Sie genau damit? würdige Haltung einnimmt, kann einen befür einen Fußballspieler verkauft habe. wegen. Aber nicht einer, der vor unseren Augen zusammenbricht, ein SPIEGEL: Ihr Schriftstellerkollege Péter „Selbst beim Liebes- Handtuch um das Gesicht schlägt und Esterházy sagte, er schaue Fußball am so eine hysterische Nummer aufführt. liebsten allein. In Gesellschaft beginne man kummer wird man gibt auch eine Würde innerhalb über das Spiel zu reden, dann sehe man es kühler. Beim Fußball Es der Traurigkeit. Auch die Mitspieler nicht. Wie sind Ihre Sehgewohnheiten? bleiben Gefühle ließen den Torwart links liegen, Marías: Es hängt vom Spiel ab. Wichtige Partien sehe ich konzentriert und allein. und Erregung gleich.“ während sein Gegenüber Oliver Kahn ihn tröstete. Sie mochten dieses ProtNun, es gibt Ausnahmen. Ich habe eine agonistentum nicht. Cañizares war ja Freundin, die aus Barcelona kommt. Sie nicht der Einzige, der verloren hatte. ist Barça-Fan. Wir sehen uns etwa einmal im Monat für eine Woche. Einmal fiel die Marías: Nur beim Fußball benimmt man SPIEGEL: Müssen die Stars Vorbilder Partie Barcelona gegen Real in eine solche sich mit 30 oder 40 noch wie ein Zehn- sein? Woche. Da haben wir uns gefragt: Was ma- jähriger. Sonst wird man ja mit der Zeit Marías: Es reicht, wenn sie Fußball spielen chen wir jetzt? Geht einer raus in die Bar? zurückhaltender, selbst beim Liebeskum- und vermeiden, dem Gegner die Knochen mer wird man kühler. Beim Fußball blei- kaputtzutreten. Andererseits gibt es Dinge, Wir haben es zusammen angesehen. ben Gefühle und Erregung gleich. Ein Tor die es früher im Fußball nicht gab und die SPIEGEL: War es sehr schlimm? Marías: Sie war ein bisschen provokant, ruft bei so vielen erwachsenen, zivilisierten mich heute sehr nervös machen. Dass die hat das Barcelona-Wappen auf den Fern- Menschen gleichzeitig eine solche unmit- Spieler einander der Schauspielerei beseher gestellt. Allein ist es besser. Andere telbare Begeisterungsexplosion hervor, da zichtigen, gelbe oder rote Karten für den Gegner fordern. Oder dass sie, wenn ElfSpiele sind mir nicht so wichtig. Ein WM- gibt es nichts Vergleichbares. Finale etwa, da ist Spanien ja eh nie dabei. SPIEGEL: Gibt es wohl eine Art Grundbe- meter gepfiffen wird, schon anfangen zu SPIEGEL: Seit zehn Jahren gilt Spaniens Liga dürfnis nach solchen Emotionen, die dann jubeln, bevor geschossen ist. Früher gab es mehr Würde, mehr Edelmut, auch mehr als die stärkste der Welt. Spaniens Natio- beim Fußball befriedigt werden? nalteam gewinnt jedoch seit 1964 keinen Marías: Sie meinen, dass das Bedürfnis zu- Respekt gegenüber dem Gegner. Vielleicht Blumentopf. Haben Sie eine Erklärung? erst da ist, vor dem Fußball? Da bin ich mir bin ich aber auch schon ein etwas anMarías: Die spanische Mannschaft hat nie nicht so sicher. Ich glaube, dass der Fußball tiquierter Zuschauer. einen eigenen Stil entwickelt. Andere, wie so ein Bedürfnis nach kindlichem Verhal- SPIEGEL: Señor Marías, wir danken Ihnen Italiener, Franzosen, Brasilianer, haben den. ten überhaupt erst provoziert. für dieses Gespräch. 148 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ALAMY KEVIN BOOTH Wissenschaft · Technik Prisma Ruine der Klosterkirche von Bylands Abbey Destillierkolben GESCHICHTE Mönche als Alchemisten? D er Fund eines Destillierkolbens in der britischen Abtei von Bylands (Grafschaft Nord-Yorkshire) erhärtet den Verdacht, dass die dortigen Zisterzienser-Mönche im 15. Jahrhundert Alchemisten – also dem Aberglauben verfallen – waren. Gefäße dieser Art wurden normalerweise zusammen mit einer Art Stövchen verwendet, in dem spezielle Mixturen am KRIMINALISTIK Lügendetektor entschlüsselt Mimik inzige Zuckungen der Gesichtsmuskeln des Menschen können W verraten, ob jemand die Wahrheit sagt Köcheln gehalten wurden. Die Dämpfe aus den Suden gelangten durch eine kleine Öffnung in den auf dem Stövchen sitzenden Destillator und wurden von dort über Röhren in eine Kondensiervorrichtung geleitet. „Da wir keine chemischen Spuren auf der Oberfläche des Kolbens gefunden haben, können wir nicht sicher sagen, wofür er genutzt wurde“, erklärt Kevin Booth, Kurator bei der englischen Altertümerverwaltung. Denkbar wäre die Herstellung von Arzneimitteln oder von geistigen Getränken für die klostereigenen Pichelbrüder. Anhaltende Gerüchte brachten die abgelegene Abtei allerdings immer wieder in Zusammenhang mit alchemistischen Machenschaften. In einem Brief von 1470 berichtete einer der dort lebenden Mönche explizit, dass es ihm gelungen sei, eine Mixtur aus verschiedenen Metallen in Gold zu verwandeln. scher wissen, dass sie in allen Kulturen der Welt mit Lügen und Verheimlichen assoziiert sind: „Die nur kurz aufblitzenden Zeichen stammen von unbewussten Muskelkontraktionen – wenn diese Mikrozuckungen von verborgenen Gefühlen getriggert werden, ist es fast unmöglich, sie zu kontrollieren“, erklärt Frank. Vom Entlarvungsprogramm des US-Sozialpsychologen profitieren bereits Verhörprofis vom Los Angeles Police Department und von Scotland Yard in London. d e r s p i e g e l Männer leben gefährlicher E UIP / CINETEXT oder etwas zu verbergen sucht. Bisher war es für Ermittler eine Frage von Intuition und Erfahrung, verdächtige Signale im Gesicht zu erkennen und richtig zu interpretieren. Jetzt hat der US-Sozialpsychologe Mark Frank von der State University of New York in Buffalo ein Computerprogramm entwickelt, mit dem auch weniger versierte Kriminalisten in die Seele Verdächtiger blicken können. Die Lügendetektor-Software erkennt auf Videobändern von Verhören automatisch jedes noch so kleine Zwinkern und Blinkern im Gesicht potentieller Delinquenten. Registriert werden vor allem Muskelregungen, von denen die ForPolizeiverhör (Filmszene) GESUNDHEIT 2 0 / 2 0 0 6 in US-Psychologe glaubt eine evolutionäre Erklärung für die geringere Lebenserwartung von Männern gefunden zu haben: das Buhlen um Frauen. Nicht anders als viele ihrer Geschlechtsgenossen im Tierreich legen Männer riskante Verhaltensweisen an den Tag, um die Aufmerksamkeit von Partnerinnen zu erregen: Sie prügeln sich, protzen mit schnellen Autos und setzen ihre Gesundheit durch einen auch sonst wenig schonenden Lebensstil aufs Spiel. Weil die Lebenserwartung im Allgemeinen steigt, erklärt Psychologe Daniel Kruger von der University of Michigan, „erhalten solche Ursachen von Todesfällen einen eher höheren Stellenwert“. Vor allem für Männer mit niedrigem sozioökonomischem Status stellten gefährliche Balz- und Konkurrenzrituale ein hohes Gesundheitsrisiko dar. 151 Wissenschaft · Technik Prisma Goldhamster am Futtertrog OKAPIA Diese Beobachtungen machten Experten am Animal Center der National Institutes of Health in Maryland mit Hilfe eines Testapparats, der für jedes Tier gesondert aufzeichnete, wie oft es sich an einer gesüßten Ethanollösung bedient hatte. Die Folgen übermäßigen Alkoholgenusses waren ähnlich wie beim Menschen Torkeln, Sichübergeben und Einschlafen. Die haarigen Trinker bewiesen nicht nur Vorlieben für bestimmte Geschmacksrichtungen, sie legten auch unterschiedliche Alkoholverträglichkeiten an den Tag. „Da zeigen sich wichtige Parallelen zum menschlichen Alkoholismus“, glaubt Kathleen Grant, Wissenschaftlerin am Oregon National Primate Research Center. Goldhamster teilen mit den Menschen hingegen ein anderes Laster: Sie neigen bei Stress zu unkontrollierten Fressattacken. Während Mäuse oder Ratten weniger zu sich nehmen, wenn sie unter Anspannung stehen, sammeln Hamster unter Druck gewaltige Speckpolster an. Das stellten Forscher der Georgia State University bei Testtieren immer dann fest, wenn zwei dieser Einzelgänger gemeinsam in einem kleinen Käfig gehalten und damit in gehörige Aufregung versetzt wurden. TIERE Betrunkene Affen, Hamster mit Stressspeck T iere sind auch nur Menschen – das zeigen aktuelle Studien aus der Verhaltensforschung. Rhesusaffen trinken mehr Alkohol, wenn sie allein eingesperrt sind als in angenehmer Gesellschaft. Nach einem anstrengenden Tag genehmigen sie sich gern mal einen Drink. Rangniedere männliche Tiere tendieren dabei eher dazu, sich sinnlos volllaufen zu lassen. B O TA N I K OKAPIA Pflegeleichter Kurzrasen ästiges Rasenmähen gehört vielleicht schon bald der Vergangenheit L an. Biologen vom kalifornischen Salk Gartenbesitzer beim Rasenmähen ENERGIE Rotor auf dem Dach it einem Mini-Windrad auf dem Dach könnten private Haushalte M ihre Stromkosten reduzieren. Die von der australischen Firma The SolarShop in Adelaide entwickelten Rotoren stehen immer richtig im Wind, weil sich ihre Blätter nicht um eine horizontale, sondern um eine vertikale Achse dre152 Institute ist es gelungen, die molekulare Signalkette jener Hormone zu entschlüsseln, die für das Wachstum von Pflanzen mitverantwortlich sind. Diese sogenannten Brassinosteroide kommen in fast allen Pflanzenzellen vor und beeinflussen nicht nur die Aktivität der Gene, die das Gedeihen der Pflanzen steuern, sondern auch den Prozess der Zellalterung. „Ohne die Steroide bleiben Pflanzen unfruchtbare Zwerge mit unterentwickelten Gefäßsystemen und Wurzeln“, erklärt Forscherin Joanne Chory. Durch Manipulationen am Signalweg glauben die Biologen in Zukunft eine verbraucherfreundlichere Flora schaffen zu können. Das Spektrum reicht vom nur noch selten zu mähenden Rasen über kompaktere Stadtbäume bis zu Beerengewächsen, zu denen man sich nicht mehr bücken muss. könnten dann anschließend hen. Sie benötigen daher auch bei der jährlichen Stromrechgeringere Windgeschwindigkeinung Abschläge geltend maten als herkömmliche Turbinen chen. Die geeignetsten Aufund sind nach Angaben der stellungsplätze sind laut HerFirma leiser und wenig störansteller höhere Gebäude oder fällig. Für Vögel stellen die RoTürme in küstennahen Gegentoren keine Gefahr dar, weil den. „Wer die Windräder an sich ihre Schaufeln nur langMini-Windrad der falschen Stelle montiert, sam bewegen. Geplant ist, schmeißt sein Geld zum Fenster hindass die in etwa einem Jahr lieferbaren aus“, warnt Firmenmanager Adrian Anlagen die gewonnene Energie direkt Ferraretto. ins Stromnetz einspeisen; ihre Besitzer d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Technik ROBOTER Aufmarsch der Stahlsoldaten Schon länger setzt die US-Armee in Afghanistan oder im Irak Roboter ein. Auf einem Truppenübungsplatz bei Würzburg lässt nun auch die Bundeswehr Maschinen gegeneinander antreten. Doch die Kreationen der Tüftler scheitern oft noch an den Tücken des Alltags. T SCOTT NELSON / GETTY IMAGES räge schleppt sich Asendro die Treppe hoch, bis er vor der geschlossenen Tür steht. Lauert dahinter eine Bombe oder ein bewaffnetes Terrorkommando? Egal, er kennt keine Angst. Sein Arm fährt aus, er drückt die Klinke und öffnet die Tür ins Unbekannte. „Asendro“ ist ein Wachschutzroboter der neuesten Generation. Mit seinen rund 40 Kilogramm Gewicht wirkt er wie ein Spielzeugpanzer. Mit dem Arm kann er Türen öffnen und so mit seinen Videoaugen Orte erkunden, die für Menschen zu eng oder zu gefährlich sind. Seit Wochen steuert Jens Hanke seinen ferngelenkten Wachmann mit Hilfe eines Sensorhandschuhs und eines Computers kreuz und quer über die Flure des vor sechs Jahren gegründeten Unternehmens Robowatch im Ost-Berliner Bezirk Pankow. Bis spät in die Nacht und auch an Wochenenden ist er am Tüfteln. Denn diese Woche soll der Roboter seinen großen Einsatz haben: auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg nördlich von Würzburg. Dort lädt die Bundeswehr vier Tage lang zur „Europäischen Landroboterschau“ („Elrob 2006“), der ersten Veranstaltung dieser Art in Europa. 33 Firmen und 14 wissenschaftliche Einrichtungen aus neun europäischen Ländern haben sich angemeldet, um Roboter vor fachkundigen Zuschauern aus Militär, Feuerwehr und Zivilschutz zu präsentieren. UNIVERSITÄT KARLSRUHE Aufklärungsroboter von iRobot (in Afghanistan): Erkundung der Taliban-Höhlen Experimentalroboter „Ravon“ Überlegenheit im Unterholz 154 Mit dem möglichen Einsatz von Landrobotern betritt die Bundeswehr Neuland. Zwar setzt das Heer seit über 30 Jahren unbemannte Flugzeuge („Drohnen“) ein, aber am Boden tat sich bislang wenig: Zurzeit ist „Teodor“ der einzige stählerne Rekrut – ein Entschärfungsroboter, der mittlerweile von Militär und Polizei in 30 Ländern eingesetzt wird. Im Juni 2003 gelangte der Automat, hergestellt von der Firma Telerob aus Ostfildern, zu kurzer Berühmtheit, als er zum Räumen einer Bombe im Dresdner Hauptbahnhof eingesetzt wurde. Bei anderen Militärs gehören Roboter weit mehr zum Alltag. Als die US-Armee in den Höhlensystemen von Afghanistan auf erbitterten Widerstand der Taliban stieß, schickten die Soldaten sicherheitshalber „Packbot“-Roboter voraus, um die Gänge zu erkunden. Hergestellt werden die Geräte von der amerikanischen Firma iRobot, die vor allem durch den Staubsaugerroboter „Roomba“ bekannt wurde. Auch zum Entschärfen von Minen oder „behelfsmäßigen Sprengvorrichtungen“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 (IEDs) werden Roboter bereits häufig eingesetzt. Rund ein Drittel der bisher im Irak getöteten US-Soldaten fiel solchen Waffen zum Opfer, die oft durch Bewegungsmelder oder per Handy ausgelöst werden. Ferngelenkte Aufklärungsroboter und vollautomatische Transportfahrzeuge helfen neuerdings, das Risiko zu mindern. Mehr noch: In einem Kraftakt will das Pentagon in den nächsten Jahren die Streitkräfte mit dem sogenannten Future Combat System zu einer wahren Roboterarmee umrüsten. Zum „Kampfsystem der Zukunft“ gehören neben kleinen Aufklärungsrobotern (SUGVs) auch Transportsysteme mit dem Kürzel „Mule“, die wie ein Muli der kämpfenden Truppe folgen und deren Rucksäcke und Munition schleppen. Sogar Transportfahrzeuge und Kampfpanzer sollen sich künftig fernsteuern lassen. Die geschätzten Kosten für die Armada aus Fernlenkfahrzeugen sind immens und dürften zwischen 90 und 150 Milliarden Dollar liegen. Um die Entwicklung zu beschleunigen, loben die Militärs immer wieder spekta- STEPHANIE PILICK / PICTURE-ALLIANCE/ DPA Wachroboter „Asendro“ (in Berlin)*: Schnitzeljagd zwischen Stacheldraht und Ruinen kuläre Wettbewerbe aus. Voriges Jahr beispielsweise ging es beim „Grand Challenge“ darum, ein Geisterauto vollautomatisch und ohne Fernsteuerung 131 Meilen weit über eine Piste durch die Mojave-Wüste fahren zu lassen – das Gewinnerteam schaffte die Strecke in knapp unter sieben Stunden. Die Belohnung: zwei Millionen Dollar. Verglichen mit derlei Aufwand nimmt sich das Elrob-Treffen der Bundeswehr vergleichsweise bescheiden aus. Einen Sieger gibt es nicht und damit auch kein Preisgeld. Nicht einmal Aufträge sind in greifbarer Nähe, denn ein Anschaffungsetat fehlt ebenfalls noch. Zudem müssen die Teilnehmer sogar selbst für ihre Unterkunft zahlen. Dieses Klein-Klein scheint wichtige Teilnehmer abzuschrecken: Der Rüstungskonzern EADS etwa hat wieder abgesagt. Unklar ist zudem, welche Art von Robotern die Bundeswehr genau sucht. Ein Hauptziel von Elrob ist die „Entwicklung revolutionärer Technologien“, heißt es schwammig im Regelwerk. Außerdem sol* Vorgeführt von einem Mitarbeiter der Firma Robowatch. len die Roboterfahrzeuge „keine Tiere an Bord haben“. „Auf konkrete Nachfragen hin habe ich meist nur eine vage Antwort bekommen“, wundert sich zum Beispiel Andreas Birk von der International University Bremen, dessen Team im April in Atlanta beim Wettbewerb US Open der Rettungsroboter gewonnen hat. Dennoch will auch er in Hammelburg dabei sein – allein schon aus Neugier, was die Kollegen so treiben. Beim Wettkampf in Hammelburg stehen für die digitalen Rekruten zwei Parcours im Mittelpunkt: Entweder müssen sie sich einen Kilometer weit querfeldein durchschlagen – wobei Hindernisse wie Felsen oder Militärgerät den Weg versperren könnten. Oder aber der Weg führt sie etwa 500 Meter durch die Geisterstadt Bonnland, die seit 1937 als Trainingskulisse für den Häuserkampf dient. Dort sollen die Roboter sich zwischen Stacheldrahtverhauen, Pfützen, Feuern und Trümmern hindurchwinden und versuchen, in Häuser einzudringen und wie bei einer Schnitzeljagd bestimmte Objekte ausfindig zu machen. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 So allgemein diese Anforderungen sind, so bunt ist das Teilnehmerfeld. Neben einzelnen Kettenfahrzeugen ähneln viele Gefährte in diesem bunten Bestiarium dem legendären Roboterauto „Herbie“, das ohne Fahrer durch eine bekannte Kinokomödie kurvte. So tritt ein umgebauter Smart mit Namen „Smarter“ ebenso an wie ein ursprünglich für behinderte Fahrer elektronisch aufgemotzter Mercedes. Aber auch raupenähnliche Radfahrzeuge sind dabei, deren Segmente sich gegeneinander verwinden können, etwa beim „Roburoc6“ der französischen Firma Robosoft. Eines der erstaunlichsten Systeme ist „Satellite on the Move“: eine Art Buggy, der per Satellit aus über tausend Kilometern Distanz fernsteuerbar sein soll, vorgestellt von der bayerischen Firma Base Ten Systems. Vorsichtshalber heißt es in den Teilnahmeregeln: Jeder Roboter muss mit einem Not-Ausschalter versehen sein. Sogar Hobbybastler sind am Start, darunter vier französische Ingenieure aus Angers mit ihrem „Home Made Robot 2“, den man wohl eher auf einer Spielzeug155 Technik messe erwarten würde als auf einem Truppenübungsplatz. Doch Spielzeuge müssen nicht zwangsläufig unbrauchbar sein, wie die Erfahrungen der US-Armee zeigen: Im Irak zum Beispiel setzen Soldaten teils fernsteuerbare Miniaturautos vom Elektronik-Discounter Radio Shack ein, um sich vor Bomben zu schützen. Wenn sie einen Karton auf der Straße erblicken, lassen sie das Spielzeuggefährt dagegenrumsen. Bleibt der Karton stehen, weil ein schwerer Gegenstand darin ist, rufen die Soldaten das Minenräumkommando. Ansonsten fahren sie einfach weiter. Oft sei der größte Gegner von Militärrobotern nicht der Feind, sondern die Tücken der Technik, sagt Hagen Schempf von der Carnegie Mellon University, der Vorsichtshalber heißt es in den Regeln: Jeder Roboter muss einen Not-Ausschalter haben. sich seit Jahren mit dem Thema befasst: Schon eine quergestellte Couch könne einen Flur für kleine Spähroboter unpassierbar machen. „Viele europäische Entwickler sind theoretisch auf dem neuesten Stand“, so Schempf. „Aber sie haben oft kaum Erfahrungen mit dem Einsatz unter Realbedingungen in Krisengebieten.“ Umso unverständlicher findet es Schempf, dass bei der Elrob der Bundeswehr ausschließlich europäische Teams teilnehmen dürfen: „Wer sich einen Überblick verschaffen will, sollte die Suche möglichst breit anlegen.“ „Für das Heer hat der Schutz der Soldaten im Einsatz Priorität“, definiert das Verteidigungsministerium auf Nachfrage ein Ziel der Schau. Doch unklar bleibt dabei, wie man das beste System zum Schutz vor Sprengfallen und Scharfschützen finden will, wenn man US-Firmen wie iRobot nicht zulässt und damit auf die teuer erkaufte Praxiserfahrung mit Irak-erprobten Geräten wie dem „Packbot“ verzichtet. Noch aus anderen Gründen beäugen viele Akademiker misstrauisch das Interesse der Bundeswehr an ihren Konstruktionen. „Ich sehe das militärische Interesse an der mobilen Robotik mit einem lachenden und einem weinenden Auge“, sagt etwa Martin Proetzsch von der Universität Kaiserslautern, dessen Team mit dem Allradfahrzeug „Ravon“ vor allem beim autonomen Querfeldeinfahren durchs Unterholz punkten will. Am liebsten wäre es ihm, wenn sein Fahrzeug eingesetzt würde, um Leben zu retten. Doch wo liegt die Grenze in dieser Grauzone? Proetzsch kritisiert etwa die Aufrüstung von Robotern mit fernsteuerbaren Waffen, welche die US-Armee betreibt. „Das finde ich unverantwortlich“, so Proetzsch, „die Systeme sind noch viel zu unzuverlässig.“ Hilmar Schmundt 156 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Wissenschaft V E R H A LT E N S F O R S C H U N G Tierische Spaßgesellschaft Findet in der Natur nur ein Kampf ums Überleben statt? Stimmt nicht, sagt ein kanadischer Biologe: Auch Tiere treiben Schabernack – und haben sogar einen subtilen Sinn für Humor. F ür Richard Dawkins spielt sich der Alltag der Tiere in einer unbarmherzigen Kampfarena ab. „In der Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe“, so formulierte es 1995 der berühmte britische Zoologe, „werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe gefressen, andere laufen, bebend vor Angst, um ihr Leben.“ Mit großem Erfolg hat Dawkins seine Idee vom „egoistischen Gen“ unter Laien wie Wissenschaftlern verbreitet. Seiner Vorstellung zufolge sind die Geschöpfe dieser Erde nur Biomaschinen, fremdgesteuert von ebenjenen Genen, die sich der Kreatur bedienen, um die Welt für sich zu erobern. Gibt es Zufriedenheit, gar Glück fürs Gekreuch? Keine Chance! Ein ganz anderes Naturbild zeichnet jetzt der kanadische Verhaltensforscher Jonathan Balcombe. Die Welt der Tiere sieht er eher als „vergnügliches Königreich“ – so lautet denn auch der Titel seines soeben erschienenen Buchs, das sich erstmals nur mit den schönen Dingen in * Jonathan Balcombe: „Pleasurable Kingdom – Animals and the nature of feeling good“. Macmillan, Houndmills; 274 Seiten; 26,33 Euro. der Welt der wilden Kreaturen beschäftigt: mit Freude, Lust und Lachen*. Balcombe hat in Wäldern und Savannen geradezu eine tierische Spaßgesellschaft ausgemacht; Spiel und Genuss triumphieren darin über den angeblich so unerbittlichen Kampf um die nackte Existenz. „Tiere sind vergnügungssüchtig“, sagt Balcombe, „so wie wir.“ Das Leben, glaubt er, „ist für viele von ihnen durchaus lebenswert“. Manche Tiere lieben etwa völlig sinnfreie Rutschpartien. So schlittern und kullern Raben gern Hausdächer hinunter – und zwar immer wieder aufs Neue und abwechselnd, wie spielende Kinder. In den USA und in Großbritannien wurden die Vögel dabei beobachtet, wie sie rücklings verschneite Hänge hinabsausten; im Bundesstaat Maine scheint es Stil der Saison zu sein, die Pisten bäuchlings zu nehmen. Ob Matsch-, Gras- oder Schneehügel – Schlittern gehört auch zu den Trendsportarten bei Pinguinen, Ottern und Bären. In Alaska wurden schon Bisons beim Schlittern auf Eis gesehen. Sogar junge Alligatoren in Zoos scheinen aus reinem Spaß immer wieder ins Wasser zu glitschen. Auch Wasserspiele sind beliebt: Delphine vergnügen sich damit, Luftkringel aus d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 ihren Blaslöchern zu pusten, durch die sie dann, wie im Zirkus, hindurchtauchen oder die sie kunstvoll verschmelzen lassen – ähnlich wie Kinder mit Seifenblasen spielen. Die Meeressäuger werfen auch gern mit Seetang, balancieren ihn oder nutzen ihn für eine Partie Tauziehen. Sogar Tintenfische scheinen einem gelegentlichen Späßchen nicht abgeneigt zu sein: Eine kanadische Kraken-Expertin beobachtete einmal ein Exemplar, wie es eine leere Plastikflasche in den Wasserstrom eines Aquariumschlauchs hielt, fortschleudern ließ, wieder einfing und erneut an die Schlauchmündung bugsierte. „Das Spiel erfüllt viele Funktionen, die einem Tier helfen können, zu überleben und erfolgreich zu sein im Leben“, sagt Balcombe. „So werden sie stärker, lernen Sozialverhalten, trainieren notwendige Talente. Deswegen ist es in der Evolution wahrscheinlich entstanden.“ Nur: In dem Moment, glaubt der Biologe, wo zwei Jungtiere Faxen machten, täten sie dies wohl kaum, um „gute Erwachsene“ zu werden. „Tiere spielen aus Spaß, nicht für einen Zweck.“ Vergnügen, so Balcombe, sei der beste Antrieb, Dinge zu tun, die beim Überleben helfen – das ist beim Menschen auch nicht anders. Beispiel Gewürze: Aus evolutionsbiologischer Sicht hat der Homo sapiens sich gut angepasst, indem er seine Speisen mit Curry, Pfeffer, Paprika und anderen Mitteln schärft – die Ingredienzen helfen unter anderem, gefährliche Keime im Essen abzutöten. Aber wer denkt ans Abwenden einer Infektionsgefahr, wenn er einen Löffel Chili con Carne in den Mund schiebt? Es 157 R. USHER/WILDLIFE (L.); OKAPIA (M. + R.) Im Schnee tollender Braunbär, grimassierender Schimpanse, spielende Zügeldelphine: „Tiere sind vergnügungssüchtig – wie wir“ Wissenschaft gen, wenn Balcombe recht hat. Auch wenn es sich anders anhört als beim Menschen: Schimpansen lachen nicht nur, wenn sie unter den Achseln gekitzelt werden, sondern auch bei Verfolgungsjagden und spielerischen Kämpfchen. Balcombe hat in der Tat eindrucksvolle Anekdoten zusammengetragen, die dafür zu sprechen scheinen, dass Tiere Spaß verstehen, herumblödeln und Schabernack treiben – und zwar gern auf Kosten anderer: • Eine Elefantenkuh in einem Tierpark füllte sich den Rüssel unauffällig mit FACE TO FACE schmeckt einfach gut – Wohlbefinden durchströmt den Körper. „Genuss belohnt adaptives Verhalten“, sagt Balcombe. Die Fähigkeit, sich gut zu fühlen, könne daher kaum „die alleinige Domäne des Homo sapiens“ sein. Zumal die Natur auch die anderen Wirbeltiere als potentielle Hedonisten ausstaffiert hat: Wie der Mensch besitzen sie in der Regel alle fünf Sinne, speziell die anderen Säugetiere sogar vergleichbare Strukturen im Gehirn sowie die gleichen Botenstoffe, die auch dem Menschen Elefant beim Nassspritzen seines Pflegers: Findet er das witzig? Glück oder Schmerz vermitteln, Geborgenheit oder Stress. So gesehen ist es auch keine Frage mehr, ob Vierbeiner, Flügel- und Finnenträger Lust beim Sex empfinden. Dafür sprechen die vielen Beispiele erotischer Rendezvous quer durch die Fauna, die eben nicht dem Zweck der Vermehrung dienen. So lassen sich bei Spinnerdelphinen, Grauund Grönlandwalen wahre Orgien beobachten, ebenso bei Schwalben und Reihern. Viele Geschöpfe treiben es gern außerhalb der Brünftigkeit; und Masturbation komme bei „mindestens sieben Säugetierordnungen vor“, zählt Balcombe auf. Was Homosexualität betrifft, sind vor allem die Bonobos rekordverdächtig: Im Schnitt alle zwei Stunden betreiben Weibchen gleichgeschlechtliches Miteinander. Dabei steht ein Weibchen auf allen vieren über dem anderen; das untere schlingt seine Beine um die Partnerin, und die beiden reiben ihre Genitalien in flottem Tempo aneinander. Während der üblichen 15 Sekunden rubbeln „grinsen, grimassieren und schreien“ die beiden, beschreibt Balcombe. Es sei schwierig, darin kein „intensives Vergnügen“ zu sehen. Aber der Forscher geht eben noch einen Schritt weiter. Selbst über einen subtilen Sinn für Humor könnten die Tiere verfü158 d e r Wasser und prustete dann, wie mit einem gigantischen Gartenschlauch, plötzlich einen Besuchertrupp nass – fand sie das witzig? • Amüsieren sich Schwarzdelphine, wenn sie sich heimlich auf dem Wasser ruhenden Möwen nähern, sie zart an einem oder beiden Beinen packen und dann einmal kurz tunken, bevor sie sie wieder loslassen? • Empfanden jene fiesen Youngster unter den Schimpansen im Zoo von Arnheim Schadenfreude, als sie eine ältere, behinderte Artgenossin tagelang hänselten, indem sie ihren verdrehten Gang nachahmten? Als Beweise taugen all diese Beobachtungen natürlich nicht; das weiß auch Balcombe. Selbst wenn Tiere über ihre Gefühle sprechen könnten – es bliebe unklar, ob sie dasselbe meinen wie der Mensch. Und falls der Biologe recht hat: Empfinden am Ende selbst Ameisen Freude – über einen besonderen Leckerbissen etwa? Immerhin besitzen sie ein Nervensystem und Sinneszellen. Wo genau verläuft die Spaßgrenze zwischen Säugetier und Amöbe? „Ich weiß es nicht“, gibt Balcombe zu. „Da, wo es Zweifel gibt, ziehe ich es vor, anzunehmen, sie fühlten etwas.“ s p i e g e l Rafaela von Bredow 2 0 / 2 0 0 6 Neues Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart: „Gestapelte Autobrücken“ AU TOMOB I L E Parkhaus der Mythen Am Freitag eröffnet Mercedes-Benz das größte Automuseum der Welt. Seine Architektur stößt an die Grenzen moderner Baustatik und trägt schwer an Deutschlands größter Industrie-Ikone. D ieses Haus ist irgendwie Deutschland. Es strotzt von ungeheurer Technik. Und doch sieht es mitgenommen aus, zerdrückt. Wie ein Denkmal der Dosenpfand-Debatte. Bundeskanzlerin Angela Merkel wird es am Freitag eröffnen, das neue MercedesMuseum in Stuttgart-Untertürkheim, dem Stammsitz des Erfinders des Automobils. Es geht um das mythenschwerste Inventar, das die deutsche Industrie auffahren kann; und das Gebäude, versichert der Architekt, sei dafür ausgelegt. Der Niederländer Ben van Berkel schuf das Mercedes-Monument aus einer hochtragfähigen Rohstoffmischung, die sich im Parkhausbau bewährt hat: 110 000 Tonnen Stahl und Beton stoßen an die Grenze moderner Baustatik, dessen Komplexität alle bisherigen Schauhäuser wie simple Lagerhallen erscheinen lässt. Grundprinzip ist der spiralförmige Wandelgang des New Yorker Guggenheim Museums. In Stuttgart jedoch dreht der Gang sich nicht einfach wie eine Schraube in den Boden. Zwei ineinander verschlungene Korridore mäandern jeweils der Form eines Kleeblatts folgend talwärts. Inmitten dieses Knäuels verdrehen sich Böden zu Wänden und diese wiederum zu Decken. 160 35 000 Baupläne liegen diesem Meisterwerk der Betongießerei zugrunde. Die Tragwerksplaner vom Büro Werner Sobek sprachen von „gestapelten Autobrücken“. Tatsächlich musste die Belastbarkeit realer Straßenbauwerke erreicht werden. Erstmals stellt Mercedes auch Nutzfahrzeuge aus, unter ihnen einen Nachbau des Omnibusses der Fußball-Weltmeistermannschaft von 1974. Ordnung zu kriegen in die Sakristei des ältesten Automobilkonzerns der Welt ist der zentrale Zweck dieser Immobilie, deren Preis zu nennen Mercedes sich ziert. Nach seriösen Schätzungen flossen etwa 150 Millionen Euro in das mit 16 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche größte Firmenmuseum der Welt. „Keine Ausstellung im herkömmlichen Sinne“ wünschte Mercedes-Chef Jürgen Hubbert vor fünf Jahren in seinem Geleitwort zum Wettbewerb von zehn Architekturbüros, den van Berkel letztlich gewann. Der Siegerentwurf garantierte größtmögliche Distanz zu den eindimensionalen PS-Panoptiken herkömmlicher Machart. Eine formidable Zeitmaschine erwartet den Besucher nun zum Eintrittspreis von acht Euro. Der Eingang führt direkt ins Herz des Bauwerks, ein Beton-Atrium, das bis unters Dach des 47 Meter hohen Ged e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 bäudes emporragt. Im Brandfall soll er wirken wie ein riesiger Schlot. Luftdüsen erzeugen in ihm dann einen vertikalen Wirbelwind, um sämtliche Rauchschwaden aus den Besucherräumen zu ziehen und tornadoartig gen Himmel zu blasen. Die Menschen tuckern in Aufzügen hinauf, besäuselt von Fahrstuhlmusik aus Mobilitätsgeräuschen, die eine Reise rückwärts intonieren und mit Hufgetrappel enden. Ganz oben am Eingang steht eine ausgestopfte Stute, daneben der Satz Wilhelms II. aus dem Jahr 1905: „Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“ Dass auch die Prognose der DaimlerWerke damals kaum optimistischer war, lässt das Museum unerwähnt. Die Autoerfinder schätzten den gesamten Weltmarkt auf höchstens eine Million Fahrzeuge ein – tatsächlich ist dies heute allein die Jahresproduktion von Mercedes. Nur ein kleiner Prozentsatz der Arbeiter, so die Begründung, tauge zum Beruf des Chauffeurs. Verzweigte Wege führen nun serpentinenartig talwärts, folgen dabei jedoch einem klaren System. Ein Korridor führt durch die „Mythosräume“. Er soll chronologisch die Markenentwicklung von Mercedes-Benz dokumentieren. Die zweite Spirale verbindet die „Collectionsräume“, in denen MercedesFahrzeuge aus allen Epochen unter bestimmten Oberbegriffen zusammengestellt wurden. Zudem erlaubt die Anordnung dieser Doppelhelix häufige Wechsel zwischen beiden Rundgängen, da sich diese auf jedem Stockwerk begegnen. Die Sammlungsräume sind heitere Auflockerungen, die der gesamten Schau etwas von ihrer Strenge nehmen. Lichtdurchflutet an riesigen Glasflächen, bilden Technik Mythosraum mit Sportwagen der fünfziger Jahre: Ordnung in der Sakristei die Konzernleitung nicht auf Anhieb amüsierte). In der „Galerie der Namen“ posieren Prominentenautos – ein Mercedes-Dorado par excellence, in dem sich schierer Prunk mit erlesener Peinlichkeit mischt. Die antike Staatskarosse des japanischen Kaiserhauses findet sich im selben Raum mit einem deftig bespoilerten 190er des Beatle-Trommlers Ringo Starr. Der Wagen des Popstars hätte auch im Dienst eines oldenburgischen Rotlichtkönigs gestanden haben können. Kaum stilsicherer erscheint das Papamobil, in dem Johannes Paul II. wie ein Weihnachtsmann in Aspik hochdistanzierte Bäder in der Menge nahm. Die Betrachtung aus der Nähe entzaubert den mobilen Glaskasten gänzlich. Die schäbig vergoldeten Felgen und sonstiger Zierrat wirken wie Kirmestand. Spielerisch streute Ausstellungsmacher Merz noch 33 „Extras“ in die Schauräume, die wissenswerten Kleinkram rund um das Automobil erklären, vom Kotflügel über den Scheibenwischer, vom Autoheiligen Christophorus bis hin zum duftspendenden Wunderbaum. Mythen- und Galerienstrang enden letztlich in einer mächtigen Steilkurve mit den wichtigsten Rennfahrzeugen der Firmengeschichte, die regelmäßig über Lautsprecher mit ihrem eigenen Getöse aus Originalaufnahmen Forschungsautos im Untergeschoss: Mäandernde Korridore beschallt werden. MICHAEL LATZ / AFP sie einen fröhlichen Kontrast zu den durchweg fensterlosen Gemächern der sakralen Mythengalerie. Gar Andeutungen von Selbstironie werden hier sichtbar. Im Galerieraum „Helden des Alltags“ parkt ein lindgrüner Mercedes 240 D, Baujahr 1982, mit fellbezogenen Sitzen und Anhängerkupplung. Mercedes verbeugt sich damit vor einer rustikalen Stammklientel, deren Existenz das Firmenmarketing stets wacker verleugnete. „Es fehlt noch ein speckiger Cordhut auf der Ablage“, sagt der Stuttgarter Architekt Hans-Günter Merz, der mit der inneren Gestaltung des Mercedes-Tempels beauftragt wurde. Keck driftet der Museumsroutinier an der Grenze des guten Geschmacks. So garnierte er die Schauräume mit kitschigen Devotionalien und stellte auch einen Leichenwagen in die Heldenauswahl (was d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 MICHAEL LATZ / AFP Eine geballte Ladung Autogeschichte hat Mercedes sich da vor das Werkstor gepflanzt. Der Strang der Mythosräume zieht sich mit eindrucksvoller Klarheit und Stringenz bis in die fünfziger Jahre, um dann in einer gewissen Beliebigkeit zu enden. Als Kernthema der Sechziger und Siebziger präsentiert das Museum Sicherheitstechnik. Kuriose Forschungsautos, die nicht zwingend Symbole für die enormen Leistungen des Konzerns in dieser Disziplin sind, lassen den Eindruck entstehen, das Thema sei nur die Marotte einer Epoche gewesen. Nicht ganz überzeugend ist auch der darauffolgende Raum, der die jüngste Vergangenheit feiern soll, das weltweite Renommee der Marke, die Zuverlässigkeit – schließlich werden die Produkte des Weltkonzerns auch von manchen Qualitätsmängeln geplagt. Die Ausstellungsstücke, die den hohen Anspruch der aktuellen Mercedes-Welt dokumentieren sollen, wirken beliebig: Eine portugiesische Taxe, die eine Million Kilometer mit einem Motor schaffte und danach dummerweise neu lackiert wurde, steht erklärungsbedürftig im schummrigen Mythenlicht; dazu ein Geländewagen, der einmal um die Welt fuhr, was Käufer solcher Autos durchaus erwarten dürfen. Die S-Klasse aus dem Fuhrpark von Arnold Schwarzenegger hat so gar nichts Spektakuläres an sich. Hier könnte auch der Ex-Dienstwagen von Rudolf Scharping stehen. Museumsmacher Merz weiß um diese Mängel und vertröstet Kritiker mit Worten, die auch den Konstrukteuren der Fahrzeuge nicht ganz fremd sind: „Wir können da noch nachbessern.“ Christian Wüst 161 Wissenschaft Eine weitere Last kommt hinzu. Seit das Gerücht umging, Ulla Schmidt würde die Naturalrabatte verbieten, stiegen die Lieferungen der Marktführer an die Apotheken auf wundersame Weise an. Solange es noch Naturalrabatte gab, haben die Apotheken ihre Lager mit Produkten von Hexal, Ratiopharm und Stada vollgestopft. Jetzt verkaufen sie diese Produkte – auch wenn der Arzt ein wirkstoffgleiches Medikament eines kleinen Konkurrenten verschrieben hat. So nahmen die Apotheken Hexal im Januar knapp 54 Prozent mehr Ware ab, als sie an ihre Kunden weitergaben. Bei Ratiopharm betrug der Einkaufsüberschuss 50 Prozent. Wie sehr eine weitere Konzentration das Sparziel der Ministerin gefährdet, zeigt GE SUN DH EITSKOSTEN Immer tiefer in den Sumpf Trotz aller Reformversuche der Gesundheitsministerin steigen die Ausgaben für Arzneimittel wieder. Daran wird auch ihr jüngstes Gesetz nichts ändern. M Kostenexplosion Arzneimittelausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung, in Mrd. Euro 25,4 Quelle: BMG + 74 % gegenüber 1991 20,1 14,6 CREAPS / ACTION PRESS it dem Thema Kostendämpfung hat Ulla Schmidt, seit sechs Jahren in drei Berliner Regierungen für die Gesundheit zuständig, inzwischen viel Erfahrung. Besonders die Ausgabenflut der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für Medikamente versuchte sie in mehreren Anläufen zu bremsen. Das deprimierende Ergebnis nach ihren diversen Kostendämpfungsgesetzen: Die Mediziner fühlen sich unterbezahlt, die Ärzte an den Universitätskliniken streiken seit zwei Monaten. Gleichzeitig verdient die Pharmaindustrie prächtig. 2005 gaben die Kassen 25,4 Milliarden Euro für Pillen und Tropfen aus – 3,6 Milliarden Euro mehr als ein Jahr zuvor. Rekord! Jetzt, in ihrer dritten Legislaturperiode, hat die Ministerin ihren wohl letzten Versuch gestartet. Seit 14 Tagen ist das Arzneimittelversorgungs- und Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) in Kraft, mit dessen Hilfe die Kassen 1,3 Milliarden Euro pro Jahr bei den Arzneimitteln sparen sollen. Doch lange bevor der neue Spartext im Bundesgesetzblatt stand, hatten sich die Marktteilnehmer wieder einmal auf die zu erwartenden Ge- und Verbote eingestellt. „Ulla Schmidt“, feixt ein Pharma-Manager, „hat sich von Gesetz zu Gesetz tiefer in den Sumpf geregelt.“ Dabei war die Idee, mit der alles begann, durchaus einleuchtend. Das Preisniveau für jene Arzneimittel, die vom Arzt verschrieben, von der Apotheke verkauft und von den Kassen bezahlt wurden, sollte sinken. Und das konnte, so überlegten sich Ulla Schmidts Experten, am besten dadurch geschehen, dass bei möglichst jeder Verschreibung darauf geachtet wurde, von den Arzneimitteln mit gleicher Wirkung das preisgünstigste abzugeben. Also wurden die Ärzte verpflichtet, wo immer es medizinisch vertretbar ist, nur den Wirkstoff zu verschreiben. Die Apotheker müssen dazu das passende Präparat unter den drei preisgünstigsten auswählen. Doch mit der sogenannten Aut-idemRegelung (lateinisch für: oder das Gleiche) begann der Verdruss. Denn jetzt gerieten die Apotheker ins Visier der Marketingstrategen. In einer nie dagewesenen Rabattschlacht schütteten vor allem die drei 16,4 1991 1995 2000 2005 Apothekerin: Ins Visier der Marketingstrategen geraten großen Anbieter von sogenannten Generika – Arzneien, die nach Ablauf der Patente den Originalen nachgebaut werden – die Apotheken mit Gratispackungen zu. Jede Pille umsonst, die gleichwohl mit den Kassen abgerechnet werden konnte, mehrte das Vermögen der Pillenverkäufer, senkte aber nicht die Preise für die Kassen. Für über 300 Millionen Euro luden so vor allem die drei größten Generikahersteller Hexal, Ratiopharm und Stada zuletzt Gratispackungen in den Apotheken ab. In ihrem neuen Gesetz verbietet die Gesundheitsministerin die Naturalrabatte. Damit ein Teil der eingesparten Kosten der Hersteller jetzt wirklich ihren Kassen zugutekommt, belegte sie alle Generika, deren Preis nicht mindestens 30 Prozent unter dem üblichen liegt, mit einem zehnprozentigen Zwangnachlass zugunsten der GKV. Schon wieder eine gute Idee – die allerdings schlimme Folgen haben wird: Sie wird vielen Mitbewerbern der drei großen Generikafirmen den Garaus machen. Die Großen waren es, die zuvor für Hunderte Millionen Euro Rabattware abgegeben haben. Der neue zehnprozentige Zwangsabschlag tut ihnen nicht weh – umso mehr aber ihren kleinen Konkurrenten, die schon bei der Rabattschlacht zuvor nicht mithalten konnten. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 die Preispolitik der drei Großen. Ratiopharm, Hexal und Stada meldeten zum 1. April 2006 für den Wirkstoff Tamsulosin exakt denselben Preis: 29,99 Euro für 50 Stück. Und für Omeprazol verlangen die Großen zum 15. März für 100 Stück genau 99,95 Euro. Der verzweifelte Versuch Schmidts, mit immer neuen Regeln den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt zu fördern und somit die Preise zu senken – er wird wohl erneut scheitern. Selbst für das jetzt verbotene Schmieren der Apotheker mit Gratisschachteln haben die findigen Arzneimittelanbieter Ersatz gefunden. Die Großen der Branche nehmen jetzt die Krankenhäuser ins Visier. Ihr Kalkül: Wem dort die Nachtschwester ein bestimmtes Medikament von einem bestimmten Hersteller bringt, der wird ein treuer Kunde. „Gültig bis 12. März 2007“ etwa bietet Hexal den Krankenhäusern Wirkstoffe wie Captopril für den symbolischen Preis von einem Cent pro Pille an. Mit diesen Dumpingpreisen allerdings könnten die großen Generikahersteller Probleme bekommen. Solche Rabatte verstießen, so ließ Ulla Schmidt vorigen Dienstag die Krankenhaus-Apotheker vorsichtshalber schriftlich warnen, gegen das Wettbewerbsrecht. Heiko Martens 163 Frisch entstandene Nervenzelle (grün) im Gehirn einer erwachsenen Maus (Mikroskop-Aufnahme): Neue Neuronen für neue Erinnerungen Hirn, kuriere dich selbst! Forscher erkunden einen Jungbrunnen im erwachsenen Gehirn. Geistige Aktivität, soziale Kontakte, aber auch körperliche Bewegung lassen neue Nervenzellen sprießen – was den Geist bis ins hohe Alter flexibel hält. Wenn die Neuronen-Produktion erlahmt, drohen Alzheimer und Depression. D er Hirnforscher Jeffrey Macklis bietet seinen Mäusen jeden Tag etwas Neues zum Schnuppern: Mal bläst er ihnen den Geruch von Schokolade in den Käfig, dann lässt er sie Wolken aus Rosenwasser einatmen. Den Tieren eröffnet er damit eine unbekannte Welt. Denn aufgewachsen in ei164 nem geruchsdichten Quartier, lebten sie bisher stets im eigenen Mief. Keinen einzigen der vielen Dutzend Düfte, die sie plötzlich zu schnüffeln bekommen, haben sie jemals zuvor verspürt. Wie wird ihr Gehirn auf die unbekannten Reize reagieren? Erstmals ist es Macklis und seinen Kollegen am Center for Nervous System d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Repair des Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School in Boston gelungen zu erspähen, was genau im Riechhirn der Tiere passiert. Die Forscher verfolgten dazu das Schicksal neuer Nervenzellen, die in bestimmten Regionen des Vorderhirns entstehen und dann in den Riechkolben wandern, von Titel Ein Jungbrunnen im Gehirn? Neue Denkkraft dank neuer Zellen? Bis vor kurzem noch hätte man Macklis und Goldberg als Phantasten abgetan. Denn der Mediziner aus Boston und der Neuropsychologe aus Manhattan rütteln an einem Dogma, das ein Jahrhundert lang als unumstößlich galt: Schon im Säuglingsalter hören Nervenzellen demnach auf, sich zu teilen. Das Gehirn könne sein Leistungsvermögen bestenfalls auf einem bestimmten Niveau halten – und entwickle sich im Alter meistens sogar zurück. Doch nun tragen Neurologen, Biochemiker und Ärzte immer mehr Hin- Besonders ermutigend: Die neuen Neuronen, die da in alten Köpfen sprießen, erweisen sich als überdurchschnittlich vielseitig. Aus diesem Grund tragen die Tausendsassas wohl entscheidend zu den erstaunlichen Leistungsreserven bei, die es dem Gehirn erlauben, schwierige und unerwartete Aufgaben zu bewältigen. „Vermutlich ist die Neurogenese eine wesentliche Voraussetzung dafür, bis ins hohe Alter geistig fit zu bleiben“, meint Kempermann, 40. Ob einem der Verstand das Leben lang erhalten bleibt, ist demnach nicht mehr nur den Genen überlassen. Vielmehr entscheidet CHUNMEI ZHAO / SALK INSTITUTE (L.); LEONIE / JUMP (R.) wo aus die Verarbeitung von Gerüchen erfolgt. Die Forscher stellten nun fest: Wenn es am Tag ihrer Entstehung unbekannte Düfte zu schnuppern gibt, dann reifen die Neulinge zu besonders aktiven Nervenzellen und integrieren sich nach zwei bis drei Wochen in die Schaltkreise des Gehirns. Sie entwickeln lange Fortsätze und knüpfen eifrig Verbindungen (Synapsen) zu anderen Neuronen. Im Gegensatz dazu sind die alteingesessenen Nervenzellen, die sich schon vorher im Riechkolben vernetzt haben, durch einen neuen Geruch kaum mehr zu erregen. Mit jedem Duft wird also eine frische Generation von Riechzellen geprägt und im Gehirn verankert. „Die neuen Nervenzellen ersetzen nicht einfach die alten“, sagt Macklis, 47. „Vielmehr haben sie eine eigene Aufgabe: das Lernen neuer Gerüche.“ Neue Nervenzellen für neue Erinnerungen – an diese Formel glaubt auch Elkhonon Goldberg, Autor und klinischer Psychologe von der New York University in Manhattan. In seiner zwei Blocks südlich vom Central Park gelegenen Praxis suchen ihn immer wieder alte Menschen auf, die ständig ihre Schlüssel verlegen, die Herdplatte anlassen oder nicht mehr wissen, was auf der Buchseite steht, die sie gerade gelesen haben. Gegen ihre Vergesslichkeit verschreibt ihnen Goldberg, 59, ein Trainingsprogramm, das die verschiedenen kognitiven Funktionen ansprechen soll: das Erinnern von Wörtern, die geistige Beweglichkeit, das räumliche Denken. Dazu hat der Psychologe rund 200 Tests gesichtet, wie man sie für gewöhnlich bei der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten einsetzt, und knapp 60 Aufgaben zu einem Anti-Schusseligkeits-Programm zusammengestellt: Zweimal in der Woche gilt es jeweils eine Stunde lang unterschiedliche Aufgaben auf dem Computer zu lösen. Beispielsweise müssen die vergesslichen Menschen herausfinden, nach welchen Gesetzmäßigkeiten bunte Dreiecke, Quadrate und Kreise auf dem Bildschirm angeordnet sind. Am Ende des Programms, das auf jeweils drei Monate angelegt ist, überprüft Goldberg, ob die Übungsstunden auch tatsächlich das Erinnerungsvermögen seiner Schützlinge im Alltag verbessern. Nach bisher 100 Teilnehmern zeigt sich Goldberg von den Ergebnissen „angenehm beeindruckt“. Bei etwa 60 Prozent der Patienten wurde der schleichende Verlust des Erinnerungsvermögens gestoppt, bei 30 Prozent sei das Gedächtnis sogar besser geworden. „Unsere Erfolge gehen vermutlich darauf zurück, dass im Gehirn frische Nervenzellen heranwachsen“, sagt Goldberg, der sein Programm gegenwärtig überarbeitet und künftig als Software für zu Hause anbieten will. „Denn mit kognitiver Aktivität kann man die Entstehung neuer Neuronen gezielt anregen.“ Urlauber beim Tai Chi am Strand: Dünger fürs Denkorgan weise für einen gegenläufigen Trend zusammen: Stund um Stund kommen unter dem Schädeldach junge Nervenzellen auf die Welt. Verdutzt und voller Ehrfurcht erkennen die Forscher: Die Neubildung der Nervenzellen, wissenschaftlich Neurogenese genannt, hält bis ins Greisenalter an und scheint unentbehrlich für das normale Funktionieren des Denkorgans. „Wir fangen jetzt an, das Gehirn aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen“, urteilt Gerd Kempermann vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin, der soeben das erste Lehrbuch zum Thema vorgelegt hat*. „Es gibt da eine positive Tendenz: Die Entwicklung des Gehirns hält ein Leben lang an.“ * Gerd Kempermann: „Adult Neurogenesis“. Oxford University Press, New York; 426 Seiten; 66,90 Euro. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 die Lebensführung wesentlich über Wohl und Wehe neuer Nervenzellen mit. Zu funktionstüchtigen Neuronen wachsen diese offenbar nur dann heran, wenn man ihnen etwas bietet: Lernreize und geistige Herausforderung. Aber auch körperliche Betätigung, das erkennen die Gelehrten, wirkt wie Dünger fürs Gehirn. Bleiben dagegen Anregungen und Aktionen aus, geht gerade bei alten Menschen ein großer Teil des Nervennachwuchses schnell wieder zugrunde. „Die Leute halten das Gehirn für einen unveränderlichen Computer“, sagt der Neurowissenschaftler Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla. „Dabei ist es ein formbares Organ aus Fleisch, Blut und Nervenzellen. Veränderungen in diesem Organ kann man selbst kontrollieren.“ James Watson, Mitentdecker der Struktur des Erbmoleküls DNA und inzwischen 165 ALL ACTION DIGITAL / ACTION PRESS Titel Violinistin Vanessa Mae: Funktionstüchtig werden neue Nervenzellen nur dann, wenn ihnen Lernreize geboten werden 78 Jahre alt, führt seine geistige Frische auch darauf zurück, dass er sich regelmäßig mit weitaus jüngeren Tennispartnern misst. Die wichtigste Herausforderung der Medizin, urteilt Watson, liege vielleicht gar nicht darin, ein Mittel gegen Krebs zu finden. Dringender geboten sei es womöglich, in alternden Gehirnen die Fähigkeit zur Produktion neuer Nervenzellen zu erhalten. Die Entdeckung der Neurogenese verändert gegenwärtig nicht nur das Bild des gesunden Hirns, sondern auch das Verständnis davon, warum und wie Gehirne erkranken. Die Alzheimersche Demenz und die Parkinsonsche Schüttellähmung etwa führte man bisher immer auf das Absterben alter Nervenzellen zurück. Nun denken Ärzte um: Brechen die beiden unheilbaren Krankheiten in Wahrheit deshalb aus, weil keine neuen Neuronen mehr geboren werden? Auch für Lernstörungen und Depressionen, für Alkoholismus, Nikotinsucht und schizophrene Psychosen diskutieren Mediziner inzwischen intensiv die Bedeutung der Neurogenese. Deren Erforschung habe sich „zu einem der interessantesten und vielversprechendsten Projekte der modernen Neurowissenschaften und insbesondere auch der molekularen Psychiatrie entwickelt“, berichtet das Fachblatt „Der Nervenarzt“. 166 Manches, was die Forscher entdecken, erscheint ihnen noch rätselhaft. So beschränkt sich die natürliche Neurogenese auf Teile des Vorderhirns und auf eine Region des Hippocampus, der fürs Lernen von grundlegender Bedeutung ist. Doch finden sich auch in fast allen anderen Winkeln des Oberstübchens neuronale Stammund Vorläuferzellen. Diese sind teilungsfähig und haben das Potential, zu vollwertigen Neuronen heranzureifen. Bloß, sie tun es nicht. Sie liegen vielmehr in einer Art Dornröschenschlaf. Warum nur? Die schlummernden Zellen zu wecken und zum Wachstum anzuregen wäre ein Traum der Medizin – und der Gruppe von Jeffrey Macklis in Boston ist es zumindest in Mäusen und Vögeln bereits gelungen. Etliche Pharmafirmen suchen seither nach Pillen und Therapien, um späterhin das brachliegende Potential aktivieren zu können. Hirn, so lautet das Motto, kuriere dich selbst! Diese Hoffnung fußt auf einem Phänomen, das die Neurowissenschaft das vorige Jahrhundert hindurch beharrlich in Abrede gestellt hat. Wie ein Verdikt wirkte die Ansicht des spanischen Hirnforschers und Nobelpreisträgers Santiago Ramón y Cajal, der 1928 schlicht befand: „Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr und unveränderlich. Ald e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 les kann sterben, aber nichts kann regenerieren.“ Zwar regten sich schon bald Zweifel an der Lehrmeinung. Doch jene Experimentatoren, die sie äußerten, wurden von ihren Kollegen nur verlacht. Joseph Altman vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge verabreichte Wie Nervenzellen entstehen: Neurale Stammzellen vermehren sich durch Zellteilung. Neurale Stammzellen in den sechziger Jahren erwachsenen Ratten, Katzen und Meerschweinchen radioaktiv markierte Bausteine der Erbsubstanz DNA. Anschließend spürte Altman die markierten Bausteine in der DNA von Nervenzellen auf: Sie waren also bei der Zellteilung in den Zellkern eingebaut worden – ein Beweis dafür, dass sich im Gehirn neue Neuronen gebildet hatten. Die Fachwelt jedoch ignorierte Altmans Befunde. Eine Festanstellung am renommierten MIT blieb ihm verwehrt – er fand nur im fernen Indiana eine Stelle und ward fortan vergessen. Zehn Jahre später zeigte Michael Kaplan von der University in New Mexico elektronenmi- kroskopische Aufnahmen herum, auf denen frisch entstandene Nervenzellen zu sehen waren. Aber auch er stieß auf Ignoranten. Der damals einflussreiche Hirnforscher Pasko Rakic von der Yale University in New Haven, Connecticut, erinnert sich Kaplan, habe den Befund hochmütig kommentiert: „Die Zellen mögen in New Mexico wie Neuro- nen aussehen, aber in New Haven tun sie es nicht.“ Rakic ersann sogar eine Theorie, warum menschliche Nervenzellen sich gar nicht teilen könnten: Irgendwann im Lauf der Menschwerdung hätten unsere Urahnen die Fähigkeit, neue Nervenzellen zu bilden, eingetauscht gegen das Vermögen, bei In fast allen Regionen des Gehirns finden sich neurale Vorläuferzellen, die sich rätselhafterweise jedoch nicht zu Nervenzellen teilen. Ärzte wollen die schlummernden Zellen mit Arzneien zum Wachstum anregen und auf diese Weise die Folgen von Schlaganfällen und anderen Erkrankungen kurieren. Seitenventrikel des Vorderhirns Aus dem Vorderhirn wandern die frischgeborenen Neuronen in den Riechkolben, von wo aus Gerüche verarbeitet werden. Die neuen Nervenzellen werden in die Schaltkreise integriert, wenn es neue Düfte zu riechen gibt: Auf diese Weise lernt das Gehirn neue Gerüche. Hippocampus Riechkolben Jungbrunnen im Kopf Produktion neuer Nervenzellen im erwachsenen Gehirn Ein Teil der neuen Zellgeneration besteht aus neuralen Vorläuferzellen. Die jungen Nervenzellen im Hippocampus reifen offenbar nur dann zu fertigen Neuronen heran, wenn es neue und wichtige Lerninhalte zu speichern gibt. Eine gestörte Neuronen-Produktion bringen Ärzte mit einer Reihe von Gehirnerkrankungen wie Alzheimer, Parkinson oder Alkoholsucht in Verbindung. In Teilen des Vorderhirns sowie des Hippocampus entstehen aus Vorläuferzellen jeden Tag neue Nervenzellen. Aus einigen Vorläuferzellen entstehen sogenannte Gliazellen. Sie bilden das Stützgewebe des Nervensystems. Axon mit Schutzhülle Neuron Andere Vorläuferzellen reifen zu Nervenzellen heran. Sie bilden lange, faserartige Fortsätze (Axone). Über diese Leitungsbahnen werden die Nervenimpulse übertragen. An ihrem Ende verzweigen sich die Axone zu einem Geflecht von Tentakeln, deren Endköpfe Verbindungen zu anderen Nervenzellen bilden (Synapsen). An Millionen solcher Kontaktstellen werden unentwegt Signale übermittelt. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Synapsen 167 Titel Besonderheit der Vögel. Doch kaum hatten sich die Forscher auf die Suche gemacht, wurden sie allerorten fündig: Frösche, Eidechsen, Nagetiere und Affen – sie alle verfügen über Neurogenese. Warum sollte der Mensch da eine Ausnahme bilden? Der Beweis jedoch war lange schwierig beizubringen: Dazu hätte man radioaktives Material an Testpersonen verfüttern und diese – zur Obduktion der Gehirne – wenig später töten müssen. Doch dann, im Jahr 1998, dämmerte es schwedischen und amerikanischen Hirnforschern: Vielen schwerkranken Krebspatienten werden ja radioaktiv markierte DNA-Bausteine in den Körper injiziert. Auf diese Weise versuchen die behandelnden Ärzte zu erkennen, wie viele neue Tumorzellen in den Geschwülsten entstehen. Da aber die markierte DNA in jede sich teilende Körperzelle eingebaut wird, so die damalige Überlegung, müssten sich in behandelten Patienten neuentstandene Neuronen ebenso nachweisen lassen. Die Forscher studierten fünf Menschen mit fort- GRANGER COLLECTION / ULLSTEIN BILDERDIENST gleichbleibender Neuronenzahl Erinnerungen zu speichern. Im Gehirn des Homo sapiens sei aus Stabilitätsgründen kein Platz mehr für neue Nervenzellen. Am Ende trugen singende Kanarienvögel maßgeblich dazu bei, das Dogma zu Fall zu bringen. Jedes Frühjahr trillern die Männchen ihr Lied, im Lauf des Sommers jedoch verlieren sie ihr Repertoire wie alte Federn in der Mauser – um im nächsten Frühling die Weibchen mit neuen Melodien zu bezirzen. Dem Biologen Fernando Nottebohm von der Rockefeller University in Manhattan kam unter der Dusche die Idee, wie die Vögel das hinbekommen: Das mit den alten Melodien angefüllte Hirnareal der Kanarienvögel stirbt einfach ab und wird im nächsten Frühjahr gegen neue Zellen ausgetauscht. Experimente mit radioaktiven DNA-Bausteinen bestätigten die Vermutung: Tatsächlich produzieren die Männchen jeden Tag Abertausende Neuronen. Zwar glaubten anfangs manche, das Nachwachsen des Hirngewebes sei eine ANDREE KAISER / CARO Histologische Zeichnung von Cajal, Hirnforscher Bibliothek an der Universität Freiburg: Schlummernde Neuronen wecken Familie beim Fernsehen: Erhöhtes Alzheimer-Risiko 168 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 geschrittenem Kehlkopfkrebs. Nachdem diese ihrem Tumorleiden erlegen waren, wurden ihre Schädel geöffnet. Der Befund: Noch bis zum Schluss hatten sich in allen Gehirnen frische Nervenzellen gebildet. Seither gilt als sicher: Tag für Tag kommen im Hippocampus eines Erwachsenen einige tausend Nervenzellen hinzu. Im Vergleich zu den etwa hundert Milliarden Neuronen, aus denen das Gehirn besteht, mag die Zahl der Novizen gering und unerheblich erscheinen. Dafür jedoch verfügen die Nachwuchszellen noch über eine Erregbarkeit, die den alteingesessenen Neuronen längst abhandengekommen ist. „Es genügen offenbar bereits wenige neugebildete Zellen“, so der Berliner Hirnforscher Kempermann, „um die Netzwerkarchitektur des Gehirns grundlegend zu verändern.“ So schenken die flexiblen Neulinge dem Gehirn womöglich erst jene Wandlungsfähigkeit, deren Ausmaß man in den vergangenen Jahren erkannt hat. Wer beispielsweise im Erwachsenenalter mit dem Jonglieren beginnt, der lässt sein Gehirn dadurch gezielt wachsen – das haben Neurologen aus Jena und Regensburg als Erste entdeckt und 2004 in der Fachzeitschrift „Nature“ verkündet. Die Wissenschaftler ließen Menschen, die im Durchschnitt 22 Jahre alt waren, drei Monate lang das Jonglieren lernen. Die zwölf geschicktesten Kandidaten konnten am Ende drei Bälle mindestens eine Minute lang in der Luft halten. Ihre Gehirne wurden per Kernspin durchleuchtet, und zwar vor dem Training, direkt danach und nach einer drei Monate langen Jonglierpause. Als Vergleich dienten die Gehirne untrainierter Probanden. Nach drei Monaten, so zeigte sich, hatten sich die Jongleur-Gehirne beidseitig an den Cajal (um 1906): „Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr und unveränderlich“ Seitenlappen verändert. Im sogenannten intraparietalen Sulcus, der auf die Wahrnehmung von Objekten spezialisiert ist, war eine deutliche Vergrößerung zu erkennen. Nach der Trainingspause bildete sich der Anbau im Kopf teilweise wieder zurück. Menschen, die eine Fremdsprache lernen, verändern ebenfalls ihr Gehirn: Die Dichte der grauen Substanz in einem ganz bestimmten Areal des linken Kortex steigt. Das fanden Linguisten vom University College London heraus, als sie die Gehirne von 105 Menschen, 80 davon waren zweisprachig, mit bildgebenden Verfahren untersuchten. Zwar ist der Effekt bei Kindern besonders ausgeprägt. Aber auch wer später im Leben Vokabeln paukt, erhöht merklich die Dichte seiner Denkzellen. Weder bei den Jongleuren noch bei den Zweisprachigen allerdings konnten die Forscher bisher klären, welche Zauberkräfte da genau im Kopf walten. Denn die erstaunliche Wandlungsfähigkeit des Gehirns, in der Fachsprache Plastizität genannt, geht auf mindestens drei verschiedene Mechanismen zurück: Zum einen können sich binnen Sekunden die vorhandenen Synapsen zwischen den Neuronen verstärken – anders wäre nicht erklärlich, dass der Mensch sich an das erinnert, was er soeben gehört, gefühlt oder gerochen hat. Überdies aber können – meist im Verlauf von Stunden – neue Synapsen sprießen. Das Netzwerk der Nervenzellen verschaltet sich also ständig aufs Neue, Erinnerungen werden auf diese Weise dauerhafter verankert. Mit der Neurogenese schließlich kommt nun ein weiterer Mechanismus hinzu, der viele Tage dauert und das Gehirn womöglich besonders nachhaltig verändert. Studie um Studie stütze die These, dass das Nachwachsen von Hirnzellen im erwachsenen Gehirn „ein wichtiger Bestandteil der neuronalen Plastizität“ ist, berichten die Psychiater Johannes Thome und Amelia Eisch in „Der Nervenarzt“. Das könnte bedeuten: Die wenigen, aber ungemein vielseitigen Neu-Neuronen haben maßgeblich Anteil daran, dass sich das Gehirn das ganze Leben hindurch verformen kann. So wie ein Muskel unter Belastung wächst, so gedeihen die grauen Zellen, wenn man sie fordert: Die frischen Neuronen im Riechkolben etwa entfalten sich, wenn sie auf neue Düfte stoßen. Und die neuen Nervenzellen im Hippocampus gedeihen und reifen, wenn sie auf Eindrücke treffen, die zu erinnern sich lohnt. KARGER-DECKER / INTERFOTO eine häufige Beobachtung bei krebskranken Menschen nahe: Durch Medikamente, die das Tumorwachstum hemmen sollen, wird vorübergehend auch die Neurogenese stillgelegt – und viele Patienten klagen während solch einer Chemotherapie darüber, dass sie sich nicht mehr gut an Dinge des Alltags erinnern können. Auch Untersuchungen auf molekularer Ebene deuten darauf hin, dass der Neurogenese eine Schlüsselfunktion fürs Lernen zukommt. So fanden Forscher vom Physiologischen Institut der Universität Freiburg heraus: Neue Nervenzellen sind leichter zu erregen als alte, und sie können ihre Synapsen zu umliegenden Neuronen schneller abschwächen und verstärken – Ein interessanter Job hält gesund – und der vorgezogene Ruhestand ist vielleicht ein fataler Schritt in die Verdummung. Denn der Hippocampus ist eine Art Eingangspforte des menschlichen Gedächtnisses. Alles was ins Langzeitgedächtnis abgelegt wird, muss durch dieses Törchen hindurch. Die einlaufenden Informationen werden vom Hippocampus sortiert, so dass man sich beispielsweise an die chronologische Abfolge von Erlebnissen erinnern kann. Hapert es jedoch mit der Neurogenese, dann ist der Hippocampus seiner Aufgabe nicht mehr gewachsen. In etlichen Tierversuchen wurden die sich teilenden Zellen im Hippocampus gezielt mit Strahlen oder Zellgiften abgetötet – die Tiere waren danach lerngestört. Andere Forscher legten das Neuronenwachstum im Hippocampus mit Hilfe von Viren lahm: Das Langzeitgedächtnis der so traktierten Tiere war fortan getrübt. Das scheint beim Menschen nicht grundsätzlich anders zu sein. Das zumindest legt d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 das alles sind Fähigkeiten, die fürs Lernen und Erinnern eine zentrale Rolle spielen. So könnte sich die Neurogenese als der lange gesuchte Mechanismus erweisen, über den die Umwelt das Gehirn formt und prägt. Jedenfalls zeigt sich in empirischen Untersuchungen ein ums andere Mal: Wer ein körperlich und geistig aktives Leben führt, der scheint sein Gehirn vor unliebsamen Verfallserscheinungen im Alter zu schützen. Forscher aus Chicago zum Beispiel führten eine Erhebung unter 642 alten Menschen mit unterschiedlicher Ausbildung durch: Jedes Studienjahr senkte das Alzheimer-Risiko um 17 Prozent. Auch weitere Ergebnisse legen nahe, dass eine formale Ausbildung vor Alzheimer schützt. Ende der achtziger Jahre trat der kalifornische Neurologe Robert Katzman an, 169 REA / LAIF Titel Versuchsmaus im Orientierungs- und Gedächtnistest: Nervtötender Stress 170 Friedland von der Case Western Reserve University in Cleveland, Ohio: „Ich glaube, das alles ist irgendwie mit dem Lernen verbunden.“ Ein interessanter Job hält demnach gesund – und der vorgezogene Ruhestand ist vielleicht ein fataler Schritt in die Verdummung. Wer als Rentner mit seinen Enkeln in den Zoo geht und abends mit Freunden zum Italiener, hält sein Gehirn jung. Zumindest sollte sich, wer sich zur Ruhe setzt, vorm Fernsehen hüten – es erhöht Friedman zufolge das Risiko, an Alzheimer zu erkranken. Die Forscher befragten die Verwandten und Partner von 135 Alzheimer-Patienten nach deren Aktivitäten vor Ausbruch der Krankheit. Die Antworten verglichen sie mit Auskünften von 331 gesunden Kontrollpersonen. ZACH VEILLEUX / ROCKEFELLER UNIVERSITY das Phänomen genauer zu erklären. Seiner Idee zufolge vergrößert das viele Denken und Pauken die Dichte der neuronalen Verbindungen im Gehirn – und erhöht auf diese Weise die „kognitive Reserve“. Je größer das geistige Gepäck eines Menschen sei, desto besser könne sein Gehirn den Verlust von Zellen durch Krankheit und Alter verkraften. Bestätigt wurde Katzmans Modell 15 Jahre später. Dazu hatten Altersforscher 130 katholische Geistliche und Nonnen zu Lebzeiten einigen kognitiven Tests unterzogen und, nach dem natürlichen Tod, ihre Gehirne obduziert. Egal, ob die Untersuchten besonders gut oder eher schlecht ausgebildet waren: Die typischen Plaques, die sich im Alzheimer-Hirn ablagern, fanden sich in den Gehirnen gleich häufig. Allerdings zeigte sich, dass die Denkorgane durch diese Ablagerung unterschiedlich stark beeinträchtigt waren: Die Menschen mit der besseren Ausbildung hatten kognitive Fähigkeiten im Alter wesentlich besser erhalten als die schlichter strukturierten Personen. Mehr noch: Die Gutausgebildeten zeigten erst dann Alzheimer-Symptome, als sie fünfmal so viele Plaques im Kopf hatten wie die weniger gebildeten Vergleichspersonen. Anscheinend verfügten sie tatsächlich über eine beträchtliche kognitive Reserve. Ihre Ausbildung und die damit einhergehende Denklust halfen ihrem Gehirn, die beginnende Erkrankung zu tolerieren und zu kompensieren. Lesen, aber auch Kartenspielen, Handarbeiten oder Puzzeln – all das erhalte die Denkkraft, sagt der Neurologe Robert Die in der Zeitschrift „Brain and Cognition“ vorgelegten Ergebnisse offenbaren, dass die Alzheimer-Kranken einen weitaus größeren Teil ihrer Lebenszeit vor der Flimmerkiste verbracht hatten als ihre gesunden Altersgenossen: Mit jeder Stunde, die die Befragten durchschnittlich in ihrem Leben vor dem Fernseher verbracht hatten, wuchs das Alzheimer-Risiko um den Faktor 1,3. Das muss freilich nicht bedeuten, dass Programminhalte selbst den Geist verkümmern lassen. In jedem Fall aber ist langer und regelmäßiger TV-Konsum Hinweis auf ein geistig träges Leben – und das wiederum macht anfällig für Alzheimer. Im Unterschied zu dieser Demenz, die mit dem vollständigen Verlust der Persönlichkeit enden kann, gilt der altersbedingte Rückgang der geistigen Leistungsfähigkeit nicht als Krankheit. Gleichwohl kann man auch dieser harmloseren Schusseligkeit gezielt entgegenwirken, wie Ulman Lindenberger und Martin Lövdén vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung voriges Jahr im Fachblatt „Psychology and Aging“ berichteten. Die Psychologen hatten 516 Berliner Bürger im Alter von 70 bis über 100 Jahren in ihrer Entwicklung beobachtet und das Ausmaß ihrer „sozialen Teilhabe“ erfasst. In Interviews fragten sie die alten Menschen, ob sie jeweils am Tag zuvor andere Menschen besucht oder selbst Besucher empfangen hatten. Überdies wurden Hobbys sowie Besuche in Restaurants, von Tanztreffen und kulturellen Veranstaltungen auf „Aktivitätslisten“ festgehalten. Biologe Nottebohm Geheimnis des Vogelgesangs enthüllt d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Das Ergebnis: Jene Senioren, die ein sozial reiches Leben führten, zeigten im Laufe der acht Jahre „einen geringeren Verlust an kognitiver Leistungsfähigkeit als Personen mit einem niedrigeren Ausmaß an sozialer Teilhabe“. Vor allem aber konnte die Untersuchung auch klären, wie Ursache und Wirkung zusammenhängen. Vorstellbar wäre ja gewesen, dass Menschen mit größerer Denkkraft einfach nur dazu neigen, ein besonders anregendes Dasein zu führen. In diesem Fall hätte der Lebenswandel keinerlei Einfluss auf den Alterungsprozess im Kopf. Lindenberger und Lövdén jedoch konnten nachweisen, dass dem nicht so ist: Vielmehr ist es tatsächlich das sozial aktive Leben selbst, das den altersbedingten Denkschwund aufhält. „Die schützende Funktion hoher sozialer Teilhabe besteht vermutlich in ihrer stimulierenden Wirkung auf Gehirn und Verhalten“, resümieren die Wissenschaftler. Bezogen auf den Alltag bedeuten ihre Befunde: Wer als Rentner nach der Matinee mit den Enkelkindern durch den Zoo streift und abends Freunde beim Italiener trifft, hält sein Gehirn nachweislich jung. Titel „Ohne Gefühl wird nichts behalten“ Der Hirnforscher Eric Kandel über Gedächtnistraining und die Pille gegen das Vergessen in der Severingasse 8 in Wien, spielte ein Kind mit einem blauen Spielzeugauto … Kandel: … der kleine Junge, dem es gehörte, war ich. Ich hatte das Auto zum neunten Geburtstag geschenkt bekommen. Ein paar Tage später kam die Gestapo und holte uns aus unserer Wohnung. Als sie uns eine Woche später wieder zurückkehren ließ, waren die meisten Gegenstände aus der Wohnung abtransportiert – unter anderem mein geliebtes Spielzeugauto. SPIEGEL: Während der Niederschrift Ihrer soeben erschienenen Biografie haben Sie versucht, diese und andere Erinnerungen gezielt in ihr Gedächtnis zu rufen*. Waren Sie zufrieden mit Ihrem Erinnerungsvermögen? Kandel: Ich glaube, man kann da nie ganz zufrieden sein. Aber vieles ist in lebhafter Erinnerung. Schlimmes wie auch Schönes. Nehmen Sie unser Kindermädchen Mitzi. Eines Nachmittags saß diese blühende junge Frau an meinem Bett, öffnete ihre Bluse, zeigte ihren Busen und fragte mich, ob ich sie berühren wolle. Mit meinen acht Jahren begriff ich kaum, wovon sie redete; und doch fühlte ich mich anders als jemals zuvor. SPIEGEL: Haben Sie bei sich irgendwelche Regeln ausgemacht, warum Sie manches behalten, anderes aber vergessen haben? Kandel: Ja, ein Geschehnis muss wichtig für mich sein. Während es geschieht, muss ich meine Aufmerksamkeit darauf richten. Ohne Aufmerksamkeit wird nichts behalten – und ohne dass es für meine Gefühle bedeutend ist, auch nicht. SPIEGEL: Macht es fürs Erinnern einen Unterschied, ob eine Erfahrung gut oder schlecht war? JÜRGEN FRANK SPIEGEL: Professor Kandel, vor 68 Jahren, Neurobiologe Kandel „Es gibt so viele jämmerliche Erlebnisse“ nämlich rasch wieder ihre Bluse geschlossen und begründete es damit, ich könnte schwanger werden. Instinktiv dachte ich, sie müsse sich irren, und dennoch ließ mich der Gedanke, ich könnte schwanger werden, erschrecken. SPIEGEL: Was geschah in Ihrem Gehirn, als diese Gefühlswallungen darin festgeschrieben wurden? Kandel: Wir wissen, dass es im Gehirn viele hemmende Komponenten gibt, beispielsweise ein Protein namens Creb-2, das Erinnerungen unterdrückt. Diese Hürden muss man überwinden, um Dinge abzuspeichern. Es ist also eine Balance zwischen unterdrückenden und „Speicherplatz ist nicht der begrenzende Faktor, aber wir wollen im Kopf Platz freihalten für Kreativität und neue Ideen.“ Kandel: Nicht unbedingt. Als ich Mitzi sah, war das ein wunderbarer Anblick – und zugleich spürte ich eine Entbehrung. Das sind die Extreme menschlicher Erfahrung: Vergnügen zu spüren – und des Vergnügens beraubt zu werden. Sie hat * Eric Kandel: „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“. Siedler Verlag, München; 524 Seiten; 24,95 Euro. 172 verstärkenden Prozessen. Gefühle schalten diese hemmenden Faktoren schlichtweg aus. SPIEGEL: Zum Erinnern gehört auch das Vergessen. Ist das gut für den Menschen? Kandel: Ja, es gibt so viele jämmerliche Erlebnisse. Anderes ist einfach unwichtig, auch das will man lieber vergessen. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 SPIEGEL: Warum eigentlich? Gibt es einfach nicht genug Speicherplatz in den grauen Zellen? Kandel: Speicherplatz ist an sich nicht der begrenzende Faktor. Aber wir wollen Platz im Kopf freihalten für Kreativität, für das Herumspielen mit Ideen. Menschen, die ein traumhaftes Gedächtnis haben, fühlen sich elendig. Sie haben das Gefühl, ihr Gehirn sei voller Müll. SPIEGEL: Mit Ihrer Firma Memory Pharmaceuticals suchen Sie nach einer Pille, die das Gedächtnis verbessern soll. Kandel: Wir versuchen, Medikamente zu entwickeln gegen Gedächtnisverlust, wie er durch Gemütskrankheiten und durch den Alterungsprozess auftritt. Wir kommen da ganz gut voran und haben einige Substanzen in klinischen Versuchen. SPIEGEL: Glauben Sie, so etwas Vielschichtiges wie das Erinnerungsvermögen durch eine simple Pille kurieren zu können? Kandel: In Versuchstieren funktionieren diese Substanzen außergewöhnlich gut. Bei Mäusen mit Gedächtnisverlust war der Effekt sogar dramatisch. Wenn Sie eine Maus wären, könnten wir viel für Sie tun. SPIEGEL: Was aber, wenn wir gar nicht beeinträchtigt wären, aber dieses Gespräch hier gern etwas besser behalten wollten? Wäre es gut, eine Pille geschluckt zu haben? Kandel: Das ist eine andere Frage. Das eine ist: Würde Ihr Gedächtnis verbessert? Vermutlich. Ist das gut für Sie? Vermutlich nicht. Bedenken Sie, jede Arznei hat Nebenwirkungen. Im Falle einer Beeinträchtigung nehmen Sie diese gern in Kauf, weil ein gestörtes Gedächtnis so furchtbar ist. Aber wenn Sie jung und vital sind, dann können Sie das Manuskript dieses Gesprächs einfach ein paarmal lesen. Pillen wären etwas für Kinder mit kognitiven Problemen und für Ältere mit Gedächtnisverlust. Für Gesunde gibt es bessere und sicherere Möglichkeiten, das Erinnerungsvermögen zu verbessern. SPIEGEL: Zum Beispiel? Kandel: Intellektuelle Aktivität, das Lernen einer Fremdsprache, ein Leben mit vielen Sozialkontakten, aber auch körperliche Fitness. SPIEGEL: Treiben Sie denn noch regelmäßig Sport? Kandel: In der Mittagspause ziehe ich in einem Schwimmbad auf unserem Campus RONALD FROMMANN / LAIF Jugendliche beim Gedächtniswettbewerb: Zum Erinnern gehört auch das Vergessen meine Bahnen, zu Hause trainiere ich auf einem Laufband. Außerdem spiele ich Tennis, samstags Einzel, sonntags Doppel. SPIEGEL: Einst waren Sie Studienanfänger in Harvard, heute sind Sie ein 76 Jahre alter Nobelpreisträger. Wie hat sich Ihr Gehirn unterdessen verändert? Kandel: Je älter man wird, desto ausgereifter fällt man sein Urteil über andere Menschen. Sie können von den Erfahrungen eines ganzen Lebens zehren. Da haben Sie ein reichen und vielgestaltigen Verstand. SPIEGEL: Ermöglicht Ihnen dieser Erfahrungsschatz auch zu kaschieren, dass Ihr Gehirn eben nicht mehr das eines jungen Mannes ist? Kandel: Zum Teil ist das so. Würde jemand meinen rechten Arm auf meinen Rücken binden, so begänne ich, mit der linken zu schreiben. Ähnlich können wir auch Dinge in unserem Gehirn kompensieren. Merken Leute, dass ihr Gedächtnis nachlässt, beginnen sie, sich selbst Hinweise zu schreiben. Sie legen ihren Autoschlüssel jeden Tag an dieselbe Stelle. SPIEGEL: Haben Sie in Ihrer Karriere als Gedächtnisforscher irgendeinen besonderen Trick entdeckt? Kandel: Keinen besonderen. Aber vielleicht ist meine Auffassung von Lebenserwartung anders. Mit 65 oder 70 Jahren denken manche ja: „Jetzt mache ich mich bereit für das Grab.“ Anders als in anderen Ländern muss man hier in den Vereinigten Staaten zum Glück nicht in den Ruhestand, sondern kann emsig weiterarbeiten. Meinen Vertrag habe ich gerade erst erneuert bekommen. Mindestens die nächsten sieben, acht Jahre werde ich noch forschen können. Interview: Jörg Blech, Gerald Traufetter d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Dieser Effekt werde durch körperliche Aktivität und Sport noch weiter verstärkt, sagt Psychologe Lindenberger. „Die Koordination der Sinne mit dem Körper erfordert mit zunehmendem Alter immer mehr Aufmerksamkeit“, erklärt er. Das Überqueren einer Straße etwa nehme das Gehirn eines Greises weitaus stärker in Anspruch als das eines Teenagers. Wer seinen Körper jedoch trainiert und fit hält, der kann diesen Aufmerksamkeitsbedarf spürbar verringern. „Die dadurch frei werdenden Kräfte kann man für andere geistige Aktivitäten nutzen“, sagt Lindenberger, der das Modell der kognitiven Reserve damit um eine Sport-Komponente erweitert. Im nächsten Schritt wollen die Berliner Psychologen sich nun ein Bild davon machen, wie genau geistige und körperliche Aktivitäten ihre Heilkraft im Menschenhirn entfalten. Sie werden junge und alte Menschen an drei Tagen in der Woche auf einem Laufband durch ein virtuelles Labyrinth schicken: eine Art Tierpark, wo es beispielsweise gilt, den Weg vom Löwenkäfig zum Elefantengehege zu finden. Vier Monate lang müssen die Testpersonen das Training absolvieren. Mit Kernspin-Untersuchungen wollen die Psychologen dann beobachten, wie sich die Gehirne der Probanden in Reaktion auf die neuen Umweltreize verändern. Einem gilt ihr Augenmerk dann ganz besonders: der Produktion neuer Nervenzellen. In dem Maß, wie Forscher die normale Funktion der Neurogenese erforschen, erkennen sie auch, was schlecht für sie ist. Stress haben sie als einen Hauptfeind ausgemacht. Dieser äußert sich durch bestimmte Hormone („Glukokortikoide“), die mit dem Blut durch die graue Masse gespült werden. Zwar hat jeder Mensch zu allen Zeiten einen gewissen Pegel dieser Stoffe im Blut; gelegentliche Hormonschübe können sogar das Überleben sichern, weil dadurch in brenzligen Lagen die Aufmerksamkeit erhöht wird. Wenn sie allerdings chronisch ausgeschüttet werden, können diese Hormone wie ein Nervengift wirken. Darunter leiden zum Beispiel Ratten, die in Experimenten dauerhaft dem Geruch eines Fuchses aussetzt werden – in ihrem Hippocampus reifen kaum mehr Zellen heran. Das in Indochina heimische Spitzhörnchen der Art Tupaia belangeri ist ein weiteres Modelltier der Stressforscher. Von Natur aus Einzelgänger, können die Tiere sich buchstäblich nicht riechen: Wenn zwei von ihnen zusammen eingesperrt werden, versiegt die Regenerationsfähigkeit ihres Hippocampus. Ein gestresstes Gehirn kämpfe um sein Überleben, erklärt der Stressforscher Christian Mirescu: „Da ist es nicht interessiert daran, in Zellen für die Zukunft zu investieren.“ An der Princeton University (US-Bundesstaat New Jersey) hat Mirescu in einem 173 RONALD FROMANN / LAIF Kernspintomografie: Wirkung von Umweltreizen beobachten Experiment neugeborene Ratten systematisch von der Mutter getrennt, einige 15 Minuten lang, andere sogar für drei Stunden. Der kurze Mutter-Entzug hatte Folgen fürs ganze Leben. Selbst als die Tiere längst ausgewachsen waren, blieb ihre Neurogenese eingeschränkt. Diese und ähnliche Befunde aus dem Stresslabor elektrisieren Psychologen wie Psychiater. Immer wahrscheinlicher erscheint ihnen: Anstrengende, belastende Umwelteinflüsse untergraben offenbar die Regenerationsfähigkeit des Gehirns und wirken auf diese Weise buchstäblich nervtötend. Es werde „zunehmend klar“, resümiert „Der Nervenarzt“, dass Stress „massiv auf die neuronale Plastizität einwirken und so zur Manifestation von psychiatrischen Störungen beitragen kann“. Beispiel Depression: Seit langem ist bekannt, dass chronischer Stress zu krankhaftem Traurigsein führen kann. Das langgesuchte Bindeglied zwischen Ursache und Wirkung, das schält sich jetzt heraus, könnte die Neurogenese sein. Als einer der Ersten hat das der Pharmakologe Ronald Duman von der Yale University in New Haven, Connecticut, geahnt. Den schmalen, graumelierten Mann hatte seit je gewundert, warum ein Antidepressivum wie Prozac zu Beginn einer Tablettenkur keine Wirkung hat. Vielmehr heitert es die Stimmung erst nach einigen Wochen auf – nach etwa der Zeitspanne also, die eine Vorläuferzelle Der gewandte Geist Wie das Gehirn immer neue Herausforderungen bewältigt VERSTÄRKUNG ALTER SYNAPSEN Durch einen Außenreiz werden vorhandene Verbindungen zwischen den Fortsätzen von Nervenzellen (Synapsen) verstärkt. Auf diese Weise werden Erinnerungen kurzfristig gespeichert. AUSBILDUNG NEUER FORTSÄTZE Durch starke Außenreize sprießen aus Nervenzellen neue Nervenenden hervor. Diese knüpfen mit anderen Nervenzellen zusätzliche Synapsen: Erinnerungen werden so länger gespeichert. PRODUKTION NEUER NERVENZELLEN Im Hippocampus und im Riechhirn entstehen ständig neue Zellen. Sie reifen aber nur dann zu funktionstüchtigen Neuronen heran, wenn es neue und bedeutsame Informationen zu speichern gibt. So können neue Lerninhalte gespeichert werden. einiger Stunden mehrerer Tage ZEITFENSTER Aufbau innerhalb weniger Sekunden 174 d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 braucht, um zu einem Neuron heranzuwachsen. Zur Überprüfung seines Verdachts gab Duman Laborratten Prozac zu fressen. Prompt stieg die Rate der Neurogenese um 50 Prozent. Weitere Experimente liefen aufs Gleiche hinaus: Antidepressiva wie Lithium und elektrokonvulsive Therapie bewirken in Labortieren ebenfalls eine vermehrte Neuronen-Teilung im Hippocampus. Mit Kollegen aus New York machte Duman die Gegenprobe. Diesmal verfütterten die Forscher Prozac an Mäuse, was diese deutlich furchtloser machte. Im nächsten Schritt jedoch bestrahlten sie die Versuchstiere gezielt mit Röntgenstrahlen, so dass alle sich teilenden Zellen im Hippocampus abstarben – und mit ihnen verschwand auch die angstlösende ProzacWirkung. Noch zögern die Wissenschaftler, die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen. Doch schon jetzt haben die Resultate zu einem grundlegend neuen Bild der Depression geführt. Zum einen spornen sie die Industrie an, künftig Antidepressiva zu entwickeln, mit denen sich die Neurogenese ganz gezielt und viel wirkungsvoller als bei Prozac und vergleichbaren Pillen ankurbeln lässt. Zum anderen scheint sich ein neues Verständnis der Krankheit abzuzeichnen: Menschen werden deshalb depressiv, weil ihre Gehirne an Plastizität eingebüßt haben. Dieser Verlust macht sie zunehmend unfähig, die Unwägbarkeiten des Alltags und die Herausforderungen des Berufs zu meistern. „Der Rückzug in die Isolation“, sagt der Berliner Kempermann, „könnte darin begründet sein, dass die Patienten die Neuartigkeit von Reizen nicht adäquat verarbeiten können, was wiederum zu Angstgefühlen führt.“ Sogar schizophrene Psychosen zählen Nervenärzte inzwischen zu den Leiden, bei denen der Neurogenese eine Rolle zufallen könnte. Wird das Gleichgewicht aus Zelluntergang und Neubildung gestört, so die neue Vermutung, könnten dadurch neuronale Netzwerke aus der Balance gebracht werden. Kommt dann ein Reiz aus der Umwelt („auslösender Stressor“) hinzu, kann sich die Seelenstörung manifestieren. Schließlich werden mittlerweile auch die häufigsten Süchte mit dem Phänomen in Verbindung gebracht: der Alkoholismus und die Nikotinabhängigkeit. Dass stetes Trinken nämlich nicht nur alte Nervenzellen ruiniert, wurde unlängst an Ratten bewiesen, denen man übermäßige Alkoholmengen verabreichte. Die Vermehrung von Vorläuferzellen im Hippocampus war bei ihnen deutlich gebremst, das Überleben junger Neuronen vermindert. Diese reduzierte Neurogenese, befürchten die Psychiater Thome und Eisch, könnte „ein relevanter Faktor bei der Entstehung von alkoholindizierten ko- Neurologe Goldberg Programm gegen Schusseligkeit entwickelt losigkeit zu den Vorboten des Alzheimerschen Schwachsinns. Aufgrund dieser Beobachtungen bewerten Ärzte die Krankheit nunmehr neu: Vielleicht liegt der wahre Grund der augenfälligen Degeneration in einer gestör- ten Regeneration. Bisher war man immer davon ausgegangen, dass bestimmte Proteine, sogenannte Beta-Amyloide, krankhaft verklumpen und das Gehirn gleichsam verstopfen. Doch inzwischen zeigt sich: Beta-Amyloide haben noch eine zweite ungute Eigenschaft – sie behindern das Alzheimer-Kranke in einer betreuten Seniorenwohnanlage: Schützt Bildung vor Demenz? 176 Wachsen und Heranreifen der neuralen Vorläuferzellen. Bis heute stoppt kein Medikament Alzheimer. Vielleicht werden Therapien der Zukunft weniger darauf abzielen, das Neuronensterben zu verlangsamen, sondern eher darauf, die Bildung frischen Denkmaterials anzuregen. „Neurogenese könnte vonnöten sein, um den kognitiven Niedergang wirklich zu verbessern oder umzukehren“, heißt es dazu im Fachblatt „Current Alzheimer Research“. Genau das scheinen demente Gehirne aus eigener Kraft zu probieren: Indem sie frische Nervenzellen produzieren, versuchen sie dem Abgleiten in den Schwachsinn zu entgehen. Bis ins hohe Lebensalter kann eine gut funktionierende Neurogenese eine beginnende Alzheimer-Erkrankung zumindest teilweise kompensieren. Diese Abwehrschlacht der Neuronen ist nur ein weiterer Hinweis auf die Plastizität des Hippocampus. Zu Beginn einer Erkrankung versucht das Hirnareal, seinem Untergang entgegenzusteuern. Nicht nur in vergreisenden Köpfen, auch im Gefolge eines Schlaganfalls schnellt die Neurogenese-Rate in die Höhe. In den von Erwachsene Mäuse bilden mehr Nervenzellen aus, wenn sie in einer abwechslungsreichen Umgebung gehalten werden. PETER GRANSER / LAIF gnitiven Funktionsstörungen beim Menschen sein“. Interessanterweise legen die Befunde nahe, dass es für einen Entzug nie zu spät ist. Nach vier bis fünf Wochen ohne Alkohol sprang die Neuronen-Produktion wieder an – und die Tiere schnitten in Verhaltenstest wieder besser ab. Französische Forscher wiederum haben Laborratten Nikotin in Mengen verabreicht, wie rauchende Menschen sie im Körper haben: Die Rate der Neurogenese im Hippocampus fiel glatt um die Hälfte. Das Gleiche gilt für Opiate wie Morphium und Heroin, bei denen ebenfalls nachgewiesen wurde, dass sie Neuronen-Nachwuchs killen. Auch bei der Parkinsonschen Schüttellähmung erkennen Ärzte eine Verbindung zur Neurogenese. Bekannt war bisher, dass den Patienten der Botenstoff Dopamin im Gehirn fehlt. Nun hat der Mediziner Günter Höglinger von der Universität Marburg herausgefunden: Ohne Dopamin ist das Wachstum neuer Nervenzellen gestört. Verabreicht man den Stoff jedoch wie ein Medikament, läuft die Neurogenese wieder auf normalen Touren. Die Alzheimersche Krankheit wurde bisher ausschließlich auf das massenhafte Absterben von Nervenzellen zurückgeführt. In dem Maße, wie das Gehirn schrumpft, verlieren die Patienten das Vermögen, alte Erinnerungen abzurufen und neue zu formen. Ausgerechnet der Hippocampus, der Geburtsort neuer Neuronen, ist vom Abbau besonders früh betroffen; zugleich zählen Merkstörungen und Orientierungs- JAMES LEYNSE Titel d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 der Blutzufuhr abgeschnittenen Hirnregionen sind die Nervenzellen zum Untergang verdammt. Dafür werden im Hippocampus nun auf einmal besonders viele Frischzellen produziert. „Offensichtlich“, sagt Fred Gage aus La Jolla, „werden hier Nervenzellen bereitgestellt, die das beschädigte Hirngewebe wiederherstellen sollen.“ Tatsächlich wandern einige der Neulinge in das erkrankte Areal und reifen dort zu Neuronen heran. Allerdings ist ihre Zahl so gering, dass sie die Schäden eines schweren Schlaganfalls nicht beheben können. Womöglich aber können sie immerhin kleine Infarkte reparieren, die der Mensch gar nicht bemerkt. Dass in bedrohlichen Situationen urplötzlich sogar abseits des Riechkolbens und des Hippocampus neue Nervenzellen heransprießen, fasziniert die Wissenschaftler im besonderen Maße. So gelang es Harvard-Forscher Macklis und seinen Kollegen, in Mäusen künstlich Nervenwachstum hervorzurufen: Zunächst ließen sie mit energiereichen Lichtblitzen gezielt eine Sorte von Nervenzellen in der Hirnrinde (Cortex) verkümmern, wie bei einer neurodegenerativen Erkrankung. In Reaktion auf diesen Anschlag wuchsen umgehend frische Nervenzellen heran. Der wunderliche Trick klappte auch bei Zebrafinken. Zunächst wurden fürs Singen zuständige Neuronen gezielt beschädigt: Das fröhliche Gezwitscher erstarb. Doch bald berappelte sich das beschädigte Organ: Neue Nervenzellen gediehen – und SORGE / CARO Titel Chinesische Akrobaten beim Jonglieren: Vergrößertes Gehirn nach vier Monaten war das Gezirpe der Zebrafinken wieder zu hören. Angespornt von diesen Befunden trachten die Forscher nun danach, solche Selbstheilungskräfte im Gehirn des Menschen anzustoßen. Das Zeug dazu hat es offenbar. Überall, meist in der Nähe von Blutgefäßen, finden sich Vorläuferzellen, aus denen noch komplette Nervenzellen heranreifen können. Allerdings schlummern sie, als wären sie tot. Warum der Körper dieses Potential von allein offenbar nicht nutzt, das ist eines der großen Rätsel der Neurowissenschaft. Jetzt sucht die Zunft nach Wegen, die Faulpelze aus ihrem Tiefschlaf zu reißen. Das schrumpelige Denkorgan eines Alzheimer-Patienten oder das verkümmerte Nervensystem eines Menschen mit amyotropher Lateralsklerose, so die Vision, könnten eines Tages durch aufgeweckte Ersatz-Neuronen aufgemöbelt werden. Gegenwärtig studiert die Gruppe von Macklis im molekularen Detail, welche Faktoren zusammenspielen müssen, damit eine Vorläuferzelle sich in ein bestimmtes Neuron verwandelt. Mittlerweile konzentrieren die Forscher sich auf 30 bis 35 verschiedene Gene und Moleküle. Zwei solcher Stoffe haben japanische Kollegen sogar schon als Medikament für Schlaganfallpatienten ausprobiert. Sie 178 schnitten dazu Nagetieren die Blutzufuhr in Teilen des Gehirns ab und verabreichten ihnen hernach zwei bestimmte Proteine. Und tatsächlich: Im Zuge der Behandlung wurden abgestorbene Nervenzellen durch neue ersetzt, und die Lähmungserscheinungen verringerten sich. Mäuse sind jedoch keine Menschen; und noch kann kein Mediziner versprechen, ob Wuchsstoffe jemals in der Apotheke zu haben sein werden. Näherliegend ist es, die Neurogenese rechtzeitig mit Maßnahmen zu aktivieren, die fast jeder Mensch zu ergreifen vermag: mit geistigem Training und körperlicher Aktivität. Es waren zwei junge Forscher aus Deutschland, der Berliner Kempermann und Hans-Georg Kuhn (heute Göteborg), die den segensreichen Effekt vor zehn Jahren im Labor von Fred Gage am Salk Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla entdeckten. Sie hielten erwachsene Mäuse in einer abwechslungsreichen Umgebung mit Tunneln, Laufrädern und vielerlei Spielzeugen. Die spätere Beschau ihrer Gehirne ergab: Diese Tiere hatten deutlich mehr Nervenzellen ausgebildet als Artgenossen, die in übliche kleine Laborkäfige gezwängt vor sich hin vegetiert hatten – die komplexe Umgebung formte offenbar komplexe Gehirne. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Wie die Umwelt auf die graue Masse einwirken und diese verändern kann, erklärt Kempermann so: Anfangs teilen sich neuronale Vorläuferzellen und produzieren unreife Nachkommen im Überfluss. „Bleiben die stimulierenden Außenreize aus, stirbt ein großer Teil von ihnen wieder ab.“ Die vielfältigen Beobachtungen hat Kempermann soeben in einer fesselnden Hypothese vereint: Demnach sorgen die neuen Neuronen im Hippocampus dafür, dass sich der Mensch einer sich ständig verändernden Umwelt anpassen kann. Sie verleihen ihm die Fähigkeit, neuartige Erlebnisse und Außenreize zu verarbeiten – ohne ältere Erinnerungen löschen zu müssen. Da die Ausbildung und Vernetzung neuer Neuronen zwei bis drei Wochen dauert, müssen dem Modell zufolge andauernd Neuronen auf Vorrat produziert werden. Um aber nicht zu viele Nervenzellen zu verschwenden, erhöht das Gehirn die Rate der Neurogenese nur dann, wenn die Wahrscheinlichkeit für neue Reize steigt. Wie viele Eindrücke aber das Hirn stimulieren, das hat jeder gesunde Mensch selbst in der Hand. Vielfältige Reize kann er ihm schließlich leicht liefern: indem er ein geistig und körperlich aktives Leben führt. Jörg Blech Kultur FOTOS: COLLECTION ROLF HEYNE Szene Moses-Aufnahmen aus dem Bildband „Manuel“ riat erlöst (Collection Rolf Heyne; 29,90 Euro). Über ein Jahr lang begleitete Moses seinen fünfjährigen Sohn. Der Kamera scheint Manuel sich nie bewusst zu sein, oft ist er nackt, und so berührt dieses Fototagebuch durch die emotionale Unmittelbarkeit seiner Sechziger-JahreTraumwelt. Und durch seine Botschaft. Die ist simpel: Kinder gehören zum wahren Leben – weil sie cool sind und nicht, weil man mit ihnen demografische Krisen lösen kann. FOTOGRAFIE Seifenblasen der Sechziger r sei schon sehr früh ein sehr altes Kind gewesen, hat Stefan Moses, der 1928 geborene Fotograf, einmal gesagt. Und damit die Gefühlslage einer ganzen Elterngeneration beschrieben: Groß geworden in schwierigen Zeiten, wollte sie ihren eigenen, in den sechziger Jahren AU S ST E L L U NGE N Schnüffeln vor Blümchenmuster Z geborenen Kindern das richtige Leben herbeizaubern, mit Seifenblasenpusten, wilden Spielen im Garten und Lagerfeuer am Strand. Die Blaupause für diese Träume lieferte der großartige Bildband „Manuel“ von 1967, den jetzt eine Neuauflage vom Dahinsiechen im Antiqua- chen. Dort wird parallel eine zweite Fuchs-Serie namens „Toys“ gezeigt: In Geschäften und Privatsammlungen stießen die Fotografen auf kuriose Spielzeugfiguren, auf die Mini-Ausgaben etwa von Saddam Hussein und Osama Bin Laden. Blümchentapete im Stasi-Reich und ein Plastik-Hussein – man kann das Böse auf die eine oder andere Art banalisieren. wei Jahre lang war das westdeutsche Fotografenehepaar Daniel und Geo Fuchs der ostdeutschen Vergangenheit auf der Spur. Es besuchte von Berlin bis Magdeburg die Stätten, an denen das Ministerium für Staatssicherheit wirkte: Büros, Verhörzimmer, Untersuchungsgefängnisse, eine Häftlingsbibliothek (mit Erich-Honecker-Porträt). Man sieht karge Keller, schmale Pritschen, lange Gänge, aber auch geblümte Tapeten und pinkfarbene Teppiche als Beispiele fürs Neo-Biedermeier im Osten. Die Innenausstatter des Schnüfflerministeriums gaben sich Mühe, Gefangene und wohl auch Mitarbeiter mit Geschmacklosigkeit einzuschüchtern. Die Atmosphäre des Schreckens ist noch präsent. „Auf mich haben die Orte wie konserviert gewirkt“, sagt Geo Fuchs, 36. Die großformatigen Aufnahmen des Duos werden nun erstmals ausgestellt. Die Schau „Stasi – Geheime Räume“ startet am Mittwoch in der Villa Stuck in MünFuchs-Fotografie eines Erich-Mielke-Büros d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 AU TOR E N Zurück aus der Stille anche Autoren schweigen so lange und so beharrlich, dass man M sie irgendwann beinahe vergisst. So DANIEL UND GEO FUCHS E auch der dänische Erfolgsschriftsteller Peter Høeg. Ein ganzes Jahrzehnt hatte sich der 48-Jährige nach seinen Welterfolgen „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ und „Die Frau und der Affe“ in einem esoterischen New-Age-Center in der jütländischen Provinz völlig zurückgezogen. Interviews und öffentliche Debatten lehnte er rigoros ab. Doch nun meldet sich Høeg mit einem neuen Roman („Das stille Mädchen“. Rosinante Verlag, Kopenhagen) zurück. Das Buch erzählt die Geschichte des spielsüchtigen Zirkusartisten Kasper Krone, der sich in einem überfluteten Kopenhagen der Zukunft herumtreibt. Auch diesmal ist Høeg ein hochliterarischer Thriller gelungen, der in diesen Wochen in dänischer Sprache erscheint. Übersetzungen dürften nicht allzu lange auf sich warten lassen: Etliche deutsche und andere ausländische Verlage stehen bei dem kleinen Kopenhagener Verlag bereits für die Rechte Schlange. 181 Szene L I T E R AT U R KUNST Kein Beileid, bitte Finale in Pastelltönen A Albert Drach: „Das Beileid. Nach Teilen eines Tagebuchs“. Zsolnay Verlag, Wien; 288 Seiten; 21,50 Euro. 182 D NATIONAL GALLERY OF ART, WASHINGTON ie französischen Impressionisten und ihre lichte Malerei – alle Jahre wieder werden sie von den Ausstellungsmachern neu entdeckt: Sie sind nun einmal die Lieblinge des Publikums und garantieren einen großen Besucherandrang. Von dieser Woche an dürfen sich die Kunstfreunde wieder auf die Reise machen: in die Staatsgalerie Stuttgart. Dort widmet man sich nach Manet, Renoir und Degas nun Claude Monet und seinen Landschaftsbildern. Die Schau, die am Freitag eröffnet wird, soll auch so etwas wie ein triumphales Finale sein: Der Staatsgalerie-Direktor Christian von Holst verabschiedet sich in diesem Jahr in den Ruhestand, sein Nachfolger ist der Brite Sean Monet-Gemälde „Der Spaziergang“ (1875) Rainbird, der lange beim Londoner Museum Tate Modern als Aus- er in Großbritannien feierte: Gerhard stellungskurator tätig war und dort be- Richter, Max Beckmann, Joseph Beuys wiesen hat, dass man auch mit der Kunst und zuletzt Martin Kippenberger. Die des 20. und 21. Jahrhunderts viel Publi- impressionistische Phase – sie könnte in kum ins Haus ziehen kann. Regelmäßig Stuttgart demnächst der Vergangenheit waren es übrigens deutsche Künstler, die angehören. MARCO DRESEN / VENTURA uch der Zorn ist eine Begabung. Wo er sich nicht äußert, wo brüllen, stampfen und schlagen sich verbieten, kommt die Sprache als Äußerung in Frage. Im Falle des Schriftstellers Albert Drach (1902 bis 1995) ist es nicht nur sozial ein glücklicher Umstand, dass Drach sich immerhin äußern konnte und so nicht zum Amokläufer oder Selbstmörder wurde. Seine Stimme ist einzigartig in der Literatur: von ruppiger Sachlichkeit, Kälte und penetranter Unerbittlichkeit. Drach floh als Jude vor den Nazis nach Frankreich, schlug sich dort mühsam durch. Er kehrte zurück und ließ sich nieder in jener „Anhäufung der Rührseligkeit und Hinterfotzigkeit“, die für ihn den Namen Österreich trägt. Der gelernte Jurist prozessierte um die Rückgabe seines Vaterhauses, in dem die Denunzianten von ehedem sich breitgemacht hatten, jahrzehntelang auch gegen den Staat, der dem Enteigneten die Mieteinnahmen schuldig geblieben war. Er blieb ein Ausgestoßener durch das, was er erlebt hatte, durch die Erinnerung daran und durch die Beharrlichkeit, mit der ein beinahe Ermordeter die Rückkehr in die Gesellschaft fordert, wenigstens und immerhin in der Sphäre der Justiz: „Als gefühlvolles und in bürgerlichen Rechtsregeln verfangenes Gespenst und dessenthalben auch von jenen geächtet, die am Rande oder auch in der Mitte seinerzeit mitgemacht hatten, war ich auf dem traurigen Wege zur Wiedergeburt und hatte hierzulande auf Beileid kein Recht.“ Der Büchner-Preisträger Drach ist auch in der Literatur ein Fremder geblieben – hochgeachtet und kaum gelesen. Die notwendige Zumutung seines Zorns und das Eigentümliche seiner Sprache – prägnant in der Verzweiflung, von bitterem Humor und vibrierend lebendig – sorgten für eine verschworene, kleine Anhängerschaft. Um dem abzuhelfen, veröffentlicht der Zsolnay Verlag Drachs literarisches Werk nun in einer gut kommentierten Werkausgabe, mit Fotos und Dokumenten. „Das Beileid“ berichtet von Drachs letzten Monaten im Exil und seiner Rückkehr nach Österreich. Ein grimmiges Vergnügen. Ayoub in „Private“ „Private“ erzählt auf engstem Raum vom israelisch-palästinensischen Konflikt. Ein muslimischer Pazifist (Mohammad Bakri) weigert sich, sein umkämpftes Haus im Westjordanland zu verlassen, und lebt fortan mit seiner Frau, Tochter Mariam (Hend Ayoub) und weiteren vier Kindern streng bewacht im d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Erdgeschoss, während israelische Soldaten den ersten Stock besetzt halten. Unweigerlich gefährden der revolutionäre Elan der Heranwachsenden und die Neugier der Kinder den Hausfrieden. Der Italiener Saverio Costanzo übernimmt in seinem Debütfilm mit Einfallsreichtum die von Angst beherrschte Perspektive seiner palästinensischen Figuren und lotet spielerisch die Chance ziviler Lösungen auf ideologisch vermintem Terrain aus. „Falscher Bekenner“ handelt von einem apathischen Rebellen: Still und störrisch widersetzt sich der 18-jährige Armin (Constantin von Jascheroff) dem Terror der Ereignislosigkeit in einer deutschen Kultur SPIEGEL: Aber Brasilien ist auch ein „Wir sind die Tropen“ Brasiliens Sänger und Kulturminister Gilberto Gil, 63, über das Festival In Transit, das er am 25. Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet, und den Rassismus im Sport SPIEGEL: Señor Gil, brasilianische Kultur boomt in Europa. Jetzt laden Sie zur WM der Kulturen ein. Was planen Sie? Gil: Das Kulturprogramm umfasst über 250 Veranstaltungen in Deutschland und Brasilien. Von Kammermusik bis zu Funk und HipHop werden wir die ganze Bandbreite unserer Musik vorstellen, nicht nur Samba. Außerdem haben wir deutsche Künstler nach Brasilien eingeladen, so dass beide Nationen etwas von dem Projekt haben. SPIEGEL: Warum übt Brasilien eine so große Faszination auf die Deutschen aus? Gil: Gegensätze ziehen sich an. Unsere Kultur basiert auf Intuition. Wir sind ein Volk von Misch- Gil lingen, verschiedene Kulturen und Religionen leben friedlich nebeneinander. Wir haben eine optimistische Vision des Lebens, es erscheint uns als Paradies. Wir sind die Tropen, Europa ist Winter und Nebel. Land voller Gewalt und sozialer Konflikte. Gil: Im Vergleich mit den sogenannten zivilisierten Nationen schneidet Brasilien nicht schlecht ab. In den USA und Frankreich ist das Gewaltpotential ebenfalls riesig, das haben wir bei den Aufständen in Paris gesehen. SPIEGEL: Schwarze Fußballspieler in Europa klagen über den zunehmenden Fremdenhass im Sport … Gil: … und das ausgerechnet in Ländern wie Italien und Spanien, die eine lange Tradition afrikanischer Einflüsse haben. Dieser Rassismus ist purer Exhibitionismus. Unter den Jugendlichen finden die Neofaschisten viel Zulauf, weil sie auf der Suche nach der eigenen Identität sind. Sie wollen anders sein, suchen das Exotische. Das hängt mit dem Überschuss an sexueller Energie in diesem Alter zusammen, die sich dann von Zeit zu Zeit in Gewalt äußert. SPIEGEL: Leiden auch schwarze Künstler unter Rassismus? Gil: In der Kultur ist der Rassismus verschleiert. Im Sport und in der Kunst werden die Schwarzen geschätzt, weil sie gut sind. Sie haben sich mit großem Einsatz Freiraum geschaffen. Endlich. ECKEHARD SCHULZ / AP V E R A N S TA LT U N G E N Kino in Kürze Kleinstadt und der fürsorglichen Umklammerung seiner Eltern. Er flüchtet in bizarre erotische Phantasien und bezichtigt sich eines Verbrechens, das er nicht begangen hat. Dank eines feinen Sinns für den Aberwitz des Alltags und eines Hauptdarstellers, der dem Überdruss ein interessantes Gesicht gibt, gelingt es dem Regisseur Christoph Hochhäusler, Lange- weile so darzustellen, dass sie kaum auf den Zuschauer übergreift. PIFFL MEDIEN „The Sounds of Silents – Der Stummfilmpianist“ porträtiert einfühlsam und humor- voll die Berliner Kino-Legende Willy Sommerfeld. Der inzwischen 102 Jahre alte, aus Danzig stammende Musiker begleitete schon in den zwanziger Jahren Stummfilme am Klavier und schafft es noch heute spielend, seinem Instrument die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen zu entlocken. Die Filmemacherin Ilona Ziok feiert den verschmitzten Sommerfeld, der auch dirigiert und komponiert hat, als letzten Meister seines Fachs und leidenschaftlichen Interpreten des frühen Kinos, der noch dem betulichsten Melodram ungeahnte Verve verleihen kann. Szene aus „Falscher Bekenner“ d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 183 THE NEW YORKER / REUTERS (L.); ALI IMAM / REUTERS (R.) Irakischer Gefangener der Amerikaner, Anti-US-Protest in Pakistan: Verwerfliche Mittel zerstören das beste Ziel PHILOSOPHIE „Adler des Geistes“ Eine Ausstellung in Paris prüft das Erbe der großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts und die Bedeutung ihres Denkens für die Kulturkämpfe der Gegenwart. Aufklärung bleibt ein geschichtlich unvollendetes Projekt – und damit ein immer neu zu erfüllender Auftrag. D ie „Vormünder“, wie Immanuel Kant die Hüter des politisch und religiös Korrekten seinerzeit nannte, kleiden sich gern in den Mantel gravitätischer Ernsthaftigkeit. Der erhobene Zeigefinger ist ihre normale Positur. Die befreite Vernunft dagegen liebt die Heiterkeit und das Lachen. Niemand wusste das besser als der geniale französische Spötter Voltaire, der in seiner Polizeiakte von den königlichen Aufpassern als „groß, hager, mit dem Aussehen eines Satyrs“ beschrieben wurde. Der Witz war die stärkste subversive Waffe dieses „Adlers des Geistes“, der die Tischrunden des Preußen-Königs Friedrich II. mit seinem scharfen Esprit unterhielt. Aber auch der tiefernste Königsberger Phi184 losoph Kant hielt den Lächerlichkeitstest für die strengste Wahrheitsprobe einer Theorie – nur was sich nicht ad absurdum führen lässt, hat vor der kritischen Prüfung Bestand. Voltaire und Kant sind die beiden emblematischen Hauptvertreter der Aufklärung, jener Geistesbewegung, die am Anfang des modernen Europa steht: „Ohne Europa keine Aufklärung; aber auch: ohne Aufklärung kein Europa“, sagt der französische Ideengeschichtler Tzvetan Todorov, der als gebürtiger Bulgare in seiner Jugend unter der humor- und geistlosen Diktatur des Kommunismus litt. Todorov hat eine epochale Ausstellung organisiert, die derzeit noch in der französischen Nationalbibliothek über die d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 „Aufklärung! – Ein Erbe für morgen“ („Lumières!“) zu sehen ist. Nach dem Tod Gottes, nach dem Zusammenbruch der Utopien des 20. Jahrhunderts erscheint ihm die Aufklärung als der einzige solide intellektuelle und moralische Sockel, auf dem sich die humanistischen Werte des Westens in den Kulturkämpfen der Gegenwart aufbauen lassen. Jean-Noël Jeanneney, Präsident der Pariser Nationalbibliothek, kam die Idee zu diesem grandiosen Projekt schon einige Zeit nach dem 11. September 2001 während einer Reise durch die USA. Der Anblick der noch rauchenden Trümmer der Zwillingstürme in New York, erzählt er, habe in ihm die Bilder von Kämpfen eines anderen Zeitalters wiederauferstehen lassen. Kultur schließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“ Das bedeutet, dass der Mensch ständig aufgefordert bleibt, seiner irdischen Existenz einen Sinn zu geben, ganz gleich, welche Hoffnung er in ein Leben nach dem Tod setzt. Nicht mehr die Autorität der Götter, der Vorfahren oder der Traditionen bestimmt das Ziel menschlichen Lebens, sondern der Entwurf für die Zukunft. Der Verstand und die Erkenntnisse der Wissenschaft sind dafür die geeigneten Instrumente. Ebendarin liegt eine Versuchung und eine Gefahr: die Vergöttlichung des Selbst, die Verabsolutierung des mündigen Ich. In seinem Versuch, den Geist der Aufklärung auf die Gegenwart zu übertragen, hat Ausstellungsleiter Todorov die Denker des 18. Jahrhunderts deshalb einer radikalen Kritik unterzogen. Er will das Erbe der Vergangenheit bewahren, indem er sie neu begründet: „Nur indem wir die Aufklärung kritisieren, bleiben wir ihr treu.“ Schon die Französische Revolution, eine Kopfgeburt der Aufklärung mit der Proklamation der Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Trennung von Staat und Religion sowie der Wissenschafts- und Vernunftgläubigkeit, lieferte den Gegnern der Aufklärung ein gewichtiges Argument: Aufklärung gleich Revolution, Revolution FOTOS: AKG Europa hervor, nicht nur aus einem oder zwei Ländern. Auch wenn sie Frankreich, Deutschland, England und Italien in den Mittelpunkt stellt, illustriert die Pariser Ausstellung das Grenzüberschreitende, ja Globale einer Bewegung, an der Friedrich II., der Philosoph von Sanssouci und Gastgeber Voltaires, genauso beteiligt war wie Katharina die Große in Sankt Petersburg, die sich gern als „Minerva“ feiern und von dem Voltaire-Mitstreiter und Enzyklopädisten Denis Diderot beraten ließ. Die Vereinigten Staaten von Amerika sind ein Kind der Aufklärung, mithin eine „Projektion des europäischen Geistes“, so der französische Dichter Paul Valéry; USPräsident Bush beruft sich auf ihren Geist, wenn er Demokratie mit Waffengewalt im Irak durchsetzen will – und verstößt doch gegen ihre Grundbedingungen, wenn er das autoproklamierte Recht auf Einmischung beansprucht, Folter im Namen der Humanität duldet und die politische Wahrheit dem militärischen Gebot unterwirft. Niemals kann das Ziel die Mittel rechtfertigen, verwerfliche Mittel aber können das lauterste Ziel zerstören – dieser Grundwiderspruch hat Amerikas Krieg gegen Saddam Hussein womöglich von Anfang an zur verlorenen Sache gemacht. Aber was ist heute noch Aufklärung? Ihr einmaliges Projekt beruht auf drei großen Ideen, die ihrerseits unzählige Konsequenzen nach sich ziehen: Autonomie AKG ERICH LESSING / AKG Krieg gegen den Terrorismus, wie USPräsident George W. Bush ihn sofort erklärte? Nun ja, aber doch zuallererst ein geistiger, kultureller Krieg gegen das, was Voltaire einst als das „Infame“ angeprangert hatte – Obskurantismus, Fanatismus, Fundamentalismus jeder Art, die den westlichen Gesellschaften einen „Kampf auf Leben und Tod“ liefern, so Jeanneney, und in einem planetarischen Totentanz mörderischen Aberglauben und zerstörerische Vorurteile in einer längst überwunden geglaubten Barbarei vereinigen. „Écrasez l’infâme“ (Zerschmettert die Niederträchtige): Dieser antiklerikale Schlachtruf Voltaires gegen die religiöse Bevormundung im 18. Jahrhundert hat durch Islamismus und Dschihad eine neue, ungeahnte Aktualität erhalten. Die Gesellschaften des Westens, glaubt Jeanneney, müssten neue Lebenskraft im Zeitalter der Aufklärung suchen, die in den drei Vierteljahrhunderten vor der Französischen Revolution alle moralischen und politischen Gewissheiten zertrümmerte oder doch zumindest aushöhlte. Diese geistig-moralische Wende, die 1789 mit dem Sturm auf die Bastille ihren ersten Höhepunkt erreichte und 200 Jahre später mit dem Fall der Berliner Mauer eine erneute Zäsur markierte, begründet für den Historiker Todorov mehr denn je die gegenwärtige Identität des zusammengewachsenen Europa: „Zum ersten Mal in Philosophen Voltaire, Diderot, Kant, Rousseau: Die Aufklärung kritisieren, um ihr treu zu bleiben der Geschichte beschließen die menschlichen Wesen, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und das Wohlergehen der Menschheit als letztes Ziel ihres Handelns zu bestimmen.“ Die Suche nach dem diesseitigen Glück ersetzt das Streben nach dem jenseitigen Heil, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird getrennt von der Sünde wider Gott – dieses laizistische Grundprinzip, das im Übrigen private religiöse Überzeugungen unangetastet lässt, hat der Islam bis heute nicht übernommen. Die Aufklärung ging in einem atemberaubend verdichteten Zeitraum, einer Beschleunigung der Geschichte, aus ganz und Emanzipation des Individuums, Humanismus als Selbstzweck (also eine anthropozentrische, vom Sakralen entzauberte Welt) und Universalität, die sich in unantastbaren Menschenrechten und mithin im Gleichheitsgebot ausdrückt. Die wohl berühmteste Definition hat Kant gegeben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entd e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 gleich Terror. „Die Revolution hat mit der Erklärung der Menschenrechte begonnen“, behauptete der Monarchist und Reaktionär Louis de Bonald, „deshalb ist sie im Blut geendet.“ Das Vergehen der Aufklärung bestünde demnach darin, den Menschen an Gottes Stelle als Quelle seiner Ideale gesetzt zu haben, die Vernunft, der jeder Einzelne sich frei bedienen möchte, an die Stelle der kollektiven Überlieferung, die Gleichheit statt der Hierarchie, den Kult der Vielfalt statt der Einheit zu propagieren. Eine Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist, wie Todorov und die Pariser Aus185 SAMMLUNG RICHTER / CINETEXT Kultur Sklavenzüchtigung*: „Pflicht, die niederen Rassen zu zivilisieren“ stellung zeigen. Die Dialektik der Aufklärung birgt immer die Möglichkeit ihres Umschlagens ins Totalitäre; nicht nur die moderne Demokratie, auch die totalitäre Utopie des Kommunismus entspringt ihrem Ansatz. Jede rein fortschrittsgläubige Deutung der Geschichte fällt der Illusion anheim. Das Vertrauen in die lineare Evolution der Aufklärung hat manche ihrer Denker zu kapitalen Fehlschlüssen verleitet, darunter Turgot, Lessing und Condorcet. „Die ganze Masse des Menschengeschlechts“, schrieb Turgot, „bewegt sich unablässig, wenn auch mit langsamen Schritten, auf eine größere Vollkommenheit zu.“ Voltaire dagegen hat nie aus dem Blick verloren, dass Geschichte ihrem Wesen nach tragisch ist. In seinem „Candide“ mokierte er sich über den naiven Aberglauben an die „beste aller Welten“. Und auch Jean-Jacques Rousseau, der vielleicht tiefgründigste und vielseitigste Philosoph der französischen Aufklärung, wusste nur zu * Illustration um 1900. 186 gut, dass es nach dem Kampf gegen die Bigotterie einen zweiten, ungewöhnlicheren Streit geben würde – den gegen den „modernen Materialismus“. Geschichte lässt sich nicht von ihrem Endzustand her denken, den sie – als Paradies – ohnehin nie erreicht. Was die Menschheit auszeichnet, ist nicht der lange Marsch zur Vollkommenheit, sondern die mühselige Fähigkeit der Verbesserung, so klein die einzelnen Schritte auch sein mögen. Die Ergebnisse sind nie garantiert, auch nicht unumkehrbar. Doch dieser Gang der Geschichte rechtfertigt alle Anstrengungen und Bemühungen, ohne irgendeinen Erfolg zu gewährleisten. Rousseau glaubte sogar, dass jeder objektive Fortschritt, vor allem in der Wissenschaft, mit einem Rückschritt auf anderem Gebiet bezahlt werden müsse – ein Dilemma, das noch heute die Ethik von Medizinern, Biologen, Genetikern oder Physikern prägt und wahrscheinlich nicht aufzulösen ist. In ihren Fehlleitungen und Zweckentfremdungen kann die Aufklärung zuletzt d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 sogar zur Legitimation von Verbrechen gegen die Menschheit, wie die Sklaverei, missbraucht werden – ein Widerspruch in sich selbst. Todorov weist nach, wie Jules Ferry, der große französische Bildungspolitiker des 19. Jahrhunderts, Verfechter der obligatorischen und kostenlosen Schulunterrichtung für alle Kinder, gleichzeitig koloniale Eroberungen der Dritten Republik in Indochina oder Nordafrika im Namen des Bildungsideals rechtfertigte. Die überlegenen Völker, allen voran Franzosen und Engländer, hätten ein Recht auf Einmischung in die Angelegenheiten der Minderwertigen und Zurückgebliebenen: „Sie haben die Pflicht, die niederen Rassen zu zivilisieren.“ In Wirklichkeit konnte davon natürlich keine Rede sein. Marschall Bugeaud, der Mitte des 19. Jahrhunderts Berber und Araber in Algerien massakrierte, versuchte erst gar nicht, den Schöngeist zu mimen: „Ich werde immer die französischen Interessen einer absurden Philanthropie für Fremde vorziehen, die unseren gefangenen oder verletzten Soldaten die Köpfe abschneiden“, erklärte er unter dem Beifall der Abgeordneten vor dem Parlament. Alexis de Tocqueville, der Herold und scharfsinnige Analytiker der amerikanischen Demokratie, pflichtete dem Haudegen bedenkenlos bei: Das herausragende Verdienst Bugeauds bestehe nicht darin, ein Philanthrop zu sein – „nein, was ich glaube, ist, dass Monsieur le Maréchal auf afrikanischem Boden seinem Land einen großen Gefallen erwiesen hat“. Nationalismus statt Humanismus, Chauvinismus statt Universalität, Recht auf Eingreifen statt Pflicht zum Beistand – bis heute droht Aufklärung sich immer in Repression zu verkehren, mit bestem Wissen und Gewissen. Drei Ankläger sind es, die laut Todorov die Keime des zerstörerischen Totalitarismus in der Aufklärung besonders scharf erkannt haben. Nicht zufällig sind sie, bei aller Unterschiedlichkeit, religiös inspiriert: der anglikanische Brite T. S. Eliot, der orthodoxe Russe Alexander Solschenizyn und der polnische Papst Johannes Paul II. Eliot versuchte am Beginn des Zweiten Weltkriegs zu beweisen, dass der einzig echte Widerstand gegen den Totalitarismus nur von einer wirklich christlichen Gesellschaft ausgehen könne. Ein Drittes gebe es nicht: „Wenn ihr keinen Gott haben wollt (und Er ist ein eifersüchtiger Gott), müsst ihr euch Hitler oder Stalin unterwerfen.“ Die Zurückweisung Gottes aber ist die zentrale Errungenschaft der Aufklärung, die es möglich gemacht hat, moderne Staaten auf eine rein menschliche Basis zu gründen. Der rationalistische Humanismus, der Anthropozentrismus, also die Idee des Menschen als Mittelpunkt des Seienden, geboren aus dem Geist der Renaissance, in politische Formen gebracht während der DAVID CARR / BNF Kultur Ausstellung „Lumières!“ in Paris: „Ohne Aufklärung kein Europa“ Aufklärung, so auch das vernichtende Urteil Solschenizyns, ständen am Anfang des Totalitarismus: „Wer sich heute noch festhält an den erstarrten Formeln der Aufklärung, erweist sich als rückständig.“ Papst Johannes Paul II. entwirft die gleiche Ideen-Genealogie. Die Ideologien des Bösen leiten sich ihm zufolge aus dem europäischen Denken ab, aus der Renaissance, dem Cartesianismus, der Aufklärung. Deren kapitaler Fehler sei es gewesen, die Suche nach dem Glück über die des Seelenheils zu stellen. So blieb der Mensch allein: allein wie der Schöpfer seiner eigenen Geschichte; allein als derjenige, der darüber entscheidet, was gut und was böse ist. Von da bis zu den Gaskammern des Konzentrationslagers Auschwitz ist es nur ein Gedankenschritt: „Wenn der Mensch von sich aus ohne Gott entscheiden kann, was gut ist und was schlecht, dann kann er auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen ausgelöscht wird.“ Das Drama der Aufklärung bestehe in der Zurückweisung des Christus, wer Gott leugne oder verdränge, sei unter Umständen auch bereit zum Genozid und zum äußersten Bösen. Nun ist Völkermord im Lauf der Geschichte auch im Namen Gottes begangen worden, die Aufklärung lässt sich dafür nicht heranziehen. Denn ihr Diskurs und ihre Moral sind nicht subjektiv, sondern intersubjektiv, sagt Todorov, das heißt, die Prinzipien des Guten und des Bösen sind Gegenstand eines Konsenses, erarbeitet in einem herrschaftsfreien Dialog, der potentiell die ganze Menschheit einbezieht: „Die Moral der Aufklärung ergibt sich nicht aus der egoistischen Liebe zu sich selbst, sondern aus der Achtung vor der Menschheit.“ Die christliche Nächstenliebe braucht folgerichtig nicht die Krücke der Religion, zu ihrer Begründung reicht der kategori188 d e r sche Imperativ von Kant. Die Aufklärung hat die einzige rein laizistische Ethik der modernen Geschichte geschaffen – das ist ihr bleibendes Verdienst. Sie hat sich ihre Grenzen immer selbst gesetzt; der Wille der Völker und der Menschen ist frei, aber das macht ihn nicht willkürlich. So bleibt die Aufklärung nicht nur ein in der Geschichte unvollendetes Projekt, sondern ein in ihren intellektuellen Voraussetzungen immer neu zu erfindendes Erbe. Die Pariser Veranstaltung mit ihren etwa 140 Ausstellungsstücken – Bildern, Stichen, Erstausgaben und Manuskripten, versehen mit essayartigen Erklärungen in sechs Themengruppen – definiert den modernen Philosophen nicht als Verkünder des Glücks und des Endes der Geschichte, sondern als Wächter vor dem Unheil und dem Nichts. Im letzten Saal der Nationalbibliothek liegt Rousseaus „Contrat social“ neben einer französischen Ausgabe der ursprünglichen amerikanischen Verfassung. Darüber prangt eine Zeichnung des Malers JeanHonoré Fragonard von US-Gründervater Benjamin Franklin als Jupiter. Der aufgeklärte, vernunftgesteuerte Mensch, ein Gott? Nur wenn er sich seiner Endlichkeit und Unzulänglichkeit als rationalistischer Blitzeschleuderer bewusst bleibt. Aufklärung geht nie zu Ende, sie ist tatsächlich ein nie vergehendes „Erbe für morgen“. Der große französische Historiker Fernand Braudel stellte sich vor, Voltaire hätte auf seinem Sitz in Ferney bei Genf in einem langen Tiefschlaf überlebt. Würde er heute aufwachen, so sein Fazit, könnten „wir uns ausführlich mit ihm unterhalten, ohne große Überraschung. Auf der Ebene der Ideen sind die Männer des 18. Jahrhunderts unsere Zeitgenossen“. Für den Königsberger Kant, diesen Weltgeist vor Hegel, würde natürlich erst recht Romain Leick das Gleiche gelten. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Kultur punkt erreicht der Rummel um „Sakrileg“ erst in dieser Woche: Am Mittwoch hat die „Sakrileg“-Verfilmung Premiere, zum Auftakt der Filmfestspiele von Cannes; danach kommt die 125-Millionen-Dollar-Produktion weltweit in die Kinos. Regisseur Ron Howard („A Beautiful Mind“) gibt sich redlich Mühe, die zahlreichen Volkshochschul-Passagen der Vorlage in packende Bilder zu verwandeln: Eine Szene, in der Leonardos „Abendmahl“ zu Leben erweckt werden soll, sieht aus wie die Power-Point-Präsentation eines ehrgeizigen Kunstlehrers. Immerhin gibt es eine schöne Verfolgungsjagd, in der die Hauptdarsteller Tom Hanks und Audrey Tautou in einem Smart durch Paris rasen. Spannender als das Werk selbst ist denn auch die Marketing-Schlacht, die sich das verantwortliche Filmstudio Columbia – Teil des Sony-Konzerns – seit Monaten mit den strenggläubigen Opus-Dei-Anhängern lie- FILM Limonade statt Zitronen Zur Premiere der BestsellerVerfilmung „Sakrileg“ entbrennt eine bizarre PR-Schlacht: Der Geheimbund Opus Dei sieht sich durch Hollywood verunglimpft. E FOTOS: HIPP-FOTO s ist, je nach Betrachter, „die größte Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit“, eine zum Himmel stinkende Gotteslästerung oder einfach nur eine krude Räuberpistole. Die Idee: Jesus war gar kein kinderloser Single, wie die Bibel behauptet. Vielmehr habe „Sakrileg“-Stars Hanks, Paul Bettany, Tautou: Die Kirche als Verbrecherbande dargestellt der fromme Mann aus Nazaret mit Maria Magdalena eine Tochter gezeugt, die treue Anhänger vor der Welt versteckten. Bis heute, so die kühne These, leben Nachfahren Jesu im Untergrund und geben keine Interviews. Einem phantasiebegabten Englischlehrer aus New Hampshire namens Dan Brown ist es zu verdanken, dass die ganze Sache trotzdem weltweit Schlagzeilen machte. Brown baute die heilige Mär inklusive Gralslegende in einen weltlichen KrimiPlot ein, wonach ein cleverer Symbologe nach einem Mord im Pariser LouvreMuseum dem Geheimnis auf die Spur kommt und dabei von einem blutrünstigen Mitglied des katholischen Elite-Bundes Opus Dei verfolgt wird. Seit 2003 hat sich Browns Roman „The Da Vinci Code“ (deutscher Titel: „Sakrileg“) weltweit mehr als 50 Millionen Mal verkauft. Es dürften demnächst wohl noch ein paar mehr werden, denn seinen Höhe190 fert. Vorteil des Opus Dei: Anders als Sony, das unbedingt seinen „vorprogrammierten Mega-Hit“ („Bunte“) landen muss, hat es nichts zu verlieren. Denn die rund 88 000 Mitglieder des Opus Dei („Werk Gottes“) gelten vielen Kritikern als die Taliban der katholischen Kirche, als eine hermetisch abgeschottete Gemeinschaft, ideologisch verbohrt, sagenhaft einflussreich und Diktaturen nicht abgeneigt. So bewunderte der Gründer Josemaría Escrivá de Balaguer, 2002 von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen, einst Spaniens faschistischen Diktator Franco und soll ihn sogar als „guten Christen“ bezeichnet haben. Auch dass sich manche Opus-Dei-Aktivisten bei bizarren Ritualen selbst geißeln, bis das Blut spritzt, erregt außerhalb von Sado-Maso-Zirkeln eher Misstrauen. Jahrelang galt die Opus-Dei-Zentrale an der Lexington Avenue in Manhattan als so verschwiegen wie der Aldi-Konzern; die d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Öffentlichkeitsarbeit der Personalprälatur nahmen allenfalls Fachleute zur Kenntnis – bis Brown in seinem Roman das Opus Dei als sinistre Katholen-Stasi karikierte, die sogar einen „Mönch“ namens Silas als Auftragskiller losschickt. Zumindest bei der „Sakrileg“-Verfilmung wollte Opus Dei diese Darstellung verhindern. Doch ein Brief an Studio-Chefin Amy Pascal („Wie wäre es wenigstens mit einem Hinweis im Vorspann, das Ganze sei nur Fiktion?“) hatte keinen Erfolg. Seitdem herrscht Glasnost bei Opus Dei. Geschickt nutzt man dabei den Wirbel, den die PR-Profis aus Hollywood entfachen, für eigene Zwecke. „Diese Art Publicity kann man nicht kaufen“, glaubt Opus-Dei-Kampagnero Austen Ivereigh. Wenn so viele Menschen „Sakrileg“ für bare Münze nähmen, „warum soll man dann nicht ins Rampenlicht treten und zeigen, wer man wirklich ist?“ „Aus Zitrone Limonade machen“ nennt Marc Carroggio, Pressesprecher des Opus Dei in Rom, die Methode. Neben pikierter Kritik an Buch und Film („Die Kirche wird als Verbrecherbande dargestellt“) versteht die Organisation darunter mittlerweile eine Art Erlebnis-PR. Zum Beispiel wegen Silas, des „Sakrileg“-Mörders: Wer mag, kann ein echtes Opus-Dei-Mitglied namens Silas treffen – Silas Agbim ist angeblich ein nigerianischer Börsenhändler mit Wohnsitz in Brooklyn. Auf eine direkte Konfrontation mit Sony will sich Opus Dei nicht einlassen. „Niemand wird Drohungen verkünden, zu einem Boykott aufrufen oder Ähnliches“, sagt Carroggio – anders als der Vatikan: Glaubenskongregations-Sekretär Angelo Amato forderte alle Katholiken auf, den Film zu boykottieren. Opus Dei hielt es für effektiver, diskret an die Sony-Aktionäre und die Bosse in Tokio zu schreiben und an die japanische Firmenkultur zu appellieren. Regisseur Howard reagiert zunehmend gereizt auf die Attacken: „Es dreht sich hier weder um Religion noch um Geschichte.“ Kein Wunder: Mittlerweile hat in dem Millionenspiel um „Sakrileg“ nicht mehr Opus Dei, sondern Sony den Ruf, ein Haufen geheimniskrämerischer, misstrauischer Dunkelmänner zu sein. Offenbar um vorzeitige Verrisse zu verhindern, bekamen Journalisten bisher nur 35 von 148 Minuten des Films zu sehen – mit der Auflage, selbst darüber wochenlang Stillschweigen zu bewahren. Dan Brown würde wohl sagen: „Die größte Verschleierungsaktion in der Geschichte Hollywoods.“ Martin Wolf JAN-PETER BOENING / AGENTUR ZENIT Staatsoper Unter den Linden, „Tristan und Isolde“-Szene*: Auf Schönklang und Plattenreife getrimmt Primadonna als Pflegefall Künstlerisch strahlt Berlins Staatsoper Unter den Linden, doch hinter den Kulissen vergammelt der Prachtbau. Nun will die Politik helfen – mit Notlösungen. M it dem Tourismus hinter der Bühne hat er Erfahrung. Seit Jahren führt Klaus Wichmann, Technischer Direktor der Berliner Staatsoper Unter den Linden, immer wieder Besuchern die malerischsten Scheußlichkeiten des Opernhauses vor – schaurig-schöne Ansichten einer verkommenden Pracht. Wichmanns Tour führt vom Dach mit den offenliegenden Kabelsträngen bis in den wie eine Kloake riechenden Keller. Und überall hat der Cicerone des Schreckens dasselbe zu bieten: Verfall, Verrottung, Provisorien. Hinter der imposanten Fassade ist die Oper nur noch eine abgetakelte Primadonna: verlebt, verbraucht, verlottert – ein trauriger Pflegefall. Die Staatsoper, von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff 1743 unter Preußenkönig Friedrich II. erbaut, ist die – von weitem – immer noch schönste Oper der Republik, ein Barock-Juwel im Herzen der Stadt. Architektonisch ein Glücksfall, technisch ein Desaster. Und seit Daniel Barenboim, 63, vor 14 Jahren Generalmusikdirektor wurde und die Staatskapelle auf Schönklang und Plattenreife trimmt, macht das Haus auch mu- sikalisch ordentlich was her. Etwa mit bestens besetzten Wagner-Aufführungen wie zuletzt an Ostern, als Barenboim eine Art Berliner Bonsai-Bayreuth abhielt. Melomanen aus aller Welt pilgerten zu seinem „Parsifal“ und zum neuen „Tristan“ im verschwommenen Gummi-Bühnenbild der Schweizer Stararchitekten Herzog & de Meuron. Doch hinter den Kulissen, klagt der Maestro, geht es erbärmlich zu. Und manchmal merkt sogar das Publikum etwas von der Malaise. So ging im vergangenen Herbst ausgerechnet während einer Vorstellung von Verdis „Macht des Schicksals“ für Minuten das Licht aus: kompletter Stromausfall. Die Untermaschinerie der Bühne, mit der Hubpodien verschoben werden können, ist inzwischen lahmgelegt. Verwandlungen bei offener Bühne sind nicht mehr möglich, Menschen dürfen auf den Podien nicht mehr bewegt werden, nachdem sich bei einer Probe zu Wagners „Tannhäuser“ ein Element selbständig machte und meterweit abwärtsrauschte. Mit schwarzem Humor kolportieren die Techniker des Hauses den lästerlichen Spruch, dass der TÜV Berlin-Brandenburg die Staatsoper schon gar nicht mehr kon- MARCUS BRANDT / DDP H AU P T S TA D T Intendant Mussbach, Dirigent Barenboim * Mit René Pape, Katarina Dalayman. 192 Billiglösung oder Grundsanierung? d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 trolliere, weil er sonst den Betrieb umgehend stilllegen müsste. Geradezu stolz weist Wichmann beim Gang durch das Opernhaus im Keller auf eine besonders prekäre Stelle. Im Durchgang zur Druckzentrale für die Bühnenmaschinerie quillt seit Jahren klebriges Bitumen aus dem Boden. Die Masse stammt aus dem Jahr 1928, als die Oper mit einer riesigen Betonwanne gegen das Berliner Grundwasser geschützt wurde. Inzwischen drückt das Wasser gegen den mürben Beton und lässt die klebrige Masse hervorquellen. Die Schäden und Mängel am Haus sind so gravierend, dass inzwischen selbst die Politik reagiert hat – hinhaltend. Der Berliner Senat hat einer Sanierung grundsätzlich zugestimmt, lässt Zeitpunkt und Umfang aber offen. Und auch Bernd Neumann, Staatsminister für Kultur, will im Prinzip helfen. Schließlich ist seine Chefin bereits seit langem als Opernfan geoutet. Auch Unter den Linden ist Kanzlerin Angela Merkel als Selbstzahlerin Stammgast. Doch selbst höchstes Wohlwollen hat bislang noch nichts bewegt. Das Land Berlin ist überschuldet und kann sich eine teure Sanierung kaum leisten. Selbst eine Lösung, die nur das Schlimmste verhindert und die baupolizeilichen Auflagen erfüllt, würde an die 90 Millionen Euro kosten. „Das wäre das Gröbste“, sagt Peter Mussbach, 56, der Opernintendant, und hält diese Ausgabe „für rausgeschmissenes Geld“. „Die billigste Variante“ (Mussbach) gäbe es für 113 bis 117 Millionen. Damit könnten auch kleine Modernisierungen finanziert werden. Interessant und für die Oper sinnvoll würde es aber erst bei einem Etat von 140 bis 150 Millionen Euro. Dann könnte sich das Haus auch ein neues Magazingebäude für Kulissen leisten und eventuell eine Art Wintergarten für die Besucher. DARMER / POP-EYE Kultur Es entstünde „das offene Haus“, von dem Mussbach träumt. Der Vorsitzende des Freundeskreises der Oper, der Unternehmer Peter Dussmann, ist sich sicher, allein 30 Millionen Euro von Spendern und Sponsoren auftreiben zu können. Den Rest müssten sich Bund und Land wohl teilen. In einer großen Lösung wäre auch – Barenboims größter Wunsch – die Wieder- herstellung des vierten Zuschauerrangs enthalten. Nach dem Krieg hatten die DDR-Behörden beschlossen, die Decke der Oper abzusenken, der vierte Rang und mit ihm ein Gutteil der bis dahin berühmten Akustik gingen so verloren. Eine Wiederherstellung brächte nicht nur rund 200 neue Zuschauerplätze, sondern auch entsprechende Mehreinnahmen. Doch ein größeres Platzangebot würde die mühsam und künstlich aufrechterhaltene Balance zwischen den drei Berliner Opernhäusern stören und neue Rivalitäten schüren. Mit jetzt 1396 Plätzen nimmt die Staatsoper Unter den Linden hinter der Deutschen Oper an der Bismarckstraße (1865 Plätze) und vor der Komischen Oper (1270 Plätze) den zweiten Rang ein. Das entspricht in etwa auch den Subventionen durch das Land Berlin. 36,84 Millionen Euro bekommt die Deutsche Oper im Westen, 35,90 Millionen die Staatsoper, und die Komische Oper ist mit 29,22 Millionen Euro dabei. Der Bund unterstützt die Berliner Staatskapelle, das exzellente Orchester der Staatsoper, zusätzlich mit 1,8 Millionen Euro. Künstlerisch dominiert die Staatsoper längst das Berliner Musikleben und hängt die Deutsche Oper locker ab. Intendant Mussbach und Dirigent Barenboim hüten sich jedoch davor, öffentlich die Führungs- rolle für ihr Haus zu reklamieren. Nach außen gilt immer noch das Solidaritätsprinzip der drei Berliner Opern: eine für alle, alle für eine. Auch Berlins ungeliebter Kultursenator Thomas Flierl (PDS) hält sich eher zurück. Seine Autorität, ohnehin nie sehr ausgeprägt, ist spätestens dahin, seit klar ist, dass Bürgermeister Klaus Wowereit ihn nach einem möglichen Wahlsieg im September am liebsten loswerden möchte. Zudem ist es äußerst unwahrscheinlich, dass die Bundesregierung durch eine Finanzierungszusage für die Opernsanierung dem rot-roten Senat von Berlin vor dem Urnengang ein solches attraktives Wahlgeschenk machen wird. Derweil ist Klaus Wichmann bei seiner Führung durch die Oper in einem ungelüfteten Kabuff angekommen, in dem der Tonmeister seinen Dienst versieht. Dort steht auf einem wackeligen Tischchen ein Mikrofon. Darüber hängt eine handelsübliche Haustürklingel. Sollen die Besucher zur Vorstellung oder aus der Pause gerufen werden, betätigt der Tonmeister die Klingel und überträgt deren Geschepper per Lautsprecheranlage durchs ganze Haus. Irgendwie, findet Wichmann, sei die lose baumelnde Klingel doch ein Symbol für die Staatsoper. Und für Berlin. Joachim Kronsbein Kultur Pilgerort Santiago de Compostela Spuren von über tausend Jahren TOPHOVEN / LAIF Kerkeling: Keineswegs. Ich rede bloß erst jetzt über etwas, das ich schon seit etlichen Jahren tue. Zum Beispiel bin ich einmal zehn Tage Gast in einem umbrischen Franziskanerkloster gewesen, habe mit den Mönchen gebetet … SPIEGEL: … und kein deutscher Sandalenbruder erinnerte sich an Ihren BahnSketch „Klingelingeling, hier kommt der Eiermann“? Kerkeling: (lacht) Nein! Ich habe ganz anonym meine Ruhe gehabt, und das ist sehr wichtig. Wenn ich in Deutschland erkannt werde, bereite ich Leuten unwillkürlich einen besonderen Moment; das stört mich auf die Dauer. Auch wenn die allermeisten sehr höflich und diskret sind: Ich kann die Begeisterung einfach nicht immer so teilen und will schon gar nicht dauernd der Knaller sein. SPIEGEL: Stattdessen sind Sie nun mehrere hundert Kilometer in sengender Hitze marschiert … TA G E B Ü C H E R „Auf den Zähnen gelaufen“ Der Fernsehkomiker Hape Kerkeling über seine Wanderung auf dem Jakobsweg, deutsche Mühen mit dem Humor und die neue Sehnsucht nach Form SPIEGEL: Herr Kerkeling, was ist plötzlich in Sie gefahren? Hätte Ihnen als Herausforderung nicht auch die Strecke Düsseldorf–Köln genügt? Kerkeling: Am Ende vielleicht schon – eigentlich ist es fast gleichgültig, wo man läuft. Aber dieser Jakobsweg existiert eben seit über tausend Jahren, und ich bilde mir ein, das hinterlässt Spuren, auch unsichtbare: Legenden und vieles mehr. Vor allem trifft man erstaunlich viele, die ebenso auf der Suche sind. SPIEGEL: Wollten Sie auch körperlich in Bewegung kommen, wie Joschka Fischer das als „langen Lauf zu sich selbst“ beschrieben hat? * Hape Kerkeling: „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“. Malik Verlag, München; 344 Seiten; 19,90 Euro. Erscheint am 22. Mai. 196 Kerkeling: Nein, es ging mir wirklich um – ja: um die spirituelle Herausforderung. Nach dem Göttlichen bin ich schon lange auf der Suche. Als mir dann nach einer Gallenoperation und einem Hörsturz klar wurde, dass ich in so etwas wie einer Lebenskrise stecke, wollte ich meine Zweifel in einer Auszeit ins Reine bringen, um ganz banal zu mir und zu Gott zu finden. SPIEGEL: Große Worte. War nicht auch Überdruss am Fernsehalltag und Ihrem Image als fröhlichem Spinner mit im Spiel? Kerkeling: Nein. So oberflächlich es dort zugeht, so sehr mich mein Beruf häufig anödet, dafür liebe ich ihn doch zu sehr. SPIEGEL: Schon vor über 13 Jahren haben Sie im SPIEGEL die Verflachung auf dem Bildschirm verflucht. Sehen Sie Ihre Schreckensvisionen von damals bestätigt? Kerkeling: Allerdings. Im Fernsehen, ganz gleich, ob öffentlich-rechtlich oder privat, geht es um Quote und nur um Quote, da soll sich niemand was vormachen. SPIEGEL: Will einer wie Sie da vielleicht endlich einmal Buße tun? Kerkeling: Das nicht. Die Pilgerei sollte kein Gegenprogramm werden. Aber Abstand gewinnen wollte ich. SPIEGEL: Reichlich spät und plötzlich, Ihr kurzzeitiger Ausstieg, oder? d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 HAPE KERKELING Kerkeling, 41, gilt spätestens seit seinem Auftritt als Königin Beatrix der Niederlande (1991) als netter, anarchischer Spaßvogel des deutschen Fernsehens. Er moderiert zurzeit die RTL-Tanzshow „Let’s Dance“. Nun veröffentlicht er sein Tagebuch über seine rund 800 Kilometer lange Wanderung auf dem Jakobsweg, der alten Pilgerstrecke durch Nordspanien*. Pilger Kerkeling „Auf das Zielbewusstsein kommt es an“ Kerkeling: … und habe mich dabei am An- fang komplett übernommen. Die erste Etappe war gleich die schwierigste, es regnete in Strömen, und ich war völlig untrainiert. Klar, dass ich bald auf den Zähnen gelaufen bin. Um so mehr habe ich gestaunt, was der Wille oder der Geist zuwege bringt. Kondition ist nicht entscheidend, auf das Zielbewusstsein kommt es an. Ich habe jedenfalls tatsächlich keine Blase an den Füßen bekommen – erst hinterher, als ich mir am Ziel, in Santiago de Compostela, neue Schuhe leistete. SPIEGEL: Ein Wunder, oder was? Kerkeling: Ach, was Sie wollen. Ich habe jedenfalls schnell gemerkt, dass ich nicht nach irgendeiner göttlichen Instanz, sondern nach mir suchen muss. Historische Vorbilder waren mir egal. Mehr als das Jakobspilgerbuch der Schauspielerin Shirley MacLaine hatte ich nicht gelesen, mehr als ankommen wollte ich nicht. Sie zuweilen den Bus nahmen und fast nie in den spartanischen Gratis-Herbergen nächtigten. Sind Sie ein Luxuspilger? Kerkeling: Natürlich. Sechs Wochen wegfahren, schon das kann nicht jeder. Muffige Mannschaftsschlafsäle und Gemeinschaftsduschen finde ich seit früher Kindheit grauenvoll und erniedrigend, also habe ich mir, so oft es ging, ein Pensionszimmer genommen. Und nach wochenlangem Schwitzen in denselben, abends notdürftig gewaschenen Klamotten war ein neues Hemd schon wunderbar. Die komplette Askese ist mir nicht geglückt, zugegeben. SPIEGEL: Hat das Pilgerdasein nicht auch etwas Urkomisches? Kerkeling: Und wie! Ich betrachte sowieso alles mit neugierigem Humor, aber hier genügte es oft, einfach den Leuten am Nebentisch zuzuhören. Ich habe für das Buch wirklich nur ein paar Namen verfremdet. SPIEGEL: Die anstrengendsten Typen, denen Sie unterwegs begegneten, waren Deutsche. Haben Sie dafür eine Erklärung? Kerkeling: Ich glaube, wir Deutschen können uns nicht ertragen, und das strahlen wir auch aus. Ich habe das mal ein paar Stunden lang an der Spanischen Treppe in Rom erlebt, wo alle ihr Erinnerungsfoto machen. Die Amerikaner stellen sich für alle sichtbar und rücksichtslos fröhlich hin. Die Franzosen sind locker, Japaner akkurat. Nur die Deutschen wollen eigentlich nicht gesehen werden – und werden gerade dadurch um so sichtbarer. Da nörgelt der Ehemann: „Hilde, nee, geh du weiter … nee, so is nich schön. Nu komm, Hilde, stell dich jetzt bitte da …“ „Aber so seh ich doch die Kirche nich!“ „Ja, aber komm, jetzt mach, die Leute kucken schon …“ und so weiter. SPIEGEL: Und Ihre Erklärung? Kerkeling: Der Perfektionismus erschlägt uns, und außerdem wirken wir sowieso kantig und tumb. Romanen finden uns schon deshalb zum Brüllen komisch, weil wir keine Körpersprache haben. SPIEGEL: Aber eine Pilgertour ist doch etwas Besonderes. Gilt sie nicht wenigstens für die Gläubigen als witzfreier Raum? Kerkeling: Im Gegenteil. Fast alle, die ich getroffen habe, waren sehr humorvoll. Man begegnet ja auch skurrilen Typen: Eine hört Stimmen, ein anderer provoziert grundlos. Eine Brasilianerin wollte mich insgeheim vom ersten Moment an heiraten und war erbittert, als sie endlich erfuhr, dass ich andere Neigungen habe. SPIEGEL: Trotzdem: Als gigantischen Gag schildern Sie Ihre Auszeit nun wirklich nicht. Manchmal klingt Ihre Tagesbilanz richtig fromm. Ein Signal für das Ende der Spaßgesellschaft, die alles begrinst? Kerkeling: Schwer zu sagen. Ich finde ja, die sogenannte Spaßgesellschaft war für Deutschland ein Segen. Die Humorkultur krampfte herum, seit man in der NS-Zeit alle kreativen, witzigen Köpfe vertrie198 d e r JENS HARTMANN / PEOPLE PICTURE SPIEGEL: Das ist Ihnen gelungen – auch weil Moderator Kerkeling in „Let’s Dance“ „Gemeinsam finden wir den Rhythmus“ ben oder umgebracht hatte. Inzwischen herrscht einigermaßen Normalität und Offenheit. SPIEGEL: Soll das heißen, Ihre RTL-Tanzshow „Let’s Dance“, bei der sich die ehemalige Ministerpräsidentin von SchleswigHolstein, Heide Simonis, so blamierte, stärkt die geistige Volksgesundheit? Kerkeling: Unsinn. Aber vielleicht mal abgesehen von dieser Situation, wo ein Mensch durch die Berichterstattung nahezu beschädigt wurde, hat es mir Freude gemacht. Ich konnte Dinge in eine Form bringen. Das ist, finde ich, mein Beruf. SPIEGEL: Wie bitte? Wenn Sie in der Bundespressekonferenz nach Plätzchen fragen oder als Reporter Horst Schlämmer vor laufender Kamera Politiker veralbern, brechen Sie da nicht alle gewohnten Formen? Kerkeling: Sicher, ich hinterfrage sie, aber ich freue mich doch, dass sie da sind. Seit einiger Zeit scheint mir, dass wir nicht nur in Deutschland, sondern überhaupt in der westlichen Welt wieder auf der Suche nach Form sind. Es ist alles aus den Fugen geraten. Wir mussten uns zum Beispiel als Kinder auf dem Schulhof noch in Reih und Glied aufstellen. Natürlich hassten wir diesen Zwang. Aber inzwischen weiß ich, er gab dem Schultag eine Form. Wenn so etwas freiwillig geht, wäre ich dafür. In meiner Tanzshow passierte genau das: Schrittmuster ohne Worte, Eleganz, die nur gelingt, wenn einer von beiden sich führen lässt. Gemeinsam bekommen wir es auf die Reihe, gemeinsam finden wir den Rhythmus: Das ist doch eine positive Botschaft, sicher unterhaltsam, aber eben nicht nur unterhaltsam. SPIEGEL: Ist das Ihr Ernst – die Tanzshow als Schule des Lebens? Kerkeling: Es klingt hochtrabend und banal zugleich, ich weiß. Aber so ist es mit vielen Sachen, nicht wahr? Interview: Johannes Saltzwedel, Martin Wolf s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Kultur Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Bestseller Belletristik Sachbücher 1 (1) Daniel Kehlmann Die Vermessung der Welt Rowohlt; 19,90 Euro 2 (5) François Lelord Hectors Reise (7) (1) Frank Schätzing Nachrichten aus einem unbekannten Universum Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 2 Piper; 16,90 Euro 3 1 (2) Dan Brown Diabolus Senta Berger Ich habe ja gewußt, daß ich fliegen kann Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro Lübbe; 19,90 Euro 4 (3) Scherz; 12,90 Euro 5 6 (4) (2) 3 (5) Eva-Maria Zurhorst Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro 4 (3) Frank Schirrmacher Minimum Tommy Jaud Resturlaub Cecelia Ahern Zwischen Himmel und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro Blessing; 16 Euro Leonie Swann Glennkill Letzte Rettung Familie: soziologischer Thriller zur kinderlosen Gesellschaft Goldmann; 17,90 Euro 7 (6) Bernhard Schlink Die Heimkehr Diogenes; 19,90 Euro 8 (9) Henning Mankell Kennedys Hirn 9 (10) Peter Hahne Schluss mit lustig 5 (4) 6 (6) Dietrich Grönemeyer Der kleine Medicus Rowohlt; 22,90 Euro 7 (7) Albrecht Müller Machtwahn Johannis; 9,95 Euro Zsolnay; 24,90 Euro Ingrid Noll Ladylike Diogenes; 19,90 Euro 10 (13) John Irving Bis ich dich finde Droemer; 19,90 Euro Diogenes; 24,90 Euro 8 11 (11) Stephen King Puls (10) Harry G. Frankfurt Bullshit Suhrkamp; 8 Euro Heyne; 19,95 Euro 9 12 (14) Joanne K. Rowling Harry Potter und der Halbblutprinz Carlsen; 22,50 Euro (12) Volker Weidermann Lichtjahre Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro 10 (13) Shirin Ebadi Mein Iran Pendo; 19,90 Euro 13 (8) Truman Capote Sommerdiebe 11 (8) Corinne Hofmann Wiedersehen in Barsaloi A 1; 19,80 Euro 12 (9) Michael Baigent Die GottesMacher Lübbe 19,90 Euro Kein & Aber; 16,90 Euro Die 17-jährige Grady flaniert durch ein schwüles New York – Capotes postum entdecktes Debüt 13 (16) Lars Brandt Andenken Hanser; 15,90 Euro 14 14 (12) Ilija Trojanow Der Weltensammler Hanser; 24,90 Euro 15 (15) Dan Brown Sakrileg Lübbe; 19,90 Euro 16 (17) Jürgen von der Lippe / Monika Cleves Sie und Er Eichborn; 12,95 Euro 17 (–) Minette Walters Des Teufels Werk Goldmann; 19,95 Euro 18 (16) Simon Beckett Die Chemie des Todes Wunderlich; 19,90 Euro 19 (–) Jan Weiler Antonio im Wunderland Kindler; 16,90 Euro (–) Jürgen Roth Der Deutschland-Clan Eichborn; 19,90 Euro 15 (14) Eduard Augustin / Philipp von Keisenberg / Christian Zaschke Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro 16 (19) John Dickie Cosa Nostra – Die Geschichte der Mafia S. Fischer; 19,90 Euro 17 (15) Marion Knaths Vom Krebs gebissen Hoffmann und Campe; 12,95 Euro 18 (–) Werner Bartens Das neue Lexikon der Medizin-Irrtümer Eichborn; 19,90 Euro 19 (20) Eric-Emmanuel Schmitt Mein Leben mit Mozart Ammann; 19,90 Euro 20 (18) Irene Dische Großmama packt aus 20 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurim Hoffmann und Campe; 23 Euro Bloomsbury Berlin; 16 Euro d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 199 Kultur K U LT U R G E S C H I C H T E Das ganz und gar Unerträgliche Haben Frauen für ihre Hingabe an die Literatur einen zu hohen Preis gezahlt? Das behauptet ein neuer Porträtband – mit einer flammenden Vorrede von Elke Heidenreich. D 202 d e r GEDENKSTÄTTE DEUTSCHER WIDERSTAND / AFP BRIDGEMAN ART LIBRARY * Virginia Woolf (1902), Sophie Scholl (1941), Harriet Beecher Stowe (um 1843). ** Stefan Bollmann: „Frauen, die schreiben, leben gefährlich“. Elisabeth Sandmann Verlag, München; 152 Seiten; 19,95 Euro. PICTURE-ALLIANCE ie Geschichte der Frauenemanzipation ist, als zunehmender Erfolg der Romanform seit der Aufklärung, auch ein Kapitel der Literaturgeschichte. Familien- und Liebesromane, oft in Briefform – das war schon früh, was es heute wieder zu werden droht: vor allem ein Tummelplatz weiblicher Autoren. Zu ihren historischen Heldinnen gehören Frauen wie Jane Austen, George Sand, Harriet Beecher Stowe oder – in deutscher Sprache – Bettina von Arnim. Stefan Bollmanns neuer, reich bebilderter Porträtband „Frauen, die schreiben, leben gefährlich“ rekonstruiert einfühlsam die alltäglichen Hindernisse, die dichtende Frauen der alten Zeit zu überwinden hatten**. Und die diesen Frauen oft mehr Kräfte abverlangten als etwa die Geldsorgen ihren männlichen Mitbewerbern. Wobei die Frage offenbleiben muss: Waren die „häuslichen Pflichten“ (Kinder und Küche) verheirateter Dichterinnen nur Hindernisse oder auch produktive Herausforderungen, ohne die so mancher Schmerzensschmelz, zumal in Briefen und Gedichten, niemals Sprache geworden wäre? Elke Heidenreich, wer sonst, hat den vielen anrührenden, vor allem aus den vergangenen 250 Jahren geschöpften Leidensgeschichten schreibender Damen ein temperamentvolles Vorwort-Banner spendiert, das deutlich sagt, wer das harmonische Leben dieser Frauen stets dramatisch gefährdet: Es ist der Mann (wer sonst). Heidenreich schreibt: „Das, was Männer beflügelt, zerstört offenbar Frauen: die Gleichzeitigkeit, eine Liebe zu leben und sich künstlerisch zu etablieren. Dazu kommt … etwas ganz und gar Unerträgliches: Frauen regeln den Alltag von Männern, damit diese schreiben (oder was auch immer tun) können. Wer regelt eigentlich den Alltag von Frauen?“ Und, was noch ärger ist: „Frauen werden gern als die Musen der Männer bezeichnet. Wer und wo sind denn aber die Musen der Frauen?“ Schreibende Frauen* Hindernis Mann? s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Heidenreich spitzt gern zu, und darin kann sie grandios wirken. Trotzdem hat sie nicht immer recht. So mancher große Schriftsteller kam ohne weibliche Muse aus – Marcel Proust oder Thomas Mann ließen sich lieber von jungen Männern inspirieren. Als prominentes Beispiel in ihrer Galerie jener Schriftstellerinnen, die fürs Schreiben „mit ihrem Leben“ bezahlt haben, nennt Heidenreich Virginia Woolf. Sie „steckte sich Steine in die Jackentaschen und ertränkte sich … in einem Fluss – sie hielt den Wahnsinn des Schreibens nicht mehr aus“. Im selben Buch, 79 Seiten später, wird Heidenreich korrigiert: Virginia Woolf, neben James Joyce die wichtigste Protagonistin tiefenpsychologisch grundierter Bewusstseinsströme in Literaturform, war schwer depressiv, das hatte aber mit ihrer Liebe zum Wort nichts zu tun. Ihre psychische Erkrankung, schreibt Bollmann zu Recht, „hätte sich eingestellt, auch wenn sie nicht geschrieben hätte“. Virginia Woolf lebte selbstbewusst im Mittelpunkt recht privilegierter Bohemiens und wurde auch nicht von ihrem Mann unterdrückt. Kurz vor ihrem Tod (nicht im 50., wie Heidenreich meint, sondern im 60. Lebensjahr) machte sie ihm das Geständnis: „Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind.“ Im 20. Jahrhundert behindert weniger der egozentrische Mann die schreibende Frau, eher schon das tradierte Idealbild selbstloser Weiblichkeit. Es verführt viele Frauen dazu, die eigene Kreativität zugunsten jener des Mannes zurückzunehmen. An diesem Bild haben allerdings nicht nur Macht-Männer und Frauenverächter wie Friedrich Nietzsche ihren Anteil, daran hat auch, wie Virginia Woolf einmal feststellt, die „Einbildungskraft“ der Frauen selbst mitgemalt. Besonders verdienstvoll ist das bewegende Kapitel über „Schreiben als Widerstand“. Dabei geht es um Flugblätter gegen die Nazis (Sophie Scholl), um Tagebücher (Anne Frank), um die Briefe einer im Konzentrationslager leidenden Mutter an ihre Kinder oder um jenes Sittengemälde eines nicht allzu heftigen Widerstands, das die russische Erzählerin Irène Némirovsky während der Nazi-Besetzung Frankreichs zusammengetragen hat und das erst 2004 unter dem Titel „Suite française“ erschienen ist – 62 Jahre nach der Ermordung der Autorin in Auschwitz. Das Buch hat Lücken – warum fehlen Anna Seghers, Rose Ausländer, Nelly Sachs? Wieso gibt es kein Namensregister? Bestechend dagegen: die großformatigen Porträtbilder und die sehr lebendige grafische Gestaltung. So kann Literaturgeschichte auch Augenmenschen geMathias Schreiber fallen. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 203 Chronik 6. bis 12. Mai S A M S TA G , 6 . 5 . D I E N S TA G , 9 . 5 . KRAWALL Nach dem Absturz eines briti- HAFT Eine Schwurgerichtskammer des schen Militärhubschraubers auf ein Wohngebiet der irakischen Stadt Basra kommt es zu Unruhen, bei denen fünf Menschen sterben. Frankfurter Landgerichts verurteilt Armin Meiwes, den sogenannten Kannibalen von Rotenburg, zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe. FUSSBALL Durch ein 1:1 gegen den 1. FC Kaiserslautern wird der FC Bayern München einen Spieltag vor Saisonende Deutscher Meister. ERFOLG Deutschland wird in New York mit 154 Stimmen als Mitglied in den neuen Uno-Menschenrechtsrat gewählt. AUFHOLJAGD Michael Schumacher gewinnt in der Formel 1 auf dem Nürburgring den Großen Preis von Europa und verringert den Abstand zum WM-Spitzenreiter Fernando Alonso auf 13 Punkte. TERROR Bei Anschlägen im Irak sterben über 40 Menschen. SIEG Die CDU behauptet sich bei den Kommunalwahlen in Thüringen mit 41,4 Prozent der Stimmen als stärkste Partei. M O N TA G , 8 . 5 . KONTAKTAUFNAHME US-Präsident George W. Bush erhält einen persönlichen Brief des iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad zum Atomstreit. TAUCHGANG Der amerikanische Aktionskünstler David Blaine verlässt nach sieben Tagen ohne Schlaf und feste Nahrung einen durchsichtigen Wassertank vor der New Yorker Metropolitan Opera und stellt damit einen Weltrekord auf. SPIEGEL TV EXTRA Kämpfen oder kellnern – Hauptsache Nebenjob Mehr als drei Millionen Bundesbürger gehen regelmäßig oder unregelmäßig einer Nebentätigkeit nach – nicht immer ist die zusätzliche Einnahmequelle nur notwendiges Übel. Ob als Cocktailmixerin, MITTWOCH, 10. 5. BELASTUNGEN Die Bundesregierung beschließt die Einschränkung von Steuervorteilen wie der Pendlerpauschale und dem Sparerfreibetrag. ITALIEN Im vierten Wahlgang wird der 80-jährige Giorgio Napolitano zum neuen Staatspräsidenten gewählt. D O N N E R S TA G , 1 1 . 5 . STAATSKASSE Der Steuerschätzerkreis sagt voraus, dass die Einnahmen von Bund, Ländern und Kommunen um 8,1 Milliarden Euro über den Prognosen vom vergangenen November liegen werden. VERSCHÄRFUNG In das deutsche Strafge- setzbuch wird der neue Paragraf 238 eingefügt, der Opfer von Belästigungen durch Stalker besser schützen soll. F R E I TA G , 1 2 . 5 . KONFRONTATION Im Konflikt um den Ein- satz der Bundeswehr im Inneren kann sich die Große Koalition auf keine Lösung einigen. DONNERSTAG, 18. 5. 22.05 – 22.55 UHR VOX ENTTÄUSCHUNG Zwei Monate nach Beginn SPIEGEL TV S O N N T A G , 7. 5 . SPIEGEL TV Nebentätigkeit als Model Fetischmodel, Tagelöhner oder erotische Ringerin – fast jeder Job wird erledigt. SPIEGEL TV Extra begleitet unter anderem die 22-jährige Julia, die als Model für Nylonstrumpfhosen ihr Lehramtsstudium finanziert. FREITAG, 19. 5. 23.25 – 0.25 UHR VOX SPIEGEL TV THEMA Edelkarossen am Haken – Das Mercedes-Benz-Museum zieht um des Ärztestreiks scheitert ein weiteres Spitzengespräch zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und den Vertretern der Mediziner. AUSZEICHNUNG Das Stasi-Melodram „Das Leben der Anderen“ von Florian Henckel von Donnersmarck gewinnt in Berlin den Deutschen Filmpreis. Oldtimer vor Mercedes-Benz-Museum Ein Model stellt in Tokio einen BH vor, dessen Applikationen dazu beitragen sollen, den dramatischen Geburtenrückgang in Japan aufzuhalten. Am 19. Mai 2006 ist es so weit: MercedesBenz eröffnet vor den Toren des Werks in Stuttgart-Untertürkheim sein neues Museum. Rund drei Jahre dauerten die Bauarbeiten für den futuristischen Tempel der Markengeschichte, der in seinem Aufbau einer doppelten Spirale gleicht. Entstanden ist eines der kompliziertesten Projekte der jüngeren Architekturgeschichte. SPIEGEL TV hat die Bauarbeiten im Museum und den Umzug der wertvollen Mercedes-Oldtimer exklusiv begleitet. YURIKO NAKAO / REUTERS SONNTAG, 21. 5. SPIEGEL TV MAGAZIN Diese Sendung entfällt wegen eines Sonderprogramms auf RTL. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 205 Register Die Klinsmannschaft steht. Nach der Nominierung muss die Truppe zuerst gegen ein Amateurteam aus Brandenburg antreten. Alles weitere zur WM im großen SPIEGEL-ONLINE-SPEZIAL. 왘왘 POLITIK Zitterpartie: Die EU-Kommission entscheidet, ob Rumänien und Bulgarien 2007 oder 2008 der Gemeinschaft beitreten. SPIEGEL ONLINE analysiert die Chancen der Wackelkandidaten. 왘왘 NETZWELT Blogger gegen Mullahs: Oppositionelle in der islamischen Welt wagen im Internet die freie Meinungsäußerung. SPIEGEL ONLINE porträtiert die Web-Rebellen. 왘왘 WISSENSCHAFT Vorstoß ins Dunkel: Kommunikation mit Koma-Patienten – ein Widerspruch in sich? SPIEGEL ONLINE berichtet über Forscher, die neue Zugänge zu den Dahindämmernden suchen. 왘왘 KULTUR HipHop: SPIEGEL-ONLINE-Interview mit dem US-Rapper Juvenile, der sein neues Album den Opfern des Hurrikans „Katrina“ widmet. Jeden Tag. 24 Stunden. www.spiegel.de Schneller wissen, was wichtig ist. GETTY IMAGES Soraya, 37. Ihr Debütalbum „On Nights Like This/En esta noche“ widmete die Musikerin ihrer 1992 an Brustkrebs verstorbenen Mutter. Die in den USA aufgewachsene Tochter kolumbianischer Eltern lernte bereits mit fünf Jahren Gitarre und später auch Geige spielen. Ihre selbstgetexteten Lieder sang sie auf Englisch und Spanisch. 2004 erhielt Soraya einen Latin Grammy. Ihre Songs waren nicht nur in Süd- und Nordamerika Chartshits, auch in Deutschland stand ihr erstes Album wochenlang in den Top Ten. Mit ihrer Musik und ihrem persönlichen Engagement setzte sich der Latin-Star bis zuletzt für Brustkrebsprävention ein. Im Jahr 2000 wurde bei ihr die Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Trotz anfänglicher Bedenken in ihrem Umfeld ging die Künstlerin mit ihrer Krankheit sehr offen um, so gab sie noch während einer Chemotherapie ein Interview, um anderen Patientinnen Mut zu machen. Soraya starb am 10. Mai in Miami. Grant McLennan, 48. Er und sein musikalischer Partner Robert Forster wurden als „Australiens Lennon und McCartney“ bezeichnet. Wobei McLennan die McCartney-Rolle innehatte, also für die geschmeidigeren und romantischeren Momente verantwortlich war. The Go-Betweens hieß ihre Band und wurde von Kritikern weltweit geschätzt. Ihr so hochmelodischer wie gewitzter Gitarrenpop erfreute zuerst die Briten; die Gruppe lebte eine Zeit lang auf der Insel. Gefeierte Alben wie „Send Me a Lullaby“ oder „16 Lovers Lane“ blieben aber kommerziell hinter den Erwartungen zurück, Ende 1989 trennte sich die Band. Nach diversen Solo-Werken startete sie vor sechs Jahren erneut – mit erstaunlichem Erfolg. Das McLennan-Werk „Cattle And Cane“ wurde jüngst unter die „zehn größten australischen Songs aller Zeiten“ gewählt. Grant McLennan starb am 6. Mai in Brisbane. Alexander Sinowjew, 83. Der promovierte Philosoph war als Querdenker eine Ausnahmeerscheinung unter den sowjetischen Dissidenten. Der Sohn eines Arbeiters und einer Bäuerin wurde 1939 aus politischen Gründen vom Studium relegiert und kam aus dem Zweiten Weltkrieg als hochdekorierter Kampfflieger zurück. Nach 1945 machte er in Moskau Karriere an der Akademie der Wissenschaften. Wegen seines satirischen Romans „Gähnende Höhlen“ wurde er 1978 ausgebürgert und ließ sich in München nieder. 1999 kehrte er nach Russ206 d e r land zurück. Der Träger des Europäischen Essay-Preises von 1977 und Autor von 40 wissenschaftlichen und künstlerischen Büchern prägte den Begriff vom „Homo sovieticus“. Heimgekehrt überraschte der russische Patriot durch Nähe zu den Kommunisten. Nach dem Systemwechsel sah er sein Heimatland in einer „katastrophalen allseitigen Degradierung“ versinken. Die national angehauchte Kommunistische Partei empfand er als stärkste Gegenkraft zu einem „imitierten Westlertum“, das er verachtete. Alexander Sinowjew starb am 10. Mai in Moskau an einem Gehirntumor. DANNY MOLOSHOK / DPA TESTFALL LUCKENWALDE Floyd Patterson, 71. Der drahtige Schwergewichtskämpfer aus New York schrieb Boxgeschichte, indem er ein Branchengesetz außer Kraft setzte, wonach ein geschlagener Weltmeister den Titel nicht zurückgewinnen könne („They never come back“). Patterson besiegte 1960 im Rückkampf den Schweden Ingemar Johansson, der ihm zuvor den WM-Gürtel abgenommen hatte. Der Amerikaner, der 1952 mit 17 Jahren bereits Olympiasieger wurde und vier Jahre später Weltmeister, beendete erst als 37-Jähriger seine Karriere nach einer K.-o.-Niederlage gegen Muhammad Ali. Im Alter litt er an möglichen Spätfolgen seines Berufs: „Manchmal kann ich mich nicht an den Namen meiner Frau erinnern“, gestand er einmal. Floyd Patterson starb am 11. Mai in New York. SERGEY CHIRIKOV / DPA OLIVER BERG / DPA gestorben Eberhard Wachsmuth, 86. Seit dem ersten Heft des Jahres 1955 erscheint der SPIEGEL-Titel mit dem roten Rahmen. Dieses Markenzeichen ist nicht das einzige Vermächtnis des Mannes, der fast 30 Jahre lang als Chefgrafiker und Titelbildgestalter das Erscheinungsbild des Nachrichtenmagazins prägte. Er führte Anfang der Sechziger die Illustration auf dem SPIEGEL-Titel ein – nach langen Jahren reiner Fotoporträts bis heute das Mittel der Wahl, um komplexe Themen pointiert darzustellen. Viele Wachsmuth-Titel sorgten für Aufsehen, wie der berühmte Spaghettiteller mit Pistole zum Thema Kriminalität und Terrorismus in Italien (Nr. 31/1977). Sein größter Coup dürfte allerdings 1972 die „Documenta 5“ gewesen sein: Die berühmteste Weltausstellung moderner Kunst zeigte 40 Titelbilder des SPIEGEL. Eberhard Wachsmuth starb am 11. Mai im italienischen Evigno. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 Personalien ANDREA COMAS / REUTERS Günther Beckstein, 62, bayerischer Innenminister, erwies sich wieder einmal als prinzipienfeste Haut. Bei der Übergabe von 50 extra zur Fußballweltmeisterschaft georderten Polizeiautos vor der Münchner Feldherrnhalle erschien das BMW-Vorstandsmitglied Michael Ganal, 51. Als passionierter Rechtsaußen brachte er zwei Bälle mit. Während der Automann leichtfüßig mit dem Ball tändelte, hielt der Politiker seinen eisern fest. Er wolle hier nicht herumkicken, sagte Beckstein, womöglich noch einen Wagen beschädigen, außerdem sei er „immer Handballer gewesen“. Was denn der Minister gesagt habe, wollten Mitarbeiter von Ganal wissen, als der, ballverliebt noch immer dribbelnd, sich zu ihnen gesellte, und warum der Minister nicht Ganal, Beckstein gekickt habe. „Der wollte die Autos von uns nicht kaputtmachen“, brummte der Vorständler: „Der kann nur Handball und Politik.“ 208 Scharapowa Gernot Mittler, 66, scheidender rheinlandpfälzischer Finanzminister, traf bei der Finanzministerkonferenz der Länder in München vor der Residenz auf Ver.di-Demonstranten und gab den bescheidenen, Marija Scharapowa, 19, Tennisstar und Vermarktungsgenie, betätigte sich diesmal selbst als Schiedsrichterin. Die schöne Weltranglistendritte war vergangene Woche Mitglied einer Jury, die für das WTA-Damenturnier in Madrid besonders hübsche Balljungen aussuchte, allesamt laufsteggeübte junge Herren. Die sozialistische Regierung Spaniens beklagte daraufhin „den eklatanten Sexismus“ der Organisatoren und Sponsoren des Turniers. Doch die konterten ebenso wie die konservative Zeitung „ABC“, der Vorwurf sei unfair, es handle sich bei dem Casting um einen Akt der „Gleichberechtigung der Geschlechter“. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr bereits unter mancherlei harscher Kritik Models als Ballmädchen ausgesucht und zur Steigerung der Attraktivität beim WTA-Herrenturnier in Madrid eingesetzt. auf die Menschen zugehenden Politiker. Er sei selbst „40 Jahre in der HBV, also jetzt Ver.di“, er sitze im derzeitigen Tarifkonflikt nun „auf der anderen Seite des Verhandlungstisches“, sie sollten ihm „mal vernünftig“ ihre „Ideen mitgeben, statt zu lärmen“, „wir sitzen doch in einem Boot“. Mittler nahm Vorschläge entgegen. Kurz darauf erschien der Verhandlungsführer der Arbeitgeber, der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring, 54, und entbot eine ganz andere Nummer. „So, mal zur Sache“, herrschte er eine Gruppe der Demonstranten an, „warum stehen Sie hier?“ Ein junger Mann drängte sich nach vorn. Er sei „beim Stadttheater von FRANK OSSENBRINK Gerhard Schröder, 62, Altbundeskanzler und Aufsichtsratschef einer Gasprom-Tochter, mag seinen direkten Draht zu Russlands Präsident Wladimir Putin nicht für Kritiker der russischen Wirtschaftsweise aktivieren. Der britische Magnat William Browder, mit seinem Hermitage Capital Fund größter ausländischer Finanzinvestor in Russland – Investitionssumme rund 4,1 Milliarden Dollar, davon 250 Millionen von deutschen Anlegern –, hatte sich an Schröder gewandt, da ihm seit November vergangenen Jahres die Einreise nach Russland verweigert wird; dabei hat Browder seit zehn Jahren einen Wohnsitz in der russischen Hauptstadt und besaß ein bis dato gültiges Einreisevisum. Browder ist bekannt dafür, dass er die undurchsichtige Unternehmensführung russischer Firmen mitunter heftig kritisiert. Putin-Freund Schröder hingegen reagierte abweisend: „Ich habe nur einen knappen Brief erhalten“, so Browder, „der Vorfall tue ihm leid, aber er könne mir nicht helfen.“ Das Büro des Altkanzlers bestätigte die Absage. Die britische Regierung hat in dem Fall unterdes bei der russischen Regierung interveniert und will das Thema beim G-8-Gipfeltreffen im Juli in St. Petersburg ansprechen. Auch die Bundesregierung gibt deutliche Signale: In Berlin wurde der Zwangsexilant vorvergangene Woche von hochrangigen Beamten aus Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium empfangen. GETTY IMAGES FRANK OSSENBRINK Jurorin Scharapowa Möllring (M.), Demonstranten d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 STEPHANE DE SAKURIN / AFP Weilheim und …“ Möllring unterbrach: „Na, sehn Se mal, das ist doch schön, dass Sie noch einen Job haben, hätt’ ja auch anders kommen können.“ Tumult. Zuletzt trat der Bundesfinanzminister auf. Peer Steinbrück sprang medienbewusst aus dem Auto auf die Demonstranten zu – mit Bodyguards – und rief, scheinbar ahnungslos: „Worum geht es hier?“ Die Demonstranten lachten nur, der Minister möge doch mal „auf die Transparente schauen“. Douste-Blazy Philippe Douste-Blazy, 53, Außenminister in Frankreich, setzte die französischen Botschafter in Alarmbereitschaft. Seit geraumer Zeit wird der studierte Arzt und frühere Gesundheits- und Kulturminister bei seinen Auslandsreisen auf Schritt und Tritt von einem hohen Beamten begleitet, der ihn vor peinlichen Ausrutschern bewahren soll. Anlass dafür waren eine Reihe von Auftritten, bei denen der Minister seine Gesprächspartner durch offenkundige Wissenslücken verblüffte. So verwechselte der frühere Bürgermeister des Wallfahrtsortes Lourdes mehrfach Taiwan mit Thailand und Kroatien mit der Unruheprovinz Kosovo. Bei einem Besuch im Jerusalemer Shoah-Museum fragte er, wieso aus Großbritannien keine Juden deportiert wurden – und erhielt von dem entgeisterten Museumsdirektor die Antwort: „Aber Herr Minister, England war nicht von den Nazis besetzt.“ Problematisch ist auch, dass „Douste-Blabla“, wie der Minister von seinen Beamten genannt wird, keinerlei Fremdsprachen spricht. Als die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice vor einigen Monaten nach Telefonaten mit ihren europäischen Amtskollegen auch den Chef des Pariser Außenamtes sprechen wollte, erhielt sie einen Korb. Es war Freitagabend, Douste-Blazy war bereits in seinem Wahlkreis in Toulouse und hatte keinen Dolmetscher zur Hand. Diplomaten zufolge, so die Tageszeitung „Le Monde“, ließ er der konsternierten US-Außenministerin ausrichten, sie solle nach dem Wochenende wieder anrufen. KEVIN MAZUR / WIREIMAGE (O.); ABACA / REFLEX (U.) George W. Bush, 59, US-Präsident, wird derzeit überrollt von einer Lawine von Protestsongs, in denen er direkt und persönlich angegriffen wird. „Mr President, wie schlafen Sie in der Nacht, während der Rest von uns weint?“, singt Pink, 26, auf ihrem neuen Album „I’m Not Dead“. „Let’s impeach the president – lasst uns den Präsidenten absetzen, der sich der Religion bemächtigt hat, um gewählt zu werden“, lautet ein Text von Neil Young, 60, auf seinem jüngsten Album. Und der Songschreiber und Frontmann von Pearl Jam, Eddie Vedder, singt in dem Lied „World Wide Suicide“ angesichts der toten US-Soldaten im Irak: „Der Präsident lässt selbstverständlich andere die Zeche zahlen.“ Als die Girls-Band Dixie Chicks vor drei Jahren den US-Regierungschef kritisierte, wurde sie von den Musiksendern weithin geschnitten. Aber seit Bushs rekordverdächtigem Umfragetief ist Kritik am Präsidenten, so weiß „Newsweek“, „weniger riskant“. Pink, Young d e r Hubertus Heil, 33, SPD-Generalsekretär, begegnete fernab von Berlin unverhofft sozialdemokratischer Geschichte. Bei einem Besuch der deutschen Botschaft in Moskau in der vorvergangenen Woche bat ihn Botschafter Walter Jürgen Schmid auf das Sofa der Residenz. Kaum hatte Heil Platz genommen, eröffnete ihm der Botschafter: „Und wenn Sie jetzt noch ein paar Zentimeter weiterrutschen, dann sitzen Sie genau an der Stelle, an der Herbert Wehner saß, als er über Willy Brandt sagte: ‚Der Herr badet gern lau.‘“ Reflexhaft rutschte Heil daraufhin in die Mitte des zweisitzigen Möbels. Seine Erklärung: „Als bekennender Willy-Brandt-Fan will ich nicht in dieser Ecke sitzen.“ Mit seiner Bemerkung in Moskau im September 1973 hatte Wehner maßgeblich zum späteren Rückzug Brandts vom Amt des Bundeskanzlers beigetragen. s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6 209 Hohlspiegel Aus den „Badischen Neuesten Nachrichten“: „Zahlreiche Hitzetote sorgten im Sommer 2003 für Naturkatastrophe.“ Anzeige aus dem „Hamburger Abendblatt“ Aus dem „Bergsträßer Anzeiger“: „Bei der Pannenstatistik des ADAC schneiden deutsche Fahrzeug-Marken gut ab. Sie bleiben oft seltener liegen als die Autos anderer Hersteller.“ Aus dem Pressedienst des Bayerischen Bauernverbands Aus der „Rheinpfalz“: „‚David‘ schleuderte das ungeschriebene Pokal-Gesetz, das immer eine Chance erkennt für den Außenseiter, ‚Goliath‘ kam nie gescheit auf die Beine im Pfalzpokal-Halbfinale der Handballerinnen in Annweiler.“ Aus einer Buchkritik in der „Bild am Sonntag“: „‚New York Times‘-Journalist Eichenwald hat ein präzises und vor allem spannendes Buch geschrieben. Die Seiten kleben einem förmlich an den Händen.“ Aus der Schweizer „Basellandschaftlichen Zeitung“ Aus der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“: „Da leben Mensch und Tier auf engstem Raum, haben ständigen Kontakt und werden oft auch noch gegessen, wenn sie an einer Krankheit verenden.“ Die „Frankfurter Allgemeine“ über ein Teleskop: „Wie sich im leise verschwingenden Zittern des Stativs die beleuchteten Bergspitzen des Mondes scharf aus dem Dunkel erheben und die ungemein leistungsfähige Kombination aus rezipierendem Auge und lichtschnell kalkulierendem Gehirn das in den Wärmeschlieren des frühen Abends noch leicht wabernde Bild vom Mars stabilisiert – das führt durch die Unendlichkeit des Weltalls wieder ganz auf den Betrachter selbst zurück.“ 210 Rückspiegel Zitat Das „Handelsblatt“ erinnert anlässlich der Wahl Kurt Becks zum neuen Parteichef an das SPIEGEL-Gespräch mit dem damals designierten Vorsitzenden der SPD „Es geht um das Signal“ (Nr. 16/2006): Erst trat er mit einem SPIEGEL-Interview eine unnötige Steuererhöhungsdebatte los. Zwar hatte er nur in einem Nebensatz gesagt, „die aktuelle Steuerlastquote von unter 20 Prozent“ reiche nicht aus, um sämtliche Zukunftsaufgaben des Staates zu finanzieren … Doch Beck brauchte eine quälend lange Woche und ein Telefonat mit dem in Sibirien weilenden Finanzminister Peer Steinbrück, bis er dem öffentlichen Eindruck entgegentrat, er fordere über die bereits angekündigten Steuererhöhungen hinaus weitere Anhebungen der Abgabensätze. Das lässt nur zwei Deutungen zu: Entweder war ihm die ursprüngliche Interpretation aus parteitaktischen Gründen ganz willkommen, oder ihm ist ein ziemlicher medialer Anfängerfehler unterlaufen. Der SPIEGEL berichtete … … in Nr. 10/2006 „Die 24. Stunde“ über den Kampf einer Krankenschwester gegen das Universitätsklinikum Leipzig. Sie warf dem Krankenhaus vor, bei der Behandlung ihres Mannes tödliche Fehler gemacht zu haben. Jetzt hat die Krankenschwester vor Gericht einen Vergleich erreicht. Das Landgericht Leipzig wies in mehreren Punkten auf ein Verschulden des Krankenhauses hin. Um den Patienten fehlerfrei zu behandeln, hätte es eine Röntgenuntersuchung geben müssen, ein frühes EKG bei Aufnahme des Patienten, eine ärztliche Visite am zweiten Behandlungstag, eine Verlegung auf die Intensivstation und eine „engmaschige Beobachtung“ an den beiden Tagen, bevor der Mann starb. … in Nr. 19/2006 „Verschwiegene Vergangenheit“ über den Generalsekretär des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, Hans Rentmeister, der hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter gewesen war. Inzwischen hat der Direktor der Stiftung „Brandenburgische Gedenkstätten“, Günter Morsch, die Zusammenarbeit mit dem Ex-Stasi-Mann für beendet erklärt. Die SPIEGEL-Nachricht, sagte Morsch, „hat uns sehr enttäuscht“. Der 66-jährige Rentmeister hatte bei einer Gedenkveranstaltung im früheren KZ Sachsenhausen Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm heftig attackiert, weil dieser auch der Opfer des dort nach 1945 eingerichteten sowjetischen Speziallagers gedachte. d e r s p i e g e l 2 0 / 2 0 0 6