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DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN
Hausmitteilung
15. Mai 2006
Betr.: Hauptstadtbüro, Nehm-Gespräch
D
MARCO-URBAN.DE
MARC DARCHINGER
MARCO-URBAN.DE
eutschland war geteilt, bis zum Bau der Mauer sollte es noch neun Jahre dauern
– da formulierte SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein 1952 einen Satz, der sich als
Vision erweisen sollte: „Berlin ist die Welt für ein Blatt, wie es der SPIEGEL sein will.“
Augsteins Worte wurden Wirklichkeit: Als Berlin Hauptstadt wurde, zog das Bonner
Hauptstadtbüro nicht nur mit um – es verdoppelte sein Personal. Doch in den bisherigen
Räumen an der Friedrichstraße wurde es für
die 32 Redakteure allmählich zu eng, sie arbeiten nun am geschichtsträchtigen Pariser Platz,
mit Blick auf das Brandenburger Tor. Zur Eröffnung des Büros kamen am vorigen Montag
rund 500 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Kanzlerin Angela Merkel und Vize Franz
Steingart, Aust, Beck
Müntefering waren dabei, der designierte SPDChef Kurt Beck und Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, Bildungsministerin
Annette Schavan, die grüne Fraktionschefin
Renate Künast und DGB-Chef Michael Sommer, der Ratsvorsitzende der Evangelischen
Kirche Bischof Wolfgang Huber und der frühere Außenminister Hans-Dietrich Genscher, der
Chef des Sachverständigenrates Bert Rürup
und der Schauspieler Ulrich Mühe. „Der JourMüntefering, Schavan
nalist kann Freund eines Politikers auf Dauer
nicht sein“, zitierte SPIEGEL-Chefredakteur
Stefan Aust, 59, zur Begrüßung den verstorbenen SPIEGEL-Gründer, aber er relativierte
das Bonmot sogleich: „Fühlen Sie sich heute
Abend unter Freunden. Morgen wird es wieder
ernst.“ Gabor Steingart, 43, Leiter des Hauptstadtbüros, berichtete von der mühsamen Suche
nach geeigneten Büroräumen, sie habe „durchaus an die kleinen Schritte der Großen KoaliSteingart, Merkel, Aust, Rürup
tion“ erinnert. Heiner Schimmöller, 56, Leiter
des Deutschland-Ressorts, wies auf die Ähnlichkeiten zwischen der Hamburger SPIEGEL-Zentrale und dem neuen Berliner Büro hin.
Die roten und orangen Farbtöne seien eine Reminiszenz an den Architekten Verner
Panton, der 1969 das Hamburger SPIEGEL-Hochhaus Stockwerk für Stockwerk stylte
„und damit für eine architektonische Sensation sorgte“.
S
eit Jahren hat Generalbundesanwalt Kay Nehm, 65, kein Interview mehr gegeben.
Das lag an einem Zerwürfnis mit der damaligen Bundesjustizministerin Herta
Däubler-Gmelin: Die Sozialdemokratin hatte ihm nach einer missliebigen Äußerung
kurzerhand ausrichten lassen, er möge ihr alle Interviews bitte schön zur Genehmigung
vorlegen. Nehm reagierte mit stillem Protest und gab fortan keine mehr. Dass der
faktische Maulkorb ihm sehr geschadet hat, ließ Nehm jetzt in einem SPIEGELGespräch mit den Redakteuren Dietmar Hipp, 37, und Holger Stark, 35, erkennen,
gern hätte er sich gelegentlich zu seiner Arbeit erklärt. Aber die Ministerin wurde
abgelöst, und die Zeiten änderten sich: Jetzt, zum Ende seiner Amtszeit, nahm
Nehm zum ersten Mal seit Jahren umfassend Stellung zu seinen Ermittlungen gegen
Rechtsextremisten und al-Qaida und sprach über sein schwieriges Verhältnis zur
Politik (Seite 58).
Im Internet: www.spiegel.de
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InIndiesem
diesemHeft
Heft
Titel
Nachwachsende Nervenzellen – Forscher
entdecken einen Jungbrunnen im Gehirn ............ 164
Interview mit dem Nobelpreisträger
Eric Kandel über Gedächtnistraining und
die Pille gegen das Vergessen ............................... 172
Union: Ende der Harmonie
Seite 26
LAURENCE CHAPERON
Deutschland
Merkel, CDU-Länderchefs
Aus für die Birthler-Behörde?
Die Aufarbeitung der Stasi-Akten steht vor
einer Zäsur: Die Akten des DDR-Geheimdienstes, so der Vorschlag einer Expertenkommission,
sollen ins Bundesarchiv. Außerdem wird laut
Gesetz ab Ende 2006 niemand mehr auf StasiVergangenheit überprüft. Doch Behördenchefin
Marianne Birthler wehrt sich: Es drohe ein
später Erfolg der Stasi-Offiziere.
Seite 40
SILKE REENTS / VISUM
Panorama: Bundesrechnungshof rügt den
Deal um Postpensionen / Lafontaines
Programm für die Linkspartei /
Verletzungen durch Fußballschuhe ......................... 21
Union: Die Kritik an der Amtsführung
von Bundeskanzlerin Angela Merkel wächst ......... 26
Interview mit dem saarländischen
Ministerpräsidenten Peter Müller über
das Profil der Union .............................................. 28
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil über den
rauer werdenden Ton
zwischen den Koalitionspartnern .......................... 29
Reformen: Trotz breiten Widerstands sollen
die EU-Richtlinien gegen
Diskriminierung Gesetz werden ............................ 30
Sozialdemokratie: Der neue Vorsitzende
Kurt Beck enttäuscht die Parteilinken ................... 36
Grüne: Interview mit Jürgen Trittin über
die USA-Politik der Bundesregierung ................... 38
Stasi: Die Schlussstrich-Debatte
um die Birthler-Behörde und die Karrieren
ehemaliger Spitzel ................................................. 40
Kindesraub: Wie eine deutsche Mutter
in der arabischen Welt
nach ihren entführten Kindern sucht .................... 44
Außenpolitik: Interview mit der
Regierungsbeauftragten Gesine Schwan
über den Umgang mit der neuen
populistischen Regierung in Warschau .................. 50
Sicherheitspolitik: Verteidigungsminister
Franz Josef Jung plant neue Aufgaben
für die Bundeswehr und provoziert die SPD ......... 52
Justiz: Experten warnen vor
der geplanten Gesetzgebungshoheit der Länder
für den Strafvollzug .............................................. 56
Innere Sicherheit: SPIEGEL-Gespräch mit
Generalbundesanwalt Kay Nehm über
den Anti-Terror-Kampf und die Blockadepolitik
der US-Geheimdienste .......................................... 58
Kommunen: Für die hochfliegenden Pläne
der europäischen Kulturhauptstadt Essen
fehlt das Geld ........................................................ 64
Fankultur: Frust beim traditionsreichen
Arbeiterfußballverein TSV 1860 München über
den unrühmlichen Niedergang .............................. 66
Die Harmonie in der Union
zerbricht: Nach Angela Merkels Verabredungen mit der
SPD über Elterngeld und
Gleichbehandlungsgesetz
zeigen die ehrgeizigen CDULandesfürsten der Kanzlerin die Grenzen auf. Als
Hüter der christdemokratischen Lehre wollen sie bei
der Basis punkten. Die steht
einstweilen noch hinter der
populären Regierungschefin.
Doch es rumort auch in der
Unions-Bundestagsfraktion.
Stasi-Akten (in der Birthler-Behörde)
Die Methoden des Carsten Maschmeyer
Seite 116
Klagende Kunden und Börsenaufseher, die ermitteln – Carsten Maschmeyer, Gründer und Großaktionär des Finanzdienstleisters AWD, hat eine Menge Ärger. Aber
auch viel Geld und einen prominenten Freund: Ex-Kanzler Gerhard Schröder.
Gesellschaft
Lust für die Welt
Medien
Trends: Druck auf Bertelsmann wächst /
„Berliner Zeitung“ sucht Chefredakteur ............... 82
Fernsehen: TV-Reporterin Kathrin Sänger
über den Sechsteiler „S.O.S. Schule –
Hilferuf aus dem Klassenzimmer“ ........................ 84
Vorschau / Rückblick .............................................. 86
Stars: Olli Dittrich –
Zwischenbilanz einer deutschen Karriere ............. 88
Geheimdienste: Wie der BND
Journalisten bespitzelte ......................................... 92
10
Seite 74
SUSANNA RESCIO / BILDERBERG
Szene: Londoner Club für strickende
Nichtraucher / Bildband über den New Yorker
Vergnügungspark Coney Island ............................. 71
Eine Meldung und ihre Geschichte ........................ 72
Sexualität: Wie das US-Unternehmen Palatin
eine Lustdroge für Frauen entwickelt .................... 74
Ortstermin: Der Berliner Bezirk Neukölln
veranstaltet Einbürgerungszeremonien .................. 81
Eine US-amerikanische Firma glaubt ein Mittel gefunden zu haben, das sexuelle Lust weckt. Es soll als
Nasenspray auf den Markt
kommen, und vor allem
Frauen sollen es kaufen.
Sex jederzeit und für alle –
die Lust-Formel könnte,
acht Jahre nach Viagra, die
nächste sexuelle Revolution
einläuten.
Liebespaar
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Wirtschaft
Trends: Bahn drängt ins Containergeschäft /
Verhaltenskodex für Telekom-Mitarbeiter /
IBM droht mit Streichung des Urlaubsgelds .......... 95
Geld: Turbulenter Börsengang von Air Berlin /
Steinbrück setzt auf Immobilienfonds ................... 97
Konzerne: Der Milliardenauftrag für
den Polizeifunk der Zukunft ist hart umkämpft .... 98
Autoindustrie: BMW fährt allen davon .............. 102
Gewerkschaften: DGB-Vizechefin
Engelen-Kefer gibt nicht auf ................................ 113
Energie: Hessens Wirtschaftsminister will
Stromkonzerne zu niedrigen Preisen zwingen ..... 114
Unternehmer: Finanzdienstleister
Carsten Maschmeyer hat Ärger –
mit Kunden und der Börsenaufsicht .................... 116
Ausland
RON EDMONDS / AP
Präsident Bush, General Hayden
Big Brother in den USA
Seite 124
Unter dem Deckmantel des „Kriegs gegen den Terror“ hat der Geheimdienst NSA
Milliarden Telefondaten archiviert. Selbst treue Bush-Anhänger zweifeln jetzt am
Präsidenten und an dessen Plan, Ex-NSA-Direktor Hayden zum CIA-Chef zu machen.
Verschollen in Riad
Seite 44
Seit Monaten sucht die Deutsche Claudia Rajah quer
durch die arabische Welt nach ihren beiden Söhnen,
die ihr tunesischer Mann entführt hat. Nun sollen Rajahs Kinder in Saudi-Arabien sein – dort können ihr
deutsche Fahnder und Diplomaten kaum helfen.
Panorama: Brief an Bush erzürnt Irans
Konservative / Freizeitspione sollen
Londoner Polizei helfen / Norwegischer
Friedensschlichter in Nepal .................................. 121
USA: Lauschangriff auf Amerika ......................... 124
Frankreich: Götterdämmerung im Elysée ........... 128
China: Interview mit dem Hongkonger
Kardinal Joseph Zen über die Beziehungen
zwischen Peking und dem Vatikan ...................... 130
Zypern: Warum sich eine Türkin um einen Sitz
im Parlament des griechischen Inselteils bemüht ... 132
Serbien und Montenegro: Sezession an
der Adria? ........................................................... 134
Belgien: Konkurrenz für die jüdischen
Diamantenhändler von Antwerpen ..................... 136
Global Village: Ein junger Ägypter drängt auf
den internationalen Müllmarkt ............................ 140
Sport
Fußball: Miroslav Klose – der unscheinbare Star
ist Deutschlands Angriffshoffnung ....................... 142
WM-Gespräch mit dem spanischen Schriftsteller
Javier Marías über Stilfragen auf dem Rasen,
Fankultur und die Angst vor den Deutschen ....... 146
Rajah, Söhne
Wissenschaft · Technik
MICHAEL KAPPELER / DDP
Die Armee der Roboter
Seite 154
Auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg veranstaltet die Bundeswehr erstmals
einen Roboter-Wettkampf. Die stählernen
Soldaten müssen sich querfeldein durchschlagen oder ein Geisterdorf inspizieren.
Zunächst sind die Maschinen fürs Minenräumen oder Bombenentschärfen vorgesehen. Aber später könnten Roboter sogar
im Häuserkampf zum Einsatz kommen.
Wachroboter „Asendro“
S. 184
AKG (L. + M.); BPK (R.)
Erbe der Aufklärung
Die Aufklärung, ein Erbe der großen
europäischen Philosophen des 18. Jahrhunderts, bleibt ein unvollendetes Projekt. Eine
kritische Ausstellung in Paris präsentiert sie
als ständig neu zu begründenden Auftrag
für die Zukunft.
Philosophen Rousseau, Voltaire, Kant
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Prisma: Mimik-Programm entlarvt Lügner /
Bonsai-Gras soll das Rasenmähen ersparen ......... 151
Roboter: Die Bundeswehr testet elektronische
Soldaten für den Häuserkampf ............................ 154
Verhaltensforschung: Haben Tiere Humor? .... 157
Automobile: Mercedes eröffnet das größte
Automuseum der Welt ......................................... 160
Gesundheitskosten: Die Ausgaben für
Arzneimittel steigen trotz Reformen .................... 163
Kultur
Szene: Neuer Roman vom dänischen
Erfolgsautor Peter Høeg / Claude Monet in
der Stuttgarter Staatsgalerie ................................. 181
Philosophie: Die Aufklärung, Erbe für morgen ... 184
Film: Premiere des Bestsellers „Sakrileg“
beim Festival in Cannes ....................................... 190
Hauptstadt: Wer zahlt für die Sanierung der
Berliner Staatsoper Unter den Linden? ............... 192
Tagebücher: Fernsehkomiker Hape Kerkeling
über seine Pilgerreise auf dem Jakobsweg ........... 196
Bestseller ........................................................... 199
Kulturgeschichte: Leben Frauen, die schreiben,
gefährlich? ........................................................... 202
Briefe .................................................................... 12
Impressum, Leserservice ................................ 204
Chronik ............................................................... 205
Register ............................................................. 206
Personalien ....................................................... 208
Hohlspiegel / Rückspiegel ............................... 210
Titelbild: Foto Jo van den Berg / Digitale Bildbearbeitung Jean-Pierre
Kunkel für den SPIEGEL; Illustration DER SPIEGEL
11
Briefe
men rigoros durchzusetzen. Stattdessen
werden faule Kompromisse geschlossen,
die die Probleme höchstens aufschieben,
sie aber nicht lösen. Besteht der Auftrag eines Politikers denn nur darin, die nächste
Wahl zu gewinnen? Oder dürfen wir die
Hoffnung noch nicht aufgeben, dass zumindest demnächst versucht wird, unser
Land zukunftsfähig zu machen?
„Über das Thema haben Sie
schon öfter geschrieben.
Im Ernst: Gründen Sie eine
Partei. Mich haben
Sie schon als Wähler.“
Köln
Solange Parteien, wie auch dieses Parteibündnis aus CDU und SPD, das eigene
Wohl nach dem Motto „Wenn wir mehr
machen, werden wir wider besseres Wissen
nicht wiedergewählt“ dem Volkswohl entgegenstellt, wird es mit Deutschland mit
100-prozentiger Sicherheit weiter bergab
gehen. Wären diese sogenannten Volksvertreter Vorstandsmitglieder einer deutschen AG, wären sie schon lange mit
Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt
worden. Mehr denn je gilt der Satz von
Bertolt Brecht: Der Trog bleibt, nur die
Schweine wechseln!
Georg Berkes aus Gardessen in Niedersachsen zum Titel
„Wieviel Steuern braucht der Staat?
Die Große Koalition zur Verteilung nicht vorhandenen Geldes“
SPIEGEL-Titel 19/2006
Nr. 19/2006, Titel: Wieviel Steuern
braucht der Staat? Die Große Koalition zur
Verteilung nicht vorhandenen Geldes
Endlich wurde einmal klar gesagt, was in
den vergangenen Jahren falschgelaufen ist
und leider immer noch falschläuft: Millionenbeträge werden von einem Staat geschluckt, der vor allem daran interessiert
ist, sich selbst und weitere Ausgaben zu
finanzieren, mit denen er versucht, das
Leben seiner Bürger weitgehend zu regulieren – was nach allen Theorien und
Erkenntnissen vergangener Jahre und aus
anderen Ländern nicht möglich ist. Danke
für diesen Artikel, vielleicht bewirkt er
endlich ein Umdenken bei Politikern, aber
auch Bürgern.
Würzburg
Konstantin Richter
Wer ist denn die schöne Frau auf Eurer
Titelseite, und wer sind die zwei schnieken
Herren? Der Räuber Hotzenplotz wäre
doch wohl passender gewesen …
Winterbach (Rhld.-Pf.)
Wallenhorst (Nieders.)
Winfried Dietz
Um eine niederbayerische Bundesstraßenkreuzung zu entschärfen, gab es zwei Mög12
Ahlen (Nrdrh.-Westf.)
Abstimmung im Deutschen Bundestag
Wie viel Staat braucht der Steuerzahler?
nach acht Jahren, wird die Brücke gebaut.
Wen wundert’s, bei Verschwendung auf
Pump gegen den Willen der Bürger, wenn
diese für Steuererhöhungen kein Verständnis aufbringen?
Vilsbiburg (Bayern)
Gisela Floegel
Stadträtin
Hanfried Schrot
In unserem Rechtssystem fehlt mir der
Straftatbestand der Enkelausbeuterei. Die
Große Koalition hilft uns, das Lernen der
notwendigen Lektionen noch ein paar Jahre weiter in die Zukunft zu verschieben.
Schade, denn weiche Politik führt gegen
harte Wände. Deutschland steht vor der
Aufgabe, erstmals wirksame Reformen zu
realisieren, ohne dabei auf den Trümmern
selbsterzeugter Katastrophen zu stehen.
Hier fehlt uns offensichtlich jede Erfahrung.
Bochum
Horst Schmitz
Die Hindu-Glücksgöttin Lakshmi mit dem
Konterfei Angela Merkels darzustellen ist
schlimmer als Blasphemie.
Robert Kordts
Die Koalition der Unwilligen spiegelt ja
letztlich nur den Bürgerwillen wider. Die
Leute wollen eine „sozialdemokratisierte“
Politik, also bekommen sie eine. Und Sozialdemokraten konnten eben noch nie mit
Geld umgehen. So einfach ist das.
Kaufungen (Hessen)
lichkeiten: ein 2,4 Millionen Euro teures
Brückenbauwerk oder ein Kreisel für
200 000 Euro. Tausende Unterschriften, ein
Stadtratsbeschluss, drei Petitionen an Bund
und Land, Briefe an den Bundesrechnungshof und den Finanzminister sowie
ein Gerichtsverfahren, um den steuersparenden Kreisel zu erreichen, waren vergebens. Die Oberste Baubehörde setzt sich
sogar gegen den CSU-Landrat durch: Jetzt,
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS
Weiche Politik, harte Wände
Christian Wengeler
Zum wiederholten Mal nennt der SPIEGEL die Missstände in unserem Land. Leider beweist keiner der Politiker genügend
Rückgrat und versucht, die nötigen Refor-
Horst H.Seifert
Bin total begeistert von dem herrlichen
Titelbild. Man ist gehalten, etwas länger
hinzuschauen.
Heidesheim (Rhld.-Pf.)
Margot Bertrang
Es liegt am System: Diejenigen, die es geschafft haben, an die Fleischtöpfe der materiellen Selbstbedienung beziehungsweise
des bequemen Beamtenlebens zu kommen, haben überhaupt kein Interesse,
durch Stress und Arbeit daran womöglich
etwas zu ändern.
Celle (Nieders.)
Gunter Heidenreich
Sie fragen: „Wieviel Steuern braucht der
Staat?“ Die Frage ist falsch gestellt. Es
muss heißen: Wie viel Staat braucht der
Steuerzahler? Brauchen wir 614 Bundestagsabgeordnete? Altbundeskanzler Helmut Schmidt ist der Meinung, dass 300 genügen. Brauchen wir 16 Bundesländer?
8 genügen! Die Industrie praktiziert schon
seit vielen Jahren Lean Management und
Lean Production. Wie wäre es denn ein-
Vor 50 Jahren der spiegel vom 16. Mai 1956
Bundestag fordert Kassenrapport vom Finanzminister Dichtung und
Wahrheit. Verleihung des Karlspreises an Winston Churchill Spargel
und Pückler-Eis. Alter Bundespressechef soll wieder ins Amt Das
Himmelfahrt-Kommando. Streit um Denkschrift zur Wehrpflicht „Mitunter etwas volkstümlich“. Debatte um Konfessionszugehörigkeit
von Lehrern in Niedersachsen Erziehung im christlichen Geist. Robert
Musils „Mann ohne Eigenschaften“ vergriffen Rowohlt ist wütend.
Diese Artikel sind im Internet abzurufen unter www.spiegel.de
oder im Original-Heft unter Tel. 08106-6604 zu erwerben.
Titel: US-Landwirtschaftsminister Ezra Taft Benson
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Briefe
Prüm (Rhld.-Pf.)
Hermann Mezger
Mit Befremden habe ich Ihr aktuelles
Titelbild sehen müssen. Für Ihren christlich geprägten Leserkreis sollten Sie zum
besseren Verständnis vielleicht doch lieber
auf ein Symbol des hiesigen Kulturkreises
zurückgreifen. Wie wäre es mit der Heiligen Dreifaltigkeit? Oder befürchten Sie,
religiöse Gefühle zu verletzen und Leser
zu verlieren?
Erlangen (Bayern)
Chitta R. Saha
Als Optimist habe ich niemals geträumt,
dass die Chaotenregierung unter Schröder
noch zu toppen wäre. Die bittere Wahrheit heute: Bis auf Steinmeier haben sich
neue unfähige Selbstdarsteller (Seehofer,
Glos, Gabriel, Müntefering etc.) die Klinke
in die Hand gegeben. Kein Gesamtkonzept; nur faule Kompromisse, wo man hinschaut. Einigkeit herrscht nur bei der Diätenerhöhung und in der Pensionsregelung.
Fazit: Die Merkel und ihre Mannschaft
können es doch nicht!
Halstenbek (Schl.-Holst.)
Rudi Rabenstein
Beruhigt in die Zukunft
Nr. 18/2006, Regierung: Steuerforderungen und
Freiheitsrhetorik – wie viel Staat braucht das Land? /
Das absurde Reich der ermäßigten Mehrwertsteuer
mienform. Statt einer sinnvollen steuerlichen Förderung erhalten wir wieder eine
Regelung, die falsche Anreize setzt. Nicht
zufällig versuchen manche ja auch, den
Bürgern eine Lebensweise vorzuschreiben.
Und zu Frau Merkels „Ehrlichkeit“ gesellt
sich dann noch Kurt Beck mit seinem
„Vorwärts, Genossen, wir müssen zurück“.
Alzey (Rhld.-Pf.)
Dr. Dieter Hoffmann
Toll, dass sich in Deutschland mit dem
Elterngeld nun endlich etwas tut! Die
Unsinnigkeit der sogenannten Stichtagregelung scheint bisher jedoch niemandem
aufgefallen zu sein. Wie kann es sein, dass
Eltern, deren Kind am 1. Januar 2007 zur
Welt kommt, ein Anrecht haben, während
die Eltern eines Kindes mit Geburtstag am
31. Dezember 2006 komplett leer ausgehen? Wäre nicht wenigstens eine Übergangsregelung angebracht?
Berlin
Nathalie Kampe
Wir Deutschen brauchen einfach 100 Prozent Staat – denn wo kämen wir hin, wenn
irgendeine Frage nicht staatsseitig geregelt würde. Dosenpfand, Kinderwerfprämie – und eine Verwaltungsanweisung des
Bundesfinanzministeriums zur „Ertragsteuerlichen Behandlung der Einnahmen
prominenter Kandidaten aus Spiel- und
Quizshows im Fernsehen“. Jetzt sind wir
aber froh – ein weiteres dringendes Problem gelöst. Es geht aufwärts – und mit
der Gründlichkeit überleben wir auch
die Globalisierung. Neuer Exportschlager:
Verwaltungsanweisungen, die niemand
braucht!
Freiburg
Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Jahrzehntelang wächst der Sozialund Wohlfahrtsstaat, alle beklagen das, und
was macht auch diese Regierung? Richtig,
sie erhöht die Steuern, damit der Sozialstaat weiter (un)bezahlbar bleibt. Es ist im
Staat offenbar so wie bei der Gesundheit:
Der Arzt wird erst bei 41
Fieber und drohender Bewusstlosigkeit aufgesucht.
Warum auch vorbeugen?
Ist doch viel schöner, mit
Bier und Chips vor dem
Volksverdummungsapparat zu sitzen und Fußball
zu glotzen – bis der Infarkt kommt.
Berlin
Udo Sonnenberg
16
CHRISTIAN PLAMBECK
Obernburg (Bayern)
Heinrich Weitz
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Wie der SPIEGEL dazu kommt, jemanden
zu einem angeblich abgestraften Bahn- und
Mehdorn-Kritiker zu stilisieren, der über
einen langen Zeitraum vertraulichste Unterlagen der Deutschen Bahn an Dritte
weitergegeben hat, ist mir schleierhaft.
Dieses umso mehr, als der Betreffende bei
der Deutschen Bahn in keiner Weise und
nirgendwo jemals als Kritiker von irgendetwas hervorgetreten ist, geschweige denn
sich als solcher geäußert hätte. Er hat einfach nur heimlich und systematisch im
großen Stil Geschäftsgeheimnisse weitergegeben. Das sah auch die Staatsanwaltschaft so. Das Arbeitsgericht, das der Betreffende übrigens selbst bemüht hat, hat
der Deutschen Bahn in allen Punkten uneingeschränkt recht gegeben.
Berlin
Dieter Hünerkoch
Berater DB AG
Neuer Wind
Nr. 18/2006, Bolivien: Die Karriere des
Indio-Präsidenten Evo Morales
Andreas Sprenger
Der geneigte Leser erfährt endlich, was
man in den ministeriellen Amtsstuben für
Artikel des täglichen Bedarfs hält. Und
kann daraus schließen, was von der gebetsmühlenhaft vorgetragenen Beruhigung zu
halten ist, dass Lebensnotwendiges nicht
von der brutalen Härte
des Aufschlags um drei
Prozentpunkte getroffen
wird. Der gemeine HartzIV-Empfänger darf einigermaßen beruhigt in die
Zukunft blicken, in dem
Wissen, dass er beim
Maulesel- und Maultierkauf nur den ermäßigten Steuersatz entrichten
muss. Der Tag ist nicht
mehr fern, an dem mit
den Exkrementen der mit
ermäßigtem Steuersatz
belegten Vierbeiner die
kargen Zimmerchen der
Taglöhner beheizt werden, die 40 Stunden pro
Woche auf chinesischem
Lohnniveau schuften!
Angekündigt war, die
Rolle des Staates zu beschränken und dessen
Wohlfahrtsanstrengungen
auf existentielle Unterstützung auszurichten.
Tatsächlich umgesetzt
werden mehr Eingriffe
mit Versorgungsmodellen
wie dem Elterngeld, eine Kanzlerin Merkel
Art Mutterkreuz in Prä- Falsche Anreize gesetzt
Heimlich und systematisch
Nr. 18/2006, Bahn: Ein internes Dossier diskreditiert
Gegner des geplanten Börsengangs
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DERMOT TATLOW
mal mit Lean Government und Lean Administration? Einsparungen auf diesem Gebiet machen Steuererhöhungen und Rentenkürzungen überflüssig und geben dem
Steuerzahler wieder etwas mehr Luft zum
Atmen.
Spielende Kinder bei La Paz
Wenig Platz für Menschlichkeit
Da kommt wieder mal viel Arbeit zu auf
den amerikanischen Präsidenten und seine
CIA. Erneut muss in Lateinamerika aufgeräumt werden. Überall drohen „Unpersonen“ vom Schlage eines Chávez, Morales
oder Lula da Silva die Interessen der Vereinigten Staaten ernsthaft zu unterminieren. Erfahrungen hat man ja genug – siehe
die Installierung der Militärdiktaturen in
den sechziger bis achtziger Jahren.
Leipzig
Hans-Dieter Kern
Ich kenne jetzt die Geschichte, wie Morales zur Welt kam, was er für Klamotten
trägt, dass er ein begnadeter Fußballer war
und ein Kokabauer mit gewerkschaftlichen
Ambitionen. Schade, mich hätte wirklich
interessiert, was Morales antreibt und was
er plant. Der Führer des ärmsten Landes
Südamerikas muss auch nicht begründen,
wie er zu der Ansicht gelangt, dass die
Bodenschätze seines Landes seinem Volk
Briefe
gehören. Mit der ungefilterten Wiedergabe
derart linkspopulistischer Ausführungen
würde der SPIEGEL die Urteilsfähigkeit
seiner Leser sicherlich überstrapazieren.
Andreas Falken
In Zeiten von Kapitalismus, Globalisierung
und Energieknappheit, die nicht viel Platz
für Menschlichkeit lassen, ist der neue
Wind, der aus Bolivien weht, frisch, und
für manchen mag er sogar kalt sein. Ein
Präsident, der wirklich weiß, wie es um
sein Volk steht, und der mit seinem Konzept der Verstaatlichung der Ölquellen ein
Zeichen setzt. Ein Zeichen, welches bestimmt für manchen Politiker in den USA
(und für etliche mehr) eine Bedrohung für
internationale beziehungsweise nationale
politische Konzepte darstellt. Doch Evo
Morales schlägt einen Kurs gegen die Armut ein und gibt seinem Volk und seinem
Land, was ihm auch zusteht.
Marburg (Hessen)
Martin Landschein
Einfalt oder Anmaßung?
Nr. 18/2006, Religion: SPIEGEL-Gespräch mit dem
Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche,
Bischof Wolfgang Huber, über christliche Werte
im säkularen Staat und den Islam
Bischof Huber macht es sich zu leicht,
wenn er die Diskussion um die sogenannten Werte allein auf christliches Gedankengut beschränkt. Die „Wurzeln unserer
gesellschaftlichen Grundorientierung“ liegen insbesondere in den Errungenschaften
der Aufklärung. Die Wertvorstellungen
von Freiheit, Gleichheit, sozialer Gerechtigkeit sind keine „Geschenke Gottes“, wie
Huber meint. Sie mussten von Menschen
gerade gegen den Widerstand der Kirche
entwickelt werden. Demokratie war für sie
lange ein Fremdwort.
Hameln (Nieders.)
Dortmund
Helga Klöpping
Wer keine religiöse Bildung hat, versteht
nichts von unterlassener Hilfeleistung sowie abendländischer Kunst, findet sich in
der Literatur nicht zurecht und begreift
keine Geschichte. Offenbart sich hier heilige Einfalt oder grenzenlose Anmaßung?
Wahrscheinlich beides!
Öhningen (Bad.-Württ.)
Hans-J. Russow
Wenn die Menschenwürde allein christlich
begründet werden kann, wie, verehrter
Herr Bischof, soll man dann jene, die nicht
an Ihren Gott glauben, dazu anhalten, die
Würde des Mitmenschen zu achten? Nicht
das Christentum hat den Begriff ins Spiel
gebracht, sondern die römische Stoa. Es
gibt sehr wohl säkulare, und zwar äußerst
einflussreiche Begründungen der Würde,
zum Beispiel die kantische. Und: Selbstverständlich kann die Würde des Menschen verletzt oder gar genommen werden. Diese Anmerkungen mögen besser-
Jost Viebahn
Die kirchliche Verkündigung der „teuren
Gnade“ (Bonhoeffer) in Wort und Tat beinhaltet die Kernkompetenz christlichen
Glaubens und zeigt gleichzeitig auf, worin
Christsein und Islam sich grundsätzlich unterscheiden. Wenn Kirche sich allerdings
darauf beschränkt, nur für ethische Werte
einzutreten, könnten islamische Ideale zu
einer echten Herausforderung werden. Es
ist bedauerlich, dass im Bonhoeffer-Gedenkjahr der Ratsvorsitzende der EKD
dem großen Leserkreis des SPIEGEL auf
Fragen, die die deutsche Öffentlichkeit
heute (wieder) bewegen, wirklich evangelische Antworten schuldig bleibt.
DBUTZMANN.DE
Leipzig
schenkempfängers Gottes, dem erst im
Glauben erklärt werden muss, dass er frei
ist. Entspricht der Glaube nicht gerade der
Fähigkeit, die geschenkte Freiheit schöpferisch in die Tat umzusetzen, wodurch
sich – wie Ratzinger sagt – „das Unentdeckte und Entdeckte im Bereich des
Guten entfaltet“? Wenn es so ist, wäre die
Frage doch eher, welche Vorstellungen –
vielleicht auch von Seiten der Kirche – solches Hervorbringen hindern.
Bischof Huber (in Berlin)
Anspruch auf das Wertemonopol
wisserisch klingen, doch sie entlarven den
kirchlichen Anspruch auf das Wertemonopol als das, was er nun mal ist: anmaßend
und dogmatisch wie eh und je.
Magdeburg
Dr. Arnd Pollmann
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe – bitte mit Anschrift und Telefonnummer – gekürzt zu veröffentlichen.
Die E-Mail-Anschrift lautet: [email protected]
Lähden (Nieders.) A. Cramer von Clausbruch
Bischof Huber wäre sehr zu empfehlen,
dem Stellungnahmezwang für eine Weile
zu entsagen und sich mit der Lektüre von
Kardinal Ratzingers „Gott und die Welt“
zurückzuziehen. Ziel wäre die Revision
des Menschenbildes eines passiven Ge18
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Am Umschlagprodukt befindet sich in dieser SPIEGELAusgabe in einer Teilauflage ein vierseitiger Beihefter der
Firma ThyssenKrupp, Düsseldorf, sowie in der Heftmitte
dieser SPIEGEL-Ausgabe in einer Teilauflage ein achtseitiger Beihefter der Ford-Werke, Köln. Eine Teilauflage
enthält Beilagen der Firmen Acer, Agrate Brianza, Weltbild Verlag, Augsburg, sowie „Süddeutsche Zeitung“,
München.
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Deutschland
Panorama
L I N K S PA R T E I
Lafontaines
Manifest
A
MARC-STEFFEN UNGER
MARC DARCHINGER
llen Konflikten zwischen Linkspartei
und WASG zum Trotz treibt der
Fraktionschef der Linken im Bundestag,
Oskar Lafontaine, die Fusion der beiden
Parteien voran. In den Spitzen beider Organisationen kursiert inzwischen ein weitgehend aus der Feder des früheren SPDChefs stammender Entwurf für ein
„Gründungsmanifest der Partei Die Linke“. Darin wird der „globale Kapitalismus“ gegeißelt, der Absatzmärkte auch
mit militärischer Gewalt erobere. Der
„Neoliberalismus“ wird als „Ersatzreligi- Bundesparteitag der Linkspartei (2005 in Berlin)
on“ angeprangert. Die Linke, die sich zum
nalabbau in Bund, Ländern und Gemeinden sowie Kür„demokratischen Sozialismus“ bekenne,
zungen von Sozialleistungen dürften unter Regierungswerde die „Barbarei der kapitalistischen
beteiligung der neuen, vereinten Linken nicht erfolgen:
Gesellschaft überwinden“.
„Die Linke macht Schluss mit einer Politik, die das öfBesonders pikant sind die Passagen des
fentliche Vermögen verkauft und damit das Volk enteigPapiers, die sich auf mögliche Regierungsbeteiligungen beziehen – und diese
net.“ Damit wären – bei konsequenter Befolgung der Vorvoraussichtlich einschränken. Die Linke
gaben des Manifestes – schon die bestehenden Koalitionen
werde „nur unter Beachtung ihrer
von Linkspartei und SPD in Berlin und Mecklenburg-VorGrundsätze Koalitionen mit anderen Parpommern Sündenfälle. In den beiden hochverschuldeten
teien eingehen“. Ausgeschlossen sein soll
Ländern hat die Linkspartei auch Kürzungen im Sozialdie Beteiligung an Privatisierungen öfbereich mitgetragen. In Berlin etwa wurde die Kita-Gefentlicher Einrichtungen. Auch Perso- Lafontaine
bühr drastisch erhöht und das Blindengeld gekürzt.
P R I VAT I S I E R U N G E N
Konferenz zur
Abrüstung
Rüge vom Bundesrechnungshof
ie SPD will ihr außenpolitisches
Profil in der Großen Koalition
schärfen. Bei einer Konferenz Ende
Juni in Berlin wollen die Genossen über
neue Strategien zu Rüstungsbegrenzung, nuklearer Abrüstung und Völkerrecht beraten. An dem Treffen nehmen
neben dem Parteivorsitzenden Kurt
Beck auch der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde,
Mohammed al-Baradei, Außenminister
Frank-Walter Steinmeier und der Chef
der Europa-Sozialdemokraten im Straßburger Parlament, Martin Schulz, teil.
„Indien, Pakistan – alle rüsten mit
großer Selbstverständlichkeit auf“, sagt
Schulz, „selbst über begrenzte Atomschläge wird inzwischen diskutiert, als
wäre es ein völlig normaler Vorgang.“
Die Konferenz soll dazu beitragen, langfristig eine Reform des löchrigen Atomwaffensperrvertrags voranzutreiben.
I
n ungewöhnlich scharfer Form hat der
Bundesrechnungshof den ehemaligen
Bundesfinanzminister Hans Eichel kritisiert. Dabei geht es um den von Eichel
ausgetüftelten „Postpensions-Deal“. Im
Juni vergangenen Jahres hatte der Minister Forderungen der bundeseigenen
Postpensionskasse gegenüber den Konzernen Deutsche Post AG
und Deutsche Telekom
AG zum Preis von acht
Milliarden Euro verkauft.
Versäumt worden sei jedoch, „anhand einer Wirtschaftlichkeitsuntersuchung die Vorteilhaftigkeit
der Transaktion unter Einbeziehung aller Finanzierungsoptionen nachzuweisen“, schreiben die Prüfer
in einem Bericht, der zurzeit in der Geheimschutzstelle des Bundestags unter Verschluss gehalten
Eichel
d e r
s p i e g e l
2 0 / 2 0 0 6
wird. Zwar entlaste die Transaktion den
Bund in den Jahren 2005 und 2006 mit
über 7 Milliarden Euro. Doch „dem stehen 9,2 Milliarden Mehrbelastungen von
2007 bis 2021 gegenüber, so dass dem
Bund 2,1 Milliarden Euro Mehrbelastung
entstehen“. Sollten die restlichen Forderungen der Postpensionskasse in Höhe
von 9,4 Milliarden Euro,
wie geplant, auch noch
veräußert werden, so würde der Bund sogar vier
Milliarden Euro draufzahlen. Angesichts der angespannten Haushaltslage, so
die Prüfer, „steht der Bundesrechnungshof einer solchen Verschiebung von
Lasten in die Zukunft kritisch gegenüber“. Eine
Stellungnahme des Bundesfinanzministeriums „ist
trotz mehrfacher Aufforderung ausgeblieben“.
MARKUS SCHREIBER / AP
D
SPD
21
Panorama
LEBENSMITTEL
Darmkeime im Sodawasser
or „lebensbedrohlichen Infektionen durch Keime“ in Wasserspendern und in Geräten zur
Herstellung von Sodawasser warnt
das Institut für Umweltmedizin
und Krankenhaushygiene der Universität Freiburg. Bei Untersuchungen hatten Wissenschaftler bis
zu 6,9 Millionen Keime pro Liter
gemessen. Grenzwerte waren teilweise bis zu 34 000fach überschritten. Der Absatz von Haushaltsgeräten zur Selbstproduktion
von Sodawasser ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen.
Umso dramatischer sind die Ergebnisse: Von 60 untersuchten
Geräten lagen 39 weit über dem
Grenzwert der Mineral- und Tafelwasserverordnung. Es wurden unter anderem Schimmelpilze, Corynebakterien und Darmkeime
gefunden. Besonders für extrem
abwehrgeschwächte Patienten, so
Institutschef Franz Daschner, seien
diese lebensbedrohlich. Ursache
für die Kontamination sei, dass die
Geräte nach Hinweisen der meisten Hersteller lediglich mit lauwarmem Wasser gespült werden
sollten. Zudem ließen sich einige
Geräteteile gar nicht reinigen,
dort bilde sich dann ein gefährlicher Biofilm. Ähnliche „lebensmittelhygienische Probleme“ sieht
Daschner bei den „Watercoolern“
– den Wasserspendern, die etwa in
Banken oder öffentlichen Gebäuden stehen. Von den in Krankenhäusern genommenen Proben waren etwa 88 Prozent über dem
Grenzwert für Trinkwasser. Wegen
der davon ausgehenden gesundheitlichen Gefahr hat das Bundesinstitut für Risikobewertung die
Vertreiber aufgefordert, die Wasserbehälter spätestens alle zwei
Wochen auszutauschen.
Wasserspender
ANDREAS TEICHMANN / LAIF
V
REGIERUNG
ÄRZTESTREIK
Konflikt um Europapolitik
Im Krebsgang
JOSE GIRIBAS
n der Bundesregierung ist ein Streit um die Zuständigkeit für
die Europapolitik ausgebrochen. Wirtschaftsminister Michael
Glos (CSU) meldete am Mittwoch im Kabinett den Anspruch an,
gleichberechtigt neben Außenminister Frank-Walter Steinmeier
(SPD) die deutschen Interessen in Brüssel zu vertreten. Auslöser
des Konflikts war die Erstellung der Rednerliste für die Europadebatte im Bundestag am
Donnerstag. Der Routinepunkt sorgte für ein
kurzes Wortgefecht im Kabinett. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte erläutert, dass Glos nach ihrer Regierungserklärung „in die Debatte eingreifen“ wolle.
Daraufhin konterte SPD-Vizekanzler Franz
Müntefering, dazu müsse auch der Außenminister reden. Glos gab zurück, Steinmeier
Steinmeier
habe bereits im März eine Regierungserklärung zum EU-Gipfel abgegeben; als Wirtschaftsminister sei er
„für die andere Hälfte der Europapolitik“ zuständig. Da schlug
Müntefering vor, dass keiner der Minister reden solle, was Merkel akzeptierte: „Dann machen wir das eben so.“ Damit ist der
Streit jedoch nur einstweilen zugedeckt. Die Europazuständigkeit ist innerhalb der Regierung auf mehrere Häuser verteilt, was
immer wieder für Konflikte gesorgt hat. 2002 wollte der damalige Kanzler Gerhard Schröder (SPD) das gesamte Sachgebiet ins
Kanzleramt holen, was an seinem Außenminister Joschka Fischer (Grüne) scheiterte. Bei den Koalitionsverhandlungen 2005
entriss der CSU-Vorsitzende Edmund Stoiber die Koordinierung
der deutschen Wirtschafts- und Finanzpolitik in der EU dem Finanzministerium und schlug sie dem Wirtschaftsressort zu.
22
d e r
N
achdem die Tarifgespräche über die Arzt-Gehälter an
Universitätskliniken und Landeskrankenhäusern vergangenen Freitag in Dresden vorerst gescheitert sind, ist massive
Kritik an der Verhandlungsführung beider Parteien laut
geworden. Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder sei „wie
ein Krebs im Seitwärtsgang“ vor ursprünglich in Aussicht
gestellten Gehaltserhöhungen wieder ausgewichen, so der
Vorstandsvorsitzende des Verbands der Universitätskliniken
Deutschlands, Rüdiger Strehl. Die Ärztegewerkschaft Marburger Bund wiederum habe bei ihren Forderungen „wenig
Realitätssinn“ bewiesen. Inzwischen sei das Verhältnis der
beiden Verhandlungsführer Frank Ulrich Montgomery und
Tarifgemeinschaftsführer Hartmut Möllring völlig zerrüttet.
Strehl hatte sich bereits Ende vorvergangener Woche für direkte Gespräche der Ärztegewerkschaft mit den einzelnen
Bundesländern ausgesprochen. Falls nicht
doch noch eine Einigung
zustande kommt, finden
die Gespräche Anfang
dieser Woche erstmals
in Baden-Württemberg
statt. Vertreter der Landesregierung und des
Landesverbands der
Ärztegewerkschaft vereinbarten, sich zu einem
„Meinungsaustausch“
zu treffen.
s p i e g e l
VOLKER HARTMANN / DDP
I
2 0 / 2 0 0 6
Deutschland
chirurgie und wissenschaftlicher Berater
des Deutschen Fußball-Bunds. Zugleich
hat sich offenbar das Risiko bei modernen Fußballschuhen durch eine weitere
euentwicklungen der FußballschuhNeuerung erhöht: Die klassischen
industrie haben zu einer steigenden
Schraubstollen wurden durch längliche,
Zahl von Verletzungen geführt – sowohl
schmale Keile ersetzt. „Da sich diese
durch das veränderte Material als auch
messerartig in den Boden schneiden, erdurch die Form der Stollen.
höht sich zwar die StandfestigZu diesem Schluss kamen Exkeit drastisch“, so Walther,
perten vorige Woche auf dem
„auf der anderen Seite aber
Sportärztekongress in Münkönnen sie schwere Verletzunchen. Zuletzt waren die Hergen beim Foulspiel hervorrusteller vermehrt dem Wunsch
fen.“ Wohl beginnen inzwider Spieler nach sehr leichtem,
schen etliche Ausrüster damit,
elastischem Schuhwerk nachdie Mittelpartie des Schuhs
gekommen – mit dem Ergebmit robusterem Material zu
nis, dass sich die Kickerstiefel
verstärken und die Keile leicht
zwar wie eine zweite Haut anabzurunden. Noch aber
fühlen, aber häufig keinen
scheinen die Gefahren nicht
Verletzter Rooney
ausreichenden Schutz mehr
gebannt: Jüngst schlitzte
bieten. „Eine zu hohe FlexibiEnglands Superstar Wayne
lität im Mittelfuß führt
Rooney im ersten Einsatz mit
zwangsweise zu einer erhöheinem neuentwickelten Schuh
ten Belastung und wohl auch
zunächst den Oberschenkel
zu einer erhöhten Rate von
seines NationalmannschaftsMittelfußverletzungen“, so
kollegen John Terry auf, wenig
Markus Walther, Fachmann
später brach er sich bei einem
Rooney, Schuh
für Fuß- und SprunggelenksZweikampf den Mittelfuß.
SPORTMEDIZIN
PAUL ELLIS / AFP
ADRIAN DENNIS / AFP
Gefährliche Kickerstiefel
N
Steinbrück moniert
Wortbruch der EU
B
undesfinanzminister Peer Steinbrück fühlt sich von der EU-Kommission ungerecht behandelt. Der
Grund: Die Kommission erwägt, ein
Vertragsverletzungsverfahren gegen die
Bundesrepublik einzuleiten,
weil in Deutschland nur öffentlich-rechtliche Träger
eine Bank mit dem Namen
„Sparkasse“ betreiben dürfen
– nicht aber private Banken
oder Investoren. Laut Steinbrück gibt es jedoch eine
schriftliche Vereinbarung mit Sparkasse
HARTZ IV
Teure Verwaltung
D
ie Verwaltungskosten für Hartz IV
sind prozentual noch stärker gestiegen als die Transferleistungen an Arbeitslose. Das geht aus einer internen
Bilanz des Bundesarbeitsministeriums
hervor. Danach beliefen sich die Verd e r
dem damaligen EU-Wettbewerbskommissar Mario Monti. Dem Papier zufolge sei das deutsche Sparkassensystem
inzwischen „mit EU-Recht kompatibel“,
da die ehemals wettbewerbsverzerrenden staatlichen Garantien auf Druck
von Brüssel gefallen sind. Vertraute des
Ministers berichten, Steinbrück habe
das Thema bei dem zuständigen
EU-Binnenmarktkommissar Charlie
McCreevy bereits angesprochen – der
aber habe sinngemäß gesagt,
dass ihn die Entscheidungen
anderer und früherer Kommissare nicht interessierten.
Steinbrück will nun erreichen,
dass in der EU-Verwaltung
künftig Vertrauensschutz und
Rechtssicherheit eine „deutlich größere Rolle spielen“.
STEINACH / IMAGO
S PA R K A S S E N S T R E I T
waltungsausgaben für das neue Arbeitslosengeld II im vergangenen Jahr auf
rund 3,5 Milliarden Euro, 40 Prozent
mehr als im Jahr 2004, dem letzten Jahr
vor der Reform. Dagegen sind die Ausgaben für Arbeitslosengeld II und Unterkunft im selben Zeitraum um lediglich 22 Prozent auf rund 37,3 Milliarden
Euro gestiegen. Hartz IV kostete 2005
rund 44,4 Milliarden Euro.
s p i e g e l
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23
Deutschland
Panorama
JUSTIZ
A LT E R T Ü M E R
Nicht akzeptabel
AKG
D
Nofretete-Büste
er Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung,
Sahi Hawas, hat die Rückführung
der weltbekannten Nofretete-Büste nach Kairo gefordert. Damit
überraschte der Antiquitätenchef
vergangene Woche in Berlin sowohl Bundespräsident Horst
Köhler wie auch dessen Staatsgast
Präsident Husni Mubarak während
der feierlichen Eröffnung der Ausstellung „Ägyptens versunkene
Schätze“. Im Gegensatz zu zahlreichen Kulturrelikten, die illegal
ins Ausland gebracht wurden, war
die Skulptur der Königin, Gattin
des religiösen Reformer-Pharaos
Amenophis IV. („Echnaton“), bereits 1913 mit Zustimmung der
ägyptischen Behörden nach Berlin
überführt worden. Um einem möglichen Konflikt mit Deutschland
zuvorzukommen, schlug Hawas als
Übergangslösung vor, die Büste
zunächst als Leihgabe nach Kairo
zurückzuschicken. Noch im vergangenen Jahr hatte Ägyptens
Kulturminister Faruk Husni die
Nofretete-Skulptur „unsere beste
Botschafterin“ genannt, die einen
„lebendigen Beitrag zum Dialog
der Kulturen“ darstelle.
N
ach Auffassung von Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD)
geht eine Bundesratsinitiative BadenWürttembergs und Niedersachsens zur
Reform der Prozesskostenhilfe zu weit.
Der Entwurf sieht vor, dass in Zukunft
Bedürftige selbst geringe Beträge, die
sie sich gerade vor Gericht erstritten
und erlangt haben, zum Teil für die Begleichung der staatlichen Prozesskostenhilfe verwenden müssen. Vorvergangene Woche passierte der Vorschlag den
Rechtsausschuss des
Bundesrats. Bei allem „Verständnis für
das Anliegen der
Länder, einem Anstieg des Prozesskostenhilfeaufkommens
entgegenzuwirken“,
so die Ministerin,
müsse sichergestellt
Zypries
werden, dass „nicht
das verfassungsrechtlich verbürgte Existenzminimum der Rechtsuchenden
angetastet wird“. Auch die Berliner Justizsenatorin Karin Schubert (SPD) kritisiert die Initiative der beiden Unionsländer, die „in nicht mehr akzeptablem
Maße“ armen Menschen die Verfolgung
ihrer Rechte erschwere. Schubert fordert
ihrerseits, die Einkommensgrenze, bis
zu der Prozesskosten komplett vom
Steuerzahler übernommen werden,
nicht auf Hartz-IV-Niveau abzusenken.
THOMAS KLINK
Rückkehr nach Kairo?
Nachgefragt
BND
Schnuppern bei Schnüfflern
E
STEFAN KRESIN
rstmals wird ein Bundestagsabgeordneter den Bundesnachrichtendienst (BND) von innen kennenlernen.
Der Abgeordnete der Linken im Bundestags-Kontrollgremium für die Ge-
Neskovic
24
Einheitsdress
heimdienste (PKG), Wolfgang Neskovic,
wird Ende Juli ein Praktikum beim
BND machen. Geheimdienstchef Ernst
Uhrlau gab Neskovic vergangenen Mittwoch die Erlaubnis für das einwöchige
Gastspiel in der Pullacher Zentrale.
„Ich möchte ein Gefühl für die Arbeitsweise des Dienstes bekommen“, sagt
Neskovic, der auch im BND-Untersuchungsausschuss des Bundestags sitzt.
Besonders pikant: Teile der Linkspartei
werden vom Verfassungsschutz beobachtet. Der ehemalige Bundesrichter
will alle Abteilungen durchlaufen und
vor allem Einblick in das System der
Aktenführung bekommen. „Um die Arbeit einer Behörde effektiv zu kontrollieren, muss man sie auch kennen“, begründet Neskovic sein Praktikum, bei
dem es, wie er betont, ums Schnuppern
gehe, „nicht ums Schnüffeln“.
d e r
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Bundesjustizministerin
Zypries und Bundesbildungsministerin Schavan sprechen
sich für die Einführung von
Schuluniformen aus. Halten
Sie eine einheitliche Schulkleidung für wünschenswert?
58 %
JA
NEIN
38 %
TNS Infratest für den SPIEGEL
vom 9. bis 11. April; rund 1000 Befragte;
an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe
Deutschland
UNION
Gefahr von innen
THOMAS KLINK (L.); BJÖRN HAKE / ACTION PRESS (R.)
GOETZ SCHLESER (L.); PATRICK LUX / PICTURE-ALLIANCE/ DPA (R.)
Merkels Kuschelkurs mit der SPD ruft die CDU-Ministerpräsidenten auf den Plan. Die
selbstbewussten Länderchefs wollen das Reformprofil der Partei nicht dem Berliner
Koalitionsfrieden opfern. Ohne Kurskorrektur droht Merkel ein Zermürbungskrieg im eigenen Lager.
„Die CDU
braucht ihr
eigenes Profil.
Das ist nichts
Negatives.“
„Nachhaltiges
Sparen muss auch
zum Markenzeichen
der Berliner
Regierung werden.“
„Die ordnungspolitischen Grundüberzeugungen der
Union müssen
erkennbar bleiben.“
„NRW wird da, wo
es nötig ist, seine
Stimme erheben und
sich für Korrekturen
einsetzen.“
ROLAND KOCH,
HESSEN
CHRISTIAN WULFF,
NIEDERSACHSEN
GÜNTER OETTINGER,
BADEN-WÜRTTEMBERG
JÜRGEN RÜTTGERS,
NORDRHEIN-WESTFALEN
D
as Berliner Konrad-Adenauer-Haus
ist ein heller, freundlicher Bau, der
mit seiner länglichen Form und den
flatternden Fahnen auf dem Dach an ein
Kreuzfahrtschiff erinnert. Vom fünften
Stock kann man an sonnigen Tagen über
das grüne Meer des Tiergartens hinweg auf
die Hauptstadt blicken.
Der vergangene Montag war so ein lichter Tag, aber die versammelte CDU-Spitze
hatte keinen Sinn für den erhebenden Ausblick. Die Damen und Herren säbelten
missmutig an ihren Spargelstangen, die
Stimmung war gereizt. Schnell kam das
Gespräch auf unerfreuliche Themen.
Voller Ärger meldete sich Peter Harry
Carstensen zu Wort, der Ministerpräsident
Schleswig-Holsteins. Den Norddeutschen
mit der barocken Figur bringt so schnell
nichts in Wallung, für gewöhnlich hat der
ehemalige Landwirtschaftslehrer aus Nordfriesland die Gemütsruhe eines Kreuzfahrtkapitäns.
Die Große Koalition sei doch angetreten,
um den maroden Bundeshaushalt zu sanieren, wetterte Carstensen. Wenn er sich aber
die neuesten Beschlüsse der Regierung wie
26
das milliardenteure Elterngeld ansehe, dann
sei von Sparwillen nicht mehr viel zu spüren.
„Ich höre nur von Gesetzen, bei denen Leistungen ausgeweitet werden!“ Von seinen
Kollegen erntete Carstensen beifälliges Gemurmel, die Kanzlerin fuhr ihn an, er denke ja auch nicht ans Sparen, wenn es um die
Zuschüsse des Bundes an die Länder gehe.
Der Frust über die Große Koalition war
so groß, dass sich Merkel nicht einmal mehr
auf Vertraute wie Dieter Althaus verlassen
konnte. Thüringens Ministerpräsident bebte vor Empörung. Es sei völlig inakzeptabel,
dass die Kanzlerin ohne Rücksprache mit
den Ministerpräsidenten das Allgemeine
Gleichbehandlungsgesetz (AGG) durch den
Koalitionsausschuss gewinkt habe. „So
können wir nicht miteinander umgehen.“
Christian Wulff aus Niedersachsen sprang
Althaus umgehend bei. „Das ist sehr unerfreulich, was da passiert ist.“ Am Ende blieb
Merkel nichts anderes übrig, als sich kleinlaut zu verteidigen. Eine Große Koalition sei
nun mal ein „Geben und Nehmen“.
Es sind beunruhigende Signale, die
Merkel derzeit von ihren Ministerpräsidenten empfängt. Noch vor wenigen Wod e r
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chen applaudierten sie der Kanzlerin, vergessen waren die zermürbenden Machtkämpfe der vergangenen Jahre.
„Keine Frage, der Start war fulminant“,
schnurrte Wulff. „Stimmung nach innen
gut, Stimmung nach außen gut, Merkel
sehr gut“, dichtete Roland Koch aus Hessen. Für einen kurzen Moment schien es
so, als hätte Merkel ihre Rivalen domestiziert.
Jetzt aber merkt die Kanzlerin, dass ihr
die größte Gefahr von innen droht. Kaum
begeht sie den ersten mittelschweren politischen Fehler und lässt das alte rot-grüne
Antidiskriminierungsgesetz ohne größere
Änderungen passieren, schon schwinden
die Loyalitäten.
Aus Bewunderern sind innerhalb kürzester Zeit Kritiker geworden, und so mancher
von ihnen wartet nur noch auf ein Zeichen
des Losschlagens. Im Kanzleramt rechnet
man mit heftiger werdenden Attacken, sobald die Popularitätswerte der Kanzlerin
sacken sollten. Das wenig berauschende
Wahlergebnis der Union ist nicht wirklich
aufgearbeitet worden, im Innern der Partei
gäre es, meint ein Merkel-Berater.
Koalitionspartner Müntefering, Merkel
ACTION PRESS
Die SPD beherrscht zwar die Schlagzeilen, aber für das Machtgefüge der Union
sind die Ministerpräsidenten die entscheidende Größe. Ihr Raunen klingt in den
Ohren der Regierungschefin wie ein Orkan. Hinter verschlossenen Türen und
über Interviews übermitteln sie Merkel in
diesen Tagen die immer gleiche Botschaft:
Bis hierher und nicht weiter. Sie sind nicht
bereit, tatenlos mit anzusehen, wie das
Reformprofil der CDU dem Berliner Koalitionsfrieden geopfert wird. „Die Union
darf ihre Identität in der Großen Koalition
nicht aufgeben“, sagt Wulff.
Eigenhändig hatte die Kanzlerin in der
Schlussphase den Kompromiss zum AGG
mit den Chefs von CSU und SPD ausgehandelt – und sich anschließend dazu
bekannt (siehe Seite 30). Im Unterschied
zum kostspieligen Elterngeld – das in der
Union Freunde und Gegner besitzt – gibt
es bei diesem Gesetz in CDU und CSU
nur Gegner.
Plötzlich war jene Prinzipienlosigkeit,
über die Politiker aller Couleur verfügen
und die sie gern zu verbergen suchen, auf
geradezu demonstrative Weise sichtbar ge-
worden. So werde das Vertrauen der
Unionswähler gefährdet, sagt SchleswigHolsteins Wirtschaftsminister Dietrich Austermann.
Selbst in der sonst handzahmen Fraktion regte sich Widerstand. Vor allem die
Wirtschaftspolitiker wie der frühere Generalsekretär Laurenz Meyer wollten nicht
einsehen, warum die Union mal wieder bei
einem Symbolthema nachgegeben hatte.
Sei nicht Konsens gewesen, dass man EURichtlinien nur noch eins zu eins umsetzen
wolle? „Das würde ich heute so nicht mehr
formulieren“, gab Merkel kleinlaut zurück.
In einer Sitzungsnotiz der Arbeitsgruppe
Wirtschaft der CDU/CSU-Bundestagsfraktion werden die „erheblichen Bedenken“ in
Sachen Antidiskriminierungsgesetz protokolliert. Vor allem die Serie fortgesetzter
Wirtschaftsfeindlichkeit stößt den Unionisten auf: Von den Parlamentariern wurde in
einer erregten Sitzung „die beunruhigende
Zahl mittelstandsschädlicher Gesetzesvorhaben problematisiert“, heißt es da.
Bleibt Merkel bei ihrem bisherigen Kuschelkurs mit Vizekanzler Franz Müntefering und seiner SPD, droht ihr aus den
d e r
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2 0 / 2 0 0 6
Ländern ernsthafte Gefahr. Ihre Weichheit
provoziert die Härte der anderen.
Egal ob Gesundheitsreform oder Haushaltssanierung, ob Kündigungsschutz oder
Zuwanderungsrecht – die Landesfürsten
verlangen, dass die Kanzlerin Unionspositionen durchsetzt, statt auf die Interessen der Sozialdemokraten Rücksicht zu
nehmen.
Einerseits sind es sehr sachliche Gründe,
die die Ministerpräsidenten in den Widerstand gegen die Berliner Politik treiben.
Sie sehen nicht ein, dass die Große Koalition das Geld mit vollen Händen ausgibt,
während sie selbst Proteststürme wegen
ihres Sparkurses aushalten müssen.
In ihrer erst sechsmonatigen Amtszeit hat
die Merkel-Regierung ein 25 Milliarden
Euro teures Investitionsprogramm beschlossen, das von der CDU-Ministerin Ursula von der Leyen erkämpfte Elterngeld
schlägt mit rund 4 Milliarden zu Buche, und
auch den Regelsatz für Hartz-IV-Empfänger
in Ostdeutschland erhöhte die Berliner Koalition – als würden in Berlin die siebziger
Jahre nachgespielt. Damals begann die sozial-liberale Koalition mit jener kostspieli27
MARC-STEFFEN UNGER
Deutschland
CDU-Landeschef Müller: „Vertrag immer weiter durchlöchert“
„Für die Union gibt es Grenzen“
Der saarländische Ministerpräsident Peter
Müller, 50, über die anschwellende Merkel-Kritik in der CDU
SPIEGEL: Herr Ministerpräsident, die
Unzufriedenheit in der CDU über die
Regierung von Angela Merkel wächst.
Verlieren die Christdemokraten die
Geduld mit einer Politik, die vor allem die Handschrift der SPD trägt?
Müller: Die Große Koalition bedeutet
den permanenten Zwang zu Kompromissen. Dabei müssen auch wir Kröten
schlucken. Das ist nicht vergnüglich. In
der CDU wächst das Bedürfnis, die eigene Position stärker darzustellen. Koalitionskompromiss und CDU-Position
sind zwei verschiedene Dinge. Das
muss auch öffentlich erkennbar sein.
SPIEGEL: Müsste Merkel jetzt deutlich
machen, was sie über den Machterhalt
hinaus inhaltlich erreichen will?
Müller: Die Kanzlerin muss versuchen,
so viel wie möglich gegen einen
sehr unbeweglichen Koalitionspartner
durchzusetzen. Letztlich wird die Koalition am Erfolg gemessen. Dazu ist
mehr Reformbereitschaft nötig. Wenn
diese nicht besteht, muss klar sein, wer
hierfür die Verantwortung trägt.
SPIEGEL: Wer soll das Profil der Partei
schärfen?
Müller: Die CDU muss ihre Positionen
über den Regierungsalltag hinaus verdeutlichen. Dazu leisten die Ministerpräsidenten ihren Beitrag. Sie sind
nicht unmittelbar in die Koalitionsdisziplin eingebunden.
SPIEGEL: Die SPD-Spitze hat sich in
vielen Punkten mit dem Hinweis
durchgesetzt, mehr Entgegenkommen
sei mit der Parteibasis nicht machbar.
Müller: Beide Parteien haben sich auf
einen Koalitionsvertrag verständigt.
28
Es kann nicht sein, dass er zunehmend
zur Makulatur wird. Der Vertrag
ist ohnehin bereits ein Kompromiss.
Ihn dann noch einseitig zugunsten
der SPD zu verändern ist nicht zumutbar.
SPIEGEL: Müsste die Kanzlerin ebenfalls
erklären, welche Konzessionen sie ihren
Leuten nicht mehr vermitteln kann?
Müller: Wir haben bei wichtigen Entscheidungen wie der Reichensteuer
oder dem Antidiskriminierungsgesetz
zurückgesteckt. Wir können nicht in
allen symbolisch aufgeladenen Bereichen den Sozialdemokraten nachgeben. Auch für die Union gibt es Grenzen dessen, was sie mittragen kann.
SPIEGEL: Wo ziehen Sie die?
Müller: In diesem Jahr werden zentrale Themen diskutiert, die in den Koalitionsverhandlungen nicht abschließend
geklärt wurden, etwa die Reform des
Arbeitsmarkts oder der Krankenversicherung und die Energiepolitik.
SPIEGEL: Was wollen Sie durchsetzen?
Müller: Zum Beispiel müssen die steigenden Gesundheitskosten von den Arbeitskosten entkoppelt werden. Sonst
kann ich mir nur schwer vorstellen, dass
wir einer Reform zustimmen werden.
SPIEGEL: Ist der Koalitionsvertrag keine
gute Grundlage für das Regieren?
Müller: Mich sorgt, dass der Vertrag
immer weiter durchlöchert wird. Elterngeld, Hartz IV, Betreuungskosten –
das Regierungshandeln weicht häufig
vom Koalitionsvertrag ab und in der
Regel zu Lasten des Haushalts. Auf
Dauer kann das nicht gutgehen.
Interview: Ralf Neukirch
d e r
s p i e g e l
2 0 / 2 0 0 6
gen Reformpolitik, die das Fundament der
heutigen Staatsverschuldung legte.
Die Länderchefs können ihre Bürger
nicht mit solchen Wohltaten beglücken, im
Gegenteil: Wulff hat in Niedersachsen das
Blindengeld fast komplett gestrichen, in
Hessen mussten Schuldnerberatungsstellen
und Frauenhäuser schließen, der saarländische Ministerpräsident Peter Müller macht
sogar knapp ein Drittel der Grundschulen
des Landes dicht. „Nachhaltiges Sparen
muss auch zum Markenzeichen der Berliner
Regierung werden“, fordert nun Wulff.
In Nordrhein-Westfalen weist man ebenfalls darauf hin, dass die Landesregierung
sich gegen Steuererhöhungen und für
Sparen entschieden hat – anders als die
Bundesregierung, lautet der Unterton.
„NRW wird da, wo es nötig ist, seine Stimme erheben und sich für Korrekturen einsetzen“, droht Landeschef Jürgen Rüttgers.
„Das haben wir bisher schon getan.“
Ihm und den Kollegen geht es um die
Sache – aber nicht nur. Die Regierungschefs
sind nicht frei von Eitelkeit. Sie haben erkannt, dass sie nun trefflich als Hüter christdemokratischer Grundüberzeugungen posieren können. Die Kanzlerin fällt für diese Rolle aus, weil sie Rücksicht nehmen
muss auf die Linken in der eigenen Partei
und auf die Sozialdemokraten.
Am vergangenen Mittwoch versuchte
Merkel auf einer CDU-Regionalkonferenz
in Karlsruhe, die ums Unionsprofil besorgte Parteibasis zu besänftigen. Man habe
einen Koalitionspartner, „der nun als nicht
immer besonders veränderungsfreudig bekanntgeworden ist“, stichelte die Kanzlerin.
Der neue SPD-Chef Kurt Beck griff sofort zum Hörer: Nicht die Sozialdemokraten, nein, die Union sei der eigentliche Reformverweigerer, ließ er in der „Süddeutschen Zeitung“ anderntags verbreiten.
„Wer den Fuß auf der Bremse hat, sollte
nicht auf den Motor schimpfen.“
Die Ministerpräsidenten nickten wohlgefällig. Auf Rückendeckung aus ihren Reihen kann eine Moderatorin Merkel nicht
bauen. „Die CDU muss ihre Position über
den Regierungsalltag hinaus verdeutlichen.
Dazu leisten die Ministerpräsidenten ihren
UMFRAGE: GROSSE KOALITION
„Setzt sich in der Großen
Koalition im Bund eher die SPD
oder die CDU durch?“
SPD
17 %
59 %
CDU
beide
13 %
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 9. bis 11. Mai; rund 1000
Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/keine Angabe
UMFRAGE: BUNDESKANZLERIN
„Wie wünschen Sie sich Bundeskanzlerin Angela Merkel?“
Als Politikerin, die den Ausgleich der
verschiedenen Interessen sucht
25 %
Als Politikerin, die ihr wichtige Themen verfolgt und wenn nötig ein Machtwort spricht
68 %
TNS Infratest für den SPIEGEL vom 9. bis 11. Mai; rund 1000
Befragte; an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe
GOETZ SCHLESER
Beitrag“, sagt Peter Müller aus dem Saarland. Das sieht Wulff ganz genau so: „In
einer Großen Koalition stehen auch gerade die Ministerpräsidenten für das Profil
der Union.“
Jetzt beginnen Wulff und Kollegen, die
selbstaufgestellte Devise mit Leben zu füllen. Am vergangenen Montag reiste Wulff
um fünf Uhr morgens nach Berlin, um in der
Hauptstadt an einem Tag gleich zwei Bücher
über sich vorzustellen. Das Interviewbändchen „Deutschland kommt voran“ beginnt
zwar mit dem Satz: „Ich bin Landespolitiker.“ Dann aber verbreitet Wulff sich auf
216 Seiten über so ziemlich alles, was derzeit
bundespolitisch von Interesse ist. Wichtig, so
die Essenz des Buchs, seien vor allem mutige Reformen – und genau die kann oder
will Merkel jetzt nicht liefern.
Günther Oettinger, frisch gewählter Regierungschef aus Stuttgart, drängt in der Unionshierarchie ebenfalls nach oben. Er möchte gern die Lücke füllen, die der Abgang des
Unions-Chefreformers Friedrich Merz gelassen hat. Die Wohlfühlpolitik der Großen
Koalition ist ihm ein Graus: „Die ordnungspolitischen Grundüberzeugungen der Union müssen erkennbar bleiben“, sagt er.
Die Ministerpräsidenten waren schon
immer das Kraftzentrum der CDU, aber
noch nie stellte die Partei so viele. In
den CDU-Präsidiumssitzungen sitzen der
Kanzlerin zehn Regierungschefs gegenüber, vier davon verfügen in ihren Ländern über absolute Mehrheiten: Dieter Althaus in Thüringen, Roland Koch in Hessen,
Ole von Beust in Hamburg und Peter Müller im Saarland. Die mächtigeren unter
ihnen sind wirtschaftsnahe Politiker wie
Georg Milbradt, Oettinger und Koch, die
von der Notwendigkeit einer Radikalreform in Deutschland überzeugt sind.
In der Bundestagsfraktion und der Regierung entscheidet Merkel über Karrieren,
über Aufstieg und Fall. Bei den Länderchefs
hat sie keinerlei Disziplinierungsmittel.
Die Herren sind auch bestens untereinander vernetzt. Allein fünf Regierungschefs
– Müller, Wulff, Oettinger, Althaus und
Koch – treffen sich regelmäßig mit den Mitgliedern des sogenannten Andenpakts. Der
Sozialdemokrat Heil: „Merkwürdiger Vorwurf“
„Wir machen unsere Arbeit“
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil, 33,
über die zunehmende Unionskritik am Koalitionspartner
SPIEGEL: Herr Heil, Bundeskanzlerin
Angela Merkel hat der SPD in der vergangenen Woche mangelnde Veränderungsbereitschaft vorgeworfen. Können Sie das nachvollziehen?
Heil: Nein. Das ist ein merkwürdiger
Vorwurf. Jeder unser Minister ist für
sich entscheidungsfreudiger als alle
Unionsminister zusammen. Wenn man
sich allein anschaut, was Peer Steinbrück beim Abbau von Steuersubventionen und der Konsolidierung des
Bundeshaushalts geleistet hat. Oder
was Franz Müntefering bei der Alterssicherung auf den Weg gebracht hat –
dann ist der Vorwurf offensichtlich völlig unbegründet. Es ist doch genau anders herum: Wir geben den Takt vor,
wir sind die Kraft der Erneuerung. Damit können einige in der Union offensichtlich schlecht leben.
SPIEGEL: Woher kommt plötzlich die
veränderte Tonlage?
Heil: Ich kann da nur spekulieren.
Richtig ist, dass viele in der CDU anfangen zu grummeln. Aber das ist
manchmal so in Koalitionen. Wir wollen den Erfolg dieser Koalition im Interesse unseres Landes. Deshalb machen wir unsere Arbeit – und erwarten
das auch von der anderen Seite.
SPIEGEL: Sie haben in der vergangenen
Woche der Union die Schuld an der
Mehrwertsteuererhöhung gegeben. Machen Sie es sich da nicht sehr einfach?
Heil: Nein. Schließlich wollte Bundesfinanzminister Hans Eichel 2003 konsequent Steuersubventionen abbauen.
Wenn uns damals nicht die CDU-Ministerpräsidenten im Bundesrat so brutal
d e r
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ausgebremst hätten, wäre die nun
vorgesehene Anhebung der Mehrwertsteuer vermeidbar gewesen. Es sind ja
die gleichen Ministerpräsidenten, die in
ihren eigenen Ländern in großer Zahl
keinen verfassungsgemäßen Haushalt
mehr hinbekommen. Jetzt ist es zu spät,
jetzt brauchen wir diesen schwierigen
Schritt zum 1. Januar 2007.
SPIEGEL: Führende Unionsleute werfen
Merkel vor, die Koalition agiere zu sozialdemokratisch. Freut Sie das nicht?
Heil: Warum sollte es mich ärgern, wenn
der Regierungsarbeit sozialdemokratische Handschrift attestiert wird …
SPIEGEL: … weil Sie auch erklären, am
Erfolg der Koalition interessiert zu sein.
Heil: Da sehe ich keinen Widerspruch.
Im Übrigen verwundert mich der Vorwurf – als wäre Sozialdemokratie etwas
Schlechtes in Deutschland. Wenn CDU
und CSU in Ressorts, in denen sie Verantwortung tragen, mehr konstruktive
Vorschläge machten, hätten wir überhaupt nichts dagegen. Ich könnte mir
zum Beispiel im Wirtschafts- oder auch
im Forschungsministerium viel mehr
Phantasie und Engagement vorstellen.
SPIEGEL: Will die SPD eine starke oder
eine eher moderierende Kanzlerin?
Heil: Wir haben uns über die Arbeit der
Kanzlerin nicht zu beklagen. Tatsache
ist, dass jeder seinen Job zu machen hat.
SPIEGEL: Ist sie eine starke Kanzlerin?
Heil: Das sollen andere beurteilen. Das
ist nicht die Kategorie, in der wir miteinander arbeiten. Ich weiß jedenfalls,
dass wir starke SPD-Ministerinnen und
-Minister haben. Und darauf sind wir
stolz.
Interview: Horand Knaup
29
mächtige CDU-Männerbund besteht schon
seit 1979, und die Mitglieder haben sich versprochen, sich nicht öffentlich zu befehden.
Der Ostdeutsche Althaus stieß später dazu.
Angela Merkel weiß, wie es zugeht,
wenn Parteifreunde gegen einen CDUKanzler intrigieren. Sie war lange genug
Ministerin bei Helmut Kohl.
Der Pfälzer war zeit seines politischen
Lebens von innerparteilichen Widersachern umzingelt, die ihm in aller Regel
mehr zusetzten als die Genossen von der
SPD. Legendär sind die Kräche mit dem
„Männerfreund“ Franz Josef Strauß, der
ihn mehr als ein Jahrzehnt mit bissigen
Sottisen verfolgte. Kohl werde „nie Kanzler“, polterte der CSU-Recke schon 1976 in
seiner berüchtigten Wienerwaldrede. Er
sei „total unfähig“.
Auch die Methode des niedersächsischen
Ministerpräsidenten Christian Wulff, sich
als Buchautor gegen die eigene Bundesregierung zu profilieren, hat in der Union Tradition: „Das Defizit an gesellschaftlichen
Zukunftsperspektiven ist offenkundig und
entwicklungshemmend geworden“, klagte
einst der Stuttgarter CDU-Ministerpräsident
Lothar Späth in einem Buch, das im Oktober 1985 unter dem programmatischen Titel
„Wende in die Zukunft“ erschien.
Der frühere Generalsekretär Kurt Biedenkopf kritisierte: „Wir dürfen nicht zulassen, dass, weil da dieser Mann im Kanzleramt sitzt, dieses Land in Stagnation verfällt.“
Kohl ignorierte beide.
Dann versuchten Späth und der langjährige Generalsekretär Heiner Geißler
1989 gegen den Parteichef zu putschen. Der
Aufstand misslang, weil Kohl rechtzeitig
von der Konspiration erfahren und seine
Truppen gesammelt hatte.
Von Kohl hat Merkel gelernt, dass sich in
schwierigen Situationen vor allem eins empfiehlt: abwarten. Sie hält sich bedeckt und
versucht, den Gegnern möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Ihrem Umfeld hat die
Kanzlerin demonstrative Gelassenheit verordnet. Jeder Auftritt wird derzeit als Stimmungstest der Kanzlerin gewertet, auch von
ihr selbst. Am vorigen Freitagabend besuchte Merkel die 60-Jahr-Feier der Hamburger CDU. Es war ein Termin, bei dem sie
Sympathie tanken konnte, knapp 4000 Parteimitglieder erschienen, rund ein Drittel
der Hamburger CDU-Basis.
Die Leute tranken Bier und schwenkten
CDU-Fähnchen, die ideologischen Schaukämpfe in Berlin interessierten sie wenig.
Beifall brandete auf, als Merkel um kurz
nach sieben in die Fischauktionshalle einzog.
Den Gedanken, die Berliner Missstimmung
der vergangenen Tage anzusprechen, hatte
sie kurz vorher verworfen. „Ich weiß um
die Grenzen der Großen Koalition“, sagte
sie. Das musste genügen. Der Satz war als
Entschuldigung für die vergangenen Tage
gemeint. Hier fand er Applaus – noch.
Burkhard Fraune, Ralf Neukirch,
Hartmut Palmer, René Pfister
30
XAMAX / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
Deutschland
Schwulenparade (in Berlin): Sanktionen gegen Herrenwitze
REFORMEN
„Übelriechender Handkäse“
Lange feilte Rot-Grün an der Umsetzung von EU-Richtlinien
gegen Diskriminierungen. Die Union und Experten waren
dagegen. Nun soll das bizarre Werk in Kraft treten – einem von
Kanzlerin Angela Merkel arrangierten Kuhhandel sei Dank.
W
enn sich die Rechtsgelehrten der
Regierungskoalition mit der Bundesjustizministerin treffen, geht
es gemeinhin sachlich zu. Der Ton ist ruhig,
die Minen sind ernst. Stille Genugtuung
über die gelungene Formulierung eines besonders diffizilen Paragrafen ist das höchste der Gefühle.
Seit neuestem jedoch lässt die Wortwahl
in dem erlesenen Zirkel zu wünschen
übrig. Das wurde vor einigen Tagen bei einem Treffen deutlich, zu dem Ministerin
Brigitte Zypries die rechtspolitischen Experten von Union und SPD gebeten hatte
– es ging um die Umsetzung von EU-Richtlinien in deutsches Recht. Ein Routinevorgang, sollte man meinen.
Angefangen, so erinnern sich Teilnehmer, hatte Wolfgang Bosbach, der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag. Was das denn für ein
„Schwachsinn“ sei, habe der Rechtsanwalt
von der Justizministerin wissen wollen. Ein
weiterer Zeuge meint gar, aus Bosbachs
Munde das Wort „Scheiße“ gehört zu had e r
s p i e g e l
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ben, wenngleich, so der Zeuge, „genuschelt“.
Da habe die Ministerin nicht zurückstecken wollen. Als nach Bosbach auch
noch der rechtspolitische Unionssprecher
Jürgen Gehb einen kritischen Kommentar
abgab, habe sie zunächst einen abschätzigen Laut durch die gekräuselten Lippen
gelassen. Dann tat sie, „Pffff“, kund, das
alles gehe ihr doch „am A vorbei“.
Ob sie damit die Änderungswünsche der
Kollegen Bosbach und Gehb gemeint hat
oder das gesamte Gesetzeswerk, lässt sich
nicht mehr zweifelsfrei ermitteln. Zypries
schweigt. Bosbach hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den Raum verlassen.
„Schwachsinn“, „Scheiße“, „am A vorbei“ – Juristen ahnen es: Wenn sich Fachleute derart geringschätzig über ihre Arbeit
äußern, kann es sich nur um die Umsetzung der EU-Richtlinien zum Schutze von
gesellschaftlichen Minderheiten handeln.
Bereits 2001 hatte die damalige Justizministerin Herta Däubler-Gmelin (SPD)
versucht, den in Brüssel erdachten Anti-
JENS KOEHLER / DDP
Behinderte Tischtennisspieler*: Regulierungswut im Rechtsalltag
diskriminierungsplan in deutsches Recht
umzurubbeln. Zwei Bundestagswahlen,
zwei Gesetzesentwürfe, vier Lesungen und
einige Aussprachen im Bundestag sind
seither verstrichen. Unter den Beamten
des Justizressorts gilt die Arbeit an dem
Projekt, das auf ähnlich wundersame Weise wie das Ungeheuer von Loch Ness immer wieder auftaucht, als Höchststrafe.
So war es nur eine Frage der Zeit, bis
sich auch die Große Koalition mit dem Thema befasst. Kanzlerin Angela Merkel stellte sich am vergangenen Dienstag persönlich
vor die Mitglieder ihrer Fraktion, um den
Plan zu verkünden für ein Gesetz zum
Schutze von Frauen, Alten, Behinderten,
Ausländern, Schwulen, Andersdenkenden
und Andersgläubigen, kurzum: für ein
„Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz“.
Ein ganz besonders bizarres Beispiel europäischer Regulierungswut wird großzügig in den deutschen Rechtsalltag befördert. Die Große Koalition will einen Plan
durchsetzen, den die CDU („Mehr Freiheit wagen“) stets bekämpft hat. Merkel
vollendet, was Lobbygruppen einst in
Brüssel erdacht haben – der bislang klarste
Verstoß gegen Versprechungen, mit denen
sie vor sechs Monaten angetreten war.
Vor einem „bürokratischen Monstrum“
hatte Merkel im Bundestagswahlkampf
noch gewarnt. Volker Kauder, inzwischen
Unionsfraktionschef, verstieg sich einst zu
einem Vergleich mit den Rassegesetzen der
Nazis. Und hatten nicht auch die da* Im Landesleistungszentrum für Behindertensport im
mecklenburg-vorpommerschen Greifswald.
maligen SPD-Ministerpräsidenten Kurt
Beck (inzwischen Parteichef) und Peer
Steinbrück (inzwischen Finanzminister)
vor gar nicht so langer Zeit protestiert oder
gar damit gedroht, das Gesetz im Bundesrat durchfallen zu lassen?
Kein Wunder, dass FDP-Chef Guido
Westerwelle der Koalition einen wirklich
atemberaubend „rasanten Agendawechsel“ bescheinigt. Vergangenen Donnerstag
hatten die Liberalen das Thema auf die Tagesordnung einer aktuellen Stunde gesetzt.
Und wieder einmal fand sich kaum ein Politiker im weiten Rund des Parlaments, der
den jüngsten Plan für ein Antidiskriminierungsgesetz rundherum loben wollte.
Justizministerin Zypries sprach lustlos
von einem „Kompromiss“. Unionsvertreter
Gehb tat kund, das Werk sei wie ein „übelriechender Handkäse“, der lange in der
Sonne gegammelt habe.
Interessanterweise ist auch die gesamte
Opposition unzufrieden. Ilja Seifert, Vertreter der Linken, sagte, er sei enttäuscht;
verhalten äußerte sich Irmingard ScheweGerigk von den Grünen. Und der FDP-Politiker Heinrich Kolb meldete sich mit dem
Zwischenruf „das ist doch Pipifax“ zu
Wort, was manch Unionsabgeordneter mit
beifälligem Kopfnicken quittierte.
Angefangen hatte alles in Brüssel mit einer Griechin namens Anna Diamantopoulou. Die Sozialistin war 1999 zur EUKommissarin für Arbeit und Soziales aufgestiegen – mit dem Ziel, „Europa ein
menschlicheres Antlitz“ zu verpassen.
Tatsächlich aber war ihr vor allem das
allzu Menschliche ein Dorn im Auge. Diad e r
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mantopoulou, 46, störte sich an den Abbildungen barbusiger Damen in europäischen Boulevard-Zeitungen. Um „auf Sex
ausgerichtetes, unerwünschtes Verhalten“
europäischer Männer zu ahnden, brachte
sie eine Richtlinie gegen die Geringschätzung von Frauen auf den Weg. Drei weitere Richtlinien, um die Sanktionierung von
Herrenwitzen zu verfeinern und die
Schutzzone auf ethnische Minderheiten
und Andersgläubige auszudehnen, folgten.
Unterstützt wurde die eifrige Griechin,
die erst im Frühjahr 2004 nach Athen
zurückberufen wurde, durch die Deutsche
Barbara Helfferich, 49. Die Politikwissenschaftlerin aus dem nordrhein-westfälischen Warendorf hatte lange Zeit der Europäischen Frauenlobby vorgestanden, einem Netzwerk, das EU-Geldtöpfe etwa für
die Erforschung des „Gender-Mainstreaming“ anzapft.
Unter Diamantopoulou gelang Helfferich dann ein Karrieresprung, wie er so
wohl nur im Brüsseler Polit-Biotop möglich
ist. Die Frauenlobbyistin wurde ins Kabinett der EU-Kommissarin berufen, was die
Durchsetzung ihrer Projekte natürlich ungemein erleichterte.
Von dem, was sich dann zusammenbraute, schien die rot-grüne Bundesregierung nichts mitzubekommen. Zwar warnte der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt bereits 2000 davor, dass sich in
Brüssel ein Projekt voll „zusätzlicher Bürokratie und reinem Quotendenken“ anbahne. Doch die Regierenden in Berlin wiegelten ab. Man schickte einen Beamten aus
dem Justizministerium nach Brüssel, um
die Sache zu verhandeln. Es herrschte der
Glaube vor, bei den Plänen handele es sich
um „Schneewittchen-Richtlinien“ (EUJargon) von rein symbolischem Wert.
Ein reines Gewissen glaubte man auch
zu haben; schließlich ist die Gleichstellung
in Deutschland längst umfänglich geregelt.
Kaum eine Behörde kommt ohne Gleichstellungsbeauftragte aus. Die öffentliche
Verwaltung ist gehalten, bis zu einer bestimmten Quote gleichqualifizierte Frauen
bei Einstellung und Beförderung den Männern vorzuziehen. Laut Paragraf 611a des
Bürgerlichen Gesetzbuches dürfen Frauen
am Arbeitsplatz nicht benachteiligt werden. Laut Bundesjustizministerium ein selten genutzter Paragraf.
Allein zum Schutz von Behinderten finden sich in deutschen Gesetzen 86 Einzelvorschriften. Artikel 3 des Grundgesetzes
schreibt schon seit der Geburtsstunde der
Republik vor, dass niemand „wegen seines
Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner
Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und
Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf.
Doch die Gleichstellungsfans der EU
wollten mehr, viel mehr. Praktisch jeder
Bereich des öffentlichen Lebens müsse auf
mögliche Ungleichbehandlung durch31
kämmt werden. Die Strafen für Missetäter
sollten drastisch sein. Jedes EU-Mitgliedsland müsse eine Antidiskriminierungsstelle einrichten.
Als leuchtendes Vorbild dienten die
USA, wo eine gutgeölte Prozessindustrie
entstanden ist. Mit der Behauptung, sie sei
bei Beförderungen übergangen worden,
konnte sich eine Angestellte schon mal
zwölf Millionen Dollar von der Investmentbank Morgan Stanley erstreiten. Anwälte und vorgebliche Betroffenenvereine
haben sich darauf spezialisiert, die USBehörden und Unternehmen mit Klagen
zu überziehen.
Die Bundesregierung hätte den Plan der
Eurokraten kippen können. Für drei der
vier Antidiskriminierungsvorlagen bedurfte es des einstimmigen Votums aller Mitgliedstaaten. Ein Nein aus Berlin hätte gereicht, um den Wahnsinn zu stoppen.
Doch die Bundesregierung sagte ja. Damit war sie verpflichtet, die Richtlinien in
nationales Recht zu überführen. Widerstand war zwecklos geworden. Bereits im
vergangenen Jahr stellte der Europäische
Gerichtshof eine Vertragsverletzung fest.
Es droht ein Strafgeld von 900 000 Euro
für jeden weiteren Tag, an dem die Bundesrepublik die Richtlinien ignoriert.
Warum es die rot-grüne Bundesregierung nicht schaffte, den Plan zu Fall zu
bringen, gibt selbst der Bundesjustizminis-
AXEL SCHMIDT / ACTION PRESS (L.); HORST WAGNER (R.)
Deutschland
Ministerin Zypries, EU-Kommissarin Diamantopoulou: Irrsinnsprojekt aus Brüssel
terin im Rückblick Rätsel auf. Mehrere Ministerien seien zuständig gewesen, leider,
beteuerte Brigitte Zypries einmal. Doch irgendwie habe sich damals keiner so recht
darum gekümmert.
Das ist bedauerlich: Praktisch alle Fachleute halten die Idee eines allumfassenden Antidiskriminierungsgesetzes in
Deutschland, das – Doppelbetroffenheit
ist durchaus möglich – alle Frauen (42 Millionen), Rentner (20 Millionen), Ausländer (7 Millionen), Behinderte (8 Millionen) sowie Homosexualität und jedwede Form von Religionen und Weltanschauung mit Minderheitenschutz versieht, für gaga.
Sie plädiere für einen „Diskriminierungsschutz mit Augenmaß“, gab Justizministerin Zypries vor zwei Jahren zu bedenken. Es gehöre zu einer freiheitlichen
Gesellschaft, „Verhaltensweisen hinzunehmen, die ein vernünftiger Mensch für
dumm oder borniert hält“.
Es gelte der Satz des französischen
Staatsphilosophen Montesquieu: „Wo es
nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen“, zitierte Zypries damals wörtlich, „ist
es notwendig, kein Gesetz zu machen.“
Ähnlich äußerten sich in der vergangenen Legislaturperiode auch der damalige
Wirtschaftsminister Wolfgang Clement
(„Quatsch“) und Innenminister Otto Schi-
ly. Der Verzicht auf ein Antidiskriminierungsgesetz wäre ein „echter Beitrag zum
Bürokratieabbau“, urteilte Schily.
Doch wer damals glaubte, die rot-grüne
Regierung würde den Schaden begrenzen
und die EU-Richtlinien so sparsam wie
möglich umsetzen, sah sich irritierenderweise mit dem Gegenteil konfrontiert. Man
überantwortete das Projekt dem GrünenPolitiker Volker Beck („Schwul ist cool“)
und der frauenpolitischen SPD-Sprecherin
Christel Humme. Als Überzeugungstäter
setzten sie alles daran, die Brüsseler Vorgaben zu überbieten.
Für das Zivilrecht sahen die EU-Richtlinien lediglich vor, Benachteiligungen auf
Grund von Geschlecht, Rasse und ethnischer Herkunft zu verbieten. Die rot-grünen Gleichstellungsfreunde fügten noch
die „Diskriminierungsmerkmale“ Religion,
Weltanschauung, Alter, Behinderung und
sexuelle Identität hinzu.
Damit dürften sich sogar Rechtsradikale zur schützenswerten Truppe geadelt
fühlen. In braunen Kreisen wartet man
schon darauf, sich als bedauernswertes Opfer darstellen zu können, sollte ein Gastwirt den Zutritt für eine Versammlung im
Hinterzimmer verweigern.
In die Tat umsetzen konnte Rot-Grün
den Gesetzentwurf dann aber nicht mehr;
die Neuwahlen kamen dazwischen. Die
neue Bundeskanzlerin Merkel stellte gleich
in ihrer ersten Regierungserklärung klar,
dass die EU-Vorgaben nur noch „eins zu
eins“ umgesetzt würden. Ihr Missfallen
über ein Antidiskriminierungsgesetz hatte
sie bereits im Wahlkampf bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck gebracht.
Doch jetzt kommt es schon wieder anders als gedacht. Als sich die Spitzen der
Großen Koalition vor einigen Tagen trafen, um ihre Positionen zu aktuellen Fragen abzustecken, tauchte auch das Gleichbehandlungsgesetz wieder auf.
Zur allgemeinen Überraschung war es
Merkel selbst, die das Thema aus der Versenkung holte. Im allgemeinen Koalitionsgeschacher hatte CSU-Chef Edmund Stoiber die SPD bedrängt, einer neuen Subventionierung der von ihm so geschätzten
deutschen Bauernschaft zuzustimmen. Die
Genossen, vertreten durch ihren Vorsitzenden Kurt Beck, zeigten sich uneinsichtigt. Ohne Kompensationsgeschäft zugunsten der SPD-Klientel werde daraus nichts.
Dann nahm die Kanzlerin die Sache in
die Hand. Im Sechs-Augen-Gespräch mit
Stoiber und Beck führte sie das Antidiskriminierungsgesetz in die Verhandlungsmasse ein. SPD-Mann Beck, sichtlich überrascht, stimmte zu. Vorbereitungen waren
bereits im Stillen gelaufen: Schon am 26.
April hatte sich Merkel die Vorlage vom
geschäftsführenden Fraktionsvorstand der
Union absegnen lassen. Auch Vizekanzler
Franz Müntefering war eingeweiht. So wird
sich der Bundestag bald erneut der Sache
annehmen. Ein Textentwurf lag ja noch in
der Schublade. An der rot-grünen Vorlage
aus der vorigen Legislaturperiode wurden
nur sparsame Änderungen vollzogen. So
findet sich das Diskriminierungsmerkmal
„Weltanschauung“ – Rechtsradikale werden sich freuen – ebenso im Gesetz wieder
wie etwa ein Klagerecht von Gewerkschaften und echten oder vorgeblichen Betroffenenverbänden.
Auch der Plan zur Schaffung einer staatlichen Kontrollbehörde hat überlebt, um
Deutschland endlich, so die Gesetzesbegründung, zu einer „Kultur der Antidiskriminierung“ zu verhelfen. Das Familienministerium der Ursula von der Leyen soll
einen Millionenbetrag bekommen.
Allerdings gebe es einen „gewichtigen
Unterschied“, höhnte FDP-Chef Guido
Westerwelle vorigen Donnerstag im Parlament. In der vergangenen Legislaturperiode habe sich noch eine SPD-Ministerin
an der Aussicht auf mehr Geld und Einflussmöglichkeit berauscht. Jetzt freut sich
eine Ministerin mit CDU-Parteibuch.
Das Umfallen seines Beinahe-Koalitionspartners macht den FDP-Mann
noch immer fassungslos. „Große Teile der
Union“, so Westerwelle, hätten sich ganz
offenbar einer „Gehirnwäsche unterzoAlexander Neubacher
gen“.
Deutschland
Neuer SPD-Chef Beck
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO
„Holzklotz unterm Hintern“
ze. Er kündigte an, „das Notwendige zu
tun, auch wenn es an manchen Stellen weh
tut und schmerzhaft ist“. Er sprach von
„Einschnitten auch für die, die heute in
Rente sind“.
Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident beherrscht die Kunst, Volksnähe, ein
klares Gespür für die Parteisehnsüchte und
einen Sinn für das politisch Notwendige
zusammenzubringen – auch deshalb soll
der Ministerpräsident aus Mainz nun die
SPD führen.
Die Erwartungen an Beck sind groß. Er
soll die Partei sicher durch die Große Koalition leiten und gleichzeitig dafür sorgen,
dass die Parteimitglieder wieder genau wissen, wofür die SPD steht. Er soll ihr Stimme und Profil geben.
Vor allem die Parteilinken um ihre Wortführer Andrea Nahles und Niels Annen
haben wie ihre Verbündeten in den Sozi-
S O Z I A L D E M O K R AT I E
Den SPD-Linken droht eine
Enttäuschung. Der neue Parteichef
Kurt Beck wird kaum von
Schröders Reformkurs abweichen –
er wird nur anders reden.
E
s war eine Veranstaltung nach dem
Geschmack des Festredners. Eine
Ehrung im sauerländischen Sundern
für einen verdienten Genossen, der örtliche Musikverein spielte auf, die Uniformen glänzten in der Abendsonne. Der
Gast berichtete von frühen Erfahrungen
mit der Klarinette.
Später, im Festsaal, fanden sich rund
hundert Sozialdemokraten ein, es waren
viele Ältere darunter, viele verdiente Genossen auch, die die Treue selbst in schwierigen Zeiten gehalten hatten. Gekommen
waren sie, um das 40-jährige Parteijubiläum von Vizekanzler Franz Müntefering zu feiern, mit Kurt Beck als Laudator.
Es wurde eine typische Beck-Rede, viel
Parteifolklore, zwischendurch auch was fürs
Herz. „Ich hab mit 14 Jahren meinen ersten Rentenbeitrag bezahlt“, berichtete der
gelernte Elektriker über die Jugendjahre,
„und damit ich die Feile übers Werkstück
gebracht habe, haben sie mir einen Holzklotz unter den Hintern geschoben.“ Als er
fortfuhr, so etwas vergesse man nicht, schimmerten die Augen der Genossen feucht.
Doch dann packte Beck in seine freundliche Ansprache auch andere, härtere Sät36
MICHAEL WALLRATH / ACTION PRESS
Links blinken,
rechts regieren
Bei seinen ersten Auftritten als designierter Parteichef sah es so aus, als ob
Beck gewillt sei, den Wünschen gerecht zu
werden. Im Koalitionsausschuss, dem er
nach dem Abgang von Matthias Platzeck
automatisch angehört, setzte er sich für Elterngeld, Reichensteuer und Gleichstellungsgesetz ein, alles Vorhaben, die dem
linken Parteiflügel wichtig sind. Von seinen
programmatischen Äußerungen blieb vor
allem hängen, dass er den Staat für unterfinanziert hält und weitere Steuererhöhungen nicht ausschließen wollte.
Doch allen, die nun mit einer Linkswende unter dem neuen Parteivorsitzenden Beck rechnen, droht eine Enttäuschung. Tatsächlich ist der Mann aus
der Südpfalz in seinem bisherigen politischen Leben ja gerade deshalb so erfolgreich gewesen, weil er durchaus zu unterscheiden vermag zwischen dem, was
man als sozialdemokratischer Spitzenmann sagen muss, und dem, was pragmatische Politik ist.
Zwölf Jahre hat er in Mainz mit
der FDP als Koalitionspartner regiert, und er hat das nicht mit der
Faust in der Tasche getan. Er versteht es, links zu blinken und dann
in die Mitte zu ziehen. Umweltschutz nur so viel wie nötig,
Straßenbau, bis das Geld ausgeht,
kein Konflikt mit der Industrie –
und dabei immer ein offenes Ohr
für die Gewerkschaften.
Beck bewegt sich auch bei
Grundsatzdebatten immer wieder
mal außerhalb der sozialdemokratischen Ordnungswelt. So sprach er
sich schon mal für eine zweijährige
Nullrunde aus oder zog gegen die
Ausbildungsumlage zu Felde, als DGB und
Jusos die von Rot-Grün verlangten. Und
noch in diesem Februar warnte er die Gewerkschaften in einem Interview, in die
Rolle der außerparlamentarischen Opposition zu schlüpfen: „Das ist nicht ihre Aufgabe.“ Bei den Gewerkschaften kam das
nicht so gut an.
In seiner Laufbahn hat er gelernt, Machtverhältnisse einzuschätzen. Derzeit sitzen
im Kabinett auf SPD-Seite vor allem Leute, die eher an Reformen interessiert sind
als an linker Rhetorik. Es wäre aus seiner
Sicht ziemlich unklug, sich in Opposition zu
den eigenen Ministern zu begeben.
Dass er nicht daran denkt, zu weit vom
Agenda-Kanzler abzurücken, machte Beck
vergangene Woche deutlich, auf seine Weise. Er traf sich mit Ex-Kanzler Schröder
zum Spargelessen im Berliner In-Restaurant Einstein, womit gesichert war, dass
genug Journalisten das auch mitbekamen.
Die beiden hatten viel zu bereden. Neben Kurt Beck in Rheinland-Pfalz hat in
den vergangenen zehn Jahren ein einziger
Sozialdemokrat eine absolute Mehrheit erobert – Gerhard Schröder, 1998 in Niedersachsen.
Horand Knaup
SPD-Linke Nahles, Annen
„Anspruch durchbuchstabieren“
alverbänden genaue Vorstellungen, wie das
auszusehen hat. Nach drei Jahren Schröder-Agenda, Hartz-Reformen und Steuersenkungen und einer langen Periode der
Missachtung durch die SPD-Führung fordern sie jetzt eine Kurskorrektur. Beck ist
ein Mann, der – anders als Schröder und
Müntefering – Parteigremien ernst nimmt.
Und dort sind die Linken stark.
„Er muss den Anspruch einer linken
Volkspartei ausbuchstabieren“, verlangt
Nahles. „Wir kommen aus dem 30-Prozent-Turm nur heraus, wenn unser inhaltliches Angebot dem auch Rechnung
trägt.“ Konkret heißt das für sie: keine
weiteren Steuererleichterungen für Unternehmen, wie von SPD-Finanzminister
Peer Steinbrück geplant, keine Pauschalen in der Gesundheitsreform, wie von
CDU-Fraktionschef Volker Kauder vorgeschlagen.
Auch bei den Gewerkschaften sind die
Erwartungen sehr präzise. In einem VierAugen-Gespräch kurz nach Ostern trug
DGB-Chef Michael Sommer dem neuen
Obergenossen seine Agenda vor: Mitbestimmung, Kündigungsschutz, Gesundheitsreform – „da setzen wir auf euch“.
d e r
s p i e g e l
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Deutschland
ab, solange diese nicht auf Gewalt verzichtet,
Israels Existenzrecht und den FriedensproGRÜNE
zess anerkennt. Das ist richtig. Aber im
Windschatten der USA sind die Europäer,
und mit ihnen Berlin, zu weit gegangen.
SPIEGEL: Was meinen Sie?
Trittin: Der Boykottbeschluss vom April war
bei weitem zu pauschal. Das hätte die EU
Der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin, 51, über
verhindern müssen. Es nützt doch nichts,
die USA-Politik der Großen Koalition und
als humanitäre Hilfe Medikamente nach
Palästina zu liefern, wenn zugleich Ärzte
den Umgang mit dem iranischen Atomprogramm
und Krankenschwestern nicht mehr bezahlt
SPIEGEL: Herr Trittin, Außenminister Frank- SPIEGEL: Ist das Problem einen Streit mit werden können. Wir dürfen nicht dem Zusammenbruch der zivilen Strukturen zuWalter Steinmeier hat bei seiner Amts- den USA wert?
übernahme versprochen, die Kontinuität Trittin: Indien ist ein sehr dramatischer Fall schauen und uns nachher wundern, dass
der rot-grünen Außenpolitik zu wahren. mit globalen Konsequenzen. Das Land hat die palästinensische Staatsbildung scheiIst ihm das gelungen?
alle Formen der nuklearen Anreicherung tert. Zerfallene Strukturen begünstigen TerTrittin: Teils, teils. Die rot-grüne Position internationalen Kontrolleuren entzogen. ror und gefährden Israels Sicherheit. Jetzt
zum Irak-Krieg hat mittlerweile selbst die Das droht zum Vorbild für viele zu werden werden die Fehler halbherzig korrigiert.
Kanzlerin stillschweigend übernommen. In – von Brasilien bis Südafrika.
SPIEGEL: Was schreckt Sie mehr: ein Iran
anderen Bereichen bewegt sich die Regie- SPIEGEL: Dafür redet Kanzlerin Angela mit Atomwaffen oder ein Krieg gegen Iran?
rung jedoch in die falsche Richtung.
Merkel wenigstens mit dem russischen Trittin: Wer einen Militärschlag wagt, wird eiPräsidenten deutlich offener als Gerhard nen atomar bewaffneten Iran bekommen. In
SPIEGEL: Inwiefern?
Iran gibt es einen Konsens bis tief in die OpTrittin: Nehmen Sie die Kontrolle der nu- Schröder.
klearen Rüstungsprogramme. Das ist im ur- Trittin: Stimmt, das hätten sich die Grünen position, dass das Land ein Recht auf die zieigenen deutschen Interesse. Washington auch von Schröder gewünscht. Merkel be- vile Nutzung der Atomkraft hat. Wir brauerkennt faktisch die Atommacht
chen eine Vereinbarung mit TeheIndien an – mitten in den Iranran, die dieses Recht respektiert.
Verhandlungen über dessen NuAuf militärische Nutzung muss
klearprogramm. Das ist ein fataIran international kontrollierbar
les Signal. Regierungen in der
verzichten.
Dritten Welt fragen mit Recht,
SPIEGEL: Das klingt gut. Aber die
warum Indiens jahrzehntelange
iranische Forschung ist längst
Missachtung internationaler Abweiter, als Experten glaubten.
rüstungsnormen nun amnestiert
Trittin: Wir werden Teheran nicht
wird, man aber bei Iran so harsch
mehr davon abbringen, das bisvorgeht. Berlin hätte das deutlich
her erreichte Forschungsniveau
kritisieren müssen. Das ist ein ofbei der Anreicherung von Uran
fensichtlicher Kurswechsel.
aufzugeben. Alles andere wäre
blauäugig. Es geht darum, das
SPIEGEL: Angela Merkel und Ex-Minister Trittin: „Bruch mit der Politik der Nichtverbreitung“
auf diesem Niveau einzufrieren.
Steinmeier behaupten, sie hätten ihre Bedenken in WashingSPIEGEL: Soll der Sicherheitsrat
ton vorgetragen.
Sanktionen gegen Teheran verhängen?
Trittin: Sie haben lediglich am
Zeitpunkt des Deals gemäkelt.
Trittin: Viel wichtiger ist nun,
Hier wäre Klartext angesagt gedass ernsthaftere Verhandlungen
mit Iran Ergebnisse bringen.
wesen. Der Atomdeal mit Indien
Dazu muss aber auch der Wesgefährdet den Erfolg der Verten einiges beitragen. Iran hat
handlungen mit Iran – und das
Anspruch auf ein glaubhaftes
ist die brisanteste internationale
Angebot zur kommerziellen AnKrise im Moment.
reicherung von Uran unter inSPIEGEL: Warum agiert Berlin Ihternationaler Kontrolle, etwa gerer Meinung nach so kleinlaut?
meinsam mit Russland. Und die
Trittin: Weil Merkel und SteinUSA müssen endlich aus ihrem
meier Krach mit den AmerikaSchmollwinkel kommen und sich
nern vermeiden wollen. Lieber
an den Gesprächen mit Teheran
nehmen sie einen Bruch mit der
beteiligen. Washington muss
über Jahre betriebenen deutdeutlich machen, dass es keine
schen Politik der Nichtverbrei- Präsident Bush, Kanzlerin Merkel: Kleinlaut agiert?
militärische Eskalation will.
tung in Kauf.
SPIEGEL: Das klingt so, als würden Sie dafür wegt sich hier in der Kontinuität von Josch- SPIEGEL: Welche Rolle könnte Berlin dabei
auch auf die Chance verzichten, sich mit ka Fischers Außenpolitik.
spielen?
Washington zu versöhnen.
SPIEGEL: Übertreibt die neue Regierung die Trittin: Frau Merkel sollte ihren heißen
Draht nach Washington einfach nutzen.
Trittin: Ach was. Ein freundschaftliches Ver- Aussöhnung mit den USA?
hältnis liegt in unserem Interesse. Aber in Trittin: Man kann wichtige Fragen nicht gegen Lieber George, sollte sie sagen, – sie duzen
unserem Interesse liegt es auch, in essentiel- die Amerikaner lösen, aber auch nicht mit ih- sich ja jetzt – es geht nicht, dass wir alle mit
len Fragen eindeutig Stellung zu beziehen. nen allein. Nehmen Sie den Fall der Hamas- den Iranern reden, aber ihr nicht. Diesen
Dazu zählt die Einhaltung des internationa- Regierung in den Palästinensergebieten. Satz hätten wir gern gehört.
len Kontrollregimes für Nukleartechnik.
Deutschland lehnt Gespräche mit der Hamas
Interview: Ralf Beste
GAMMA / LAIF
MARKUS HANSEN / ACTION PRESS
„Fatales Signal“
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Behördenchefin Birthler
MICHAEL KAPPELER / DDP
Warnung vor dem Schlussstrich
S TA S I
Angriff auf ein Symbol
Eine Expertenkommission empfiehlt der Bundesregierung den
radikalen Abbau der Stasi-Akten-Behörde. Ende
des Jahres könnten zudem die Stasi-Überprüfungen auslaufen.
D
er Staatsminister für Kultur und
Medien, Bernd Neumann, 64, ist
bislang kaum aufgefallen: Zur Filmförderung hat er sich geäußert, zur Sanierung der Berliner Museumsinsel, zum
Schutz des Urheberrechts oder zum türkischen Thriller „Tal der Wölfe“; Spektakuläres war bislang nicht dabei.
Doch nun muss der Mann sich namens
der Bundesregierung einer Sache annehmen, die heikler kaum sein könnte. Denn
in seiner Hand liegt die Zukunft einer Einrichtung, die formal eine Behörde, im
Bewusstsein vieler aber doch wesentlich
mehr ist – eine „Apotheke gegen die
Nostalgie“, wie ihr erster Chef Joachim
Gauck schwärmte, das „Vermächtnis der
Revolution“, wie die amtierende Leiterin
Marianne Birthler glaubt.
Es geht um die – so die offizielle Bezeichnung – „Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, bekannt
geworden als „Gauck-Behörde“, heute
„Birthler-Behörde“ genannt.
Bislang war es tabu, die Existenz dieser
Einrichtung mit ihren über 2200 Mitarbeitern und ihrem Etat von 100 Millionen
Euro in Frage zu stellen, die den schlimmen Nachlass des DDR-Geheimdienstes
verwaltet. Allenfalls kämpften alte StasiKader oder einstige SED-Größen gegen
den vermeintlichen „Scharfrichter Gauck“.
Nun liegen Neumann, in dessen Zuständigkeit die Behörde fällt, die brisanten „Empfehlungen der Expertenkommission zur Schaffung eines Geschichtsverbundes ‚Aufarbeitung der SED-Diktatur‘“
vor. Es ist ein 21-seitiges Dokument voller
Hinweise, wie die Arbeit der Gedenkstät40
ten, Forschungseinrichtungen und Archive
zur DDR-Geschichte professionalisiert
werden könnte. Der politische Zündstoff
des Papiers aber findet sich auf Blatt acht,
auf dem eine – wie es harmlos heißt –
„gleitende Neuausrichtung“ der Behörde
der Bundesbeauftragten verlangt wird.
Empfohlen wird nichts weniger als ein
radikaler Abbau der Stasi-Akten-Verwaltung, die den Nachlass des DDR-Geheimdienstes ans Bundesarchiv abgeben soll. De
UMFRAGE: DDR
„Der Fall der Mauer liegt jetzt
mehr als 16 Jahre zurück. Sollten
wir uns weiter mit der DDRVergangenheit beschäftigen, oder
sollten wir einen Schlussstrich
ziehen?“
Mit der Vergangenheit beschäftigen
41 %
Schlussstrich ziehen
56 %
„War die DDR Ihrer Meinung
nach eine Diktatur?“
Ja
85 59
Nein
14 %
9
TNS Infratest für den SPIEGEL vom
West
9. bis 11. Mai; rund 1000 Befragte;
an 100 fehlende Prozent: „weiß nicht“/ keine Angabe
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Ost
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facto wäre dies der Anfang vom Ende der
Birthler-Behörde, die ohne die Spitzelaufzeichnungen ihren Sinn verlieren würde.
Neumann und dem von der früheren
DDR-Bürgerin Angela Merkel geführten
Kabinett stehen deshalb heftige Debatten
bevor, in denen es um die Zukunft einer
Einrichtung gehen wird, die den Lernerfolg
der Deutschen nach ihrer zweiten Diktatur
symbolisieren sollte. Im Kern geht es um
die Frage, welche Zukunft die Vergangenheit der DDR noch haben soll. Wie lange
sollen Mitläufer und Mittäter des Systems
noch büßen? Wie lange soll eine eigenständige Behörde signalisieren, dass das
Thema DDR-Vergangenheit noch nicht erledigt ist?
Ginge es nach den Kommissionsmitgliedern, darunter Historiker und Ex-Dissidenten aus der DDR, würde das entkernte
Amt umgewandelt werden in eine Stiftung.
Fast wie ein Nachruf auf die BirthlerBehörde klingt das Papier: Sie dürfe „angesichts ihrer besonderen historischen
Bedeutung auch nach Erledigung ihrer
Hauptaufgaben aus dem Prozess der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur
nicht zur Gänze herausfallen“.
Im Klartext bliebe wenig übrig von der
in der deutschen Geschichte einmaligen
Instanz, die Ende des Jahres ohnehin eine
ihrer zentralen Funktionen verlieren könnte. Dann enden die Überprüfungen auf
Stasi-Tätigkeit im Öffentlichen Dienst –
nach 15 Jahren soll Schluss sein mit der
sogenannten Regelüberprüfung. „Nach
Ablauf der Frist“, heißt es im Stasi-Unterlagen-Gesetz, „darf die Tatsache einer
Tätigkeit für den Staatssicherheitsdienst
dem Mitarbeiter im Rechtsverkehr nicht
mehr vorgehalten und nicht zu seinem
Nachteil verwendet werden.“
Birthler aber wehrt sich. Sie warnt vor
einem „Schlussstrich“. Erst im Jahr 2020
seien einige ihrer Aufgaben erledigt, „andere gelten unbefristet“. Die Abwicklung
der Behörde wäre „ein später Erfolg der
Stasi-Offiziere“.
Während Experten im Kanzleramt einen möglichst schnellen Anschluss des Stasi-Archivs ans Koblenzer Bundesarchiv befürworten, schlägt der Ost-Beauftragte und
Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD) schon Alarm: „Wir dürfen die
Stasi-Akten noch nicht ins Archiv der Geschichte stellen.“ Die Vergangenheit sei
auch durch das „infame Auftreten von alten Stasi-Kadern“, so der aus der
80 % Bürgerbewegung stammende Politiker, „immer noch bedrängend
aktuell“.
Aufgeschreckt ist auch der Thüringer
Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU),
der weitere Stasi-Überprüfungen befürwortet, für die das Bundesarchiv ungeeignet ist. „Ob Stasi-Überprüfungen nicht
Deutschland
mehr sein müssen“, sagt er, „darüber sollen künftige Generationen entscheiden.“
Althaus will deshalb im Bundesrat initiativ
werden und das Stasi-Unterlagen-Gesetz
ändern. Unterstützung kommt von Sachsen-Anhalts Regierungschef Wolfgang
Böhmer (CDU): „Bei Wahlfunktionen sollte es weiter eine Regelüberprüfung geben.“ Auch im Bundestag ist eine große
Koalition in Sicht – zumindest für „Anlassprüfungen in Einzelfällen“, die Arnold
Vaatz, Vize der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, fordert. Stephan Hilsberg, Fraktionsvize der SPD, die Grünen-Politikerin
Katrin Göring-Eckardt und FDP-Rechtsexperte Jörg van Essen sind ebenfalls
dafür.
Doch Vaatz personifiziert geradezu die
Zerrissenheit beim Thema Stasi-Akten. Einerseits plädiert der einstige Bürgerrechtler für die Fortsetzung von Überprüfungen, andererseits kritisiert er regelmäßig
den Zustand der Behörde. Ähnlich wie
einige Mitglieder der Expertenkommission ist Vaatz verärgert über Birthlers Leute, die bislang noch nicht ihren Aktenbestand komplett archiviert haben – erst
62 Prozent der Unterlagen in der Berliner
Zentrale sind erschlossen. Aus der
Empörung darüber resultieren die Sympathien für einen Zuständigkeitswechsel,
auf den der Präsident des Bundesarchivs,
Hartmut Weber, setzt. Dann käme „zusammen, was zusammengehört“, sagt der
Archivchef.
Schon 1990 gab es Pläne für diese Art
Anschluss des DDR-Erbes an das WestArchiv. Doch die Helden des Herbstes 1989
kämpften für einen Verbleib der Akten im
Osten und gegen ihre Übernahme durch
das Archiv. Mit einem Hungerstreik erzwangen Revolutionäre wie Bärbel Bohley
die Übernahme des Stasi-Akten-Gesetzes
der DDR-Volkskammer in den Einigungsvertrag. Ihr Motto: „Die Akten gehören
Die Revolutionäre des Herbstes
1989 kämpften nach dem
Motto: „Die Akten gehören uns!“
uns!“ Damals war es der westdeutsche Innenminister Wolfgang Schäuble, der erst
für „Schlussstrich“ und „Gnade“ warb,
dann aber in die Gründung der GauckBehörde einwilligte.
Inzwischen hat die Behörde zumindest
einen wesentlichen Teil ihres Auftrags erledigt: Rund 1,5 Millionen Menschen haben
Akteneinsicht genommen. Mehr als 1,7
Millionen Mitarbeiter des Öffentlichen
Dienstes wurden überprüft.
Während die Birthler-Behörde zu einer
Art Exportschlager wurde, zum Vorbild
bei der Aufarbeitung in Polen etwa, ließ
das Interesse hierzulande allmählich nach
– die Stasi-Überprüfung ist zu einem Auslaufmodell geworden. Selbst das Bundesinnenministerium hat sich still von der
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Regelüberprüfung verabschiedet. Und die
Konsequenzen von Stasi-Verstrickungen
sind mitunter höchst willkürlich: Wegen
seiner mutmaßlichen IM-Tätigkeit durfte
der Sportreporter Hagen Boßdorf nicht
NDR-Sportchef werden, ARD-Sportkoordinator blieb er dennoch.
16 Jahre nach der Wiedervereinigung
bezweifeln deshalb nicht nur Anhänger des
alten Systems den Sinn weiterer Überprüfungen und mahnen zu mehr Gelassenheit
beim Thema Stasi. Die fällt allerdings nicht
ganz leicht angesichts der Dreistigkeit, mit
der frühere MfS-Zuträger mitunter auftreten. Bis vor den sächsischen Verfassungsgerichtshof will etwa der parteilose Fahr-
lehrer Christoph Fröse ziehen. Damit sie
ihn endlich reinlassen, in sein Rathaus in
Bannewitz bei Dresden.
Am 26. Februar hatten die Bannewitzer
Fröse mit 52,7 Prozent zum neuen Bürgermeister der Gemeinde gewählt. Fröse war
der Stasi weiland als IM „Gallinat“ zu
Diensten. 30 Treffs mit einem Führungsoffizier sind belegt, 28 handschriftliche Berichte und 14 Tonbandprotokolle. Es gibt
Hinweise auf Prämien und eine Verpflichtungserklärung. Offensichtlich sollte Fröse von 1985 an vor allem Ausreisewillige im
Auge behalten.
Wählbar sei so ein Mensch nicht, befand
das Landratsamt Weißeritzkreis und er-
klärte die Wahl für ungültig. Fröse erfülle
nicht die „allgemeinen persönlichen Voraussetzungen“, so der Landrat, da er mit
dieser Vergangenheit für „die Ausübung
des Amtes des Bürgermeisters als untragbar“ erscheine. Doch der frei gewählte
Bürgermeister besetzte kurzerhand das
Amt. Mitte April saß der Mann eines Tages
von 12 bis 18 Uhr in seinem Dienstsitz, bis
ein Streifenwagen vor dem Rathaus auftauchte. Fröse erhielt schriftlich von seinem anwesenden Stellvertreter die Aufforderung, umgehend das Amt zu verlassen. Er lehnte ab und verlangte – ebenfalls
schriftlich – die Herausgabe der Rathausschlüssel. Die zwei Beamten der Streife be-
gutachteten etwas ratlos den Austausch der
Noten. Dann zogen sie wieder ab. Ohne
Fröse, der inzwischen Klage beim Dresdner Verwaltungsgericht eingereicht hat, damit er sein Amt ausüben darf.
Seither zieht der Fall seine Kreise. Die
„Sächsische Zeitung“ druckte eine ganze
Seite Leserbriefe unter der Überschrift:
„Dürfen Ex-IMs Bürgermeister sein?“
Volkes Stimme zeigt, wie umstritten inzwischen der Umgang mit ehemaligen Zuträgern ist. Eine Frau schrieb: „Jedem
Straftäter wird eher vergeben.“
Erstaunliche Parallelen weist der Fall
Fröse zu einem anderen Eklat in Sachsen
auf. 1994 hatten die Einwohner von Kö-
nigstein den gerade wegen Stasi-Verstrickungen (IM „Fritz Steuer“) abgesetzten CDU-Bürgermeister Rudolf Maiwald
als Parteilosen wieder ins Amt gewählt.
300 Seiten dick war seine Akte, nach nur
sieben Stunden im Amt wurde Maiwald
seinerzeit vom Landrat beurlaubt. Auch
Maiwald zog vor Gericht, ging durch alle
Instanzen und marschierte am Ende ins
Rathaus ein: Der Leipziger Verfassungsgerichtshof kam zu dem Schluss, dass der
Beleg für die Stasi-Mitarbeit allein nicht
ausreiche, Maiwald das Amt zu verweigern. Es müsse auch die Bewährung unter
rechtsstaatlichen Verhältnissen gewürdigt
und eine Prognose über die künftige Amtsführung abgegeben werden.
Dasselbe Gericht muss demnächst über
Peter Porsch, einen sächsischen Parlamentarier der Linkspartei, entscheiden. Wegen
seiner mutmaßlichen Stasi-Verbindung soll
er sein Mandat niederlegen. Doch er be-
„Niemand darf uns das Recht
nehmen, die Dinge
beim Namen zu nennen.“
streitet, für die Stasi gearbeitet zu haben,
und bleibt als Fraktionschef im Landtag.
So wird jeder neue Fall zum Beweis
einer gewissen Hilflosigkeit. Anfang Mai
erklärte der Überprüfungsausschuss des
Thüringer Landtags die Linkspartei-Abgeordnete Ina Leukefeld für parlamentsunwürdig. Sie hatte für die Stasi gespitzelt.
Die Erklärung des Ausschusses hat jedoch
keinerlei Auswirkungen – es wird keine
Sanktionen geben. Leukefeld will dennoch
vor dem Verfassungsgericht klagen: Allein
ihre Überprüfung sei „unwürdig“.
Allerdings: Ihre Vergangenheit kannten
die Wähler. Vor Einzug ins Parlament berichteten Zeitungen über ihre Akte, dann
errang Leukefeld 2004 mit 42 Prozent der
Stimmen in Suhl ein Direktmandat. „Ich
bedaure, dass mein Wirken dazu beigetragen hat, Unrecht zu ermöglichen“, sagte
die Frau, die in die Offensive ging. Unter
dem Motto „Meine Akte. Deine Akte. Akteneinsicht mit Ina Leukefeld“ las sie im
März im Gasthaus Tivoli zu Suhl aus ihren
Stasi-Unterlagen vor.
Angesichts solcher Fälle, beharrt der
Theologe Richard Schröder, Vorsitzender
des Beirats der Birthler-Behörde, darauf,
die Stasi-Vergangenheit auch in Zukunft
weiter öffentlich machen zu dürfen. „Egal,
wer die Akten verwaltet“, meint er, „niemand darf uns das Recht nehmen, die Dinge beim Namen zu nennen.“
Ansonsten setzt er auf eine biologische
Lösung des Problems. Er habe so seine
Zweifel, sagt er ironisch, dass unter Bewerbern des Öffentlichen Diensts im Jahr
2007 noch viele Ex-Offiziere der Stasi sein
Stefan Berg,
werden.
Andreas Wassermann, Peter Wensierski,
Klaus Wiegrefe, Steffen Winter
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Claudia Rajah mit Söhnen Amin, Sofian (um 2001), Mohammed Rajah mit den Söhnen in Tunesien: „Die Kinder werden geopfert“
K I N DE S R AU B
„Holen Sie die mit Gewalt“
Seit Monaten jagt eine deutsche Mutter ihren tunesischen Mann.
Denn der hat die gemeinsamen Kinder entführt und flieht nun mit ihnen quer
durch die arabische Welt. Von Cordula Meyer
A
m letzten Morgen ihres normalen Küchentisch ihrer Etagenwohnung hat sie Einschreibebrief kam, spielt sich ihr LeLebens holte Claudia Rajah Bröt- ihre Ordner ausgebreitet: Beschlüsse von ben nicht mehr zwischen Elterninitiative
chen für das Frühstück vor dem Gerichten in Ebersberg, München und und Gartencenter ab – sondern zwischen
Abschied. Kurz vor zehn Uhr nahm sie Tunis. Einen internationalen Haftbefehl Tunis, Doha und Riad.
dann die Reisetasche mit den Shorts und gegen ihren Mann, Korrespondenz mit
Sie hat mehr als 60 000 Euro ausgegeben
Badehosen ihrer Söhne Amin, 10, und Behörden im Golfstaat Katar, mit dem Ver- für Flugtickets, Anwälte, Telefonkosten.
Sofian, 7. Es war Punkt zehn, als die bindungsbeamten des Bundeskriminalamts Sie hat Sorgerechtsbeschlüsse und diesen
drei schließlich den Vater der Jungs ab- (BKA) in Saudi-Arabien, Bettelbriefe ans Haftbefehl erwirkt, sie hat getan, was das
holten.
Auswärtige Amt (AA) und ein paar Le- Auswärtige Amt ihr geraten hat und noch
Der gebürtige Tunesier Mohammed Ra- benszeichen ihrer Söhne.
viel mehr. Nur: Ihre vom Ehemann entjah lebte von seiner Frau getrennt, aber
Claudia Rajah hat blondgesträhnte Haa- führten Kinder hat das nicht zurückgeebenfalls in der Kleinstadt Vaterstetten bei re, wache grüne Augen und trägt rosa bracht. Sie sagt: „Ich habe viel Papier, aber
München. Gemeinsam wuchteten sie seine Jeans. Die gelernte Floristin spricht Fran- ich habe nichts erreicht.“
beiden großen Koffer und die schwere zösisch und Arabisch, sie ist eine tatkräfIhr Fall zeigt, was passieren kann, wenn
Reisetasche ins Auto. „Das ist aber viel“, tige Frau, die ihre Verzweiflung oft hinter sich ein scheinbar perfekt integrierter
dachte sich Claudia Rajah noch.
einem Lächeln verbirgt. Denn seit dieser Einwanderer mit deutschem Pass nach
Eine Stunde später waren sie
vielen Jahren in Deutschland plötzam Münchner Flughafen. Die beilich dem strengen Islam zuwendet.
den Jungs und ihr Vater sollten
Vor allem aber zeigt das Schickmit Tunis Air nach Tunesien fliesal der Rajahs: Wenn ein Vater
gen, angeblich zum Urlaub in der
gemeinsame Kinder erst einmal in
alten Heimat Mohammeds. Claudie muslimische Welt entführt hat,
dia Rajah umarmte ihre Söhne.
ist westliches Recht nichts mehr
„Ich habe ihnen gesagt, dass ich sie
wert.
ganz doll lieb habe – was man so
„Auch wenn das islamische Versagt.“
ständnis vom Verhältnis zwischen
Es dauerte zwölf Tage, dann kam
Mann und Frau nicht den Grundsätein Einschreibebrief, auf Arabisch.
zen des deutschen Familienrechts
Es war die Vorladung eines Gerichts
entspricht, muss es respektiert werin Tunis: Ihr Mann wolle die Scheiden“, schreibt das Auswärtige Amt.
dung. Und die Kinder.
„Rechtspositionen – mögen sie nach
Das ist nun neun Monate her.
deutschem Empfinden auch noch
Seither schleppt ihr Mann die Kinso eindeutig sein – helfen oft nicht
der quer durch die arabische Welt,
weiter.“ Das heißt: Vergiss es, und
und Claudia Rajah ist zumute, als
erwarte nicht allzu viel Hilfe. Denn
lebte sie einen Alptraum. Auf dem Brief des Sohnes Amin: „Wieso konnte das passieren?“
ein solcher Streit, so stellt das AA
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Deutschland
fest, sei „eine private und keine außenpolitische Angelegenheit“.
Claudia Rajah sagt, sie spüre oft einen
unterschwelligen Vorwurf: Sie hätte es
doch wissen müssen, wenn sie so einen
heiratet. Und ihr Bruder Stefan Maisack,
ein Manager aus Bonn, ein sanfter Mann
mit dem Glauben an die Vernunft, sagt Sätze, die nicht zu ihm passen: „Öl statt Kinder: Um die Beziehungen zu Saudi-Arabien nicht zu belasten, unternimmt niemand
etwas. Und die Kinder werden geopfert.“
Als Maisack von dem Brief aus Tunis erfährt, setzt er sich ins Auto, kommt mitten
in der Nacht nach Vaterstetten. Claudia Rajah hat Angst, die Kinder womöglich wochenlang nicht zu sehen. Ihr Bruder sagt:
„Claudia, vielleicht werden es Jahre.“
Trotzdem hoffen die beiden, dass Mohammed die Söhne doch zurückbringt. Sie
warten am Gate mit der Polizei, als die
Maschine landet, mit der die Kinder eigentlich aus den Ferien kommen sollten.
Natürlich kommen sie nicht. Aber abends
habe ihr Mann angerufen, sagt Claudia Ra-
DAVID AUSSERHOFER / JOKER
und joggten zusammen, Mohammed bildete sich weiter zum Hotelbetriebswirt.
Vier Jahre später kam Amin zur Welt, zwei
Jahre danach Sofian, beides Wunschkinder. Zwölf Jahre lang, meint Claudia Rajah,
war ihre Ehe glücklich: „Wieso konnte das
passieren? Diese Frage stelle ich mir oft.“
Ab 2003 bemerkt Claudia Rajah erste
Risse in ihrem Leben. Als ihr Ältester, Fußballer beim FC Parsdorf und Fan der DreiFragezeichen-Krimis, beim Essen sagt:
„Ich kann die Wurst nicht essen.“
„Natürlich kannst du die Wurst essen“,
sagt seine Mutter. „Die ist aus Geflügel.“
„Siehst du, Papa hat doch recht. Du
willst, dass ich in die Hölle komme, und da
muss ich über glühende Kohlen gehen und
verbrenne.“
Claudia Rajah ist perplex und stellt ihren
Mann zur Rede. Der will nun, dass die Kinder nur noch Fleisch von geschächteten
Tieren essen. Ein paar Wochen später fahren sie mit Freunden nach Berlin. Sie sitzen
in Prenzlauer Berg und diskutieren über
den Islam. Verdattert hören Claudia und
ihre Freunde Mohammeds
neue Position: Religion sei
das Wichtigste im Leben.
Als seine Frau widerspricht,
habe er gedroht, wenn sie
sich so verhalte, werde sie
ihre Kinder verlieren.
Er beginnt, fünfmal am
Tag zu beten. Er trinkt kein
Bier mehr, will nicht, dass
die Familie amerikanische
Musik hört. Claudia Rajah
beißt die Zähne zusammen:
Ihr graut davor, dass all
jene, die sie vor dieser Ehe
Auswärtiges Amt in Berlin: „Wir lassen sie nicht allein“
gewarnt haben, recht bekommen könnten.
jah, er habe gewusst, dass sie mit der PoliAls in der Adventszeit 2004 Claudia
zei da waren, und er habe ihr gedroht.
Rajahs Mutter zu Besuch kommt, eskaliert
Mohammed war nie gewalttätig, aber die Situation. Mohammed weigert sich, das
jetzt bekommt Claudia Rajah Angst. Trotz- Haus zu betreten, weil seine Schwiegerdem: Als das AA ihr rät, in Tunesien gegen mutter abends Wein trinkt. Claudia Rajah
ihren Mann zu prozessieren, fährt sie los. erfährt, dass ihr Mann in einer Münchner
Es ist der 4. September.
Moschee verkehrt, die vom VerfassungsEs geht erst nach Genua, dann auf die schutz beobachtet wird und Verbindungen
Fähre, auf der sie vor einem Jahr noch mit zur radikalen Muslimbruderschaft haben
ihrem Mann in den Urlaub gefahren ist. Sie soll – auch wenn der Staatsschutz später
denkt zurück an jenen Abend im Musikclub keine Hinweise auf islamistische Umtriebe
„Cave“ in Heidelberg, an dem sie diesen jun- von Mohammed selbst findet.
gen Mann aus Tunesien traf, mit den fröhlich
An Samstagen, wenn sie im Geschäft
blitzenden Augen. Sie verabredeten sich für Blumen bindet, wähnt sie ihre Söhne mit
den nächsten Tag. Und dann für jeden an- dem Vater daheim. Stockend rücken die
deren in den vier Wochen, die Mohammed irgendwann damit heraus, dass sie dann in
Rajah noch in Deutschland bleiben wollte. der Koranschule seien und der Vater ihnen
Sechs Wochen später flog Claudia nach Tu- verboten habe, davon zu sprechen. Sofian
nesien. Ein halbes Jahr später heirateten die erzählt von Stockschlägen auf die Hände.
beiden – trotz der Bedenken des Vaters, der
Jetzt reicht es Claudia Rajah. Ihr Bruder
lieber einen Banker zum Schwiegersohn ge- Stefan versucht, in einem Gespräch von
habt hätte als einen Kellner aus Tunesien.
Mann zu Mann zu vermitteln: „MohamDoch Claudia war sich sicher: Das war med, was ist denn? Gibt es Probleme, die
der Mann fürs Leben. Sehr lange ging es wir nicht kennen? Wer sind diese Mengut. Vom Islam sprach Mohammed nicht, schen, Mohammed, die dir sagen, dass das
er liebte Abende im Biergarten. „Uns war richtig ist, was du tust?“ Mohammed antnie langweilig“, sagt sie. Sie schwammen wortet, so erzählt es Stefan Maisack,
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Deutschland
knapp: Die Meinung einer Frau zähle
nicht. Und: Der Glaube stehe über allem.
Claudia Rajah zieht mit ihren Söhnen
aus. Ihr wird mulmig, wenn sie an den Urlaub denkt, den ihr Mohammed mit den
Kindern in Tunesien plant. Erst recht, als
sie erfährt, dass ihr Mann, wohl wegen seiner fundamentalistischen religiösen Anwandlungen, auch seinen Job als Buchhalter einer Autovermietung verloren hat.
Das Amtsgericht Ebersberg macht dann
den entscheidenden Fehler: Mohammed
erscheint zum Streit um das Sorgerecht
ohne den neuerdings üblichen Vollbart,
sondern frisch rasiert und mit Krawatte.
Er unterzeichnet eine Eidesstattliche Versicherung: „Es ist absurd, wenn mir meine
Frau unterstellt, ich würde den geplanten
Urlaub dazu hernehmen, meine Kinder
nach Tunesien zu entführen.“
Die Richterin glaubt das und macht, was
in Scheidungsfällen üblich ist: Sie drängt
auf das gemeinsame Sorgerecht von Mutter und Vater, wie das Protokoll ausdrücklich feststellt. Claudia Rajah stimmt schließlich zu, ihrem Mann die Pässe der beiden
Söhne zu übergeben.
„Das haben die deutschen Behörden
durchgesetzt“, klagt sie jetzt. Aber nun, wo
die Kinder weg seien, schrieben deutsche
Beamte ihr, sie hätten leider „keine Möglichkeiten“, die Söhne zurückzubringen.
Claudia Rajah nimmt die Sache selbst
in die Hand. In Tunis angekommen, mietet
sie sich eine Wohnung, findet einen angesehenen Anwalt, am 12. September ist
Verhandlung. Die tunesische Richterin
zwingt Mohammed Rajah, die Kinder bei
Gericht vorzuführen. Claudia Rajah stürzt
auf sie zu, umarmt sie, Amin kullert eine
Träne aus dem Auge. Nach dem Termin
nimmt der Vater die beiden Kinder an
der Hand und zerrt sie weg, ohne Verabschiedung.
Beim nächsten Gerichtstermin unterschreibt sie, sie werde nach Tunesien ziehen. Sie kauft Kinderbetten und zeigt die
sogar dem tunesischen Kinderschutzbeauftragen. Doch die Kinder kommen nicht.
Da nötigt der Kinderschutzbeauftragte
Mohammed, die Kinder zu einem Treffen in
ein Café zu bringen. Die Mutter nimmt Sofian auf den Schoß, flüstert ihm ins Ohr,
wie sehr sie ihn liebe. Sie zeigt Amin die
Briefe, die seine Klassenkameraden ihm geschrieben haben. Claudia Rajah hofft, dass
sich alles zum Guten wendet, sie ahnt nicht,
dass sie ihre Söhne zum letzten Mal sieht.
Beim Gerichtstermin vier Tage später
geschieht das Wunder: In der Sache Rajah
gegen Rajah entscheidet das muslimische
Gericht für die Deutsche. Vollstreckt werden kann das Urteil nicht: Vater und Kinder sind da schon spurlos verschwunden.
Claudia Rajah fragt, bohrt, nervt, und
dann ziehen die tunesischen Behörden mit.
Die Grenzpolizei findet heraus: Ihr Mann
ist noch am Tag des Urteils geflohen. Richtung Kairo, mit den Kindern.
Die Staatsanwaltschaft München erlässt
internationalen Haftbefehl, gültig auch für
die arabischen Länder. Theoretisch. Mit
Hilfe der Behörden findet Claudia Rajah
heraus, dass ihr Mann in den Golfstaat Katar weitergereist ist.
Was nun? Beginnt in Katar alles von
neuem? Die Botschaft schreibt Claudia Rajah ziemlich genau das. Sie müsse hinfahren, die Sorgerechtsbeschlüsse anerkennen
lassen und die Herausgabe ihrer Kinder
fordern. Und der Haftbefehl, nun ja, der
nütze nichts, weil Kindesentziehung durch
den Vater in Katar kein Verbrechen sei.
Der zuständige Erdinger Kriminalhauptkommissar Alfred Wimmer versucht trotzdem alles, um die Kinder zu finden. Er
schaltet Kollegen ein, löchert deutsche Verbindungsbeamte im Ausland. Vergebens.
Saudi-Hauptstadt Riad: Die Meinung einer Frau
In Vaterstetten schreibt der siebenjährige Alexander, der beste Freund von
Sofian, derweil einen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Warum haben Sie alles für Susanne Osthoff getan
und nichts für meinen Freund Sofian?“,
fragt er.
In Hirschberg schreibt Claudia Rajahs
Vater, ehemaliger Direktor an einer Landesbank, an den bayerischen Innenminister Günther Beckstein. Ihr Bruder schreibt
an Ex-Kanzler Gerhard Schröder, an jeden, der irgendwie helfen könnte. Er ruft
auch die Opferschutzorganisation Weißer
Ring an. Die Auskunft dort ist ernüchternd: „Holen Sie die Kinder mit Gewalt“,
habe der Berater vor Ort gesagt, erinnert
ABACA / REFLEX
zählt nicht
sich Stefan Maisack, „sonst sehen sie die
nie wieder.“
Der Weiße Ring hat Erfahrung mit solchen Fällen, 40 betreut er zurzeit. Veit
Schiemann von der Bundesgeschäftsstelle
wagt sich so weit vor, wie er gerade noch
darf: „Wir wollen nicht Detektive mitfinanzieren, die Kinder gegen lokale Gesetze
zurückholen, aber das ist eine Grauzone.“
Claudia Rajah nimmt Kontakt mit einer
Detektei auf. Doch was sie erfährt, macht
ihr Angst. Die Detektive erzählen, wie sie
die Kinder normalerweise von der Straße
wegfangen, mit K.-o.-Tropfen betäuben,
damit sie nicht schreien, und wie sie dann
mit den Kindern im Kofferraum davonrasen.
„Und dann“?, fragt Claudia Rajah.
Der Detektiv sagt, in ihrem Fall müsse
sie damit rechnen, dass der Vater die Kinder erneut zurückentführe, er sei ja offenbar zu allem entschlossen. Der Detektiv
sagt: Sie brauchen einen neuen Namen,
eine neue Identität, ein neues Heimatland.
Claudia Rajah lehnt ab. „Wenn ich das gemacht hätte, hätte ich mich auf dieselbe
Stufe begeben wie Mohammed.“
Über Weihnachten bleibt Claudia Rajah
in Tunesien. Sie hat Angst vor den leeren
Kinderzimmern daheim in Bayern. Vor
Amins Zimmer, mit der niemals benutzten Schultasche darin, die er sich für den
ersten Tag am Gymnasium ausgesucht hatte, mit der Sporttasche vom FC Bayern,
dessen Spiele er niemals verpasste.
Und vor Sofians Zimmer mit den Speedbooten aus Lego und der „Weltkarte für
Kinder“ an der Wand. In Tunesien sind
Schäfer und Beduinen eingezeichnet.
Im Januar kommt ein Lebenszeichen,
Briefe der Kinder. „Wir sind schon zu einer
weiteren Sure im Koran gekommen“,
d e r
schreibt Amin. Die Mutter plant die Reise
nach Katar. Aber was sie dort erfährt,
ernüchtert sie. Die Anwälte sagen ihr, dass
sie als Frau, als Christin, kaum Chancen
habe. Sie fährt zum Polizeichef. Der sagt:
„Ich verstehe Sie als Mutter. Aber als Muslim bin ich auf der Seite Ihres Mannes.“
Eine deutsche Botschaftsangehörige engagiert sich, als ginge es um ihre eigenen
Kinder. Aber: ohne Erfolg. Einmal, als
Claudia Rajah im Café sitzt – ganz hinten
in der abgetrennten Frauensektion, umgeben von schwarzverhüllten Gestalten –,
möchte sie losschreien. Sie macht einen
letzten Versuch und schickt ihrem Mann
eine E-Mail. Sie wolle ihn abends in Doha
an der Eisbahn treffen.
Sie wartet. Er kommt natürlich nicht,
aber er reagiert: Noch in derselben Nacht
flüchtet er aus dem Land. Sie erfährt es
erst, als sie in Tunis ist, wo sie wieder vor
Gericht erscheinen muss. Die Kinder sind
jetzt ein halbes Jahr weg.
Die Behörden von Katar bestätigen
schließlich: Mohammed Rajah und seine
Kinder hätten Katar in Richtung SaudiArabien verlassen. Jetzt geht es nicht mehr
weiter – ohne Begleitung eines Mannes
darf Claudia Rajah Saudi-Arabien nicht
einmal betreten. Der Verbindungsbeamte
des BKA in Riad gibt sich große Mühe,
Mohammed Rajah wenigstens ausfindig zu
machen. Bislang vergebens.
Helfen könnte allenfalls Druck von
höchster politischer Stelle. „Wir lassen Frau
Rajah nicht allein“, heißt es im AA. Aber
weil ihre Kinder die doppelte Staatsbürgerschaft haben, „sind den Konsularbeamten bei der Hilfe Grenzen gesetzt“.
Vor vier Wochen schreibt Mohammed
Rajah die bislang letzte E-Mail an seine
Frau. „Mein Kampf um meine Kinder geht
auch nach meinem Tod weiter!“ Vom SPIEGEL ebenfalls per Mail zum Fall befragt,
schreibt er, „keine Äußerungen an die Öffentlichkeit geben“ zu wollen. Sein Anwalt
Eberhard Gloning aus München sagt, er
habe seinem Mandaten geraten, nach
Deutschland zurückzukehren.
Schließlich schaltet Claudia Rajahs Familie eine Anzeige in der „Frankfurter Allgemeinen“. „Wir appellieren dringend an
das Auswärtige Amt Berlin und die Herren
Minister Dr. Frank-Walter Steinmeier, Dr.
Wolfgang Schäuble und Dr. Günther Beckstein, sich endlich für zuständig zu erklären.“
Und Claudia Rajah liegt morgens früh
wach in ihrem Bett und lauscht in die Stille. Kein Kind, das zu ihr ins Bett springt, so
wie früher. Sie überlegt, wo Amin und Sofian sein könnten. In einer Koranschule?
Die Kinder sind jetzt neun Monate weg.
Der Fall Rajah sei „ganz typisch“, sagt
der Sprecher des Auswärtigen Amts. Nur
sei Frau Rajah viel weiter gekommen als
die meisten Mütter in den Dutzenden dieser ziemlich aussichtslosen Fälle, die das
Amt jedes Jahr bearbeitet.
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Deutschland
AU S S E N P OL I T I K
„Ein krasser Missgriff“
AMIN AKHTAR / OSTKREUZ
Gesine Schwan, 62, Präsidentin der Universität Viadrina und
Polen-Beauftragte der Bundesregierung, über den Umgang
mit der populistischen Regierung in Warschau und polnische Ängste
Uni-Chefin Schwan: „Wir sollten Ruhe bewahren“
nicht gerade eine Mehrheit der
Polen. Angesichts der schwachen Wahlbeteiligung spricht es
eher für 20 Prozent der Bürger.
SPIEGEL: Also alles lieber nicht
so ganz ernst nehmen?
Schwan: Die Stimmen für Lepper und Giertych bei der Wahl
vorigen Herbst zeigen, dass es
in ihren Hochburgen im Süden
und Osten des Landes erhebliche Ängste gibt. Polen befindet sich in einer schweren
Modernisierungskrise. Bei uns
erweckt das Bild vom polnischen Klempner Angst vor Billigkonkurrenz, doch auch unsere Nachbarn sorgen sich vor
Wettbewerbern – allerdings aus
China und Marokko. Viele
Menschen suchen aus Verunsicherung heraus ihr Heil in
Nationalismus und in wohlfahrtsstaatlichen Versprechen.
SPIEGEL: Sie plädieren für Geduld mit Polen. Reicht das?
Schwan: Das Gegenteil von Geduld wäre doch Emotionalisie-
* Am 9. Mai gegen die Berufung von Andrzej Lepper
(Plakat o.) und Roman Giertych (u.) ins Kabinett.
50
WOJTEK RADWANSKI / AFP
SPIEGEL: Frau Schwan, in Polen hat eine
Regierung unter Beteiligung von Nationalisten und Populisten die Arbeit aufgenommen. Droht dem deutsch-polnischen
Verhältnis eine Eiszeit?
Schwan: Die Deutschen müssen sich keine
akuten Sorgen machen, sondern sollten unbeirrt und konstruktiv für eine gemeinsame
deutsch-polnische Politik in Europa werben.
Alle Umfragen zeigen, dass die Polen eine
wachsende Sympathie für die Deutschen
aufbringen – mehr übrigens als andersherum. Die Deutschen sollten im Umgang mit
Polen derzeit eher langfristig denken.
SPIEGEL: Der populistische Bauernführer
Andrzej Lepper und der Nationalist Roman Giertych, beide stellvertretende Premierminister, tun wenig zum Abbau von
Vorurteilen gegen Deutsche. Giertych klagte einmal, Deutschland und Frankreich
würden in der EU allen anderen „das
Rückgrat brechen“.
Schwan: In Polen selbst ist die Reaktion
auf die Regierungsbildung durchaus kritisch. Und das Kabinett repräsentiert auch
Studentenproteste in Warschau*
„Auch in Polen viel Ärger“
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rung, und die wäre falsch. Wir sollten Ruhe
bewahren, das ist nicht arrogant, sondern
wird von vielen meiner polnischen Freunde geteilt. Die Polen hatten noch nicht sehr
viel Zeit seit 1989, ein stabiles demokratisches Gemeinwesen mit soliden Parteien
zu bilden.
SPIEGEL: Als die Partei des österreichischen
Rechtspopulisten Jörg Haider im Jahr 2000
in die Regierung in Wien einzog, rief die EU
den Boykott Österreichs aus. Müsste heute
nicht das Gleiche mit Polen geschehen?
Schwan: Giertych und Lepper sind nicht dasselbe wie Haider. Der bezog fremdenfeindliche und rassistische Positionen, die mitunter an den Nationalsozialismus erinnerten.
SPIEGEL: Antisemitismus findet sich auch
bei Giertychs „Liga polnischer Familien“.
Jugendliche Liga-Anhänger wurden nach
dem Wahlerfolg voriges Jahr beim Hitlergruß gesehen.
Schwan: So etwas ist natürlich unerträglich. Die Liga ist wirklich eine Gefahr für
die polnische Demokratie. Lepper dagegen ist völlig beliebig.
SPIEGEL: Immerhin lobte er, Adolf Hitler
habe „die deutsche Wirtschaft auf die Beine gestellt“.
Schwan: Das hat ihm auch in Polen viel
Ärger eingebracht. Die polnische Gesellschaft ist viel zu freiheitsliebend, als dass
sie sich durch organisierten Rechtsradikalismus auf Dauer fangen ließe.
SPIEGEL: Nochmals: Im Falle von Österreich
waren Sanktionen gerechtfertigt, bei Polen
sind sie es nicht?
Schwan: Bei Haider konnte ich sie nachvollziehen. Polen würde man durch Sanktionen eher in größere Turbulenzen stürzen. Wir müssen im Kopf behalten, dass
die Demokratie dort noch nicht wirklich
gefestigt ist. Eine Isolation würde das Land
in eine gefährliche Krise stürzen.
SPIEGEL: Verteidigungsminister Radoslaw
Sikorski hat gesagt, dass ihn die Planung
der Ostseepipeline von Russland nach
Deutschland an das Vorgehen beim HitlerStalin-Pakt erinnere.
Schwan: Das war ein krasser Missgriff.
SPIEGEL: Welches Signal könnte Bundespräsident Horst Köhler in Polen für diese
neue Phase der deutsch-polnischen Beziehung setzen, wenn er am Donnerstag nach
Warschau fährt?
Schwan: Der Bundespräsident hat bislang
eine sehr gute Rolle gespielt, indem er unprätentiös, ruhig, mit echter Zuwendung
zugehört hat, eigene deutsche Positionen
geklärt und auf gemeinsame Chancen in
der EU hingewiesen hat. Genau so sollte er
weitermachen.
SPIEGEL: Rechnen Sie damit, dass das neue
Kabinett in Warschau sich lange hält?
Schwan: Ich habe große Schwierigkeiten
zu glauben, dass diese Regierung eine langfristige und in sich schlüssige Politik entwerfen und durchsetzen kann. Deshalb
bezweifle ich auch, dass sie von langer
Dauer ist.
Interview: Ralf Beste
Deutschland
SICHERHEITSPOLITIK
Angriff des Verteidigers
Mit einer neuen Sicherheitsdoktrin profiliert sich Verteidigungsminister Jung als strammer Konservativer. Den Entwurf
seines SPD-Vorgängers ließ er umschreiben, kürzen und verschärfen.
äußerer Sicherheit getrennt werden. „Daher braucht man im Grundgesetz eine
Klarstellung“, sagte Jung.
Mit wenigen Sätzen hatte der Verteidigungsminister unter Beweis gestellt, dass er
das Holzen auch im neuen Amt nicht verlernt hat. Der Koalitionspartner heulte erwartungsgemäß auf. „Ich warne vor einer
Diskussion, die statt Sicherheit Unsicherheit produziert“, schimpfte SPD-Chef Kurt
Beck umgehend aus Mainz, und der sozialdemokratische Verteidigungsexperte
Rainer Arnold ging sofort zum Gegenan-
HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
I
Jung-Vorgänger Struck
Angestaubtes Papier im Panzerschrank
INGO WAGNER / DPA
n seinem früheren Leben galt der hessische Landespolitiker Franz Josef Jung
eher als rauflustig: In der Fußballmannschaft des Landtags spielte er auf
dem linken Flügel, im Parlament holzte er
bevorzugt rechts. Gnade kannte er dabei
selten, so dass der (auch nicht gerade zimperliche) Grüne Joschka Fischer einst giftete, der Christdemokrat stürme in der
„Stahlhelmtruppe“ um Roland Koch. Der
hessische Ministerpräsident beschrieb die
Rolle seines Vertrauten dagegen so: „Einer
muss die Pfeile auf sich ziehen.“
In seinem neuen Leben ist es ruhig um
Franz Josef Jung geworden. Zwar dient er
bereits seit knapp sechs Monaten Kanzlerin Angela Merkel als Verteidigungsminister, aber bislang ist der bekennende Konservative öffentlich kaum aufgefallen.
Doch in der vergangenen Woche beendete Jung die lautlose Phase seiner Amtszeit.
Vor einem Schnellboot der Bundesmarine ging der Verteidigungsminister am
vergangenen Freitag überraschend zur Attacke über. „Wir müssen mit Terrorangriffen rechnen, die vergleichbar sind mit kriegerischen Angriffen früherer Art“, diktierte Jung den Reportern in den Block. Ein
derartiger Angriff sei auch als Verteidigungsfall zu werten. In Deutschland könne
nicht mehr strikt zwischen innerer und
griff über: „Die Ausweitung des Verteidigungsfalls halten wir für falsch, gefährlich
und nicht sachgemäß.“
Leichter hat es ein Minister selten gehabt, sich zu profilieren. Seine Partei sehnt
sich danach, dass der SPD endlich Grenzen
aufgezeigt werden, doch die eigene
Führungsmannschaft hat diese Erwartung
enttäuscht.
In dieses Vakuum ist nun Jung vorgestoßen, der bislang so unauffällige Abgesandte des Merkel-Rivalen Koch. Mit wenigen Bemerkungen hat er die konservative Flagge gehisst und den Parteifreunden
demonstriert, dass er bereit ist, notfalls
auch allein den Konflikt mit dem Koalitionspartner zu suchen.
Der Vorstoß des Verteidigungsministers
ist alles andere als spontan. Bereits seit
Monaten hat Jung unter strengster Geheimhaltung seinen Planungschef Ulrich
Schlie, einen gelernten Historiker, ein 106Seiten-Papier ausarbeiten lassen, das den
Minister wieder zurück in die politische
Auseinandersetzung katapultieren sollte.
Mit dem „Weißbuch zur Sicherheitspolitik Deutschlands und
zur Zukunft der Bundeswehr“
legt Jung ein Grundsatzdokument vor, in dem die offizielle
Sicherheitsdoktrin der neuen
Regierung festgelegt werden
soll.
Seit 1994 hat es keines dieser
amtlichen Strategiedokumente
mehr gegeben, die im Kalten
Krieg noch ziemlich regelmäßig
erschienen waren. Ein Entwurf Rudolf Scharpings kam
nicht weit, weil der Sozialdemokrat 2002 entlassen wurde.
Nachfolger Peter Struck scheiterte an Außenminister Joschka Fischer. Der wollte auf keinen Fall die Wehrpflicht festschreiben lassen.
Doch Strucks Entwurf überlebte angestaubt im Panzerschrank des Verteidigungsministeriums. Jung suchte gezielt den
Konflikt mit dem sozialdemokratischen Koalitionspartner –
und ließ das Struck-Papier umschreiben, kürzen und an entscheidenden Stellen verschärfen. Vor allem der außenpolitische Entwurf seines Vorgängers
müsse „essentiell“ verändert
werden – hin zu einer „werteund interessenorientierten Sicherheitspolitik“.
Das Ergebnis sind eine deutlich pessimistischere Einschätzung der Weltlage – und bisweilen nationalistische Töne.
Hatte der rot-grüne Entwurf
zum Beispiel die Globalisierung
auch als „große Chance“ beschrieben, politisch an der Ge-
Minister Jung, Marinesoldaten: „Man braucht im Grundgesetz eine Klarstellung“
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PATRICK LUX / DPA
Deutschland
Hochwasser-Einsatz in Dannenberg: Ministerium für Heimatschutz nach US-Vorbild?
staltung einer friedlichen Welt mitzuwirken, so sieht Jung darin nur noch „Risiken
und Gefährdungen“. Rot-Grün benannte
Freiheit, Würde und soziale Gerechtigkeit
als „oberste Ziele“ der Regierung. Für
Jung geht es mit nationalem Pathos darum,
„Recht und Freiheit des deutschen Volkes
zu verteidigen“ sowie „Sicherheit und
Schutz der Bürger zu gewährleisten“.
Neben Terrorismus, „Störungen der
Rohstoff- und Warenströme“ oder Seuchen
sollen nun auch Flüchtlinge und „unkontrollierte Migration“ von Ausländern als
Bedrohung deutscher Sicherheit zählen.
So hatte Jung schon den geplanten KongoEinsatz damit verteidigt, man müsse den
Zustrom von Afrikanern nach Europa eindämmen.
In seinen Katalog nationaler Interessen
nahm Jung gleich den „ungehinderten
Welthandel“ mit auf. Um deutsche Interessen zu wahren, gelte es eben auch „militärische Mittel“ einzusetzen und sich
„insbesondere Regionen, in denen kritische Rohstoffe und Energieträger gefördert werden, zuzuwenden“, heißt es ganz
auf Linie der aktuellen US-Politik.
Der Verteidigungsminister will aber
nicht nur in der Außenpolitik einen Kurswechsel. Ganz im Sinne seines Parteifreunds und Innenministers Wolfgang
Schäuble wirbt er nun dafür, alle Geheimdienste und Sicherheitsbehörden zu „vernetzen“ und die Verfassung zu modifizieren, um die Bundeswehr leichter im Inneren einsetzen zu können.
Jung möchte dazu nicht nur den Artikel
35 des Grundgesetzes ändern, der Hilfe
der Militärs bei Naturkatastrophen oder
Unglücken regelt. Er will auch den Begriff
der „Verteidigung“ neu definieren. Es seien Terroranschläge „Realität“ geworden,
die sich „mit dem herkömmlichen Begriff
des Verteidigungsfalls gleichsetzen lassen“.
Den Forderungen Schäubles kommt
Jung ein großes Stück entgegen: Die Bundeswehr müsse tätig werden können, wenn
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nur sie über die „erforderlichen Fähigkeiten verfügt, um den Schutz der Bevölkerung oder kritischer Infrastruktur zu gewährleisten“. Der Begriff „kritische Infrastruktur“ ist weit gefasst: Atomkraftwerke
gehören dazu, Rechenzentren, Staudämme, Flughäfen oder Gaspipelines.
Um die Zusammenarbeit von Militär
und zivilen Behörden zu stärken, entwickelt Jung zudem weitreichende Vorschläge für einen völlig neuen Sicherheitsapparat. „Alle Institutionen der staatlichen
Sicherheitsvorsorge“ – gemeint sind Polizei, Geheimdienste, Militär und Katastrophenschutz – sollen ihre Arbeit danach
in sogenannten nationalen Schutzzentren
koordinieren. Die wolkige Formulierung
lässt offen, ob Jung so ein „Ministerium
für Heimatschutz“ nach amerikanischem
Vorbild anstrebt.
Dass der Koalitionspartner SPD die
Vorschläge als Angriff empfindet, bekam
Jung schon vergangenen Montag bei einem Frühstück mit Kabinettskollegen
zu spüren. Außenminister Frank-Walter
Steinmeier warnte davor, das hergebrachte „Ressortprinzip“ und die Trennung
von innerer und äußerer Sicherheit zu
„durchbrechen“. Justizministerin Brigitte Zypries bekräftigte, ein BundeswehrEinsatz im Inneren „ist mit uns nicht zu
machen“.
Kaum waren im Lauf der Woche Auszüge aus dem Jung-Papier publik geworden, legte SPD-Fraktionsvize Walter Kolbow vergangenen Freitag noch einmal
nach: „Für eine Militarisierung des Denkens und Handelns stehen die Sozialdemokraten nicht zur Verfügung.“ Das
Weißbuch müsse mit den SPD-Ressorts abgestimmt werden. Wenn das nicht einvernehmlich gelinge, weil Jung auf seinen Positionen beharre, so der vormalige Parlamentarische Staatssekretär im Wehrressort,
„dann gibt es eben kein Weißbuch“.
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Alexander Szandar,
Konstantin von Hammerstein
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Deutschland
Strafgefangene im offenen Vollzug
in Prozent, ausgewählte Bundesländer
32,9
BERND WÜSTNECK / PICTURE-ALLIANCE / DPA
30,6
1996
2004
Quelle: Dünkel/Kunkat, destatis
29,0
31,3
31,2
27,3
14,6
13,1
10,1
7,5
9,5
3,0
Berlin
Nordrhein- Thüringen Hamburg
Westfalen
Hessen
SchleswigHolstein
Gefängnis (in Mecklenburg-Vorpommern): „Eklatanter Rechtsbruch“
Wettlauf der
Schäbigkeit
Jedes Bundesland soll künftig entscheiden dürfen, wie es seine Häftlinge behandelt – Experten warnen
vor „drohender Kleinstaaterei“.
I
m kleinen Kreise hadert Hessens Justizminister Jürgen Banzer, 51, schon
mal mit seinem Hardliner-Image: „Ich
bin in meiner Partei eigentlich ein Liberaler“, behauptet der Christdemokrat. Die
Forderung der Hessen-CDU nach dem
„härtesten Strafvollzug Deutschlands“
habe er sich nie zu eigen gemacht, er rede
lieber vom „erfolgreichsten Strafvollzug“.
Und Erfolg werde er schon haben, wenn
das Land erst komplett selbst bestimmen
dürfe, wie es mit Verbrechern umspringt.
Was sich Banzer und einige seiner
Amtskollegen etwa aus Bayern, BadenWürttemberg, Hamburg oder Niedersachsen sehnlich wünschen, ist für andere eine
Horrorvision: Im Zuge der Föderalismusreform soll die Gesetzgebungskompetenz
für den Strafvollzug vom Bund auf die
16 Länder übergehen. In dieser Woche
wollen Bundesrat und Bundestag dazu Experten anhören. Mehrere, wie der Rechtswissenschaftler Bernd Maelicke von der
Universität Lüneburg, warnen schon jetzt
vor einer drohenden „Kleinstaaterei“ mit
einem Wust von regionalen Regelungen
und populistischen Verschärfungen.
An seiner Seite weiß Maelicke die
Praktiker von Richterbund und Anwaltsverein, Anstaltsleiter und Vollzugsbedienstete, Bewährungshelfer und Gefängnisseelsorger. Fachpolitiker wie der Kieler
Justizminister Uwe Döring (SPD) befürchten, die chronisch klammen Länder könnten eigene Strafvollzugsgesetze vor allem
dazu nutzen, bei teuren Sozialtherapien
56
oder Vollzugslockerungen den Rotstift blockiert. Ohne ausreichende Begründung,
anzusetzen.
befand das Gericht und entschied, dass „unAllenfalls am Rande jedoch dürfte bei verzüglich mit dem Einstieg in Lockerungsder Anhörung zur Sprache kommen, dass maßnahmen begonnen werden muss“. Doch
vieles davon sich längst eingeschlichen hat: darauf, sagt der Rechtsvertreter des HäftWer beispielsweise in einen Hamburger lings, Bernhard Schroer, „warten wir bis
Knast einfährt, muss schon heute mit weit- heute“ – die Behörden ließen sich immer
aus strikteren Haftbedingungen rechnen neue Auflagen einfallen.
als ein Häftling in Berlin. Denn auch ohne
Kein Einzelfall, meinen Anwälte, die
eigene Gesetze gehen die Länder mit Hil- Ende März beim 30. Strafverteidigertag in
fe von Verordnungen im Strafvollzug un- Frankfurt am Main eine „Renitenz der
terschiedliche Wege – und nehmen es da- Vollzugsexekutive gegenüber der rechtbei manchmal sogar mit Gerichtsurteilen sprechenden Gewalt“ beklagten. Das Pronicht mehr genau.
blem: Wer hinter Gittern sitzt, hat keinen
„Der Wettlauf der Schäbigkeit hat längst Hebel, Entscheidungen gegen die Anstalt
begonnen“, klagt Frieder Dünkel, Krimi- auch durchzusetzen. „Es gibt im Strafvollnologie-Professor aus Greifswald. Nord- zug keine Möglichkeit der Vollstreckung,
rhein-Westfalen oder Berlin gewähren nach etwa durch einen Gerichtsvollzieher“, sagt
Dünkels Zahlen relativ viel Hafturlaub Schroer. Die Richter können nach Rechtsoder verlegen Gefängnisinsassen in den lage nicht einmal Zwangsgelder gegen Anoffenen Vollzug, um sie auf das Leben in staltsleiter verhängen.
Freiheit vorzubereiten. Hamburg und HesSo beklagte im vergangenen Dezember
sen hingegen, die vor zehn Jahren noch das Gießener Landgericht die Weigerung
rund ein Drittel ihrer Gefangenen im offe- der Vollzugsbehörde, gerichtlichen Entnen Vollzug untergebracht hatten, haben scheidungen zu folgen. Angesichts des
die Anzahl dieser Plätze seitdem mehr als „eklatanten Rechtsbruchs“ wussten sich
halbiert (siehe Grafik). In Bayern und ost- die Richter nicht mehr anders zu helfen, als
deutschen Ländern war offener Vollzug einem Häftling in Butzbach zu raten, sich
schon immer selten – obwohl alle Länder an die Abgeordneten des Hessischen Landdemselben Strafvollzugsgesetz und der tags zu wenden – oder besser noch an „die
Pflicht zur Resozialisierung unterliegen.
Presse und sonstige Medien“.
Doch in der Praxis, klagt Barbara SauerDas Wiesbadener Justizministerium beKopiƒ von der Vereinigung Hessischer Straf- hauptet, dass es Gerichtsentscheidungen
verteidiger, böten nicht einmal Gerichts- „ohne Wenn und Aber“ akzeptiere. In Einentscheidungen Gewähr dafür, dass Locke- zelfällen seien lediglich „individuelle Fehrungen auch umgesetzt werden. „Immer ler bei der Umsetzung“ gemacht worden.
wieder“ würden Häftlingen die von Gut- Minister Banzer glaubt, den Strafvollzug
achtern und Gerichten gefordermit eigenen Gesetzen sicherer
ten Erleichterungen und Entlasmachen zu können. Darüber
sungsvorbereitungen versagt.
hinaus könne man aber auch
viel für die Häftlinge tun, etwa
Im nordhessischen Schwalmdurch eine bessere Berufsausbilstadt etwa erstritt ein 59-Jähriger,
dung in den Haftanstalten.
einsitzend unter anderem wegen
Das aber könnte der MinisKörperverletzung, Anfang Noter auch heute schon, wenn er
vember, dass sein Sozialverhalten
denn wollte: per einfacher Verdurch begleitete Ausgänge erordnung – und durch das Beprobt werden solle. Diese Haftreitstellen des dafür nötigen Gellockerung wurde nach Feststeldes.
lung des Landgerichts Marburg Minister Banzer
Matthias Bartsch,
vom Wiesbadener Ministerium Fehler im Vollzug Caroline Schmidt, Markus Verbeet
ARNE DEDERT / PICTURE-ALLIANCE / DPA
JUSTIZ
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Deutschland
SPI EGEL-GESPRÄCH
„Wir brauchen einen langen Atem“
Der scheidende Generalbundesanwalt Kay Nehm
über das schwierige Verhältnis zur Politik und den Kampf gegen den Terrorismus
SETH MCALLISTER / AFP
ANTONIO BELLO / THEMA
dem Sie die Ermittlungen an sich ziehen.
Was ist Ursache, was Wirkung?
Nehm: Die Diskussion ist nicht durch uns in
Gang gekommen, sondern durch Politikeräußerungen. Das mediale Echo spielt nach
der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes eine nicht unwesentliche Rolle. Wenn
die überregionale Reaktion im Potsdamer
Fall gleich null gewesen wäre, hätten wir
das Verfahren nicht übernehmen dürfen.
SPIEGEL: Als Neonazis 1992 in Rostock mit
Molotowcocktails ein Flüchtlingsheim attackierten, hat Ihre Behörde sich herausgehalten. Mussten Ihre Beamten erst lernen, wie groß die Gefahr von rechts ist?
Nehm: Ohne Kollegenschelte zu betreiben
– die Brandanschläge sind damals zum Teil
in der deutschen Justiz nicht mit der gebotenen Sorgfalt als versuchter Mord beChefermittler Nehm: „Kritik von allen Seiten ausgesetzt“
wertet worden. Seither hat es aber einen
Denkprozess gegeben, sowohl beim BunNehm, 65, leitet seit 1994 die Bundesan- Hintergrundes besonders berufen sind? Im desgerichtshof als auch bei uns. Der Staat
waltschaft in Karlsruhe. Der parteilose Übrigen ist es nicht Aufgabe eines Innen- wird nicht erst dann gefährdet, wenn sich
Jurist wird am 31. Mai von Monika ministers, sich aus den Ermittlungen un- eine staatsfeindliche Organisation gebildet
Harms, bisher Richterin am Bundesge- terrichten zu lassen, um uns dann zu hat. Er wird ebenso durch Einzelne bekritisieren.
richtshof, abgelöst.
droht. Wenn Menschen aus anderen KulSPIEGEL: Sie begründen Ihre Zuständigkeit turkreisen oder mit anderer Hautfarbe
SPIEGEL: Herr Nehm, hat der Generalbun- auch mit der hohen öffentlichen Aufmerk- durch fremdenfeindliche Übergriffe das
desanwalt ein gestörtes Verhältnis zu deut- samkeit. Schönbohm argumentiert dage- Gefühl vermittelt wird, manche Regionen
schen Innenministern?
gen, Sie schüfen dieses Interesse erst, in- seien für sie nicht betret- oder bewohnbar,
Nehm: Nein. Wie kommen Sie darauf?
ist die innere Sicherheit ebenSPIEGEL: Brandenburgs Innenminister Jörg
so in Gefahr wie durch die
Schönbohm hat Ihnen unlängst Fehler vorBildung einer terroristischen
geworfen, weil Sie die Potsdamer ErmittVereinigung.
lungen gegen zwei Verdächtige an sich geSPIEGEL: Auch die Gefahr
zogen haben, die einen Deutsch-Äthiopier
durch islamistischen Terror
halbtot geprügelt haben sollen. Solche Kriwurde lange unterschätzt. Im
tik hat es schon häufiger gegeben.
Jahr 2000, also vor den Anschlägen des 11. September,
Nehm: Ein Generalbundesanwalt ist nun
drängte das Bundeskriminaleinmal dem Risiko ausgesetzt, von allen
amt (BKA) auf ein ErmittSeiten kritisiert zu werden.
lungsverfahren, um die deutSPIEGEL: War es denn richtig, dass Sie das
sche Struktur von al-Qaida
Verfahren an sich gezogen haben?
aufzuklären. Warum haben
Nehm: Die in einer Mailbox-Aufzeichnung
Sie sich damals geweigert?
festgehaltenen fremdenfeindlichen Äußerungen begründeten eindeutig den AnNehm: Das trifft so nicht zu.
fangsverdacht für ein Staatsschutzdelikt.
Wir ermitteln seit Mitte der
Also waren wir und nicht die Landesneunziger Jahre gegen Islamisstaatsanwaltschaft zuständig, unabhängig
ten. Bei dem von Ihnen angevom späteren Ergebnis der Ermittlungen.
sprochenen Fall ging es nicht
Es ist eine Erfahrungstatsache, dass der
um al-Qaida, sondern um ein
Staatsschutzcharakter eines Delikts nur
bestimmtes Verfahren …
von uns sachgerecht beurteilt werden
SPIEGEL: … gegen den in
kann. Glauben Sie denn ernsthaft, dass
Hamburg lebenden DeutschBeamte eines Landes, das den AnfangsSyrer Mamoun Darkazanli,
verdacht eines Staatsschutzdelikts nicht
der Geschäfte für Osama Bin
wahrhaben will, zur Aufklärung dieses Anschläge vom 11. September 2001: Zu spät ermittelt?
Laden gemacht haben soll.
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ALEX GRIMM / REUTERS
Deutschland
Mutmaßlicher Schläger aus Potsdam*: „Bedrohung durch Taten Einzelner“
Nehm: Rechtlich bestand dazu keine Mög-
zweimal vorgelegt. Wir haben uns gegen
die Einleitung eines Verfahrens entschieden, weil wir einhellig der Meinung waren,
dass eine Übernahme der in Hessen geführten Ermittlungen aus Rechtsgründen
nicht in Betracht kam.
SPIEGEL: Dafür sind Sie vom damaligen
SPD-Bundesinnenminister Otto Schily massiv kritisiert worden.
Nehm: Eine solche Kritik ist mir nicht bekannt. Im Übrigen kann ein Generalbundesanwalt seine Berufsehre nicht aufs Spiel
setzen, weil Politiker bestimmte Erwartungen an die Justiz haben. Würden wir
diesen Erwartungen entsprechen, wäre
spätestens beim Ermittlungsrichter Schluss.
SPIEGEL: Auch Kanzleramt und Justizministerium haben Ihnen in einer Sitzung am
3. Oktober 2001 heftige Vorwürfe gemacht.
Nehm: Ich werde mich nicht zu vertraulichen Sitzungen äußern. Nur so viel: Wenn
man dort der Meinung gewesen wäre, ich
hätte aus rechtlichen oder tatsächlichen
Gründen falsch entschieden, hätte man
mich ohne weiteres anweisen können.
SPIEGEL: Haben Sie damals eine Weisung
bekommen?
Nehm: Nein.
SPIEGEL: Sie hätten lieber eine Weisung gehabt?
Nehm: Das hätte zumindest die Verantwortlichkeiten klargestellt. Im Übrigen hat
sich die Angelegenheit dann dadurch geklärt, dass neue Informationen einen Anfangsverdacht begründet haben.
SPIEGEL: Vor dem Untersuchungsausschuss
des Bundestages, der nun die Praxis der
Sicherheitsbehörden im Kampf gegen den
Terrorismus beleuchtet, werden Sie dazu wohl als Zeuge aussagen müssen. Empfinden Sie es rückblickend als Fehler,
nicht früher gegen al-Qaida ermittelt zu
haben?
lichkeit. Damals war die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland
nicht strafbar. Das hat sich erst im Jahr
2002 geändert.
SPIEGEL: Die Bilanz der Ermittlungen zum
11. September ist ernüchternd: Der Hamburger Abdelghani Mzoudi wurde freigesprochen, im Verfahren gegen Mounir alMotassedeq hob der Bundesgerichtshof das
erste Urteil auf. Was lief schief?
Nehm: Wenn Sie die Urteile sorgfältig lesen, ist das Ermittlungsergebnis um die
Hamburger Terrorzelle erstaunlich gut ausgefallen. Wir wissen sehr genau, was Mohammed Atta und seine Gesinnungsgenossen gemacht haben. Aber wir hatten massive Probleme mit zwei Gefangenen …
SPIEGEL: … den Qaida-Strategen Chalid
Scheich Mohammed und Ramzi Binalshibh, die bis heute von den USA an einem
geheimen Ort festgehalten werden.
Nehm: Beide standen uns nicht zur Verfügung, obwohl sie wichtige Zeugen gewesen
wären. Ich bin sogar in die USA gereist
und habe versucht, die Vernehmung in
Deutschland oder anderenorts zu ermöglichen. Leider haben wir keinen Erfolg gehabt. Das hat das Verfahren sehr erschwert. Wir haben uns bemüht, mit dem
Problem nach den Regeln der deutschen
Strafprozessordnung umzugehen. Wenn
ACTION PRESS (L.); ULRICH PERREY / DPA (R.)
Nehm: Diesen Komplex hat das BKA uns
Islamisten Motassadeq, Mzoudi
* Am 21. April nach der Vernehmung in Karlsruhe.
60
Abfuhr aus Amerika
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ein Gericht dabei unseren Vorstellungen
nicht folgt, haben wir das hinzunehmen.
Den unglücklichen Eindruck, der dadurch
entstanden ist, sollte man nicht der Bundesanwaltschaft in die Schuhe schieben.
Im Übrigen: Das Motassadeq-Verfahren ist
noch nicht beendet. Wir werden in der Revision versuchen, erneut eine Verurteilung
wegen Beihilfe zum Mord zu erreichen.
SPIEGEL: Sind die Amerikaner schuld an
den Schwierigkeiten?
Nehm: Hier muss man zwischen den Nachrichtendiensten und der Justiz unterscheiden. Die amerikanischen Staatsanwälte haben die gleichen Schwierigkeiten wie wir.
Offensichtlich hatten dort die Interessen
der Geheimdienste Vorrang. Diesen ging es
primär nicht um die juristische Aufarbeitung der Terroranschläge.
SPIEGEL: Wie stehen Sie dazu, dass deutsche Beamte den von der CIA entführten
Deutsch-Syrer Mohammed Zammar in einem Foltergefängnis verhört haben?
Nehm: Herr Zammar ist freiwillig ausgereist, was sein gutes Recht ist, denn einen
deutschen Haftbefehl gab es nicht. Mit seinem weiteren Schicksal hat die Bundesanwaltschaft nicht das Geringste zu tun.
SPIEGEL: Das stimmt nicht ganz. Sie haben
das BKA mit den Ermittlungen gegen Zammar beauftragt – und BKA-Leute gehörten
zur Verhördelegation in Damaskus. Das
BKA hat Ihnen anschließend die Befragungsergebnisse zugeleitet. Sie waren also
unterrichtet. Halten Sie es für richtig, Zammar in Damaskus zu befragen?
Nehm: Die Frage stellt sich nicht.
SPIEGEL: Wir stellen sie.
Nehm: Zum Fall Zammar will ich mich
nicht weiter äußern. Sie wissen, dass sich
der Untersuchungsausschuss dieser Problematik annehmen wird. Ich lege aber
Wert auf die Feststellung, dass die Bundesanwaltschaft in Damaskus nicht tätig
geworden ist und auch keinen Auftrag zu
dieser Befragung erteilt hat. Auf einem anderen Blatt steht, was mit den gewonnenen
Erkenntnissen zu geschehen hat. Sie können nicht von der Herkunft einer Aussage
auf die Rechtswidrigkeit ihrer Verwendung
schließen. Wenn Sie die Rechtswidrigkeit
eines Vorganges prüfen, müssen Sie ihn
erst einmal zur Kenntnis nehmen.
SPIEGEL: Wären Sie mitgeflogen, wenn man
Sie gefragt hätte?
Nehm: Nein. Mit Sicherheit nicht.
SPIEGEL: Bei Darkazanli, einem Bekannten
der Todespiloten, reicht es bis heute nicht
für eine Anklage. Der spanische Untersuchungsrichter Baltasar Garzón hatte dagegen keinerlei Probleme, einen Haftbefehl
auszustellen. Zaudern Sie zu lange?
Nehm: Davon kann überhaupt keine Rede
sein. Andere Länder, andere Gesetze. Die
Spanier haben einen anderen Begriff der
terroristischen Vereinigung als wir. Mit solchen Unterschieden muss man in Europa
leben. Im Übrigen rate ich zur Zurückhaltung bei der Kritik: Ich habe in New York
Deutschland
dere zu Unrecht anschwärzen könnten, nur
um Strafrabatt zu bekommen.
Nehm: Diese Gefahr ist eine theoretische.
Bei Drogendelikten gibt es schon lange eine
Kronzeugenregelung, die sich bewährt hat.
Sie wird in deutschen Gerichtssälen tagaus,
tagein gehandhabt. Mir ist kein Fall in Erinnerung, in dem ein Mitbeschuldigter nachweislich zu Unrecht angeschwärzt wurde.
SPIEGEL: Der Fall des Qaida-Aktivisten Shadi Abdallah, der sich 2003 im Verfahren
gegen Mitglieder der Terror-Organisation
al-Tawhid als Kronzeuge anbot, hat doch
gezeigt, dass Ankläger auch ohne Gesetz
mildere Urteile bewirken können.
Nehm: Nein, wir haben als Ankläger nichts
anbieten können. Abdallah war ein
Glücksfall. Er konnte auch ohne diese
rechtlich verbindlichen Garantien überzeugt werden, dass seine Kooperationsbereitschaft im Urteil zu seinen Gunsten
berücksichtigt wird. Viele Angeklagte sind
aber nur dann bereit zu reden, wenn man
ihnen von vornherein verbindlich etwas
anbieten kann.
SPIEGEL: Auf die Höhe des Strafrabatts
kommt es also weniger an?
Nehm: Die feste Zusage ist das eigentlich
Wichtige. Ein Beschuldigter muss wissen,
dass er mit einer reduzierten Strafe rechnen kann, wenn er uns hilft.
SPIEGEL: In den Gefängnissen sitzen noch
vier Ex-Mitglieder der RAF, darunter
Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt. Sie
haben unlängst mit dem Bundespräsidenten über eine Begnadigung gesprochen.
Wäre es an der Zeit, einen Schlussstrich zu
ziehen und die beiden freizulassen?
Nehm: Es ist ein guter Brauch, dass sich die
Bundespräsidenten zu dieser Frage vom
Generalbundesanwalt unterrichten lassen.
Zu Einzelheiten möchte ich mich nicht
äußern, weil über Begnadigungen der Bundespräsident entscheidet. Allgemein ist festzustellen, dass die Rechtslage in den letzten
Jahrzehnten für Entspannung gesorgt hat.
Lebenslang bedeutet nicht mehr unbedingt
lebenslang. Auch ein Lebenslänglicher
muss wissen: Es hat irgendwann ein Ende –
er muss deshalb an dem Ziel der Resozialisierung mitarbeiten. Das gilt auch für die
von Ihnen angesprochenen Verurteilten.
SPIEGEL: Nach Anweisung der damaligen
Bundesjustizministerin Herta DäublerGmelin mussten Sie Interviews im Ministerium zur Genehmigung vorlegen.
Sie haben deshalb lange nicht mehr
offen mit der Presse gesprochen.
Nehm: Ein Spitzenbeamter der
Staatsanwaltschaft legt seine Interviews nicht vor. Im Übrigen: Fragen
Sie diejenigen, denen eine solche
Anweisung zugeschrieben wird.
SPIEGEL: Lassen Sie sich dieses Gespräch in Berlin absegnen?
Nehm: Nein.
SPIEGEL: Herr Generalbundesanwalt,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
Nehm, SPIEGEL-Redakteure*: Lücke im Gesetz
* Holger Stark und Dietmar Hipp in Nehms Büro.
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ANTONIO BELLO / THEMA
MIGUEL VILLAGRAN / ACTION PRESS
erfassen ist, bedarf intensiver
Überlegungen.
SPIEGEL: Seit auch die Unterstützung einer ausländischen
Terrorvereinigung strafbar ist,
sind deutsche Ermittler weltweit tätig – etwa nach der Verschleppung von Susanne Osthoff. Wird demnächst das
BKA Kriminelle durch den
Irak jagen?
Nehm: Es ist eine wohl eher
journalistische Vorstellung, dass
wir den Krieg im Irak mit den
Mitteln des Strafrechts fortführen. Dazu wird es sicher
nicht kommen. Wir müssen
darauf hoffen, dass die Heimatstaaten zur Strafverfolgung
bereit sind oder dass wir diese
Beschuldigten im Ausland stelNehm-Kontrahent Schönbohm: Fachlich nicht berufen
len können. Dafür brauchen
wir einen langen Atem.
mit amerikanischen Staatsanwälten auch SPIEGEL: Kommen Sie mit dem neuen Unüber den Fall Darkazanli gesprochen. Da- terstützer-Paragrafen auch zu Verurteibei habe ich die Kollegen gefragt, was sie lungen?
denn tun würden, wenn Darkazanli mor- Nehm: Wir haben seit Inkrafttreten dieser
gen in New York aus dem Flugzeug steigen Vorschrift fünf Anklagen wegen Mitgliedwürde. Die Antwort war eindeutig: nichts. schaft in einer ausländischen terroristiMir scheint, dass die Auseinandersetzung schen Vereinigung erhoben. Davon betrefum die Einleitung eines Ermittlungsver- fen vier Fälle die im Irak bestehende terfahrens von interessierter Seite zu sehr roristische Vereinigung Ansar-e Islam. Ein
hochgepuscht worden ist.
Angeklagter ist rechtskräftig verurteilt, ein
SPIEGEL: Der Tunesier Ihsan Garnaoui, der weiteres Verfahren wegen Mitgliedschaft
2003 offenkundig einen Anschlag in Berlin bei al-Qaida hat gerade vor dem Oberlanvorbereitete, wurde nur wegen Delikten desgericht Düsseldorf begonnen.
wie Waffenbesitz verurteilt. Die Richter SPIEGEL: Bundesjustizministerin Brigitte
trauten V-Mann-Aussagen nicht, die bloße Zypries bereitet derzeit eine Neuauflage
Vorbereitung eines Anschlags durch einen der Kronzeugenregelung vor, die aussageEinzeltäter ist bislang nicht strafbar. Ist ein willigen Mitgliedern von kriminellen und
Phänomen wie al-Qaida überhaupt mit den terroristischen Vereinigungen Strafrabatt
Mitteln des Rechtsstaates zu fassen, oder gewähren soll. Ein richtiger Vorstoß?
Nehm: Sicher. Die alte Regelung war
wünschen Sie sich neue Gesetze?
Nehm: Die Anklage gegen Garnaoui war nicht optimal, aber sie hat zum Beispiel
völlig in Ordnung, sonst hätte sie das Kam- die Aufklärung der Strukturen der kurdimergericht nicht zugelassen. Was die In- schen PKK möglich gemacht. Wir wären
strumentarien betrifft, sollten wir gründlich längst nicht so weit gekommen, wenn
darüber nachdenken, ob wir wirklich neue nicht einige Mitglieder geredet hätten. Das
Gesetze brauchen. Meines Erachtens reicht hat dazu beigetragen, dass die PKK ihdas geltende Recht. Das Problem ist die ge- re terroristischen Anschläge in Deutschgenwärtige, immer noch enge Auslegung land inzwischen aufgegeben hat. Mehr
des Vereinigungsbegriffs. Al-Qaida ist ein kann man sich als Strafverfolger nicht
schwer zu fassendes Gebilde, es spalten sich wünschen.
Kleingruppen oder Einzelpersonen wie SPIEGEL: Der Richterbund, dessen Mitglied
Garnaoui ab, die durch die Welt reisen und Sie sind, warnt davor, dass Verdächtige anAnschläge vorbereiten. Wenn man hier in
einem frühen Stadium zugreift, steht man
als Strafverfolger oft mit fast leeren Händen
da. Für ein klares Beweisbild hat man zu
früh zugegriffen, zum weiteren Abwarten
war aber keine Zeit. Wenn das kein Einzelfall bleibt, ist zu überlegen, wie diese Lücke
geschlossen werden kann. Die Ausbildung
in einem ausländischen Terrorcamp ist ein
Indiz für die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung. Ob dieser Aspekt in
einer rechtsstaatlichen Strafbestimmung zu
Deutschland
KOM M U N E N
V
Kokerei der Zeche Zollverein in Essen: Fliegendes Rathaus am Transporthubschrauber
chenbau einziehen soll. Er inspiziert seine
Baustelle: 45 Millionen Euro Steuergelder
fließen in den Umbau, und doch, fürchtet
er, könne sein Haus als Bauruine enden.
Eine Großausstellung in dem geplanten
Museum ist eines der Kernprojekte für
2010 – in dem Jahr soll Essen, und mit
der Stadt der ganze Kohlenpott, europäische Kulturhauptstadt werden. Aber noch
ist völlig unklar, wer zum Beispiel die
Betriebskosten für Borsdorfs Renommierprojekt bezahlen soll. „Alle möchten irgendwie profitieren vom Kulturhauptstadt-Titel“, klagt der Museumsmann,
„aber wenn’s ans Geld geht, ist vom
64
des alten Reviers zeigen. Sie möchten aus
den Köpfen der Europäer endlich das Bild
von den Kohlengruben tilgen und auch das
neuere von der Jammerregion, die nach
dem Niedergang der Montanindustrie in
Selbstmitleid versank.
Unter dem betulichen Motto „Wandel
durch Kultur – Kultur durch Wandel“
sollen Schöngeister zudem schaffen, was
Politikern nicht gelang: eine geeinte RuhrMetropole mit 5,3 Millionen Einwohnern.
Für den Sieg im Auswahlverfahren haben die Ideen gereicht, doch nun bedroht
das Gezänk ums Geld die in langen Konzepten beschworene, aber noch nie real
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Recklinghausen
Dorsten
Moers
Herne
42
Bottrop
Gelsenkirchen
Oberhausen
Essen
40
Bochum
Duisburg
Krefeld
ACHIM SCHEIDEMANN / DPA
om Dach der alten Kohlenwäsche
der Zeche Zollverein in Essen, aus
40 Meter Höhe, scheint sie zum
Greifen nahe, die Vision einer Ruhrstadt:
Der Gasometer von Oberhausen ist ebenso zu sehen wie die weißglänzende Schalke-Arena Gelsenkirchen und die Essener
City. Bald werde das Ruhrgebiet eine einzige „gigantische Großstadt im Grünen“
sein, schwärmt Ulrich Borsdorf.
Zwei Treppen tiefer holt ihn die Realität
wieder ein. Borsdorf, 61, ist designierter
Direktor des Ruhrmuseums, das in den Ze-
43
3
n
Mit schönen Plänen hat sich
Essen den Titel
„Kulturhauptstadt Europas“
geholt – nun stellt sich
heraus, dass das Geld fehlt.
Lippe
Rhei
Tollkühnes
Manöver
Zusammenhalt des Ruhrgebiets wenig zu
spüren.“
Während Bürger und Politiker in der
Bewerbermetropole Essen in den vergangenen Wochen das Votum der von der
EU-Kommission eingesetzten Jury für die
Kulturhauptstadt Ruhr feierten, macht sich
bei Praktikern wie Borsdorf Ernüchterung
breit. Mit ebenso gewaltigen wie schönen
Plänen haben die Politiker aus dem Revier
Konkurrenten wie Görlitz und Potsdam
aus dem Rennen geschlagen – ein tollkühnes Manöver. Denn für viele der Vorhaben
fehlt das Geld. Und nun kabbeln sich die
Verantwortlichen, wer denn den Spaß
nachher bezahlen soll.
Zehn Leitprojekte wollen die Macher im
Jahr 2010 zu Lande, zu Wasser und in der
Luft verwirklichen. So soll das Ruhrgebiet
ein „Fliegendes Rathaus“ als mobile Mitte
bekommen, das womöglich mit Hilfe von
Transporthubschraubern den Ort wechseln
wird. Besucher, so eine weitere Idee, sollen
in Stollen in bis zu 1000 Meter Tiefe digitale Kunst erleben. Und auf der Ruhr
könnten 25 große Kunstinseln schwimmen.
Die Tourismusstrategen des Ruhrgebiets
wollen der Welt die pralle Kulturlandschaft
Mülheim
Ruhr
Zeche Zollverein
10 km
existierende Einheit der 53 Ruhrkommunen. Eine „gerechte Verteilung der Fördermittel“ mahnt etwa Horst Schiereck
(SPD), Oberbürgermeister von Herne, an.
Essen dürfe nicht „den Großteil des Geldes
einstreichen“. Der Essener Kulturdezernent und Bewerbungskoordinator Oliver
Scheytt appelliert bereits, die Lokalfürsten
dürften die Chancen von 2010 nun bloß
nicht durch Kirchturmdenken verspielen.
Und Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff,
Chef der Düsseldorfer Staatskanzlei und
Kulturstaatssekretär, beklagt schon die
„Subventionsmentalität“ der Ruhrkommunen. Die müssten gefälligst „auch selbst
Geld für 2010 in die Hand nehmen“: „Da
müssen wir noch Klartext reden.“
Reden kann er, aber viel ist da nicht zu
holen: Etliche Städte im Ruhrgebiet haben
einen Nothaushalt. So wie Dorsten, wo
Bürgermeister Lambert Lütkenhorst sogar
die Gehälter der Beamten auf Pump bezahlen muss: „Die Kulturhauptstadt darf
uns keinen Cent kosten“, sagt er.
Ein Basisbudget von 48 Millionen Euro
hat Essen bei der Jury angegeben. Davon
wollen das Land Nordrhein-Westfalen und
der Regionalverband Ruhr jeweils 12 Millionen Euro beisteuern, der Bund 9 Millionen, die Wirtschaft des Ruhrgebiets 8,5
Millionen, die Stadt Essen 6 Millionen und
die EU 500 000 Euro.
Nur: Die Organisatoren rechnen mit Kosten in Höhe von 78 Millionen Euro – das
fehlende Geld muss noch irgendwie hereingeholt werden. Sie hoffen auf Firmen
sowie den Verkauf von Eintrittskarten.
Das ist bisher freilich ziemlich ungewiss,
und außerdem türmen sich weitere Probleme auf: Dem Ruhrmuseum etwa fehlen
jährlich rund vier Millionen Euro für die Betriebskosten – und ein Träger. Auch für die
gesamte Zeche Zollverein – Essener Weltkulturerbe auf einer Million Quadratmeter
Fläche – müssen Träger gefunden werden.
Inzwischen will der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Jürgen Rüttgers
(CDU) in Berlin mehr Geld lockermachen.
Die Idee seiner Leute: Auf jede Million,
die die Essener irgendwo herzaubern, legen Land und Bund je noch eine drauf.
Ob das gelingt, ist allerdings fraglich: Denn
auch die Regierungen müssten dann Geld
hergeben, das nicht da ist. Andrea Brandt
Deutschland
TSV-1860-Fans in München
Das Sterben nur verlängert
FIRO
weiter im gemeinsamen Stadion
spielt, damit der teure Bau besser ausgelastet wird.
Die elf Millionen sind also
kein Geschenk, sondern Teil
eines Schachzugs: Vier Jahre
läuft das Darlehen, verzinst mit
6,5 Prozent, und in dieser Zeit
gehören die Anteile der Sechziger an der neuen Allianz
Arena den Bayern. Jetzt sind
die Roten also alleinige Hausherren in dem funkelnden
Prunkbau im Norden der
Stadt, der je nach Bedarf in die
Farben Rot oder Blau getaucht
werden kann.
Aber die für die „Löwen“,
wie die Sechziger auch genannt werden, einzige Alternative wäre der schnelle Tod
gewesen – kein Geld, keine
Profi-Lizenz. Und das Risiko ist auch jetzt
noch groß: Kann das Geld nicht zurückgezahlt werden, sind die Anteile der
Löwen an dem 340 Millionen Euro teuren
Stadion wohl für immer futsch. Jetzt
können die Löwen mit den elf Millionen
gerade mal die dringlichsten Verbindlichkeiten begleichen und haben nur das
Sterben etwas verlängert.
„Lieber wär i g’storben, als dass i von de
Rot’n a Geld nimm“, flucht Helmut, ein
korpulenter Mittfünfziger, der sich auf den
linken Bizeps einen riesigen Löwen hat
tätowieren lassen. Und Hans Hartl überlegt, ob sie das Management nicht wegen
Betrugs anzeigen sollten: Schließlich habe
man sogar den Delegierten des Vereins den
Schuldenberg verschwiegen.
Der Schlamassel ist typisch für Fußballvereine, die von ganz unten regiert
werden, von der Heerschar der aufgeheizten Anhänger. Um oben mitzuspielen, glauben sie nahezu jedem Messias,
der die Meisterschale verspricht und
nachher stattdessen Millionen versenkt.
Sie sind leichte Beute für populistische
Verführer, die vom Fußball wenig Ahnung
haben, aber als vermeintliche Heilsbringer
auf dem Präsidententhron ihr eigenes
Süppchen kochen.
So hievten die Löwen etwa
1974 den CSU-Mann Erich
Riedl an die Spitze, der dort
vor allem Wählerstimmen sammelte und einen Schuldenberg
anhäufte, der die Sechziger die
Bundesligalizenz kosten sollte.
Und während beim FC Bayern
mit Uli Hoeneß und KarlHeinz Rummenigge zwei ehemalige Spitzenspieler und kluge Unternehmer das Vermögen
mehrten, unterwarfen sich die
Blauen dem bulligen Metzger-
FA N K U LT U R
Masochisten mit Herzweh
Ein Millionenkredit rettet den Fußball-Kultverein 1860 München –
das Geld kommt ausgerechnet vom Erzrivalen
FC Bayern. Die Fans empfinden das als unerträgliche Demütigung.
66
entschlossen, den verarmten Feinden zu
helfen.
Diese Demütigung erschüttert derzeit
München und trifft die Fans mitten ins
Herz. Zugleich ist sie symptomatisch für
den Niedergang einer ganzen Szene: Ob in
Köln oder Hamburg – kultige Clubs mit
Underdog-Image gehen in die Knie, weil
gefühlsduselige Fans und selbstherrliche
Präsidenten sie im knallharten Profi-Fußball nicht mehr retten können.
Auch die Manager des FC Bayern sind
weit entfernt von irrationalen Anwandlungen, die bei den Blauen so weit verbreitet
sind. Nur so sind die Bayern geworden,
was sie sind: einer der reichsten Fußballclubs Europas, mit rund 160 Millionen
Euro Festgeld auf dem Konto. Der FCB
ist durchaus daran interessiert, dass 1860
SVEN SIMON
D
ie Stimmung ist ganz unten, die
eigene Mannschaft steckt tief im
Tabellenkeller, aber den Männern
an ihrem Stammtisch im Münchner
Löwenstüberl ist zumindest der Appetit
noch nicht vergangen. Schweinsbraten gibt
es mit Knödeln und zwei, drei dunkle Weizen. Die in weiß-blaue Vereinsfarben gekleideten Fans des kultigen Fußballvereins
TSV 1860 München reden wenig, und
wenn, dann geht es meist um das „Begräbnis“. Gemeint ist, was sie auch den
„Sündenfall“ nennen: dass man, wie es
Hans Hartl vom Fan-Stammtisch nennt,
dem „Teifi d’Hand geben hat müssen“.
Der Pakt mit dem Teufel ist ein Deal
des traditionsreichen Arbeitervereins
ausgerechnet mit dem FC Bayern München, dem Club der Schönen und Reichen, dem Rekordmeister und Dauerpokalsieger, dem FC Beckenbauer. Der
FC Bayern („die Roten“) ist für SechzigerFans („die Blauen“) nicht nur Gegner, er
ist Feind.
Jetzt aber hat ihr Verein sogar elf Millionen Euro Kredit vom Feind nehmen
müssen, und ausgerechnet Bayern-Manager Uli Hoeneß durfte den Blauen Ende
April öffentlich erklären, wie es um den
Verein steht: dass er komplett pleite ist.
Und weil 1860-Geschäftsführer Stefan
Ziffzer nun ehrlich die Zahlen auf den
Tisch gelegt habe, hätte der FC Bayern sich
Allianz Arena: Anteile für immer futsch?
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Deutschland
RETO ZIMPEL
ULLSTEIN BILDERDIENST / HORSTMÜLLER
fen ein kleiner Bub barfuß nach dem Ball
trat: Franz Beckenbauer. Der sollte später
erzählen, dass man in Giesing deshalb so
ein flinker Techniker werden musste, weil
man sich sonst an den Scherben im Sand
die Füße zerschnitten hätte.
Vielleicht wurde das Schicksal der Blauen ja an jenem Tag 1965 entschieden, als
der junge Franz zum ersten Mal in einem
Lokalderby in der Bundesliga auflief – aber
eben nicht für die Sechziger, sondern für
den FC Bayern. Respekt hatten die Löwen
damals noch keinen. Am Saisonende 1966
wurden sie das erste, allerdings auch das
einzige Mal Deutscher Meister, auch dank
Torwartlegende Petar „Radi“ Radenkovic.
Während 1860, der mal in die Bayernliga
zurückrutschte und sich dann wieder an
die Spitze emporkämpfte, der Verein der
kleinen Leute blieb, stiegen die Bayern auf
zum FC Hollywood, dem Club der Siegertypen. Der Verein der Roten war von jeher
kein Auffangbecken für die Arbeiterklasse,
im Gegenteil: 1900 entstand er im Künstlerviertel Schwabing, kickte vornehmlich
mit Studenten und war später den NatioTorwartlegende Radenkovic*: Das erste und einzige Mal Meister
nalsozialisten ein Dorn im Auge, weil in
meister Karl-Heinz Wildmoser und seinem und Fliege auftraten. Da sollte Giesing eine den Reihen der Bayern auch Juden willSohn „Heinzi“. Der Vater führte die Wiege des Fußballs werden: 1911 zogen die kommen waren.
Neben der Fußballlegende Beckenbauer
Löwen zwar in die Bundesliga zurück, Sechziger an die Grünwalder Straße. Dort
doch dann versank 1860 zusammen mit spielten sie bald in einem reinen Fußball- sitzen heute wichtige Menschen wie Minisden Wildmosers im Schmiergeldsumpf um stadion, damals die Ausnahme, wo die terpräsident Edmund Stoiber oder Fraudie Allianz Arena: Sohn Heinzi soll für Fans zu Tausenden an der Außenlinie kleb- enliebling Boris Becker regelmäßig in der
VIP-Lounge. Bei den Löwen schwingen
gute Tipps an eine Baufirma 2,8 Millionen ten, hautnah am Ball.
Euro kassiert haben.
Das „Grünwalder“ wurde nicht nur zur Münchens Stadtoberhaupt Christian Ude
Nach ähnlichem Muster lief es bei Kultstätte Münchens, es wurde zur Hei- und der frühere CSU-Chef Theo Waigel
anderen Großstadtclubs ab, die wie die mat des TSV 1860. Und zu genau dem Fuß- den weiß-blauen Schal, willkommene ProLöwen in München vom Rebellenimage ballplatz, auf dem die tausendprozentigen minenz zwar, aber eben nicht so schillernd.
Doch die reine Wahrheit liegt, wie ein
leben, beim FC St. Pauli in Hamburg etwa, Löwen-Fans jetzt ihren Verein am liebsten
der gegenüber dem HSV auf keinen grü- wieder kämpfen sehen wollen – ein ver- Trainer-Bonmot sagt, auf dem Platz: Kaum
nen Zweig kommt, aller Kiezseligkeit zum querer Heimatbegriff, der im modernen ein Verein in der Ersten oder Zweiten Liga
Trotz. Viel zu lange setzten die Kiez-Kicker Profi-Fußball unweigerlich zu Einnahme- hat in letzter Zeit so oft das Management
auf den Rechtsanwalt Otto Paulick als Ver- verlusten führt. Sie wollen keine eleganten oder die Trainer gewechselt – genützt hat
einschef, der schließlich wegen angeblicher Schalensitze in den blitzblanken moder- es nichts. Teure Spieler und ungünstige Verfinanzieller Ungereimtheiten auffiel. Oder nen Arenen, in die die Besucher hineinge- träge verschlangen Millionen, die erhofften
bei Fortuna Köln – der Verein aus der Köl- hen, als würden sie, wie Ex-Bayern-Spieler Tore und Punkte aber blieben aus. Am Ende
ner Südstadt kämpfte so lange gegen den Paul Breitner bemerkte, eine Oper an- hatte auch Hauptsponsor „Festina“ die Nase
1. FC Köln, bis die Insolvenz unausweich- sehen. „Heimat ist, wo das Herz wehtut“ voll von den „Löwen“ und kündigte.
lich war. Auch die Fortuna wurde von hatten die Anhänger bei einem der letzten
Jetzt hängen sie am Tropf des FC Bayern.
Demagogen ins Elend geführt. Den Club Spiele ihres Clubs im Grünwalder Stadion Gelächter und Hohn begleiten die gebeusah Aufsteiger Jean Löring zeitweise als auf ein Transparent gemalt.
telten Fans durch München. Selbst vom
sein Eigentum an – von der Ära des geGiesing war nach dem Krieg vom geho- noch kleineren Stadtkonkurrenten Unterlernten Elektrikers blieb nur die Legende, benen Wohnquartier zum Arbeiterviertel haching hagelt es Spott: „Ohne Hoeneß wärt
dass er bei einem Flutlichtausfall zwei heruntergekommen, in dessen Hinterhö- ihr gar nicht hier“, brüllen Unterhachings
Kabelenden so lange zusammengehalten
Fans nun gern. Und: „Eigenes
habe, bis sein Club den Sieg unter Dach
Stadion, wir haben ein eigenes
und Fach gebracht hatte.
Stadion.“ Da hilft nur Trotz.
Auch die Münchner Blauen sind KumWährend der FC Bayern vermer gewohnt. Und aus der Rolle der
gangenes Wochenende pomUnderdogs leiten sie ihren Kultstatus ab.
pös einen weiteren deutschen
Dabei waren die Löwen einst die Größten
Titel feierte, behalten die
und einer der ersten Fußballvereine MünStammgäste im Löwenstüberl
chens, entstanden im Stadtteil Giesing.
in Giesing ihre Löwen zuminEs war die Zeit, als hauptsächlich gebildest tief im Herzen: „Mir samdetes Bürgertum der Jagd nach dem Ball
ma Masochisten“, sagt Willi,
folgte und Linienrichter noch mit Anzug
„des muasst sei. Sonst hätt’ ma
uns scho lang in Mühlbach
neigschmissn. Aber traurig
* Im August 1969 mit Löwen-Maskottchen und Mannis.“
schaftskameraden.
Löwen-Fans Hartl, Wagner: „Dem Teifi d’Hand geben“
Conny Neumann
68
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Gesellschaft
Szene
Was war da los,
Herr Piskunow?
„Für mich hat sich durch den Rummel
um den Jahrestag nichts geändert, ich
messe weiterhin die Verstrahlung der
Menschen, die in der Gegend arbeiten,
und entnehme Erdproben auf einem
Versuchsgelände am Rand der Sperrzone. Der Boden soll mit speziellem
Düngemittel rekultiviert werden. In der
Nähe werden Pferde gezüchtet. Die untersuchen wir auch regelmäßig, es geht
ihnen gut. Seit 1992 arbeite ich im
Staatsforst im Schichtdienst: Zehn Tage
bin ich hier, danach für zehn Tage bei
meiner Frau in Minsk. Meine Frau
macht sich Sorgen; ich habe mich an
die Arbeit gewöhnt. Auch wenn hier
noch in 300 Jahren Cäsium und Strontium gefunden werden – ich habe keine Angst. Nach Dienstschluss dusche
ich und lasse meinen Anzug reinigen.“
BI LDBÄNDE
Verlorenes Vergnügen
eit seiner Eröffnung vor circa hundert
Jahren haben sich Künstler und FotoS
grafen für den New Yorker Vergnügungs-
PETER GRANSER
park Coney Island interessiert. Hier sollte ein Traum wahr werden: gleichberech-
Granser-Foto „No Couple“ (2003)
VIKTOR DRACHEV / AFP
Der weißrussische Biologe Wladimir
Semjonowitsch Piskunow, 56, über
seine Arbeit in der Sperrzone von
Tschernobyl
Piskunow beim Messen der Strahlenbelastung
tigte Menschen, die in Riesenrädern
Erholung suchen. Nun rottet der Park
vor sich hin, teils unter Denkmalschutz.
Sein „morbider Charme“ reizte den
österreichischen Fotografen Peter Granser. In seiner gerade in der Tübinger
Kunsthalle ausgestellten und als Bildband erschienenen Coney-Island-Serie
präsentieren sich schrille Besucher vor
pittoresker Kulisse, in
der – wie bei jedem sich
selbst überlassenen Ort –
die menschliche Ordnung
abgeschafft scheint: Menschen waten durch Plastikmüll, Papierkörbe sind
leergefegt. Wo die Karussells sich noch drehen, zeigen Gransers Bilder laut
Katalog die „unbarmherzige Neigung von Einsamkeit und Entfremdung, sich
mitten im
schönsten
Vergnügen bemerkbar zu
machen“.
Peter Granser:
„Coney Island“.
Hatje Cantz Verlag,
Ostfildern; 100 Seiten; 35 Euro.
d e r
CLUBS
Stricken für Pakistaner
m Anfang wollten sie nur mit dem
Rauchen aufhören und suchten
A
einen Beschäftigungsersatz für ihre unruhigen Hände. So brachte vor sechs
Jahren eine Gruppe junger Frauen und
Männer in London Strickzeug mit in
die Pubs – und hatte sofort Bewunderer
und Sympathisanten. Die Gemeinschaft
der Stricker an öffentlichen Orten
wuchs so schnell, dass die Initiatoren
einen Club gründeten. Heute zählt
„Cast Off“ (deutsch: „Leinen los!“)
über tausend eingetragene Mitglieder.
Die Stricker treffen sich regelmäßig an
immer neuen Orten und sorgten schon
mal für Aufruhr: Als sie in der „American Bar“ des noblen Londoner SavoyHotels für ihre friedliche Beschäftigung
und den Verzicht auf Zigaretten warben,
wurden sie rausgeworfen. Nachdem sich
die Mitglieder erfolgreich von der Sucht
abgewandt haben, widmet sich die
ständig steigende Zahl der strickenden
Nichtraucher inzwischen auch humanitären Zielen: Die Cast-Off-Mitglieder
versorgen pakistanische Flüchtlinge in
Großbritannien mit jeder Menge selbstgestrickter Socken.
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71
Gesellschaft
Szene
Jung, vorbestraft, sucht …
Warum ein Thüringer für seinen Traum ins Gefängnis soll
F
rüher war es ganz einfach. Da
Raum. Aber zweimal im Monat kam
hat Lars L. ein Mädchen, das ihm
Nicole zu Besuch, zweimal im Monat
gefiel, mit seinen blauen Augen
konnte er sie anrufen, und jeden Tag
angezwinkert. „Willst du mal einen
schrieb er ihr einen Brief. Jeden Tag
Kaffee mit mir trinken?“, hat er dann
kam ein Brief zurück. Fünf Monate
gefragt und sich die blonden, welligen
lang. Dann nichts mehr.
Haare zurückgestrichen. Und fast imAls Lars L. aus dem Knast kam, war
mer wollte das Mädchen. Sagt er.
die Wohnung leer, Nicole weg, die
Heute geht das nicht mehr, schon
Möbel, das Auto, der Job, nur Schulden
seit drei Jahren nicht. Denn irgendgab es noch. Als er André im Superwann würde das Mädchen nach Lars
markt traf, schlug er ihm ins Gesicht.
L.s Geschichte fragen, und er müsste
Zweimal. Jeder hätte das so gemacht,
sie erzählen. Das wäre dann das letzte
glaubt er. André lebt jetzt mit Nicole
Treffen, glaubt er, und mittlerweile gibt
zusammen, Lars L. bekam Bewährung.
es im thüringischen Ebeleben mit seiDie Bekanntschaftsanzeige von
nen knapp 3200 Einwohnern ohnehin
Michaela las er an einem Sonntag, er
niemanden mehr, der nicht weiß,
dass Lars L. im Knast war.
Auf seinem rechten Unterarm
ist ein Adler tätowiert, den stechen sich die Insassen der JVA in
Untermaßfeld in die Haut.
Eine Familie hätte Lars L., 31,
gelernter Dachdecker, gern. Ein
bürgerliches Leben. Die Wohnung
dafür gibt es schon. Da hängt ein
Kranz aus Blumen an der Tür, auf
dem gekachelten Couchtisch liegt
ein Platzdeckchen, und darauf
stellt Lars L. zwei Untersetzer,
wenn er ein Bitburger aufmacht:
einen für die Flasche und einen
für das Glas.
Junge Leute gibt es kaum noch
in Ebeleben. Sie sind in den Westen gegangen, wo es Arbeit gibt
und mehr als drei Kneipen. Die
Dorfdisco ist seit Jahren dicht, weil
es ständig Prügeleien gab, die Bahn
hat den Personenverkehr wegen
Bedeutungslosigkeit eingestellt, die Ebeleben
Post ihre Filiale geschlossen.
Vor fünf Jahren ging Lars L. in den
Knast, er war ohne Führerschein gefahren und ohne Kennzeichen, eine
Dummheit. Vielleicht auch eine Häufung von Dummheiten, weil er andauernd erwischt wurde und einmal
nicht anhielt, als die Polizei ihn stoppen wollte.
Ein Jahr und neun Monate. Pass gut
auf meine Frau auf, hatte er seinen besten Freund André gebeten. Mit Nicole
aus dem Nachbardorf war er gerade
drei Monate verheiratet. Und glücklich.
Eklig war es im Gefängnis, in der
Drei-Mann-Zelle mit der Toilette im
Aus der „Bild“-Zeitung
72
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hatte gerade eine Flasche auf den
Untersetzer gestellt, daneben lag der
„Allgemeine Anzeiger“. Michaela, 29,
geschieden, ein Kind. Ein Foto gab es
nicht, aber das war ihm egal. Sie suche
eine ernsthafte Beziehung, habe viel
durchgemacht, stand da. Vielleicht hatte sie so viel durchgemacht wie er.
Irgendwann musst du es ja noch mal
probieren, dachte er. Aber nicht in Ebeleben, wo die Leute mit dem Finger auf
ihn zeigen und wo sie neidisch sind,
weil er nach dem Knast wieder einen
Job gefunden hat, als Lagerarbeiter, wo
hier doch so viele arbeitslos sind.
Vielleicht könnte er Michaela seine
Gedichte zeigen. 500 Stück hat er geschrieben, damals im Knast. Sie heißen
„Wenn du eine Blume wärst“ und
„Schau mir doch ins Gesicht“.
Lars L. nahm an, er würde direkt mit
Michaela sprechen können, als er die
Nummer in der Annonce wählte. Als
sich eine Partnervermittlung meldete,
dachte er sich nichts dabei. Sie
würden den Kontakt herstellen,
sagten sie ihm.
Wenige Tage später saß eine
Mitarbeiterin der Agentur auf
Lars L.s Sofa, eine Frau Mitte
vierzig, seriös, selbstsicher. Sie
habe ihren Mann auch über eine
Anzeige kennengelernt, sagte sie,
und noch immer seien sie glücklich verheiratet. Lars L. müsse
einen Vertrag abschließen, wenn
er die Kundin treffen wolle, das
koste 1500 Euro. Dann könne er
auch auf Single-Partys gehen. Dahin wollte Lars L. nicht, er wollte
Michaela, und er unterschrieb. An
seine Schulden, seinen Offenbarungseid, wollte er in diesem
Moment nicht denken.
Der Brief kam nach zwei Wochen, aber er war nicht von Michaela. Die Frau hieß anders, war
älter als er, und auf dem Bild sah
sie aus, als könnten sich drei
Mann hinter ihr verstecken.
Seine Kündigung nahm die Agentur
nicht an, sie schickte Mahnungen, und
irgendwann kam die Gerichtsvorladung.
Lars L. habe nie vorgehabt, die Gebühr
zu bezahlen, befand der Richter, den
sie in Ebeleben „Richter Gnadenlos
vom Kyffhäuserkreis“ nennen, das Geld
hätte er nie aufbringen können. Wegen
Betrugs verurteilte der Richter ihn zu
sechs Monaten Haft.
Lars L. hat Berufung eingelegt. Er
hätte das Geld gezahlt, sagt er, in
Raten, er hätte es sich irgendwie zusammensparen wollen. Aber nur für
Michaela.
Kristina Allgöwer
HANSJOERG HOERSELJAU / PHOTOGUERILLA.COM
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE
Gesellschaft
S E X UA L I TÄT
Die Gleichstellungsdroge
Ein Spray-Schuss in jedes Nasenloch, und gleich reißt man sich die Kleider vom Leib. Den Traum
von der perfekten Lustdroge träumt die Pharma-Branche nicht erst seit Viagra. Bald, verspricht
eine amerikanische Firma, ist es so weit – Zeit für die nächste sexuelle Revolution. Von Ralf Hoppe
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eine Ausbildung als Parfümeur; seine Sensibilität gegenüber Gerüchen sei in seiner
Kindheit gelegentlich beängstigend gewesen, sagt er. Er roch die Fäulnisbakterien in
der Milchflasche, lange bevor die Milch
umkippte, er witterte Hunde, bevor sie um
die Ecke bogen, und er litt, als sein Sohn
in die Pubertät kam und plötzlich nach
Ziegenbock und Käse roch.
Sein Haus an der schottischen Küste,
direkt am Meer, ist vollgestopft mit Duftkatalogen, Regalen voller Glasfläschchen
und Aluminiumkartuschen, mehr als 10000
verschiedene Aromen, darunter hawaiisches Tiara-Lilienöl für 29 000 Euro den
Liter ebenso wie der auf Flaschen gezogene Geruch von Lachslaich, und wenn er es
nicht mehr aushält, tritt er vor die Tür, atmet Meer, Salz, Tang. Wenn nur die verdammten Schafe nicht wären.
Hier hat er einen Duftstoff entworfen,
der dem Botenstoff Dopamin ähnelt und
das Gehirn verführen soll, überzeugen,
dass es Zeit ist für Sex. Aber sanft. Denn
wenn es um Sex und das Gehirn geht, soll
man behutsam sein, findet Dodd.
Der Saal ist voll besetzt, außer ihm sind
etwa 60 Wissenschaftler gekommen an diesem Morgen. Das Vortragsthema ist ein
Stoff namens Bremelanotid, ein sogenanntes Heptapeptid, acht Aminosäuren, sie-
ben davon in Ringform, ein Tausendstel
eines Proteins. Sie nennen es PT-141. Der
aktuelle Stand der Forschung soll referiert
werden, na ja, mal sehen. Und wie war
noch der Name der Firma, die daran arbeitet? George blättert im Programmheft:
Ah ja, Palatin Technologies, New Jersey.
Vorne tritt jetzt der Redner ans Pult,
Koteletten, silberner Ohrring, noch jung,
George schätzt ihn auf Ende 40.
Beugt sich vor, „good morning“, ich bin
Jim Pfaus, Professor für Verhaltensforschung an der Concordia-Universität von
Montreal.
George pustet auf seinen Kaffee, gähnt
verstohlen.
15 Minuten später ist er so wach, als hätte man ihm den Stuhl weggezogen. Das
Zeug soll über die Nase verabreicht werden, das immerhin haben sie gemein,
George und diese Palatin-Leute, aber ansonsten sind sie viel radikaler. PT-141 ist
nicht sanft und stimuliert ein bisschen das
olfaktorische System, sondern der Spray
geht, peng, durch die Blut-Hirn-Schranke
direkt ins Gehirn. Und die referierten Testdaten sind gut, sogar bestürzend gut, die
Tests an Ratten, die dieser Jim Pfaus präsentiert, laufen seit vier Jahren, dazu die
Resultate der zweiten Testphase an weiblichen Testpersonen. George überschlägt
TOM KIDD PHOTOGRAPHY
L
üsterne Frauen und wüste Kerle, Orgasmen, Gerüche und Sportwagen –
alles Moleküle. Die Welt besteht aus
Molekülen, niemand weiß das besser als
George, der sanfte George, der Moleküle
anbetet, wie er sagt, schon von Berufs wegen, und übrigens hat er sich einen neuen
Jaguar XS bestellt, nachtblau, innen Aluminium, dunkles Leder. Was soll’s, er ist
jetzt 63, es wird Zeit, Geld auszugeben;
außerdem kommt genug Geld herein.
Denn George Dodd, Ire, promovierter Biochemiker, Wohnsitz in Schottland, hat ein
Molekül designt.
Ein Molekül, das dem Gehirnstoff Dopamin ähnelt; ein Molekül, das Lust machen soll auf Sex.
Die Serienproduktion lässt sich gut an.
Daher auch der nachtblaue Jaguar, und darum ist er jetzt hier in Lissabon auf dem Internationalen Kongress der Sexologen. Hier
trifft sich vier Tage lang die Elite derer, die alles über Sex wissen wollen und der Menschheit mehr Sex oder besseren oder überhaupt
Sex bescheren wollen, und George ist jetzt
einer von ihnen. Außerdem will er mal
sehen, was die Konkurrenz so treibt.
Es ist kurz vor halb sieben. In wenigen
Minuten soll der Vortrag beginnen, ausgerichtet von einer Biotech-Firma, die angeblich etwas ganz Ähnliches auf den Markt bringen will wie George Dodd – ein Aphrodisiakum. Daran sitzen sie alle, es ist das große
Versprechen der Zukunft, die Sexformel.
George, morgenfrisch und rotäugig, sitzt
in einer der hinteren Reihen im Konferenzraum „Berlin“ im Untergeschoss des
Marriott-Hotels von Lissabon. Er ist ein
stämmiger Mann, und auch wenn er mit
seinen Sandalen, dem Vollbart und dem
Pferdeschwanz aussieht wie ein Komparse
für einen unterfinanzierten Mittelalterfilm,
ist er kultiviert, humorvoll, ein Opern-Fan,
jedes Jahr ein Marathonlauf, gebügelte Taschentücher – er zieht eines hervor und
putzt umständlich die Brille. Dann winkt er
einem der Kellner nach Kaffee.
Beugt sich über die Tasse.
Schließt die Augen.
Und – wie ist der Kaffee, George?
Nussig, rauchig, pfeffrig, muskatig, holzig, mit einer Nuance nach Seife, er spricht
sanft, konzentriert.
Bevor er nach Oxford ging, um Biochemie zu studieren, absolvierte George Dodd
Moleküldesigner Dodd: „Ich glaube an die Macht der Düfte“
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MAURITIUS IMAGES
Und nun? Wird an diesem
Freitagmorgen die Revolution
Nummer drei verkündet im
Konferenzraum des Marriott anhand von flimmernden Säulendiagrammen und Testreihen
von Ratten und Menschen?
Wird ein profaner Nasenspray
die Gesellschaft versexen, uns
unabhängig machen von Lust
und Unlust, werden wir Sex
haben können ohne innere
Sammlung, ohne innere Stimmung? Es würde die Gesellschaft verändern, die Sexualität
würde ihres Mysteriums beraubt, der dunkle Kontinent erobert, unterworfen. Und profitieren würden die Jungen, die
vor lauter Arbeitsstress und
Hektik des modernen Alltags
nicht mehr zueinanderfinden,
ebenso wie die Alten, deren Libido erlahmt, Sex sofort, auf
Knopfdruck, für alle, für immer.
Während Jim Pfaus, der Ratten-Professor, und die anderen
Palatin-Referenten, natürlich im
seriösen Konjunktiv, diese Zukunft malen, sitzt der sanfte
George Dodd wie versteinert auf
seinem Stuhl. Eigentlich ist er
nach Lissabon gekommen, weil
er nur mal sehen wollte, was die
Kollegen und Konkurrenten so
treiben. Und jetzt weiß er es, sie
wollen den Markt erobern, und
das nicht auf die sanfte Art.
Das Marriott-Hotel befindet
sich an der Avenida dos Combatentes, der Straße der Krieger, ein passender Ort für
diesen Kongress, unsichtbare
Frontlinien durchziehen das
Treffen, Sex ist ein umkämpftes
Terrain.
Auf den ersten Blick sind
die vier Tage, mit 86 Vorträgen
und 184 Teilnehmern, eine einzige Datenorgie. Man lernt viel
über Menstruationszyklen, den
Cortisolausstoß bei pornofilmkonsumierenden Hausfrauen
und erfährt Ungeahntes über
Cybersex in portugiesischen Chatrooms –
Referate, Diskussionen, Symposien, am
Abend ist man allerdings sexmüde.
Auf den zweiten Blick erkennt man verschiedenen Fraktionen. Die Frontlinien
verlaufen zwischen harter und weicher
Wissenschaft, zwischen Seele und Molekülen und der Industrie. Wem gehört das
Terrain wirklich, wem gehört Sex?
Man kann die Sexologen einteilen in drei
soziale Gruppen. Gruppe Nummer eins, die
Psychiater und Psychologen, erkennt man
bereits an Äußerlichkeiten: Die Frauen kommen vorzugsweise aus Holland oder dem
amerikanischen Mittelwesten, sie haben ei-
Paar beim Liebesspiel: Wird Sexualität ihres Mysteriums beraubt?
die Ergebnisse, eine Erfolgsquote von etwa
72 Prozent im Verhältnis zu 22 Prozent bei
der Placebo-Gruppe, das ist sensationell.
In einigen Monaten, erzählen die Palatin-Leute, wollen sie die Schlussphase
einleiten, angeblich machen die Verhandlungen mit der amerikanischen Zulassungsbehörde Fortschritte. Und während
Georges Kaffee kalt wird, breitet sich im
Konferenzsaal unter all den Fachleuten,
den Endokrinologen, Gynäkologen, Biochemikern, Andrologen, so etwas wie eine
weihevolle Stimmung aus: Diese Leute
könnten es schaffen.
Eine Lustdroge, die funktioniert.
Die erste sexuelle Revolution begann
Ende der sechziger Jahre. Es war die Befreiung von den Zwängen der Moral, mit
ausgelöst durch ein Produkt der Firma
Schering, die Anti-Baby-Pille, und die
Sehnsucht nach einem freieren Leben. Es
waren die Jungen, die diese Revolution
machten und davon profitierten.
Die zweite sexuelle Revolution nahm
ihren Anfang 1998, abermals ausgelöst
durch eine Pille, ein kleines hellblaues Ding.
Viagra erlöste die Männer von ihrer Angst
zu versagen, vor den Unwägbarkeiten ihres
Körpers. Es war diesmal eine Revolution,
von der vor allem die Alten profitierten.
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SIPA (L.), ARNAL / GERAL / STILLS PRESS (R.)
Gesellschaft
Frauen als Lustobjekt*: Sex wurde zur Industrie
nen Lehrstuhl für „gender studies“ inne,
tragen dunkle sackförmige Kleider, EthnoSchmuck und ziehen ihre Unterlagen vorzugsweise aus weichledernen Umhängetaschen. Sie zögern nicht, wenn ihnen ein
Vortrag nicht passt, ihren Unwillen durch
lautes Murren zu zeigen. Ihre männlichen
Fakultätskollegen bevorzugen Kreppsohlenschuhe, ausgebeulte Tweedsakkos und
haben rindslederne Aktentaschen, die sie
geschäftig aufschnappen lassen. Ihre Studien
beweisen, was man irgendwie schon wusste.
Davon unterscheiden sich phänotypisch
die Gynäkologen, Urologen, Mikrobiologen, Biochemiker, Endokrinologen. Sie
sind, falls aus Mailand oder London angereist, deutlich eleganter, Chanel-Kostüme,
An jenem Freitagmorgen, nach der Palatin-Präsentation, im Konferenzraum des
Marriott, ist noch etwas Zeit für Fragen.
Unter den Zuhörern sind nicht nur Naturwissenschaftler, sondern auch einige Sextherapeuten und Psychologen. Sie stehen
auf, während sie ihre spitzen und kritischen Fragen stellen, nach sozialem Kontext und dem Sinn eines solchen Mittels.
Und wenn sie sich wieder setzen, schauen
sie sich beifallheischend um, und während
der Antwort schütteln sie den Kopf, um
durchblicken zu lassen, dass sie das Ganze
irgendwie falsch finden.
Vielleicht haben sie recht. Sie treibt ja
nicht nur die Sorge, dass da mit den verabscheuungswürdigen Mitteln der Chemie
eingebrochen wird in ihre
Psycho-Blabla-Domäne – obSeit Viagra sucht man in allen Labors
wohl diese Sorge berechtigt
ist, siehe Viagra. Ihr durchaus
inständig nach einem neuen Wundermittel.
richtiger Gedanke ist: Was ihr
Pumps, Ermenegildo-Zegna-Anzüge. Ihr da macht, ist von der Natur nicht vorAuftreten ist kühler. Ihre Referate strot- gesehen.
zen von Fakten, sie haben eine Vorliebe für
Die Palatin-Referenten sind vorbereiBlackberrys, und es ist unwahrscheinlich, tet. Je kritischer die Frage, desto höflicher
dass sie je Erich Fromm gelesen haben.
antworten sie. Sie streichen den theraDie dritte Gruppierung sind Herren in peutischen Nutzen heraus. Sie betonen,
dunklen, teuren Anzügen, lieber etwas dass ihr Lustspray keine Partydroge sei,
abseits stehend, mit Einstecktüchern und um Gottes willen, nicht zum Vergnügen
Visitenkarten, auf denen klingende Namen gedacht, sondern allenfalls ergänzend verstehen: Pfizer, Boehringer, Procter & abreicht, in Ergänzung zu einer sensiblen
Gamble, Eli Lilly. Sie sind sehr diskret, Psychotherapie, und sie schmeicheln und
trotzdem wird man den Eindruck nicht los, winden sich, und was sie nicht sagen, ist:
dass sie es sind, denen Sex gehört, die Verehrte Kollegen, dies wird wirksamer
wahren Herren des Terrains.
sein als alle Gesprächstherapien der Welt,
und wir wollen damit viel Geld verdienen,
und wenn ihr könntet, würdet ihr’s ge* Links: Sofia Loren und Jayne Mansfield (1954); rechts:
Bikini-Show in Paris (1998).
nauso machen.
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George Dodd hat zugehört, still, aufmerksam. Am Ende der Veranstaltung
spendet er höflich Beifall, dann stellt er
seine Tasse ab und geht hinaus. Er wirkt
fast ein bisschen geknickt. War dies die
Stunde der Wahrheit?
Die Stunde der Mythen jedenfalls
schlägt in der Hotelbar, bei Bier und Erdnüssen, und erzählt wird zum 100. Mal die
Geschichte vom Zufallsfund des „kleinen
blauen Diamanten“. Wie sie Mitte der
Neunziger in den Pfizer-Labors da oben
im südenglischen Sandwich nach einem
Mittel gegen Angina Pectoris fahndeten
und fast schon entnervt aufgeben wollten,
als sie plötzlich durch einen irren Zufall
feststellten, dass es andernorts, eine Etage
tiefer, durchaus wirkt – und wie der Laborleiter das Zeug selbst probierte, um
dann erschrocken tagelang mit einer betonharten Erektion rumzulaufen.
Man kichert, bestellt noch ein Bier.
Und der jährliche Umsatz liege seitdem
bei zwei Milliarden, sagt einer.
Dazu der Schwarzmarkt, seufzt ein anderer.
Der Erfolg hat der Pharma-Branche gezeigt, was möglich ist. Seitdem fahndet
man in allen Labors inständiger denn je
nach einem neuen Wundermittel – vor allem für Frauen.
Procter & Gamble arbeitet an einem
Testosteronpflaster unter dem Arbeitstitel „Intrinsa“, aber bisher hat die Federal Drug Administration (FDA), die
amerikanische Zulassungsbehörde, das
Mittel nicht zugelassen. BioSante Pharmaceuticals aus Illinois arbeitet ebenfalls an
einem Testosteron-Gel. Überhaupt gibt es
Erektionsfördernde Mittel
* Striptease-Künstlerin Dita Von Teese.
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Ohne eigene Begierde geht nichts
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voluminös wie ein gehäufter Teelöffel Griesbrei. Hier
werden Hormone wie alpha-MSH, Testosteron und
Östrogen zu den Zellen gesandt, hier setzen Botenstoffe wie Dopamin und
Serotonin an und leiten Erregung weiter über das
Rückenmark an die Geschlechtsorgane. Sofern der
Blutdruck und das Herz mithalten, läuft der Rest der
Erregungskaskade von selbst
und endet in einem wahren
Silvesterfeuerwerk, danach
herrscht Ruhe, alles wieder
unter Kontrolle.
Jeder Erwachsene kennt
ein paar Mittel, um Erregung
auf- und Dämpfung abzubauen. Alkohol enthemmt,
macht aber auch dumpf
und müde. Ein Joint, mit
eingedrehten Krümeln von
Tetrahydrocannabinol, kann
Lüste wecken, entfacht vielleicht aber nur einen albernen Redeschwall. Kokain
gilt als zuverlässige Sexdroge, ist jedoch teuer und
verboten.
George Dodd für seinen
Teil glaubt nicht an Drogen,
er glaubt an einen aufgeräumten Keller und an die sanfte Macht
der Gerüche. Gelegentlich trinkt er Rotwein, zusammen mit seinem Sohn; einmal im Jahr kauft er eine Flasche für
300 Pfund (450 Euro), die sie feierlich
leeren.
Sein Aphrodisiakum, eingetragen unter
der Patentnummer 2386555, ist ein Duftstoff, der möglichst über 24 Stunden immer
wieder eingeatmet werden soll. Der Molekularaufbau ähnelt Dopamin, jenem Botenstoff, der sexuelles Verlangen steuert.
Der Unterschied zu PT-141 ist die Labilität
des Duftstoffs, er dockt nur kurz und sanft
an und wird wieder abgeworfen oder
zerfällt.
In Lissabon, während die Konferenz
ihren Lauf nimmt – Probleme der Östrogenbehandlung, psychosexuelle Profile bei
Frauen mit Genitalschmerzen, Hirnaktivität bei Musik und deren Einfluss auf
das Lustgefühl, ein Vortrag nach dem anderen –, sucht George nach Jim Pfaus, dem
Ratten-Professor. Am Nachmittag kann er
ihn am Kaffeestand abpassen, irgendwann
sieht man die beiden Wissenschaftler, angeregt plaudernd, George erzählt von
Opern und Düften, Jim Pfaus von der Entdeckung von PT-141.
Es war am Health Sciences Center an
der University of Arizona, wo neun Monate im Jahr die Sonne knallt und wo sie
nach einer Sonnenmilch suchten, die bei
hellhäutigen Männern die Pigmentbildung
BOB MUSSELL / RETNA / INTER-TOPICS
MARTIN GERTEN / DPA
1400 Biotech-Firmen in den
USA, mehr als 4000 auf der
Welt, nach einer Studie
des Wirtschaftsberaters Ernst
& Young, und alle wissen,
dass die Sex- und Lustformel
die begehrteste der Branche
ist.
Dagegen war Viagra ziemlich primitiv.
Ein Erektionsmittel setzt
nicht im Gehirn an, es funktioniert hydraulisch. Viagra
unterdrückt ein Enzym namens Phosphodiesterase-5,
kurz PDE-5, und dieses PDE5 wiederum hat im Körper
die Funktion, den Blutfluss
zu regulieren, indem es Botenstoffe zersetzt, die „mehr
Blut“ signalisieren.
Wird das Enzym gehemmt, können die Botenstoffe, vor allem ein Stoff
namens cGMP, ihre Signale
unbehelligt senden, mehr
Blut, mehr pralle Schwellkörper, mehr Marktanteile.
Bedingung für eine Erektion ist allerdings die sexuelle Stimulation des Mannes.
Falls der nicht will, bewirkt
Viagra gar nichts, höchstens Kopfschmerzen und Lustobjekt Tänzerin*: Wo ist der Sex-Knopf im Hirn?
Durchfall.
So sind wir Geiseln dieses Organs, und
Aber wenn man nun Lust nicht nur eres verbittet sich jedwede Einmischung.
möglichen, sondern erschaffen wollte?
Aber die Lustmacher wie George Dodd,
Sex findet im Bett statt, meistens jedenfalls; aber wo und wie fällt die Entschei- der Biochemiker aus Schottland, und die
dung, ob Sex stattfindet? Ist es sein Palatin-Forscher wollen genau dies: den
Aftershave, sein Geld, sein Lächeln? Ihre Knopf finden.
Das Belohnungszentrum für Sex liegt
Stimme, ihr Busen, ihr Mund?
Die Entscheidung, gleichsam eine Ab- im limbischen System, im Hypothalamus,
stimmung aus vielen Einzelentscheidun- einem evolutionär alten Areal, etwa so
gen, wird getroffen inmitten eines Zellklumpens von durchschnittlich 1300
Gramm, unter der Schädeldecke, zwischen
limbischem System und den weiten Feldern des Neocortex.
Die Sinnesorgane, Augen, Ohren, Nase,
Haut, fühlen, schmecken, sehen nichts, sie
können mit Schall und Licht und Düften so
viel anfangen wie ein Laptop mit einer EMail – sie übersetzen sie in elektrische Impulse und schicken sie weiter, und das Gehirn baut ein neuronales Korrelat dazu auf,
das Bewusstsein eines Sonnenaufgangs, das
Gefühl, die Brust einer Frau zu berühren.
Wenn eine Inspiration nicht kommt,
kommt sie nicht. Wer keine Lust auf Sex
verspürt, will nicht. Man kann zwar
Voraussetzungen schaffen, die Bürotür
schließen, ein Glas Rotwein trinken, ein
romantisches Kaminfeuer anzünden; aber
der Rest muss sich von selbst ergeben, für
das Gehirn hat das Gehirn keine Weisungsbefugnis.
CHARLY KURZ / LOOKATONLINE
Gesellschaft
Palatin-Forscher im Labor: Sie nannten das Zeug „Leidenschaft“
sogar 48 Prozent. Die Dunkelziffer, sagen
die Wissenschaftler, sei erheblich höher.
Ein Viagra für Frauen, hier war ein
Markt. Die Palatin-Forscher machten sich
daran, die Peptidstruktur von Melanotan
II zu modifizieren. Sieben Jahre unterzogen ihre Wissenschaftler den Wirkstoff
allen möglichen molekülverändernden
Prozeduren, so lange, bis die unsichtbar
winzige Peptidform genau in nur eine
Rezeptorform passte – wie ein passend
gefeilter Schlüsselbart in ein Schloss. Alle
anderen Signale waren ausgeschaltet:
der Bräunungseffekt, die Dämpfung des
Hungergefühls, die entzündungshemmende Wirkung. Was blieb, war die
Stimulation aufs limbische
Rattenweibchen durften die Sex-Entscheidung System.
Sie nannten das Zeug PT141, und intern hieß es „pastreffen – „sie wollten es ständig“.
sion“, Leidenschaft.
Im Jahr 2001 trafen sich die Palatin-Forschert. Die FDA hätte sich sturer gestellt als
scherin Shadiack und der Ratten-Forscher
ohnehin schon.
So gab es Melanotan II, und niemand Pfaus in San Diego. Pfaus kann sich lebhaft
wollte es. Bis Palatin zugriff, eine Firma erinnern, Palatin bescherte ihm einen Foraus New Jersey, damals 20 Mitarbeiter, schungsauftrag auf Jahre hinaus. Aber keilachhaft, den Kampf aufzunehmen, allein nen Millimeter würde er von seiner wisbei Pfizer in Sandwich arbeiten mehr als senschaftlichen Objektivität abweichen,
sagt Pfaus. „Palatin will sauberes Daten3000 Leute.
Gründer und Präsident von Palatin, der material, die wären idiotisch, wenn sie
Molekularbiologe Carl Spana, und seine getürkte Studien bestellen würden – und
Laborchefin, Annette Shadiack, jedoch sa- ich wäre noch blöder, sie ihnen zu liefern.“
hen eine Chance: Frauen. Und deren sexuPfaus entwarf spezielle Käfige, in denen
elle Unlust. Nach einer großen europäi- die Weibchen die Entscheidung über Sex
schen Studie an 2467 Befragten hat eine treffen konnten. Die Ergebnisse seien frapvon zehn jungen Frauen drastische Proble- pierend, eine vier- bis sechsfache Steigerung
me mit ihrer Libido, und bei Frauen über ihres sexuellen Appetits. „Glauben Sie mir,
50 Jahren, nach der Menopause, sind es ich kenne diese Tiere, sie wollen es ständig.“
anregt. Die Forscher arbeiteten mit einem
Stoff, der dem Humanhormon Melanotropin ähnelte und den sie Melanotan II
nannten.
Melanotropin setzt den Bräunungsprozess in Gang. Die Probanden wurden in
der Tat bronzefarben; aber nicht nur
das. Zusätzlich registrierten die Tester, dass
das Mittel den Appetit zügelte, entzündungshemmend wirkte, Lust auf Sex machte und zu „phantastischen Erektionen“
führte, wie Pfaus es ausdrückt.
Diese breite Wirkungspalette war jedoch ein großes Problem. Kein Mensch
will ein Mittel einnehmen, das ihm ein
halbes Dutzend zusätzlicher Effekte be-
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Was bedeutet das für Menschen?
„Ratten sind natürlich andere Wesen.
Doch unser und ihr Gehirn haben große
Übereinstimmungen. Ich würde sagen,
wenn meine Rattenweibchen auf einen
Wirkstoff reagieren, dann kann man ziemlich sicher sein, dass Menschen fast genauso reagieren.“
PT-141 oder Bremelanotid wurde inzwischen an mehr als tausend menschlichen
Versuchspersonen ausprobiert, die Tests
werden von neutralen Fremdfirmen, geheim und im Placebo-Doppel-Blind-Verfahren, durchgeführt. 72 Prozent der getesteten Frauen hätten ein Gefühl genereller
Erregung verspürt; 67 Prozent hätten eine
deutliche Steigerung ihres sexuellen Appetits registriert. Zieht man die Reaktionen
der Placebo-Vergleichsgruppe ab, bleibt
immer noch ein Ergebnis, das die PalatinLeute hoffen lässt auf den großen Coup,
das Millionengeschäft in ein, zwei Jahren.
Knapp tausend Menschen haben an der
Entwicklung bisher mitgearbeitet, etwa 150
Millionen Dollar, so der Chef Carl Spana,
hat die Forschung gekostet.
Palatin braucht ständig Geld, jetzt erst
recht, in der Schlussphase, und ein- bis
zweimal in der Woche trifft Carl Spana
sich mit Bankiers, Venture-Investoren,
Analysten in New York, in San Francisco,
in London, und zwischendurch bereitet
er die Hearings bei der FDA vor. Procter
& Gamble hat die erste Schlacht um
„Intrinsa“ verloren, Carl Spana will seine
gewinnen.
Man bekommt, unter der Hand und
nicht zu überprüfen, auch ein paar Beurteilungen, die aus einer frühen Testphase
stammen sollen. Da werden ältere Probanden zitiert, die dank Nasenspray gleich
mehrfach hintereinander Sex hatten. Da
schwärmen Frauen von plötzlichen Lustattacken, und Versuchsperson 041 gibt seiner Erektion auf der Skala von null wie
„nichts“ bis fünf wie „hervorragend“ die
Note sechs.
Gestreute PR oder Wahrheit? Es könnte die Wahrheit sein, das Gehirn ist ein abgeschottetes System. Doch wenn man erst
mal drin ist, kann man es manipulieren.
An seinem letzten Abend im Lissabonner Marriott-Hotel verabschiedet sich
George Dodd, der bärtige Parfümeur und
Biochemiker, etwas früher. Das letzte Referat dieses Tages lässt er ausfallen, er fährt
mit dem Fahrstuhl aufs Hotelzimmer im
vierten Stock, zieht seinen dunkelblauen
Business-Anzug an und dazu schwarze, feine Sandalen, ein Geschäftsessen mit Investoren und Lizenznehmern, er muss ihnen erklären, warum sein Duftstoff zwar
sanft, aber wirksam ist.
Das Referat, das George verpasst, handelt von vorzeitigen Ejakulationen und was
dies im Einzelnen für den Befriedigungsgrad der beteiligten Frau bedeutet – leider
nichts Gutes. Aber ein neues Marktsegment ist es, zweifellos.
™
Gesellschaft
Blüh’ im Glanze
Ortstermin: In Berlin-Neukölln werden 54 Ausländer
zu deutschen Bürgern.
A
FOTOS: MARCO-URBAN.DE
Buschkowsky klingt wie ein Lehrer. Man
uf den hölzernen Tischen liegen das Neukölln ging. Neukölln ist ein Beispiel
Grundgesetz und der Text der deut- geworden. Wann immer es um Parallel- hat viele Rechte als Neudeutscher. Aber
schen Hymne. Hinter den Tischen gesellschaften geht, dem Ruf nach Leitkul- auch viele Pflichten. Zum Beispiel die Insitzen 54 Erwachsene und Kinder aus tur, wenn ein Schlagwort gesucht wird für tegration. Buschkowsky sagt: „Integration
Togo, Argentinien, dem Irak, Portugal, der die verworrene Lage, die Hilflosigkeit, die heißt, sich zu öffnen. Das ist natürlich auch
Türkei, Vietnam, Frankreich und einigen Versäumnisse, hört man oft: Neukölln. So anstrengend, klar.“ Er schaut auf die Einanderen Ländern, deren Namen Michael wie Kreuzberg früher immer ein Beispiel bürgerungswilligen, die meisten jung, in
Büge, Neuköllner Bezirksstadtrat, gerade war für die Buntheit des Lebens. Mitten- Jeans und T-Shirt. Sie gucken schüchtern
auf die Kameras und auf Buschkowsky,
vergessen hat. Vielleicht ist es auch nicht drin sitzt Buschkowsky. Der Slum-Chef.
mehr so wichtig, wo man mal herkam. EntDie Musik-Chefs sind zwei Männer in den dicken Mann in dem seltsamen Anzug.
An Buschkowsky und der Zeremonie
scheidend ist, wo man hingeht. Alle 54 wol- schwarzen Anzügen. Ein Keyboard und
len heute die Staatsbürgerschaft wechseln, ein Violoncello. Sie spielen ein „Potpour- lässt sich gut erkennen, wie sich die Dinri aus verschiedenen Nationalhymnen“. ge verändert haben. Es gibt so etwas wie
Deutsche werden.
Draußen rauschen die Straßen von Genauer gesagt: die Marseillaise, ein viet- den Heinz-Buschkowsky-Effekt, deutschNeukölln. Drinnen, im Saal des Rathauses, namesisches Lied und die Hymne Ägyp- landweit. Die große Politik hat sich seinen
stehen Kamerateams und Fotografen. In tens, stellvertretend für alle Nationen. Die Neuköllner Positionen angenähert. BuschDeutschland reden gerade alle über Inte- türkische Hymne kann man nicht spielen, kowsky war vielleicht der erste Sozialdemokrat, der eine linke
gration: Was das bedeutet.
Idee für gescheitert erklärWie man das macht. Wer zute: die Multkulti-Gesellständig ist. Die Einbürgerung
schaft. Erdacht von der
ist, wenn man so will, die
„Mafia der Gutmenschen“.
höchste Stufe der IntegraBuschkowsky bekam viel
tion. Deshalb kommen jetzt
Ärger für diese Äußerundie Reporter und fragen
gen. Heute redet niemand
nach Gefühlen. Die Gefühle
mehr über Multikulti. Der
sind gut, sagen Tanja KleberBegriff scheint zu sterben
Barbera aus Frankreich und
wie die Videokassette und
Nabaz Dargalaee aus dem
der Filterkaffee.
Irak. Vermutlich sind sie
Womöglich wirkt die Zeund die anderen 52 die Letzremonie im Neuköllner Ratten ihrer Art. Eingebürgerte
haus deshalb bereits wie
ohne Wissenstest, ohne Ineine Zeugnisvergabe. Die 54
tegrationskurs, ohne Eid, ohWilligen waren bisher ein
ne die ganzen neuen Innengutes Beispiel für die gelunminister-Einbürgerungsvorgene Annäherung an Demoschläge. Deutsche light.
kratie und Deutschsein, solEinbürgerung heißt hier
len jetzt aber nicht vom
im Rathaus: Man geht als
Weg abkommen und ParalFranzose oder Iraker durch
lelgesellschafter oder Ehreneine schwere Holztür. Nach Bürgermeister Buschkowsky (M.), Neubürgerin: Potpourri der Hymnen
mörder werden.
einer Stunde geht man wie„Sie haben sich entschieden, Teil des
der hinaus und ist Deutscher. Damit da- wegen der Kurden. Die vietnamesische
zwischen irgendwas passiert, gefühls- und auch nicht, wegen der Südvietnamesen. deutschen Volkes zu sein“, sagt Buschbewusstseinsmäßig, damit man ankommt Balkan ist auch schwierig. Am Ende ist die kowsky. „Sie treten damit in einen neuen
Kulturkreis über. Meine Bitte an Sie ist,
im Deutschsein, gibt es eine Einbürge- Herkunft immer stärker als ein Pass.
rungszeremonie mit Musik, Reden und
Heinz Buschkowsky steht auf, geht zum dass Sie die Prinzipien einer freien GeSekt. Das ist wohl die Idee.
holzgetäfelten Rednerpult und schiebt die sellschaft leben.“ Auf den Tischen liegt
Reden wird Heinz Buschkowsky, Bezirks- große Brille zurecht. Er ist ein dicker Mann das Grundgesetz wie eine Mahnung. Die
bürgermeister (SPD). Er ist 57 Jahre alt und in einem eierschalenfarbenen Anzug. Er Musiker spielen die „Ode an die Freude“,
wohnte immer in Neukölln. Man könnte wird später die Einbürgerungsurkunden Heinz Buschkowsky überreicht die
sagen, er ist perfekt in den Bezirk integriert. überreichen – er ist heute der Deutschma- schmucklosen Einbürgerungsurkunden,
Ein Vorbild. Dazu ist Buschkowsky der be- cher. Aber erst mal redet Buschkowsky. Die sein Händedruck wird stürmisch, wenn
kannteste Bezirksbürgermeister Berlins. Das Kameras drehen sich ihm zu. Heinz Busch- jemand ein „echter Neuköllner“ ist. So
kowsky könnte ein Beispiel sein, wie man wie er selbst.
liegt an Buschkowsky. Und an Neukölln.
Am Ende stehen alle auf und singen. 54
In Neukölln gibt es die Rütli-Schule, in als Deutscher integriert. Was man einfordert
Neukölln spielt Detlev Bucks Film „Knall- – oder anbietet. Was in Neukölln richtig ist, Deutsche. Blüh’ im Glanze dieses Glückes.
hart“, und Wolfgang Schäuble benutzte könnte auch anderswo richtig sein. Eigent- Blühe, deutsches Vaterland.
vor kurzem das Wort „Slum“, als es um lich ist er heute der wichtigste Mann.
Jochen-Martin Gutsch
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Medien
Frère
VEIT METTE / LAIF
ISOPIX / ACTION PRESS
Trends
Bertelsmann-Zentrale in Gütersloh
BERTELSMANN
Filetierung statt
Börsengang
I
m Konflikt um einen möglichen Börsengang des Medienkonzerns Bertelsmann hat der Minderheitsaktionär GBL ein
bislang unbekanntes Druckmittel in der Hand. So hat sich die
vom belgischen Stahlbaron Albert Frère dominierte GBL offenbar von Anfang an in einer zusätzlichen Vereinbarung das
Recht einräumen lassen, ihren Anteil von 25,1 Prozent an Bertelsmann gegen gleichwertige Unternehmensbereiche einzutauschen, falls der Börsengang nicht ernsthaft vorbereitet werde oder das Management die Zusammenarbeit verweigere, so
ein Insider. Damit habe Frère die Möglichkeit, eine „Realteilung“ von Bertelsmann zu fordern. Der Vorteil für Frère:
Konkrete Unternehmensteile oder Geschäftsbereiche ließen
sich, anders als die Beteiligung am Gesamtkonzern, leichter an
Dritte weiterverkaufen. Der Wert des GBL-Anteils wird auf
deutlich über drei Milliarden Euro geschätzt. Bertelsmann
wollte sich in einer Stellungnahme nicht näher zu dem Vorgang
äußern: „Für den Inhalt von Verträgen gilt in der Regel Vertraulichkeit, so auch in diesem Fall.“
VERLAGE
Nayhauß von
Merkel abgestraft?
om Bundeskanzleramt
abgestraft fühlt sich MainV
hardt Graf von Nayhauß, der
RUEBENBERG / FACE TO FACE
neben seiner wöchentlichen
„Top Ten“-Liste in „Bild“ mittlerweile auch regelmäßig für
die „Bunte“, die „Super Illu“
und die „Netzeitung“ kolumMerkel (auf Dienstreise im Regierungs-Airbus)
niert. Obwohl er sich frühzeilosophiert, sondern auch ausgeplaudert,
tig um die Mitreise bei dem am Wochenwer dafür verantwortlich zeichnete –
ende beginnenden China-Besuch der
Merkels Visagistin werde, so Nayhauß’
Kanzlerin bemüht habe, sei ihm der
Beobachtung, auf der Delegationsliste
Platz im Regierungs-Airbus mit dem
als „Assistentin, Bundeskanzleramt“
Verweis auf „Platzmangel“ verwehrt
geführt. Er sei nicht vergrätzt, sagt der
worden. Nayhauß, der schon seit den
Kolumnist, wundere sich aber über die
Tagen Helmut Schmidts im Kanzleramt
„rasche Abstrafung nach wenigen
regelmäßiger Gast in den Jets der FlugMonaten“. Er lasse sich indes
bereitschaft ist, hat einen andenicht so einfach abhängen:
ren Verdacht: Im Januar hatte
Nayhauß fliegt jetzt Linie vorer Angela Merkel auf ihrer ersaus und freut sich über einen
ten Washington-Reise begleitet
unerwarteten Nebeneffekt:
und in seiner „Netzeitung“Sein Flug ist knapp 200 Euro
Kolumne nicht nur über Merkels „perfektes Make-up“ phigünstiger als die Kostenbeteiligung für die Beförderung im Kanzlerinnen-Airbus.
Nayhauß
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MICHAEL KAPPELER / DPA
PRESSE
Vorkötter verlässt die
„Berliner Zeitung“
ie neuen Eigentümer des Berliner
Verlags müssen sich für ihr FlaggD
schiff „Berliner Zeitung“ einen neuen
Chefredakteur suchen: Amtsinhaber
Uwe Vorkötter wird das Blatt verlassen.
„Die Entscheidung ist gefallen“, sagt
ein mit dem Vorgang Vertrauter. Der
genaue Zeitpunkt wird offenbar derzeit
abgestimmt – es gehe, so der Insider,
noch „maximal um wenige Wochen“.
Offenbar soll vorher noch eine
Nachfolgeregelung gefunden werden.
Tatsächlich wurden bereits Gespräche
mit potentiellen Kandidaten geführt,
unter anderem mit den Stellvertretern
Vorkötters. Der hatte bis zuletzt offen
gegen den Verkauf des Verlags an den
britischen Investor David Montgomery
und das Beteiligungsunternehmen
Veronis Suhler Stevenson opponiert
und deren Renditeerwartungen und
Pläne intern als „falsch für das Haus“
bezeichnet (SPIEGEL 51/2005). Auf
eine SPIEGEL-Anfrage reagierten am
Freitag weder Vorkötter noch die neuen
Verlagseigentümer.
Medien
Fernsehen
D O K U M E N TAT I O N
Schüler voller Frust, Gewalt und Wut,
überforderte Pädagogen, notorische
Schwänzer, hilflose Eltern, weinende
Lehrer: Neun Monate lang haben die
SPIEGEL TV-Reporterinnen Amai
Haukamp, 35, und Kathrin Sänger, 39,
in der Berliner Pommern-Schule mit
der Kamera beobachtet, wie ein Sozialarbeiter und eine Familienpädagogin versuchen, Ordnung in das Hauptschulchaos zu bringen – bevor es den
Fall Rütli-Schule gab. Die ersten vier
Folgen der Doku-Soap „S.O.S. Schule
– Hilferuf aus dem Klassenzimmer“
im ZDF erreichten bis zu 13,5 Prozent
Marktanteil – abends zwischen 22 und
23 Uhr ein echter Zuschauererfolg.
SPIEGEL: Frau Sänger, wie kam es zu
dem Projekt?
Sänger: SPIEGEL TV hat zwei soziale
Betreuer engagiert und eine Schule gefunden, die interessiert war, sich helfen
und sich dabei filmen zu lassen. Wir
wollten zeigen, wie es im Klassenzimmer zugeht, denn was da wirklich los
ist, wissen ja nicht mal die Eltern. Und
wir wollten wissen, ob es etwas bringt,
Sozialarbeiter einzuschalten. Der Direktor und einige Lehrer der PommernSchule waren aufgeschlossen und haben
uns sehr unterstützt.
SPIEGEL: Was haben die Schüler gesagt?
Sänger: Erst mal haben wir Elternabende gemacht, um die Mütter und Väter
zu überzeugen. Die Schüler fanden es
im Prinzip gut, aber manche hatten
natürlich auch Angst, dass wir sie als
blöd vorführen könnten. Da musste viel
Vertrauensarbeit geleistet werden.
SPIEGEL: Wie viele Stunden haben Sie
gedreht?
Sänger: Man kann sagen, rund um die
Uhr. An Material waren es am Ende
ungefähr 1800 Stunden – für 6 mal 45
Minuten Sendezeit. Wir haben uns als
Teil des Projekts empfunden. Da kannst
du nicht irgendwann nach Hause gehen
und einfach abschalten.
SPIEGEL: Was durften Sie drehen, wann
musste die Kamera draußen bleiben?
Sänger: Bei den Lehrern, die sich
grundsätzlich zur Zusammenarbeit bereiterklärt hatten, durften wir alles drehen. Aber wir haben nicht alles gezeigt.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Sänger: Persönliche Geschichten über
sexuellen Missbrauch und Drogen.
Wenn man das dokumentieren will,
muss man einen anderen Film machen.
SPIEGEL: Eine Lehrerin bricht weinend
an ihrem Pult zusammen …
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ELISABETH KOLB / DER SPIEGEL
„Weinend am Lehrerpult“
Reporterinnen Sänger, Haukamp
Sänger: … und bestand darauf, dass
wir weiterdrehen. Sie fand es in Ordnung, dass die Zuschauer sehen, wie
weit die Auseinandersetzungen gehen
können.
SPIEGEL: Welchen Einfluss hatte die
Anwesenheit des Fernsehens auf die
Schüler?
Sänger: Am Anfang waren sie lammfromm. Und haben sich dann in den
Stunden ausgetobt, in denen wir nicht
dabei waren. Aber irgendwann hatten
sie uns vergessen.
SPIEGEL: Wie lange hat das gedauert?
Sänger: Monate.
SPIEGEL: Und keiner hat extra aufgedreht, weil die Kamera dabei war?
Sänger: Nachdem die Anfangssensation
vorbei war, hatten wir das Gefühl, dass
sie sich authentisch verhielten.
SPIEGEL: Hat das Projekt die Lage an
der Schule verbessert?
Sänger: Auf jeden Fall. Bis auf drei besonders aufsässige Schüler ist es wieder
möglich, in den Klassen zu unterrichten. Diese drei haben an einem Intensivprogramm mit Berufspraktika und
gesondertem Unterricht teilgenommen.
Sie werden, wenn alles gutgeht, ihren
Hauptschulabschluss machen und eine
Ausbildung beginnen. Für einen Schüler
kam die Hilfe zu spät. Er kann sich
nicht mehr integrieren. Gelegentlich
kommt er noch zum Unterricht, aber
was aus ihm wird – wahrscheinlich ist
er verloren. Dafür hat sich seine kleine
Schwester berappelt. Die war Monate
nicht zur Schule gegangen. Jetzt geht
sie hin und hat im Computerkurs sogar
eine Eins.
SPIEGEL: Wie geht es nun an der Schule
weiter?
Sänger: Die beiden Coaches bleiben bis
Ende des Schuljahres. Der Senat hat der
Schule einen Sozialarbeiter genehmigt.
Und wir werden zum Ende des Projekts
noch einmal drehen, um zu zeigen, was
aus den Leuten geworden ist.
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Medien
Fernsehen
TV-Vorschau
Die schönsten Jahre
Von Elke Heidenreich („Lesen!“)
stammt die Geschichte zu diesem
Film. Die Journalistin Nina (Ulrike Kriener) besucht ihre alte
Mutter (Doris Schade). Eigentlich will die Tochter danach allein
weiter nach Budapest fahren,
aber dann nimmt sie die alte
Dame doch im Auto mit. Die
Fahrt ist mehr als ein touristischer
Trip, denn Nina hat sich erotisch
neu orientiert und will mit einer
Freundin in der Donaustadt eine
gleichgeschlechtliche Begegnung Bucerius, Ehefrau in „Der Herr der ‚Zeit‘“
suchen. Die Überraschung: Auch
die alte Dame hatte eine intensive lesbiRastlosigkeit geprägt war. Rudolf
sche Erfahrung. Nach dem Buch von
Augstein löste für sich das Rätsel
Scarlett Klein hat Gabi Kubach das
Bucerius, als er seinen VerlegerkolleÜbersetzen zu neuen sexuellen Ufern
gen einmal in hektischer Bewegung
liebevoll, aber vielleicht zu harmonietanzen sah: Bucerius sei in Wahrheit
bedacht inszeniert.
ein Derwisch.
Montag, 0.25 Uhr, ZDF
Ben (Hanno Koffler) ist Anfang zwanzig und träumt davon, als Reisejournalist die Welt zu entdecken. Die
Realität sieht anders aus: Mit seinem
arbeitslosen, übergewichtigen Vater
Karl (Peter Kurth), der den Tod seiner
Frau und die Folgen der Wende nicht
verkraftet, wohnt Ben in einer winzigen Plattenbauwohnung am Stadtrand von Halle. Hin- und hergerissen
zwischen dem Bedürfnis, für seinen
Vater da zu sein, und der Sehnsucht,
sein eigenes Leben zu leben, organisiert Ben Einstellungsgespräche –
doch Karl will keine Veränderung
mehr. Bewegend erzählt der Film der
Nachwuchsregisseurin Susanne Irina
Zacharias (Buch: Sarah Esser, Ivan
Dimov) von der Kraft, die es kostet,
neue Wege zu gehen.
Trau’ niemals deinem
Schwiegersohn!
Dienstag, 20.15 Uhr, Sat.1
Es ist eine unerschöpfliche Quelle
des Humors, ehemaligen 68ern dabei
zuzusehen, wie ihre Ideale an der
Gerd Bucerius – Der Herr der „Zeit“
Tatort: Stille Tage
Donnerstag, 23.15 Uhr, ARD
Sonntag, 20.15 Uhr, ARD
Die Autoren dieses Films, Florian
Huber und Knut Weinrich, lassen den
Hamburger Verleger (1906 bis 1995)
auf ebenso sachliche wie unterhaltsame
Weise lebendig werden. Die Mischung
aus Zeitzeugen-Statements, Originalaufnahmen und nachgestellten Szenen
ist sehr gelungen. Es entsteht das Bild
eines kopfgesteuerten Mannes, dessen
Leben von innerer Spannung und
Der Bremer „Tatort“ auf gewohnter
qualitativer Höhe. Ein spannendes
Buch (Jochen Greve), eine sorgfältige
Regie (Thomas Jauch) und vor allem
ein furioser Joachim Król als dubioser
Witwer sowie Karoline Eichhorn in
der Rolle einer unheimlichen Nachbarin. Erfreulich zu sehen, wie Hauptkommissarin Lürsen (Sabine Postel)
schauspielerisch mithalten kann.
TV-Rückblick
Klinge, Lenk, Sittler in „Trau’ …“
Realität zuschanden gehen. In dieser
rundum gelungenen Komödie (Buch:
Annette Simon, Regie: Michael
Kreihsl) trifft es den altlinken Anwalt
König (Walter Sittler), dessen Tochter
(Jana Klinge) sich in den vermeintlichen Nichtstuer Chris (Arne Lenk)
verliebt. Statt mit klassenbewusster
Toleranz reagiert der Vater wie ein
Spießer und unternimmt alles, um seiner Tochter den jungen Mann madig
zu machen. Ein kleines komödiantisches Fest findet da statt, auf dem
sich neben Sittler die beiden jungen
Schauspieler Klinge und Lenk gut
behaupten können.
9. Mai, NDR
Wie Menschen mit den psychischen Folgen des Zweiten Weltkriegs umgehen,
schilderte dieser Film von Liz Wieskerstrauch unaufgeregt und leise. Alles lebte von historischen Bildern, die Berichte
NDR
SAT 1
Kriegstrauma
Archivbild aus „Kriegstrauma“
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der Traumatisierten, ihrer Angehörigen
und der Therapeuten machten das
Elend der seelischen Verwundungen
klar. Wie konnte ein Tischlermeister
seine Erinnerungen an eine Kindheit
voller kriegsbedingter Verlassenheit
jahrzehntelang verschweigen? Wieso
musste eine Familie auf die extreme
schmerz- und geräuschempfindliche
Genervtheit ihres Vaters Rücksicht
nehmen, ohne von der Ursache zu erfahren, den Fronterlebnissen? Jetzt,
nach dem Ende des Arbeitslebens, brechen die Verdrängungswälle zusammen.
Man sah in dem Film weinende Großväter, alte Damen, die bis heute den
Schrecken des Krieges (von Vergewaltigung bis Gefangenschaft in Russland)
nicht verarbeitet haben. Am Ende versuchte eine Therapeutin das jahrzehntelange Verschließen der Kriegstraumata
zu rechtfertigen: Wenn die Deutschen
nicht verdrängt hätten, wäre der Wiederaufbau nicht möglich gewesen.
NDR / ZEIT-STIFTUNG
Mittwoch, 20.15 Uhr, ARD
Hallesche Kometen
MATHIAS BOTHOR / WDR
Medien
Darsteller Dittrich als „Dittsche“, als Comedian (mit „RTL Samstag Nacht“-Kollege Boning), als Schlagzeuger von Texas Lightning: „Okay, ganz
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Ansichten zu einem Clown
Olli Dittrich und seine Band Texas Lightning vertreten am Samstag die Bundesrepublik beim Eurovision
Song Contest in Athen. Der Künstler ist allerdings nur Musiker im Nebenberuf. Vier
prominente Stimmen und eine Zwischenbilanz zu einer sehr deutschen Karriere. Von Thomas Tuma
E
hrlich gesagt müsste man die Gruppe
Texas Lightning einen musikalischen
Verkehrsunfall nennen. Eine künstlerische Tempo-30-Zone. Einen Witz ohne
Pointe.
Was soll das sonst sein? Diese absurden
Cowboy-Klamotten! Diese Sängerin, deren
Stimme in der Autoscooter-Kasse prima
„Unwiddaeineneuefahrt“ ins Mikro quetschen könnte! Dieses ganze Country-Quintett, das wirkt, als hätte es gerade noch das
Seniorenfest einer Schrebergartenkolonie
beschallt und wäre nun ins Hamburger
Schauspielhaus gebeamt worden.
Es ist Freitagabend vergangener Woche,
und in dem Theater sitzen sehr viele, sehr
wichtige Medienmenschen. Gruner + Jahr
und der „Stern“ verleihen ihre Henri-Nannen-Preise, formerly known as Kisch-Preis.
Smoking war erbeten. Günther Jauch moderiert. Am Ende des roten Teppichs bleckt
Top-Prominenz wie Cherno Jobatey die
Zähne. Es ist eine pompöse Party für Leute, die ihre journalistische Eitelkeit einmal
im Jahr mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung verwechseln möchten.
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Realität muss leider draußen bleiben,
wenn man von dieser Vorstadt-WesternKolonne absieht, die irgendwann auf die
Bühne muckelt. Und wenn man jetzt noch
ehrlicher ist, muss man zugeben: Diese
Band ist wahrscheinlich der Höhepunkt des
Abends, denn sie sieht aus, als käme sie
aus einer wirklichen Welt mit Imbissbuden,
U-Bahnhöfen und Hartz IV.
Der Verlag könnte stolz sein. Weil bekanntlich nichts erregender ist als die
Wahrheit. Weil Texas Lightning die Republik beim Schlager-Grand-Prix am kommenden Samstag in Athen repräsentieren
wird. Weil das hier ihr letzter Auftritt vor
der Abreise ist und ihr „No no never“ zurzeit aus jeder Supermarkt-Decke quillt. Vor
allem aber, weil am Schlagzeug Olli Dittrich sitzt, die wohl stillste Größe des deutschen Unterhaltungsgeschäfts.
Meist wirkt er schrecklich blässlich, oft
wie fehl am Platz, als sei er gerade aus jedem Kontext gefallen und müsse sich nun
erst sortieren. Zum Sortieren gibt es für
ihn jetzt genug: Interviews und Auftritte
und Sendungen und Proben und …
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Er ist jetzt ein richtiger Star. So viel ist
klar. Aber sonst? Je mehr man ihn sieht,
über ihn liest, von ihm hört, umso schwieriger scheint eine Antwort auf die Frage,
wer Olli Dittrich wirklich ist, wenn man
mal von den üblichen lexikalischen Faktenfitzelchen absieht.
Dittrich, Oliver Michael (auch: Olli):
geb. 20. 11. 1956 in Offenbach, aufgewachsen in Hamburg. Zweiter von drei Söhnen
eines Journalisten und einer Künstlerin.
Mittlere Reife, Lehre als Theatermaler, arbeitslos. Desaströse Versuche, als Musiker
Karriere zu machen. Jobs als Produktmanager einer Plattenfirma, Songschreiber,
Packer, Conférencier von Nonsens-Veranstaltungen.
*
„Wir hatten so eine Art internen Konkurrenzkampf, wer von uns beiden vorher
erfolgloser war“, erinnert sich Wigald Boning, der Dittrich Anfang der neunziger
Jahre kennengelernt hat. Boning weiß
noch, wie er ihm damals beim ersten Treffen die letzten beiden Biere aus dem Kühlschrank soff. Das war das „Vorher“.
WALTER RAMIREZ / ACTION PRESS (M.); SCHRAPS / BABIRADPICTURE (R.)
dicht ist er nicht, aber auf sehr sympathische Weise“
Dann kam 1993 diese neue Show namens „RTL Samstag Nacht“, bei der sie
schon als Team anheuerten. Dann kamen
Ideen wie „Zwei Stühle – eine Meinung“
mit Dittrich als Pavarotti oder Beckenbauer und Boning als Interviewer-Frettchen in
Kunstrasenanzügen. Dann schwollen die
Quoten an, und Boning/Dittrich machten
auch noch als „Die Doofen“ Musik. Plötzlich stand Dittrich vor 70 000 Menschen auf
dem Nürburgring und intonierte Texte der
Sorte: „Nimm mich jetzt, auch wenn ich
stinke, denn sonst sag ich winke, winke.“ Es
schien, als fielen die Erfolge umso größer
aus, je bekloppter die Inhalte wurden.
Sie rieben sich wund an diesem Erfolg.
Boning weiß noch, wie sie mit „Zwei Stühle – eine Meinung“ anfingen. Donnerstagabends fuhren sie dazu in ein Kölner
Steakhaus. Meist stand das Konzept, bis
das Fleisch auf den Tisch kam. Von Woche
zu Woche und von Saison zu Saison dauerte es länger – bis sie als letzte Gäste immer noch an den Texten feilten.
„Olli hat einen Hang zu rigorosem Perfektionismus“, sagt Boning heute. „Dieser
Fleiß … Mir ging das immer ab.“
Er erzählt, wie sie nach drei Jahren zum
ersten Mal gemeinsam zu ihren RTL-Chefs
sagten, man müsse anfangen, über ihre
Nachfolger nachzudenken. Wohl auch,
weil alle viel Geld verdienten, ging es dann
doch noch zwei Jahre weiter bis 1998.
Natürlich nervten sie einander, natürlich stritten sie sich auch. Aber Boning legt
Wert darauf, dass diese Kräche nie echte
Bedeutung bekamen. Am Ende trennten
sie sich als Gag-Team wie als „Doofen“Duo, „weil die gemeinsamen Konzepte einfach ausgereizt waren. Wir waren leer“.
Solo fiel jeder in sein eigenes Loch. Boning sortierte sich noch, da sah er Dittrich
als Außenreporter von „Wetten, dass …?“
wieder im Fernsehen. Es gab Leute, die
das peinlich fanden oder mitleiderregend.
Boning wusste, dass Dittrich es nicht wegen des Geldes oder des TV-Millionenpublikums machte: „Olli liebt seine Arbeit.
Aber manchmal macht Liebe auch blind.“
*
Dienstagnachmittag mitteleuropäischer
Zeit: Thomas Gottschalk hat in Kalifornien
gerade seinen Sohn zur Schule gebracht.
Er soll was zu Dittrich sagen? Klar. Natürlich. Überhaupt sagen alle, die man darum
bittet, gern etwas zu Dittrich:
Bevor Olli 1998 bei mir anfing, die Außenwetten zu moderieren, waren die „Doofen“ ja schon eine Riesennummer für die
jüngere Zielgruppe. Darauf muss ein alter
Sack wie ich achten, auch wenn ich mit
Freuden feststellte, dass Olli nicht viel jünger ist als ich. Dabei dachten manche:
Spinnt der? Also ich meine: er. Olli hat es
gern gemacht und gut, denn das mit den
Außenwetten ist eine schwierige Sache:
Du hast da entweder einen Selbstdarsteller stehen oder jemanden, der es gar nicht
kann. Olli hatte nur das Problem mit
all den Bürgermeistern und Feuerwehrhauptmännern, die da rumstehen an
Skischanzen und auf Marktplätzen und
alle mal ins Bild wollen. Außerdem wollte
er immer in irgendwelche Figuren schlüpfen, womit er recht hat, denn ein Herr Dittrich an sich ist ja auch schwer vermittelbar.
Er ist ein totales Chamäleon. Irgendwann
haben er und ich gemerkt, dass der Job
ihm keine berufliche Zukunft bietet. Stress
gab’s dabei keinen. Einem wie Olli kann
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man sowieso nicht böse sein. Er ist ein …
ja … ein reizender Mensch, nachdenklich,
wahnsinnig tiefschürfend. Eigentlich mehr
ein Konzeptkünstler. Eher valentinesk in
seinem Humor. Mit einem heiligen Ernst,
der manchmal nicht von dieser Welt zu
sein scheint. Ich selbst bin quasi Vorsitzender des Olli-Dittrich-Fanclubs, Außenstelle Malibu. Er hat, was mir fehlt: diese Melancholie, dieses Grenzdepressive.
Okay, ganz dicht ist er nicht, aber auf sehr
sympathische Weise. Man kann mit ihm
ganz ernst über alles reden. Alles. Als vor
zwei Jahren meine Mutter starb, hat er mir
einen langen Brief geschrieben. Handschriftlich. Mit Füller. So etwas erlebt man
in unserem Geschäft nicht oft.
*
Die „Wetten, dass …?“-Aushilfe lief bis
2000, bis zu dem Jahr, in dem das ZDF es
auch mit Dittrichs „Olli, Tiere, Sensationen“
probierte. Das Format war grandios, die
Quote elend. Absetzung nach zwei Staffeln.
Eine kleine Idee überlebte: „Blind Date“.
Inzwischen gibt es sechs dieser winzigen Kammerspiele und drehbuchfreien
Spontanbegegnungen zwischen einem
Mann (Dittrich) und einer Frau (Anke Engelke), bei denen nur die Rollen vorher
festgelegt werden, aber keine Dialoge.
SPIEGEL: Welchen Anteil haben Sie am Erfolg von „Blind Date“?
Engelke: Keine Ahnung. Ich rede da immer von „Wir“. Aber das ist 100 Prozent
Olli – bis hinein in den Schnitt dieser so eigenen wie eigenartigen Begegnungen.
SPIEGEL: Wie haben Sie Dittrich eigentlich
kennengelernt?
Engelke: Glaubt einem zwar kein Mensch –
aber das war mal auf dem Flughafen. Je89
mand wollte ein Foto mit mir
machen und drückte Olli, der
gerade vorbeilief, achtlos die
Kamera in die Hand. Auch ich
erkannte ihn erst, als er das
Ding wieder runternahm. Damals war er bei „RTL Samstag
Nacht“ und ich bei der Sat.1„Wochenshow“. So fing das
an. Wir verstanden uns sofort.
Er ist auch ein wahnsinnig
spiritueller Mensch.
SPIEGEL: Bitte?
Engelke: Jaja, das klingt jetzt
so bescheuert. Aber zwei Begriffe werden Sie von Olli immer wieder hören: „Kraft“,
jede Rolle hat für ihn ihre
eigene Kraft. Und dann erst
kann jener „Zauber“ entstehen, der ihm wichtig ist bei
allem, was er tut. Deshalb ist Goebbels-Darsteller Dittrich: Tiefe Grundtraurigkeit
das auch gar kein Widerspruch – seine akribische Perfektion und
Dittrich ist später im fertigen Film kaum
die Spontaneität von „Blind Date“. Der ei- eine Minute lang zu sehen. Die Rolle sei
gentliche Dreh ist ja quasi nur noch der auch nie größer angelegt gewesen, sagt
Schluss- und Höhepunkt aller Vorbereitung. Baier, der gern wieder mit diesem so junSPIEGEL: Sie werden sich dieses Jahr zum genhaften Verwandlungskünstler drehen
siebten „Blind Date“ treffen?
würde, in dem er eine tiefwurzelnde
Engelke: Sicher. Wir kennen ja inzwischen Grundtraurigkeit vermutet. Im Grunde sei
beide das komplette Stimmungsspektrum Dittrich ein unglaublich ernster Mensch.
von hysterischer Fan-Verehrung bis Total*
Akribie und Ad-hoc-Comedy, Wahnsinn
verriss. Da bedeutet „Blind Date“ auch
Ruhe und Einverständnis. Wir müssen uns und Methode, Improvisation und Diszinichts mehr beweisen. Und Olli – das ist plin, Witz und Melancholie, Verstand und
immer ein unglaublicher Facettenreichtum, Verzweiflung, Lacher und Lächerlichkeit
– seit eineinhalb Jahren kulminiert das alohne krampfig oder verkopft zu sein.
les in der „Eppendorfer Grill-Station“, wo
*
Mal tauchte er in der Rolle eines ent- Dittrich jeden Sonntagabend eine Livenervten TV-Redakteurs in Helmut Dietls Folge von „Dittsche – Das wirklich wahre
„Late Show“ auf, mal als Ossi-Karikatur in Leben“ dreht.
der Kino-Komödie „Der Wixxer“. Dann
Dittrich spielt Dittsche nicht, er ist Dittkam dieser Auftrag in Berlin. Der Dreh sche. Von Goebbels bis zu den „Doofen“
hatte noch gar nicht begonnen, aber Ditt- wird plötzlich alles eins: Dittsche ist
rich war schon – Joseph Goebbels.
Deutschland. Eine unglaublich feinnervige
Der Regisseur Jo Baier kann sich noch Unterschichten-Ikone, Loriot in Hartz-IVsehr gut daran erinnern. Er hatte für sein Land. Dieser arbeitslose Verlierer, der beim
„Stauffenberg“-Projekt etliche Schauspie- Bierholen en passant die Welt deutet, verlerkataloge durchforstet auf der Suche steht nichts, kann aber alles erklären. Er
nach einem Darsteller. Dittrich habe dem ist rechthaberisch, detailversessen, gedanPropagandaminister wirklich erschreckend kenverloren, kompliziert, verstört, offen,
ähnlich gesehen. Baier traf ihn und wusste verbohrt und komisch nur in seiner Tragik.
sofort, dass er der Richtige wäre.
Dittsche ist 41, Dittrich wird dieses Jahr
Und wie Dittrich sich dann vorbereitet 50. Er hat nun jeden Medienpreis gewonhabe … Wahnsinn! Monatelang. Doku- nen, jede Demütigung mindestens einmal
mentationen geguckt. Gelesen. Goebbels selbst erlebt. Er war ganz unten und ganz
bis in feinste Nuancen der Körperhaltung oben, wieder unten und ist nun erneut
hinein studiert. Etliche Kilo abgespeckt.
oben mit dieser ganz und gar deutschen
Baier sagt, ihn selbst habe auch und ge- Ganz-unten-Rolle seines Lebens. Der
rade dieser Kontrast interessiert – von den Mann ist angekommen – mit Bademantel
„Doofen“ zu Goebbels. Das sei auch ein im Imbiss und mit Cowboyhut in einer
Risiko gewesen. Für Dittrich. Für den Film. komischen Country-Band.
Beide hätten ja aneinander scheitern
Er wird sein Bestes geben in Athen. Es ist
können.
nicht davon auszugehen, dass Schlager-JuAber dann sei dieser Morgen gekom- roren in Kroatien oder Norwegen das kamen auf dem alten Berliner Militärgelände. pieren werden. Aber das ist auch nicht
Baier erinnert sich, wie er Dittrich kurz wichtig. Dittsche könnte es erklären. Nur,
begrüßte, der da schon in Goebbels’ Ges- mal wirklich ehrlich: Das würde auch nieten zu verschwinden begann.
mand verstehen. Das ist ja der Zauber. ™
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MATTESCHECK / SWR
Medien
Medien
genommen, der den BND bereits im vergangenen Oktober in arge Erklärungsnöte
GEHEIMDIENSTE
gebracht hatte: Damals musste die BNDSpitze einräumen, dass der Geheimdienst
über Jahre willfährige Journalisten als
Quellen geführt und dabei auch Details
über kritische Kollegen gesammelt hat.
Doch nun werden neue Details über Art
Der BND sammelte widerrechtlich Informationen aus
und Umfang des Journalisten-Programms
der Medienbranche. Dafür führte er
bekannt, die der einstige Spitzenbeamte
Journalisten als Quellen – wohl bis in die jüngere Vergangenheit. Schäfer in seinem rund 170-seitigen Rapport zusammengetragen hat. Begonnen hater Termin war für ein Grundsatz- Der Grüne Hans-Christian Ströbele nennt te die Operation, nachdem der Weilheimer
bekenntnis bestens geeignet. Als die Spitzel-Affäre „einen gravierenden Publizist Erich Schmidt-Eenboom im SomErnst Uhrlau, 59, am Donnerstag- Vorgang“, der „den Kern der Pressefreiheit mer 1993 ein kritisches Buch mit diversen
mittag vergangener Woche zur Festrede berührt“. In einer Sondersitzung soll sich Interna über den BND publiziert hatte.
anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des das parlamentarische Kontrollgremium
Anders jedoch, als vom damaligen
Bundesnachrichtendienstes (BND) anhob, diese Woche mit dem Bericht beschäfti- BND-Präsidenten August Hanning im verlauschten Kanzlerin und Bundesinnenmi- gen. Auch der Deutsche Journalistenver- gangenen Herbst dargestellt, war der
nister geradezu andächtig. „Transparenz“, band und der Zeitungsverlegerverband for- Dienst sogar bis in die jüngere Vergangenlobte der BND-Chef, sei heutzutage auch dern die „rückhaltlose Aufklärung“ der heit daran interessiert, von und über Jourim Gewerbe der Geheimen möglich. Die Vorwürfe.
nalisten Informationen zu erhalten – noch
Rund ein halbes Jahr lang hat Schäfer als vergangenes Jahr führte er einen Mitarparlamentarische Kontrolle stelle ja sicher,
„dass die Dienste nach Recht und Gesetz externer Gutachter im Auftrag der Parla- beiter eines westdeutschen Nachrichtenarbeiten“. Als hätte der Allmächtige Cho- mentarier jenen Vorgang unter die Lupe büros unter dem Decknamen „Sommer“.
reografie geführt, fiel ein
Erst im Herbst 2005, als die
Sonnenstrahl durch das
Affäre bereits ihren Lauf geGlasdach und tauchte den
nommen hatte, kappte der
Schlüterhof des Deutschen
BND den Kontakt. „SomHistorischen Museums in
mer“ hatte sich den Gestrahlendes Mittagslicht.
heimdiensten über die JahDas Treuebekenntnis
re immer wieder als verkann Uhrlau allenfalls als
trauenswürdiger Partner
Versprechen für die Zuangeboten, und er hatte sich
kunft gemeint haben. Denn
auch ans Kanzleramt geam Abend vor dem Festakt
wandt. Bislang hatten Hanhatte der pensionierte Bunning und Uhrlau lediglich
desrichter Gerhard Schäfer
Altfälle der neunziger Jahre
den parlamentarischen Koneingeräumt und beteuert:
trolleuren in geheimer Sit„Journalisten als Fliegenzung einen Bericht präsenfänger zu benutzen geht
tiert, der das glatte Gegennicht“ (Uhrlau).
Die Praxis, das legt der
teil glauben macht: dass
der BND zuweilen eine
Bericht des Sonderermittlers nun nahe, sah offenbar
Behörde ist, die es mit dem
Gesetz nicht sehr genau
ein Jahrzehnt lang anders
aus. Mehr als 600 000 Mark
nimmt, wenn der Informa- Geheimdienstzentrale in Pullach: „Handfester Skandal“
tionshunger allzu groß ist.
soll allein der Journalist
Wilhelm Dietl erhalten haEindeutig „rechtswidrig“
ben, der jahrelang für das
nennt der Sonderermittler
Münchner Magazin „Fomanche Operationen des
cus“ gearbeitet hat – und
Dienstes, vor allem die Oboffenbar zwischen 1982 und
servation diverser Redak1998 unter anderem unter
teure, die der BND seit 1993
dem Decknamen „Dali“
im Visier hatte und zum
dem BND diente. Dietl,
Teil jahrelang bis ins Privatvom SPIEGEL bereits Ende
leben ausspionierte. Konse2005 mit den Vorwürfen
quenzen dieses „handfesten
konfrontiert, spricht von
Skandals“ (FDP-Chef Gui„Gesprächen auf gegenseido Westerwelle) scheinen
tiger Basis“ und beteuert,
mittlerweile nicht mehr auser habe „zu keinem Zeitgeschlossen. Thomas Steg,
punkt den Auftrag gehabt,
der stellvertretende Regieden SPIEGEL auszuforrungssprecher, spricht von
schen“. „Focus“ hat sich
„unehrenhaften Versuchen
mittlerweile von ihm geder Infiltration“, gegen die
trennt. Dietl hatte in den
die Bundesregierung „vorneunziger Jahren auch Kongehen“ werde, sollten sich
takte zum SPIEGEL und eidie Vorwürfe bewahrheiten. SPIEGEL-Verlagshaus, Publizist Schmidt-Eenboom: Altpapier abgeholt
Großer Hunger
STEFAN HAERTEL / VARIO-PRESS (L.); PETER SCHINZLER (R.)
STEFAN SAHM
D
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nen Vorvertrag als Mitarbeiter, der aber
von SPIEGEL-Seite gelöst wurde, als erste
Hinweise auf Dietls BND-Nähe auftauchten. In Geheimdienstkreisen heißt es, man
habe Dietl „nie als Journalisten betrachtet,
sondern eher als Nachrichtenhändler“, der
vor allem aus dem Nahen Osten lieferte.
Brennend interessiert war der BND offenbar an der Arbeit des SPIEGEL. Mit
Hilfe verschiedener Journalisten versuchte
die Behörde, an allerlei Redaktionsinterna
zu kommen, etwa über die Plutonium-Affäre des BND, die der SPIEGEL 1995 enthüllt hatte. Als 1997 mit Hans Leyendecker
einer der beiden Autoren der PlutoniumTitelgeschichte den SPIEGEL verließ, ließ
sich der BND von einem Zuträger aus der
Medienbranche über die vermeintlichen
Hintergründe füttern. Auch über Arbeitsverträge und Abfindungen sammelte die
Behörde offenbar, was sie kriegen konnte.
Insgesamt finden sich in den Akten die Namen einer Handvoll SPIEGEL-Leute.
Bei „Focus“ führte der BND noch einen
zweiten Mitarbeiter als Kontaktmann, in den
Akten unter dem Decknamen „Kempinski“
abgelegt. Bei mehreren Treffen mit dem damaligen Abteilungsleiter Volker Foertsch
spekulierte „Kempinski“ laut Treffberichten
auch über mögliche Quellen des SPIEGEL
in der BND-Führungsetage. Die Berichte
zeichnete Foertsch persönlich ab und reichte sie in die Fachabteilungen weiter. Die redaktionellen Interna, heißt es bei Ex-BNDlern, seien eher ein Abfallprodukt gewesen;
der Wert der Liaison mit „Kempinski“ habe
in seinen guten Beziehungen in den Ostblock gelegen. „Kempinski“ selbst sagt, er
sei offenbar „abgeschöpft“ worden.
Aufklärer Schäfer nennt insgesamt ein
halbes Dutzend Zuträger, die dem Dienst
als inoffizielle Mitarbeiter zu Diensten waren, darunter einen freien Journalisten, der
in verschiedenen Krisenregionen umherreist. Der Reporter war für den BND wegen seiner guten Kontakte interessant – er
berichtete aber auch, was er beispielsweise über den „Focus“-Redakteur Josef
Hufelschulte erfuhr.
Schäfer rügt die Methoden des BND allerdings nicht komplett. Er hält Teile des
Vorgehens für legitim, etwa die Überwachung Schmidt-Eenbooms, die bis 2003 erfolgte. Der Dienst habe zu Recht ein vitales Interesse daran, Maulwürfe in den eigenen Reihen aufzuspüren, dafür dürfe er
auch Mittel wie Observationen einsetzen.
Bei dem Geheimdienst-Experten
Schmidt-Eenbooms allerdings waren die
Schnüffler nicht gerade clever vorgegangen. Immer donnerstagnachts holten Beamte heimlich das Altpapier vor dem Büro
des Publizisten ab, in der Hoffnung, Hinweise auf Informanten zu finden. Weil die
Ermittler aber vergaßen, die abgeräumten
Bestände mit Ersatzpapier aufzufüllen,
wunderten sich Hausbewohner alsbald
über die außerplanmäßige AltpapierbeHolger Stark
seitigung.
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Wirtschaft
Trends
IBM
Teile und herrsche
B
JOERG SARBACH / AP
eim Deutschland-Ableger des Computerherstellers IBM brodelt es in
der Belegschaft. Nachdem der Konzern
vergangenes Jahr bereits Niederlassungen geschlossen und sogar erstmals in
Deutschland betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen hatte, kündigte
die Geschäftsleitung in Stuttgart Anfang
2006 auch noch an, die stattlichen
Betriebsrenten der langjährigen Mitarbeiter kürzen zu wollen. Rund 50 Millionen Euro sollen so pro Jahr gespart
werden. Die betriebliche Altersversorgung kann IBM-Deutschland-Chef
Johann Weihen jedoch nur mit der
Zustimmung des Konzernbetriebsrats
ändern. Der aber weigert sich bislang
hartnäckig, überhaupt über das
Sparpaket zu verhandeln, da es „keine
sachlichen Gründe“ gebe, „die massive
Einschnitte in die bestehenden Pensionspläne rechtfertigen“. Nun spitzt
Containerterminal von Eurogate in Bremerhaven
POLLEX / STRANGMANN / ACTION PRESS
LOGISTIK
Weihen
sich der Streit weiter zu. Ende April
kündigte Weihen die Betriebsvereinbarung zum Urlaubsgeld und treibt
damit einen Keil in die Belegschaft.
Während vom drohenden Wegfall des
Urlaubsgelds alle Mitarbeiter betroffen
sind, soll durch den Kahlschlag bei den
Pensionsplänen nur die Hälfte der rund
22 000 IBM-Beschäftigten in Deutschland leiden.
Bahn interessiert sich
für Eurogate
D
eutsche-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn hat seine Pläne noch nicht aufgegeben,
in das aus Sicht des Logistikkonzerns lukrative Hafengeschäft einzusteigen.
Nachdem Hamburgs Bürgermeister Ole von Beust im Januar die Gespräche mit der
Bahn über eine Beteiligung an der städtischen Hamburger Hafen und Logistik AG
(HHLA) abgebrochen hat, streckt Mehdorn seine Fühler nun nach Europas
größtem Betreiber von Containerterminals, der in Bremen ansässigen Eurogate, aus.
Das Unternehmen, 1999 aus der Fusion der Containersparte der Bremer LagerhausGesellschaft und der Hamburger Eurokai hervorgegangen, hat im vergangenen
Jahr rund 12,1 Millionen Container umgeschlagen, was Eurogate ein Rekordergebnis
von 75,4 Millionen Euro bescherte. Mehdorn hat in den vergangenen Monaten
mehrfach um ein Gespräch mit Eurokai-Eigentümer Thomas Eckelmann gebeten
– was aus Termingründen bislang nicht zustande kam. Jetzt ist ein Treffen zwischen
dem Bahnchef und Eckelmann, zugleich Vorsitzender der Eurogate-Geschäftsführung, für Juni vorgesehen. Außerdem interessiert sich die Bahn für eine Mehrheitsbeteiligung am Duisburger Hafen. Mit dem Einstieg ins Terminalgeschäft will
der Staatskonzern seine Transportkette vervollständigen und so noch stärker als bisher vom weltweiten Logistikboom profitieren.
A F FÄ R E N
BERNWARD COMES
Weitere Ermittlungen
gegen Uhl
I
n der VW-Affäre um Lustreisen für Betriebsräte
und Tarnfirmen von Top-Managern haben die
Braunschweiger Staatsanwälte ihre Ermittlungen
gegen den langjährigen Geschäftsführer des VWGesamtbetriebsrats Hans-Jürgen Uhl ausgedehnt.
Uhl
d e r
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Sie ermitteln gegen Uhl nun auch wegen des Verdachts auf Abgabe einer falschen eidesstattlichen
Versicherung. Das bestätigt ein Staatsanwalt dem
SPIEGEL. Uhl hatte in einer eidesstattlichen Versicherung beteuert, er habe nie private Vergünstigungen auf Firmenkosten erhalten. Der Deutsche
Bundestag, dem Uhl seit 2002 angehört, hat bereits
im vergangenen Jahr die Immunität des SPDAbgeordneten aufgehoben. Uhls Anwalt Michael
Nesselhauf sagt zu den neuen Ermittlungen nur:
„Die eidesstattliche Versicherung ist richtig.“
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FRANK DARCHINGER
Trends
Telekom-Zentrale in Bonn
V E R H A LT E N S K O D E X
Tugend bei der Telekom
D
ie Deutsche Telekom verordnet sich
und ihren weltweit rund 240 000 Mitarbeitern einen Verhaltenskodex. „Wir
möchten garantieren, dass unser Handeln
jederzeit ethisch einwandfrei, korrekt und
vorbildlich ist“, schreibt Konzernchef
Kai-Uwe Ricke im Vorwort einer internen
Broschüre mit dem Titel „Unser Code
of Conduct. Gemeinsam Werte leben.
Zusammen Werte schaffen“. Unter der
B
Kapitelüberschrift „Integrität“ ruft der
Verhaltenskodex alle Beschäftigten des
Konzerns dazu auf, „jegliche Form korrupten Verhaltens zu unterlassen“. Den
Telekom-Mitarbeitern sei es verboten,
„Entscheidungsträger in Unternehmen,
Behörden oder staatlichen Institutionen
unerlaubt zu beeinflussen, indem sie diesen Vorteile anbieten, versprechen oder
gewähren“. Auch dürfen die Beschäftigten
VERBÄNDE
ALLIANZ
Hambrecht
beerbt Pierer
Korruptionsfall bei
EDV-Tochter
EUGENE HOSHIKO / AP
ASF-Chef Jürgen
Hambrecht übernimmt
am 18. Juli den Vorsitz des
Asien-Pazifik-Ausschusses der
Deutschen Wirtschaft (APA).
Hambrecht löst Ex-SiemensVorstand Heinrich von Pierer Hambrecht
ab, der den APA seit dessen
Gründung 1993 führt. Der Ausschuss, der von allen großen
deutschen Wirtschaftsverbänden getragen wird, unterstützt
deutsche Firmen im Wettbewerb um die asiatischen Märkte.
Hambrecht hat mehrere Jahre im Rang eines BASF-Vorstands
in Hongkong residiert und das Asiengeschäft des größten
Chemiekonzerns der Welt aufgebaut. Erst im vorigen Jahr
eröffnete Hambrecht den Verbundstandort im chinesischen
Nanjing – mit 2,9 Milliarden Dollar die größte Auslandsinvestition der BASF.
96
selbst keinerlei Vorteile von den Entscheidungsträgern annehmen. „Wir achten das Recht und erwarten dasselbe von
unseren Geschäftspartnern“, heißt es in
dem Verhaltenskodex. Mit der Umsetzung
ihrer Vorsätze will die Telekom Ernst
machen. In der Konzernzentrale wird eine
„Ethikline“ eingerichtet, bei der Mitarbeiter Verstöße gegen den Verhaltenskodex melden können – wenn gewünscht,
anonym. In den kommenden Wochen
werden die Führungskräfte in die Bonner
Konzernzentrale bestellt, wo sie auf den
Verhaltenskodex eingeschworen werden
sollen. Erscheinen ist Pflicht.
d e r
G
egen zwei leitende Mitarbeiter der Allianz-EDVDienstleistungstochter Agis ermittelt die Frankfurter
Staatsanwaltschaft wegen Korruptionsverdachts. Nach den
Erkenntnissen der Ermittler sollen ein Abteilungs- und ein
Referatsleiter seit Ende 2002 Aufträge an eine in Eschborn ansässige Firma vergeben haben, die eine der Ehefrauen unter
ihrem Mädchennamen betrieben hat. Zudem habe die Firma
Mitarbeiter an die Agis ausgeliehen, deren Stundensätze dann
überteuert abgerechnet worden seien. Die überhöhten Rechnungen wurden anschließend offenbar von einem Sachbearbeiter abgezeichnet, der für seine falschen Testate Schmiergeld
erhalten haben soll. Als die Allianz-Konzernrevision davon
erfuhr, packte der Sachbearbeiter aus. Der Abteilungsleiter,
seine Frau und der Referatsleiter waren bereits Ende März
festgenommen worden. Während das Ehepaar inzwischen
wieder auf freiem Fuß ist, sitzt der Referatsleiter wegen Verdunkelungsgefahr noch in Untersuchungshaft.
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Geld
IMMOBILIENFONDS
Geld für Steinbrück
E
HANS CHRISTIAN PLAMBECK
ntgegen verbreiteten Befürchtungen
besonders unter SPD-Linken hat die
Einführung börsengängiger Immobilienfonds, sogenannter Reits, keine Steuerausfälle in Milliardenhöhe zur Folge.
Nach Berechnungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) fließen im Gegen-
teil zusätzliche Steuereinahmen in die
Staatskassen – in den ersten Jahren
jährlich zwischen 200 und 300 Millionen
Euro. Diese kämen vor allem zustande,
weil beim Verkauf von Immobilien an
die Fonds stille Reserven gehoben würden, die nach den Plänen Steinbrücks
mit dem halben Körperschaftsteuersatz
versteuert werden sollen. Auch die
Einnahmen aus der Grunderwerbsteuer
würden durch die Belebung des Immobilienhandels steigen, kalkulieren die BMF-Experten. Seit Monaten streitet sich Finanzminister Peer Steinbrück, SPD, mit
Teilen der SPD-Fraktion über
die Einführung der Finanzmarktinnovation. Die Gegner kritisieren vor allem, dass die Fonds,
wie in anderen Ländern üblich,
von der Steuer befreit werden
sollen. Steuerpflichtig sind allein
die Anteilseigner. Steinbrücks
Widersacher befürchten, die
Konstruktion eröffne neue Möglichkeiten für Steuertrickser und
koste den Fiskus deshalb Milliarden. In dieser Woche wollen
sich die Kontrahenten noch einmal zur Aussprache treffen.
Steinbrück
AIR BERLIN
Im Visier der
Heuschrecken
D
er flaue Börsenstart von Deutschlands zweitgrößter Fluglinie Air
Berlin in der vergangenen Woche macht
Firmenchef Joachim Hunold und den
begleitenden Banken schwer zu schaffen. Nur wenige Stunden hielt sich die
Aktie über dem Emissionspreis, dann
Aktienkurs
in Euro, Intraday-Handel
Donnerstag
Freitag
12,50
12,00
Ausgabepreis:
12,00 ¤
Quelle: Bloomberg
11,00
d e r
rutschte der Kurs zum Entsetzen aller
Beteiligten deutlich ab. Doch nicht nur
die schlechten Quartalszahlen der Lufthansa und die Kursschwäche bei den
Konkurrenten Ryanair und Easyjet
zwangen Air Berlin in den Sinkflug. Die
als Heuschrecken verschrienen Hedgefonds wetteten offenbar auf einen Wertverlust. „Leerverkäufer sind in den
Markt gegangen und haben auf fallende
Kurse spekuliert“, bestätigt ein Frankfurter Banker. Die Fonds profitierten
davon, dass die Konsortialbanken Commerzbank und Morgan Stanley versuchten, den Kurs in der Höhe des Emissionspreises zu stützen. Mit dem Auf und Ab
konnten die Fonds Kasse machen. Zeitweise fiel die Aktie gar unter die Schwelle von elf Euro. In den Reihen der Schweizer Großbank UBS dürfte darum in diesen Tagen ein bisschen Schadenfreude
herrschen. Bis vergangenen Herbst teilte
sich die Commerzbank die Air-BerlinBeratung noch mit den Schweizern. In
deren internen Berechnungen soll die
Air-Berlin-Aktie anfänglich mit einem
Preis von rund zehn Euro bewertet worden sein. Aufgrund unterschiedlicher Analysemethoden bezüglich der Flugzeugleasing-Verträge lag man unter dem von
der Commerzbank berechneten Firmenwert. Ein Air-Berlin-Sprecher bestreitet,
dass UBS dafür jemals ein offizielles
Mandat seines Unternehmens hatte.
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Sicherheitsleitstelle (in der Frankfurter Commerzbank-Arena): Es steht weit mehr auf dem Spiel als viel Geld
TORSTEN SILZ / DDP
KON Z E R N E
Die Maut lässt grüßen
Der Aufbau eines digitalen Netzes für Polizei und Feuerwehr droht sich weiter zu verzögern:
Die Ausschreibung für das Milliardenobjekt verlief unter merkwürdigen
Umständen, die Entscheidung ist umstritten, und eine unterlegene Firma droht mit Klage.
E
ine Dienstreise der eher ungewöhnlichen Art führte etliche Beamte des
Bonner Beschaffungsamts Anfang
Mai nach Helsinki. Ihr Ziel: ein bläulich
schimmerndes, siebenstöckiges Gebäude
in einem tristen Gewerbegebiet am Rande
der finnischen Hauptstadt.
Hier, in hermetisch abgeriegelten Labors
des Handy-Riesen Nokia, trafen die Staatsdiener Experten des Rüstungs- und Luftfahrtkonzerns EADS. Die mussten ihren
Gästen zahllose Fragen beantworten.
Die Antworten fielen offenbar zu deren
Zufriedenheit aus. Und wenn der Rest der
Prüfungen ebenfalls positiv verläuft, wird
das Beschaffungsamt des Bundesinnenministeriums Ende Juni einem von EADS,
Nokia und dem deutschen Elektronikkonzern Siemens gebildeten Industriekonsortium den Zuschlag für ein Milliardengeschäft erteilen.
Es ist einer der größten Staatsaufträge,
die Deutschland seit dem Maut-Projekt zu
vergeben hat – und er könnte ebenso brisant werden.
Es steht weit mehr auf dem Spiel als viel
Geld: die Sicherheit der Bürger. Denn was
in Helsinki getestet wird, ist ein neues,
abhörsicheres Mobilfunknetz für Behör98
den und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS).
Spätestens im Jahr 2010 soll das bundesweit einheitliche BOS-Netz den Flickenteppich der veralteten Analognetze
ablösen. Dann sollen Grenzschutz und Polizei, Feuerwehren, Sanitätsdienste und
Technische Hilfswerke genauso miteinander reden und Daten austauschen können,
wie es für private Handy-Nutzer längst
selbstverständlich ist.
Rund 3,5 Milliarden Euro muss die öffentliche Hand für das digitale System ausgeben. Allein der Aufbau des Netzes, dessen Auftrag für EADS zum Greifen nahe
ist, wird mit rund einer Milliarde Euro veranschlagt. Hinzu kommen die Kosten für
rund eine Million Endgeräte sowie den Betrieb des Netzes, den die Deutsche Bahn
übernehmen soll.
Umso verwunderlicher erscheinen nicht
nur Mitbewerbern die Umstände, unter denen dieser Auftrag vergeben wird. Konkurrenten des EADS-Konsortiums wittern
gar Mauschelei. Sie sprechen von einer gezielten Steuerung des Vergabeverfahrens.
Bis März hatten sich noch vier internationale Industriekonsortien Hoffnungen
gemacht, zumindest einen Teil des weltd e r
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weit größten Auftrags im BOS-Geschäft zu
ergattern. Neben EADS durften auch der
Mobilfunkriese Vodafone und die britische
Traditionsfirma Marconi Angebote abgeben. Als Favorit aber galt der US-Konzern
Motorola, unterstützt von der TelekomTochter T-Systems und dem Münchner
Elektronikspezialisten Rohde & Schwarz.
Monatelang hatten die vier Konsortien
nicht nur Tausende Fragen in den kilo-
Einsätze von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk:
FINNLAND
Digitaler
Behördenfunk in
Europa*
Wirtschaft
SCHWEDEN
RUSSLAND
DÄNEMARK
IRLAND
GROSSBRITANNIEN
Konkurrierende
Systeme:
n Tetra
n Tetrapol
n noch nicht
entschieden
NIEDERLANDE
POLEN
BELGIEN
DEUTSCHLAND
Quelle: Rohde &Schwarz
TSCHECHIEN
SLOWAKEI
FRANKREICH
SCHWEIZ
ÖSTERREICH
SPANIEN
ITALIEN
* Entscheidung gefallen, zum Teil
im Aufbau oder bereits im Betrieb
Die Entscheidung, meint Kerkhoff,
„dürfte die Steuerzahler viel Geld kosten“.
Ehe es zu Preisverhandlungen gekommen
sei, bei denen sich erfahrungsgemäß Nachlässe von bis zu 40 Prozent aushandeln ließen, und noch bevor das ausgewählte
Unternehmen bewiesen habe, dass es die
Technik wirklich beherrscht, habe sich der
Bund an einen einzigen Anbieter gefesselt.
Das sei „schlichtweg dilettantisch“.
Selbst Beamte des Beschaffungsamts
sprechen von einer „unglücklichen Situation“. Denn sollte EADS jetzt auch noch
die ausstehenden Feldversuche in Berlin
und Stuttgart bestehen, verlangen die Ausschreibungsregeln, dass der Auftrag an
EADS vergeben werden muss.
Wie konnte es zu solch einer Situation
kommen? Warum haben sich Bund und
Länder in eine Lage manövriert, in der ein
Anbieter Preise, Technik und Lieferzeiten
quasi nach Belieben diktieren kann? War
es Unfähigkeit? Absicht? Oder Zufall?
Das müssen möglicherweise Gerichte
klären. Der US-Konzern Motorola, der den
NORBERT MILLAUER / DDP
SASCHA RHEKER / ATTENZIONE
schweren Ausschreibungsunterlagen beantwortet. Alle hatten auch Vorbereitungen getroffen, um der Vergabebehörde in
praktischen Tests beweisen zu können,
dass ihr System den hohen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik genügt.
Doch dazu wird es nicht mehr kommen.
Nachdem das Beschaffungsamt Vodafone
bereits im Februar eine Absage erteilt hatte, wurden am 8. März auch Motorola und
Marconi endgültig aussortiert. Nach Bewertung der schriftlichen Unterlagen seien
entscheidende „Mindestanforderungen
nicht erreicht“ worden. Deshalb, teilten
die Beamten mit, könne „auf Ihr Angebot
kein Zuschlag“ erfolgen.
Lediglich EADS blieb im Rennen – nach
nur einer von drei vorgesehenen Prüfungsphasen. Auch unabhängige Experten
kritisieren die frühzeitige Festlegung auf
nur einen Anbieter. Das sei ein „fataler
Schildbürgerstreich“, sagt etwa Gerd Kerkhoff, Chef des international renommierten Beratungsunternehmens Kerkhoff
Consulting.
GRIECHENLAND
Ersatzteile nur noch vom Flohmarkt
d e r
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Weltmarkt im BOS-Geschäft dominiert,
will sein frühzeitiges Ausscheiden im
Kampf um den prestigeträchtigen Auftrag
jedenfalls so nicht hinnehmen. Deutschland-Chef Norbert Quinkert sieht gravierende Mängel in der Ausschreibung und
droht öffentlich mit Klage.
Die Notwendigkeit zur Einführung des
digitalen Blaulichtfunks ist spätestens seit
den Terroranschlägen auf das World Trade
Center in New York oder auf den Nahverkehr in London und Madrid auch unter
deutschen Experten unumstritten.
Immer noch arbeiten die Sicherheitskräfte hierzulande mit unterschiedlichsten
Systemen, deren Reichweite nicht selten an
Stadt- oder Landesgrenzen endet und die
nur eines gemeinsam haben: Sie können
leicht abgehört werden, sind unzuverlässig
und nicht in der Lage, Fingerabdrücke oder
Fahndungsfotos zu übertragen.
Damit, spotten Kenner, stehe Deutschland auf einer Stufe mit Albanien, das
ebenfalls über kein flächendeckendes Digitalfunknetz verfügt. Um Ersatzteile für
ihre veralteten Funkgeräte zu bekommen,
müssen Polizisten und Feuerwehren nicht
selten sogar die Flohmärkte abgrasen.
Obwohl der Unterhalt der alten Blaulichtnetze ständig teurer wird, wurde bis
vor einem Jahr verbissen über Kosten und
Technik gestritten. Dabei hatten sich die
EU-Staaten bereits 1990 verpflichtet, kompatible Funksysteme aufzubauen.
Während fast alle Nachbarländer relativ
schnell entsprechende Beschlüsse fassten,
sorgte der Föderalismus in Deutschland für
einen Investitionsstau. Denn für die Polizei
sind größtenteils die Länder zuständig, für
die Feuerwehr die Kommunen, der Bund
zeichnet für Zoll, Grenzschutz und das
Bundeskriminalamt verantwortlich. Doch
wer welchen Anteil an dem Projekt zahlen
sollte, blieb immer umstritten – und ist
selbst heute nicht endgültig geklärt.
Auch die Technik geriet zum Zankapfel.
Vornehmlich zwei unterschiedliche Digitalsysteme standen zur Diskussion, obwohl
das EU-Institut ETSI bereits 1995 unter
dem Namen Tetra 25 eine Technik genormt
hatte, die von vielen Firmen – darunter
Motorola und Nokia – angeboten wird.
Davon ließ sich EADS nicht beeindrucken und machte sich mit einem Heer
von Lobbyisten – darunter Arne Schönbohm, der Sohn des brandenburgischen
Innenministers Jörg Schönbohm – für das
firmeneigene System Tetrapol stark. Die
ursprünglich vom französischen Rüstungskonzern Matra entwickelte Technik wird
beispielsweise in Frankreich, Spanien und
der Schweiz eingesetzt.
Obwohl die Blaulichtnetze spätestens
zur Fußballweltmeisterschaft 2006 digital
sein sollten, setzte sich erst kurz nach der
Jahrtausendwende eine Expertengruppe
aus Bund und Ländern zusammen, um die
äußerst anspruchsvollen technischen Merkmale des neuen BOS-Netzes zu definie99
PAUL WHITE / AP
Von dort, so lauten Vermuren. Bis dann auch die Finantungen in der Branche, könnzierungsfrage zumindest im
ten Ausschreibungsdetails vorGrundsatz gelöst war, dauerte
ab an EADS weitergeleitet wores noch einmal Jahre.
den sein. Anders sei kaum zu
Die Einigung, die Anfang
erklären, dass Motorola an acht
2005 vom damaligen InnenmiMindestanforderungen gescheinister Otto Schily (SPD) inititert sei, während EADS mit
iert wurde, sieht vor, dass der
dem Nokia-System alle Hürden
Bund ein Rumpfnetz aufbaut,
gemeistert habe.
das rund 50 Prozent der StaatsDas Beschaffungsamt wiegelt
fläche abdeckt. Dieses Netz,
ab: Bei den Beratern handele
entschied Schily ohne Auses sich um anerkannte Fachschreibung, soll von der Bahn
leute, die schon vor der Ausbetrieben und von den Ländern
schreibung benannt und den
erweitert werden.
Bietern mitgeteilt worden seiObwohl klar war, dass die
en. Damals habe keiner BedenEinführung des neuen Polizeiken gegen die Aachener angefunks zur Fußball-WM nicht Terroranschlag in Madrid 2004: Hohe Sicherheitsanforderungen
meldet, obwohl deren Gemehr zu realisieren sein würde,
machte sich das Beschaffungsamt sofort an cherheitsbeamte mit Geschenken in Form schäftsbeziehungen zu Siemens und EADS
die Vorbereitung der Ausschreibung, bei von Reisen und VIP-Karten beeinflusst ha- bekannt gewesen seien.
Aber wie konnte Motorola dann so eklader EADS mit dem Tetrapol-System allge- ben sollen.
Zwar wurden die Verfahren gegen Zah- tant patzen? Alle Fragen seien wahrheitsmein wenig Chancen eingeräumt wurden.
Zwar hatten sich Bund und Länder nicht lung deftiger Geldbußen eingestellt, aber gemäß beantwortet worden, behauptet der
auf eine Funknorm festgelegt, doch die Motorola beharrt darauf, dass EADS ei- Weltmarktführer. Wohl anders als bei der
Zahl der Experten, die sich für die Tetra- gentlich „wegen strafrechtsrelevanter Konkurrenz habe man sogar klar darauf
Technik einsetzten, wuchs. Und nachdem Handlungen vom Vergabeverfahren aus- hingewiesen, dass bestimmte Anforderungen nach „derzeitigem Stand der Technik
sich 2004 auch Österreich für Motorola und zuschließen“ gewesen wäre.
EADS hält den Vorwurf für absurd, zu- noch nicht zur Verfügung stehen und bis
Tetra entschieden hatte, sanken die Chanmal das Projektteam nach dem unappetit- zum endgültigen Netzaufbau erst entcen für EADS und Tetrapol gegen null.
Da traf es sich gut, dass Nokia die Freu- lichen Zwischenfall komplett ausgetauscht wickelt“ werden müssten.
Offenbar, schreibt Motorola in einer ofde an seiner BOS-Sparte verloren hatte. wurde. Das Beschaffungsamt lehnt die
fiziellen „Rüge“ an das Beschaffungsamt,
Denn der Handy-Konzern, der unter an- Forderung von Motorola ebenfalls ab.
Die Affäre ist aber nur ein Mosaikstein habe diese Ehrlichkeit dazu geführt, dass
derem die Tetra-Netze in Finnland und
Belgien aufgebaut hatte, bekam Ärger mit in einer Reihe von Merkwürdigkeiten. wichtige Leistungsmerkmale als „nicht vorseinen staatlichen Auftraggebern, weil zu- Immer wieder weisen Konkurrenten auch handen“ gewertet wurden. Dies stelle eine
gesagte Leistungen offenbar nicht realisiert auf die engen Beziehungen zwischen „unverhältnismäßige Abwertung“ dar, auf
wurden. In Großbritannien und den Nie- EADS und einer Aachener Firma hin, die Motorola möglicherweise mit einer
derlanden, wo Nokia ebenfalls den Zu- die das Beschaffungsamt als Berater enga- Klage reagieren werde.
Vielleicht, sagen Berater der Motorolaschlag bekommen hatte, gaben die Finnen giert hat.
Konkurrenten, sei der Branchenprimus
sogar den Auftrag zurück. Der ging dann in
einfach nur zu arrogant gewesen. So ist es
beiden Ländern an Motorola.
für Experten etwa völlig unverständlich,
Um im Rennen zu bleiben, übernahm
warum Motorola eine „fiktive NetzplaEADS vergangenes Jahr in aller Eile die
Erste Auswertung des Ausschreibungsnung“ mit nur rund 1800 Basisstationen
kränkelnde BOS-Sparte von Nokia. Seither
verfahrens für den digitalen Behördenfunk
eingereicht habe, die unter Realbedingunwirbt EADS mit glühenden Worten für den
in Deutschland
gen nicht funktionieren kann – und an die„offenen Standard“ von Tetra 25, der den
sen Zahlen hielt Motorola sogar auf NachAnwendern „kostengünstigere und größefrage fest. Die Konkurrenten hatten für die
re Auswahl bei höherer Qualität“ sichere.
geforderte „Modellrechnung“ mit mindesUnd als hätte der Bund genau darauf gemit Siemens und Nokia
tens 4000 Basisstationen kalkuliert, die der
wartet, veröffentlichte er kurz darauf seine
Realität näherkommen, ihre Angebote
1530 Seiten starke Ausschreibung.
Funktechnik Tetra
allerdings auch teurer machten.
Gleichwohl waren viele Experten davon
alle Kriterien erfüllt
Gleichgültig, welche Version sich am
überzeugt, dass der EADS-Schwenk zu
Ende als richtig erweist – für Bund und
spät kam. Umso mehr überraschte die EntLänder ist die nun entstandene
scheidung, die das BundesSituation heikel. Besteht EADS
innenministerium dann im
alle Tests, sind die SicherheitsMärz bekanntgab: EADS habe
behörden von einem Lieferan„das wirtschaftlichste und fachabgelehnt wegen
Funktechnik Tetra
ten und dessen Preisen abhänlich beste Angebot“ abgegeben
Funktechnik
fünf Kriterien
gig. Fällt EADS durch, muss die
und erfülle als einziger BewerGSM-BOS
nicht erfüllt
Ausschreibung neu aufgerollt
ber sämtliche technischen Anwerden. Zieht Motorola vor Geforderungen.
richt, muss die Vergabe bis zur Klärung
Das wollen die Unterlegenen nicht hinverschoben werden.
nehmen, zumal es schon im Vorfeld des
Die Chancen, das Netz bis zum Jahr
Milliardenpokers zu einem Eklat gekommit T-Systems, Rohde & Schwarz
2010 endgültig in Betrieb zu nehmen, sinmen war. Da leitete die Staatsanwaltschaft
Funktechnik Tetra
ken damit erheblich.
in Ulm Ermittlungsverfahren gegen fünf
Frank Dohmen,
acht Kriterien nicht erfüllt
Klaus-Peter Kerbusk
EADS-Manager ein, die Politiker und Si-
Ohne Konkurrenz
100
d e r
s p i e g e l
2 0 / 2 0 0 6
Wirtschaft
BMW-Chef. Gegenüber Audi, die stets mit
ihrer erfolgreichen Aufholjagd prahlen, hat
AU TOI N D U ST R I E
er sich in den vergangenen fünf Jahren glatt verdoppelt. „Aufgrund dieser
Fakten von Aufholen zu sprechen, fällt mir
schwer.“
BMW will spätestens 2008 1,4 Millionen
Autos
verkaufen. „Jetzt sagt Audi, sie wolDer Autokonzern BMW fährt der Konkurrenz davon, doch die
len 2008 eine Million Fahrzeuge verkauöffentliche Aufmerksamkeit gilt den Wettbewerbern Mercedes
fen“, sagt Panke. Der Abstand wird weiter
und Audi. Jetzt planen die Münchner eine neue Modelloffensive. wachsen. Ganz zu schweigen vom Gewinn,
der bei BMW 2005 fast dreimal so hoch
war wie bei Audi. Und die Mercedes Car
Group musste im vergangenen Jahr sogar
einen Verlust hinnehmen.
Auf die Show der Rivalen reagiert man
in München zunehmend genervt. Ein
BMW-Manager sagt: „Wir verkaufen kein
einziges Auto mehr, wenn unser Vorstandsvorsitzender Gitarre spielt.“ Lieber
lässt man Fakten sprechen und gewährt sogar Einblick in die strenggeheime „LUP
2011“, die Langfristige Unternehmensplanung bis 2011. Aus ihr geht hervor, dass
BMW nach der Einführung der Geländewagen X3 und X5 nun die zweite Stufe
seiner Offensive zündet. Eine Reihe zusätzlicher Modelle soll den Vorsprung noch
vergrößern. Das gilt nicht nur für BMW,
sondern auch für die zum Konzern gehörenden Marken Rolls-Royce und Mini.
Gefährlicher als Mercedes-Benz und
Audi könnte den Münchnern schon bald
BMW-Chef Panke: „Unser Vorsprung ist größer geworden“
Lexus werden, die Luxusmarke von Toyoelmut Panke hat ein Problem: Er ist beharrlich als „raumfunktionales Konzept“ ta. In den USA verkauft Lexus bereits
erfolgreich. Der von ihm geführte ankündigt. Das klingt nach sozialem Woh- mehr Fahrzeuge als BMW. In Europa und
Autokonzern BMW ist Spitze. Er nungsbau oder bestenfalls nach moderner selbst in Japan spielt Lexus noch eine
hat den jahrzehntelang führenden Kon- Kunst – aber gewiss nicht nach einem Außenseiterrolle. Doch Toyota hat bewiesen, wie beharrlich der japanische Konkurrenten Mercedes-Benz überholt und sportlichen Auto.
Doch nun reicht es dem studierten zern den langfristigen Erfolg anstrebt.
Audi immer weiter hinter sich gelassen.
Deshalb mindert Panke auch nicht den
Physiker. Lange ließ er im BMW-Vorstand
Gefeiert aber werden andere.
Für Fachzeitschriften wie „Auto Motor diskutieren, ob man auf den PR-Wirbel Druck, nachdem BMW die Führung in der
und Sport“ ist Audi-Chef Martin Winter- reagieren solle, den vor allem Audi-Chef Oberklasse erreicht hat. Er lässt seinen
korn der Star. Der Entwicklungsexperte Winterkorn entfacht. Das könnte als unfein Führungskräften keine Zeit zum Feiern.
(„Ich kenne jede Schraube“) streichelt gelten. Aber vor der Hauptversammlung Manager der zweiten Ebene klagen, dass
schon mal mit der Hand über die Rück- am Dienstag dieser Woche legte Panke los. ihr Unternehmen militärisch straff geführt
leuchten eines Autos und sagt: „Wie bei „Unser Vorsprung gegenüber der Kon- werde. Jeder sichere sich mehrfach ab, bekurrenz ist größer geworden“, sagte der vor er eine Entscheidung fälle.
einer schönen Frau“.
Besonders unter Beschuss ist geFür Analysten und Wirtschaftsgenwärtig Vertriebsvorstand Michablätter ist DaimlerChrysler-Chef
el Ganal, weil er nicht annähernd
Dieter Zetsche der Größte. Er hat
1400
für so viel Wirbel wie seine KolleChrysler saniert, will jetzt 14500 ArGewinn
gen bei Audi sorgt. Ganal wird zubeitsplätze streichen und erhält
vor Steuern
Pkw-Absatz in tausend
dem vorgeworfen, dass er nicht gedennoch Applaus von der Beleg2005
nug für weitere Modelle kämpfe.
schaft. Der Mann mit dem WalrossBMW
bart wirkt stets nett und freudlich,
Das erledigt bei BMW neben dem
1175 inkl. Rolls-Royce
und Mini
und er beherrscht die Show. Auf eiEntwicklungschef überraschender1127
3,3 Mrd. ¤
nem Autosalon tritt Zetsche mit der 1053
weise vor allem der Vorsitzende des
E-Gitarre auf, oder er spielt Violine
Betriebsrats, Manfred Schoch. „Die
1093
1000 Mercedes
mit einem Kammerorchester.
beste Beschäftigungssicherung ist eine
Car Group
Und BMW? Na ja, die Münchner
gute Modellpolitik“, sagt Schoch. Das
inkl. Smart und
sind erfolgreich. Aber das ist auf
ist seine Lehre aus den beiden großen
Maybach
822
829
Dauer ja eher langweilig.
Krisen von BMW. 1959 verfügte
–0,5 Mrd. ¤
Die Automobilindustrie lebt wie
BMW mit dem 502 über ein zu großes
Audi
kaum eine andere Branche nicht
und mit der Isetta nur über ein sehr
inkl. Lamborghini
nur von Zahlen und Fakten, sonkleines Modell. Es drohte die Über653
1,3 Mrd. ¤
dern auch von Glitzer und Glanahme durch Daimler-Benz.
mour. Und BMW-Chef Panke ist
1999 brachte Rover den Konzern
2000
2005
2008
Planung
einer, der ein zusätzliches Modell
ins Wanken. Die britische Tochter
JOERG KOCH / DDP
Die zweite Stufe
H
Wachwechsel
in der Oberklasse
102
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CARLOS OSORIO / AP
Wirtschaft
BMW-Stand auf der Detroit Motor Show 2005: Neue Modelle sichern vorhandene Jobs
104
Die Entwickler im Forschungs- und Innovationszentrum von BMW arbeiten derzeit an so vielen neuen Modellen, dass auch
Eingeweihte fast den Überblick verlieren.
Sie entwerfen einen kleinen Geländewagen, der Kunden ansprechen soll, die eine
höhere Sitzposition wünschen, denen der
X3 aber zu groß ist. Erste Zeichnungen gibt
es für einen Sportwagen, der vom 6er abgeleitet ist, aber über vier Türen verfügt.
Weiterwachsen soll auch die Marke
Mini. Es wird einen kleinen Kombi geben.
Diskutiert wird ein Zweisitzer, der dem
bislang einzigen Modell dieser Art, dem
Smart, Konkurrenz machen könnte. Er soll
möglicherweise Mini-Mini heißen. Und bei
Rolls-Royce gibt es Pläne, neben dem
Phantom für 375 000 Euro ein Modell zu
konstruieren, das preislich etwas niedriger
angesetzt ist – einen Rolls für rund 250 000
Euro.
Die Ausweitung der Modellpalette birgt
allerdings eine Gefahr: Sie treibt die Kosten in die Höhe, und es ist ungewiss, ob die
neuen Autos auch genügend Käufer finden. Mercedes-Benz hat nach Einschätzung des neuen Chefs Zetsche bereits das
eine oder andere Nischenmodell zu viel.
Die R-Klasse, eine seltsame Mischung aus
HUCKFELDT / AUTOBILD
hatte zuerst ein Mittelklasseauto, den Rover 75, entwickelt, statt den neuen Rover
25 herauszubringen, der in größeren Stückzahlen verkaufbar gewesen wäre. Dieses
Fahrzeug hätte Rover möglicherweise retten können.
Derzeit steht BMW vor dem gleichen
Dilemma wie alle anderen Autohersteller.
Die Münchner steigern ihre Produktivität
jährlich um rund fünf Prozent. Jahr für
Jahr müsste BMW dann aber auch fünf
Prozent der Arbeitsplätze streichen, wenn
es dem Konzern nicht gelänge, den Absatz
ebenfalls um fünf Prozent zu steigern.
In den vergangenen Jahren konnte
BMW 12 000 neue Stellen schaffen, die
meisten davon in Deutschland. In naher
Zukunft aber wird es kaum zusätzliche Arbeitsplätze geben, selbst wenn der Erfolg
anhält. Nach der internen Planung steigt
der Absatz ungefähr so schnell wie die Produktivität. Die zusätzlichen Modelle können nur die vorhandenen Jobs sichern.
Aber auch das ist schon viel in Zeiten, in
denen Mercedes-Benz Tausende Arbeitsplätze streicht.
Für das Wachstum bei BMW soll unter
anderem ein sportlicher Kombi („Luxury
Sports Cruiser“) sorgen. Es ist jenes Modell, das der BMW-Chef stets als raumfunktionales Konzept bezeichnet. Das Auto
wird nicht wie die R-Klasse von MercedesBenz mit sechs Sitzen vollgestellt, sondern
verfügt über vier bequeme Einzelsitze und
großen Laderaum. Vom kleinen 1er wird
zusätzlich ein Cabrio produziert. Aus seinen beiden Geländewagen X3 und X5 will
BMW eine ganze Baureihe machen. Beschlossen ist die Produktion eines sportlichen Geländewagens X6, der im US-Werk
Spartanburg gebaut wird und damit die Abhängigkeit vom Dollarkurs verringert.
Geplanter Luxury Sports Cruiser
„Raumfunktionales Konzept“
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Kombi und Geländewagen, verkauft sich
schwächer als erwartet.
Mercedes-Benz leidet auch darunter,
dass die Stuttgarter ihr Wachstum schlechter geplant haben als BMW. So können
die A- und B-Klasse wegen der speziellen Bauweise keinen Motor der übrigen
Baureihen verwenden. Bei BMW dagegen
werden zusätzliche Baureihen von bestehenden Modellen abgeleitet. Der 1er übernahm rund 60 Prozent der Teile, die beim
3er eingebaut werden. Das senkt Entwicklungs- und Einkaufskosten.
Überlegen ist BMW seinen Wettbewerbern auch durch das Produktionssystem,
das Vorstand Norbert Reithofer aufgebaut
hat. Selbst Experten von Toyota, die die
effizientesten Fabriken der Branche installiert haben, suchen mittlerweile um
Besichtigungstermine in BMW-Fabriken
nach.
Die Werke in München, Dingolfing, Regensburg und Leipzig sind hochflexibel.
Die Kunden können ihren Auftrag noch
bis sechs Tage vor Montagebeginn ändern.
In jedem Monat nutzen rund 140 000
BMW-Käufer diese in der Branche wohl
einmalige Gelegenheit. Und die meisten
von ihnen bestellen Zusatzausstattungen,
mit denen BMW seinen Umsatz und Profit deutlich erhöht.
Diese solide Basis sorgt dafür, dass Fehlgriffe BMW derzeit zwar bremsen, aber
nicht stoppen. Nachdem das missglückte
Design des 7er dem Unternehmen viel
Spott eingebracht hatte, wurden die gröbsten Macken in einer teuren Modellpflegeaktion beseitigt. Das hochkomplizierte Bedienungssystem i-Drive wurde vereinfacht.
Und weil der Roadster Z4 zu teuer geriet,
prüft BMW nun, ob es zusätzlich einen
kleineren und preiswerteren Zweisitzer auf
den Markt bringen sollte.
BMW-Chef Panke könnte seinen Job
richtig genießen, wenn die Konkurrenten
sich nicht stets als Sieger präsentierten,
obwohl sie dazu nach seiner Meinung keinerlei Veranlassung hätten. Sogar in Sachen Allrad ist BMW in der Oberklasse
mittlerweile vorn. BMW verkaufte im vergangenen Jahr 250 000 Autos mit Allradantrieb, und damit mehr als Konkurrent
Audi, der sich gern als Pionier dieser Technik feiern lässt.
Auf der Hauptversammlung will der
BMW-Chef vielleicht noch einmal sagen,
wer wirklich vorn steht. Aber dann soll
auch wieder Ruhe herrschen.
Die Anerkennung der Haupteigentümer
von BMW, der Familie Quandt, ist Panke
gewiss. Für ihn soll es eine Ausnahme von
der Regel geben, dass ein Vorstand bei
BMW nur bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres auf seinem Posten bleiben soll.
Ein Vertreter der Kapitalseite im Aufsichtsrat sagt: Pankes Vertrag, der bis 2007
läuft, soll verlängert werden. Im Gespräch
ist eine neue Laufzeit bis 2010. Panke wäre
dann 63.
Dietmar Hawranek
Wirtschaft
GEWERKSCHAFTEN
Sieg gegen
die Wölfe
In der DGB-Spitze wächst die Sorge,
Vizechefin Ursula Engelen-Kefer
könne erneut für den Vorstand
kandidieren. Die Gewerkschaftsbosse fürchten eine Blamage.
W
Juni, wenn eigentlich längst ihre Nachfolgerin im Amt sein soll.
Engagiert pflegt sie ihre treuen Unterstützergruppen in der gewerkschaftlichen
Sozial- und Frauenszene. Vor wenigen Wochen etwa initiierte sie ein sogenanntes
Netzwerk für eine gerechte Rente, bei dem
auch gewerkschaftsnahe Lobbygruppen
wie die „Volkssolidarität“ oder der „Sozialverband Deutschland“ mitmachen dürfen.
Vergangene Woche nahm sie Vorstandsfrauen von DGB-Gewerkschaften mit zu
einem Gesprächstermin bei Familienministerin Ursula von der Leyen. Und für
diesen Montag hat sie die Gewerkschaftsvertreter der Krankenkassen zu einer
Fachdiskussion über die Gesundheitsreform geladen. Ich bin eine von euch, so
signalisiert sie den Kollegen – und wenn ihr
wollt, bleibe ich im Spiel.
DGB-Chef Michael Sommer, der seine
nervige Stellvertreterin endlich loszuwerden hofft, ist alarmiert. Es wäre schließlich nicht das erste Mal, dass die Gewerkschafterin den Versuch überlebt, sie zu
stürzen.
Mal wollte Gerhard Schröder sie aus
dem Verwaltungsrat der Nürnberger Bundesagentur für Arbeit kippen. Mal hatten
sich die mächtigen Bosse der Einzelgewerkschaften verbündet, um sie aus ihren
DGB-Ämtern zu drängen. Geklappt hat es
nie. Regelmäßig erhielt sie so viel Unterstützung aus dem Unterholz des Apparats,
dass ihre Gegner klein beigaben – und sie
schließlich alle überlebt hat.
Ob ihr das auch diesmal gelingt, ist offen. Wenn am kommenden Dienstag die
Vorstandswahlen auf dem Programm des
DGB-Kongresses stehen, erwarten die
Experten ein spannendes Duell: Eine
offene Kampfkandidatur gegen Sehrbrock hat Engelen-Kefer zwar ausgeschlossen. Was aber passiert, wenn
sie vorgeschlagen wird? Und wie wird
sie sich verhalten, wenn Sehrbrock
im ersten Wahlgang weniger als 50
Prozent erhält? Dann, so glauben viele, wird Engelen-Kefer antreten.
Sie selbst hält sich alle Optionen
offen. Ob sie im Fall der Fälle kandidieren wird? „Diese Frage beantworte ich erst, wenn sie sich stellt“, sagt
sie. Vom Personalvorschlag der Gewerkschaftsbosse hält sie allerdings
wenig: „Viele Gewerkschafter sehen
ein Problem darin, dass die Sozialpolitik offensichtlich nicht mehr von
dem oder der stellvertretenden Vorsitzenden repräsentiert werden soll.“
Dafür, so soll das heißen, will die
Funktionärin kämpfen – ganz so, wie
sie es auch schon in ihrem AustralienTraum tat, als sie sich plötzlich von
mordlustigen Bestien umringt sah.
„Ich stelle mich der Gefahr in den
Weg“, so Engelen-Kefer damals, „und
besiege die Wölfe, die meine Herde
dezimieren wollen.“ Michael Sauga
ANDREAS FROESE
enn Ursula Engelen-Kefer von einem anderen Leben träumt, führt
sie dies an einen Ort, wo auch
ihre ärgsten Gegner sie hinwünschen: ganz
weit weg, auf die andere Seite der Erdkugel, nach Australien. Dort, so vertraute
sie der Hamburger Wochenzeitung „Die
Zeit“ an, würde sie gern einmal als Aussteigerin leben: mit nichts weiter als einer
Schafherde, einer Hütte und einem treuen
Gefährten. „Ich bin die gute Hirtin“, so
stellt sie es sich vor, „und Hund Tim ist der
Wächter für die Schafe.“
Nicht ausgeschlossen, dass ihre Gegner
noch einige Zeit warten müssen, bis sich
der Traum erfüllen kann. Ende Januar hatten die Vorsitzenden der DGB-Gewerkschaften einmütig beschlossen, die streitbare Vizechefin mit ihren 62 Jahren aufs
verdiente Altenteil zu setzen. Doch inzwischen wächst in der DGB-Spitze die Sorge,
dass sich die Sozialexpertin über das Votum hinwegsetzen und erneut für das Amt
bewerben wird – als Überraschungskandi-
datin auf dem DGB-Kongress kommende
Woche in Berlin. „Wenn sie antritt“, gruselt
sich ein hochrangiger Gewerkschaftsfunktionär, „hat sie gute Chancen, auch gewählt zu werden.“
Kein Wunder, dass in der Berliner DGBZentrale die Nerven blank liegen. Sollte
der Putsch gelingen, wären nicht nur sämtliche Gewerkschaftsbosse, von DGB-Chef
Michael Sommer bis zum IG-Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters und Ver.di-Chef
Frank Bsirske, blamiert. Es wäre auch ein
Affront gegen die Regierungspartei CDU:
Engelen-Kefer würde ausgerechnet Ingrid
Sehrbrock verdrängen, die einzige Christdemokratin im Personalpaket der Funktionäre.
Und so tobt im sonst so zentralistisch
regierten Gewerkschaftsapparat seit Wochen ein höchst bizarrer Wahlkampf.
Während die Vorsitzenden Engelen-Kefer
zur durchgeknallten Egomanin abstempeln, die aus verletzter Eitelkeit die gesamte Gewerkschaftsbewegung schädige,
macht die umtriebige Funktionärin fleißig
Basisarbeit. Sie besucht Regionalvorstände
und Fachgremien, kämpft um ihre vielen
Aufsichts- und Verwaltungsratsmandate,
gibt eine Pressekonferenz nach der anderen und macht mit jeder ihrer Aktivitäten
klar, dass sie überhaupt nicht daran denkt
aufzuhören. „Eine Engelen-Kefer“, so erklärte sie jüngst einem Vorstandskollegen,
„geht nicht vorzeitig in Rente.“
Erst kürzlich setzte sie im geschäftsführenden DGB-Vorstand eine Aktionswoche zu den anstehenden politischen Reformvorhaben bei Gesundheit und Kündigungsschutz durch – und zwar für den
DGB-Führung Engelen-Kefer, Sommer: „Wenn sie antritt, hat sie gute Chancen“
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ENERGIE
Harte Hand
des Staates
U
nvorbereitete Zuhörer könnten sich
nach manchen Sätzen des hessischen Wirtschaftsministers eher in
der Gegenwart eines Sozialisten wähnen
als in der eines CDU-Wirtschaftspolitikers:
„Der Staat muss die Verbraucher vor Ausbeutung durch Monopolisten schützen“,
mahnt Alois Rhiel, 55, öfter an. In Sitzungen hören seine Ministerialen ihren Chef
häufig schimpfen, dass „die Aktionäre der
Stromkonzerne das Versagen des Staates
ausnutzen, um sich zu bereichern“.
Auch bei seinen Parteifreunden stößt der
Katholik aus Fulda nicht selten auf Unverständnis, wenn er erklärt, er wolle schwerreichen Unternehmen „unverdiente Gewinne“ abjagen. Besonders verunsichert aber
zeigten sich die Chefs der 50 hessischen
Energieversorger, die erfahren mussten, dass
HANS-GÜNTHER OED / VARIO-PRESS
Hessens CDU-Wirtschaftsminister
Alois Rhiel legt sich mit
den Stromkonzernen an. Er will sie
zwingen, ihre Preise zu senken.
Strommasten: „Die Verbraucher vor Ausbeutung durch Monopolisten schützen“
TORSTEN SILZ / DDP
Aber nun holt auch Roland Kochs Wirtschaftsmann zum nächsten Schlag aus: In
einer Schublade seines Ministeriums liegen
die ersten fertigen Bescheide an die 37 hessischen Stromfirmen mit eigenen Leitungsnetzen. Rhiel will die von ihnen erhobenen
Entgelte für die Durchleitung von Strom
massiv kürzen – um bis zu 27 Prozent.
Dabei schäumen die Stromunternehmen
schon jetzt: Der Regionalversorger Ovag
beklagte sich bei Rhiels Untergebenen
schriftlich über die „offenkundige Befangenheit“ des Ministers. Dessen „rechtswidrige“ Entscheidung widerspreche einer
„jahrelangen Praxis“ anderer Politiker
– die bislang Preiserhöhungen meist
einfach durchwinken. Das Wiesbadener Unternehmen ESWE wähnt
sich als Opfer einer „Hexenjagd“.
Bislang jedoch blieben die Proteste
erfolglos. Die Ovag, die sich als erste
der betroffenen Stromfirmen auf den
Rechtsweg wagte, scheiterte mit einem
Eilantrag gegen das Rhiel-Ministerium. Das Gießener Verwaltungsgericht
verwies auf die überaus satten Stromgewinne des Unternehmens. Der Ovag
drohe ohne Preisaufschlag „keineswegs die Insolvenz oder auch nur ein
tatsächlicher Verlust“, heißt es im
Gerichtsbeschluss. Zudem hielten die
Richter Rhiels Argumentation für
plausibel, dass die NetznutzungsentKollegen Rhiel, Koch: „Unverdiente Gewinne“
gelte sinken könnten – und damit die
Stromverteilungskosten der Anbieter.
der promovierte Volkswirt so etwas durchaus
Denn schließlich will Rhiel genau das
ernst meint: Als einziger Landeswirtschafts- jetzt mit der harten Hand des Staates
minister hat Rhiel bisher sämtliche Anträge durchsetzen. Er hält die derzeit verlangauf Strompreiserhöhungen für 2006 in sei- ten Entgelte für stark überhöht. Im Schnitt
nem Bundesland rigoros abgelehnt.
müssten sie um deutlich mehr als zehn ProUnd der Streit um den Strom wird nun zent fallen, haben seine Preisprüfer in den
noch härter: Die Frankfurter RWE-Tochter vergangenen Monaten bei den hessischen
Süwag hat Ende April Klage gegen das Netzbetreibern eruiert. In einem Fall wolRhiel-Ministerium eingereicht, vor weni- len sie sogar eine Absenkung um 27 Progen Tagen zog E.on nach. Die Kasseler zent anordnen. Sämtliche Bescheide sollen
Tochter des Stromkonzerns schraubt zu- noch im Mai verschickt werden.
dem ihre Preiserhöhungswünsche inzwiJuristisch sieht sich Rhiel dabei auf der
schen fast monatlich weiter nach oben – ab sicheren Seite. Die Macht dazu gebe ihm
Juni sollen die Verbraucher schon rund das Energiewirtschaftsgesetz, an dessen
17 Prozent mehr zahlen.
Formulierung der Minister als Verhand114
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lungsführer der Unionsländer selbst beteiligt war. Fallen die Durchleitungsgebühren
durch den Druck des Staates um ein gutes
Zehntel, könnten die Endkundenpreise um
vier bis fünf Prozent sinken, haben Rhiels
Leute ausgerechnet.
Doch während manche den Wirtschaftspolitiker schon als „Robin Hood
der privaten Haushalte“ („Frankfurter
Rundschau“) feiern, gibt es auch warnende Stimmen. Am Ende könne Rhiels
Politik den großen Konzernen nutzen,
unkt Erich Pipa (SPD), Landrat des
Main-Kinzig-Kreises bei Frankfurt. Seine
„Kreiswerke Gelnhausen“ etwa seien auf
große Vorlieferanten mit Sitz in anderen
Bundesländern angewiesen, die ihre Preise
schon stark erhöht hätten, weil sie dort
niemand stoppt. Diese Kosten dürften
hessische Unternehmen aber nicht an
die Verbraucher weitergeben – mit der
Folge, dass sie dann irgendwann womöglich von den Großen „geschluckt“
würden, warnt Pipa.
Rhiel hält dagegen, dass auch die kommunalen Versorger noch stattliche Gewinne machten – nur dass diese teilweise zur
Subventionierung etwa des öffentlichen
Personennahverkehrs abgezweigt würden.
Auch das ist dem Minister ein Dorn im
Auge, weil dergleichen fairen Wettbewerb
bei Bussen und Bahnen verhindere.
Überhaupt wehrt er sich vehement dagegen, als reiner Verbraucherschutzminister missverstanden zu werden. Staatsgläubigkeit und plumper Neoliberalismus seien
ihm gleichermaßen fremd, sagt der CDUMann und empfiehlt seiner eigenen Partei
einen „ordoliberalen Kurs“: Freier Wettbewerb habe im Prinzip Vorrang, aber
dort, wo er versage, müsse der Staat streng
regulieren.
Was das konkret bedeutet, haben die
hessischen Netzbetreiber gespürt, als Rhiel
sie im April schriftlich aufforderte, die Kalkulationen für ihre Netzentgelte offenzulegen. Sollten sie sich weigern, drohte Rhiel
den Firmen, werde sein Ministerium die
neuen Entgelte eben „im Wege der Schätzung bestimmen“.
Matthias Bartsch
Wirtschaft
Teil seiner Aktien hat er zwischenzeitlich
verkauft. Und das ist Teil seines Problems
UNTERNEHMER
mit der BaFin.
Die untersucht, ob beim Handel mit
AWD-Aktien immer alles mit rechten Dingen zuging. Gleich mehrere Abteilungen
befassen sich mit dem Fall. Die Finanzmarktkontrolleure fordern immer neue
Carsten Maschmeyer hat es zu einem der reichsten Männer des
Unterlagen an.
Landes gebracht. Jetzt muss er sich gegen eine Flut von
Grundlage der BaFin-Untersuchung sind
Anzeigen zweier Hamburger AnwaltsKlagen enttäuschter Anleger und die Börsenaufsicht wehren.
kanzleien, die im Auftrag enttäuschter ehen Gelddingen vertraut Altbundeskanz- che Untersuchung wegen möglicher Kurs- maliger AWD-Mitarbeiter aktiv sind. Die
ler Gerhard Schröder seinem Freund manipulationen in Aktien des AWD dauert Kanzlei Weiß, Walter, Fischer-Zernin wirft
Carsten Maschmeyer aus Hannover. an“, bestätigte eine BaFin-Sprecherin ver- Maschmeyer vor, durch unrichtige Angaben beispielsweise über die Höhe der
Der Chef des Finanzdienstleisters AWD gangene Woche.
AWD ist die Firma, die der begnadete Schadensersatzforderungen der AWDberiet Schröder bei den VertragsverhandVerkäufer mit dem abgebrochenen Medi- Kunden oder die wahre Zahl der Verlungen für dessen Autobiografie.
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. zinstudium 1988 gegründet hatte. Sie funk- triebsmitarbeiter den Kurs der AWD-Aktie
Nach Branchenschätzungen dürfte der tioniert als pure Vertriebsmaschine. Eigene nach oben manipuliert zu haben. Der
Hamburger Verlag Hoffmann und Campe Produkte gibt es keine. Eine hierarchisch AWD bestreitet die Vorwürfe entschieden.
Zudem wird in einem Schreiben der
für die Rechte an dem Buch, das im Okto- aufgebaute Verkaufskolonne von mehreber erscheinen soll, zwischen 700 000 und ren Tausend selbständigen Handelsvertre- Kanzlei vom 16. Januar an die BaFin
tern vertreibt europaweit Versicherungen, mit Bezug auf die Tochtergesellschaft in
knapp einer Million Euro bezahlen.
Auch sonst bekommt Schröder viel Hilfe Aktienfonds, Konsumentenkredite und so- Italien der Vorwurf der Bilanzmanipulavon Maschmeyer. Als der Ex-Kanzler im gar Eigentumswohnungen. Rund 630 Mil- tion erhoben. Es bestehe „der Anschein,
Februar nach der Trauerfeier für Alt- lionen Euro Provisionen flossen vergan- dass der Bereich Italien von dem Konzern
genutzt wird, um Kapital
bundespräsident Johannes Rau als Gast- genes Jahr von Anbietern
für Vergleichszahlungen,
redner schnell zum „Cash Power-Talk“ vor wie etwa Allianz oder
70
AWD-Aktienkurs Gerichtskosten, AnwaltsSchweizer Wirtschaftsgrößen nach Zürich Postbank in die Kassen
in Euro
60
kosten und Akquisition
musste, nahm ihn sein Freund in einem des AWD. Einen Teil dazu verwenden, ohne den
von bekommen die Vergemieteten Learjet mit.
50
Aktionär in Kenntnis
Viele Kunden des AWD dürften nicht mittler – aufgrund eines
40
setzen zu müssen“, heißt
ganz so zufrieden sein mit den Leistungen kaum durchschaubaren
es da etwas nebulös.
von Maschmeyer. Da die Vertriebsleute des Verteilungsschlüssels.
30
Undurchsichtige KasMaschmeyer und seine
selbsternannten Finanzoptimierers gegen
20
sen beim AWD? Die Enthohe Provisionen auch mal gern riskante Familie halten an dem
wicklung der italieniProdukte verkaufen, streitet sich der AWD Unternehmen, das an der
10
Quelle: Thomson
Financial Datastream
schen Tochter war in der
Börse mit 1,2 Milliarden
in vielen Fällen mit Kunden vor Gericht.
0
Tat desaströs. 2005 verAber auch mit der Finanzaufsicht Ba- Euro bewertet wird, noch
2000 2002
2004
2006
ursachten die 100 italieFin hat Maschmeyer Ärger. „Eine förmli- 30 Prozent. Einen großen
nischen Berater bei einem Umsatz von 3 Millionen Euro einen
stolzen Verlust von 10,8 Millionen Euro.
AWD-Finanzvorstand Ralf Brammer
weist die Vorwürfe als „haltlos und völlig
aus der Luft gegriffen“ zurück. Der AWD
habe eine Tochterfirma in Italien geschlossen und sich von früheren Mitarbeitern getrennt, rechtfertigt er den hohen Verlust.
In engem Zusammenhang mit der ersten
Anzeige steht der Verdacht auf Insiderhandel, den die Kanzlei Creon gegen
Maschmeyer erhebt. Der AWD-Großaktionär hatte am 12. März 2005 überraschend 20 Prozent der AWD-Aktien, die
ihm und seinen beiden Söhnen Marcel Jo
und Maurice Jean gehörten, für 236 Millionen Euro an der Börse verkauft. Kurz
zuvor, am 10. Februar, hatte Maschmeyer
verkündet, dass seine Firma in Deutschland im ersten Quartal um zehn Prozent
wachsen will: „Wir liegen voll im Plan.“
Tatsächlich kam es 2005 in Deutschland
zu einem Umsatzeinbruch von über
25 Prozent, der am 6. Oktober in einer
Gewinnwarnung beim AWD gipfelte. Wie
von Experten erwartet, konnte der AWD
wie andere Finanzvertriebe auch keinen
Konzernchef Maschmeyer: Finanzmarktkontrolleure fordern immer neue Unterlagen an
Ein begnadeter Verkäufer
ULLSTEIN BILDERDIENST / DDP
I
116
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Wirtschaft
Grund – wie beim Vorwurf der Kursmanipulation –, eine förmliche Untersuchung
einzuleiten.
Maschmeyer kämpft aber nicht nur mit
der Finanzaufsicht. Seit geraumer Zeit ist
seine Truppe damit beschäftigt, an der
Kundenfront Altlasten zu beseitigen. Drei
Buchstaben stehen dabei für den mit Abstand größten Krisenherd: DLF.
Die Dreiländerfonds des Stuttgarter Immobilienfondsinitiators Walter Fink beschäftigen seit Jahren bundesweit die Gerichte, sie wurden hauptsächlich in den
neunziger Jahren über das AWD-Netz abgesetzt. Die hannoversche Verkaufskolonne überzeugte insgesamt 14 000 Kunden
von der vermeintlich sicheren Geldanlage.
Allein aus dieser Quelle flossen Fink rund
360 Millionen Euro zu. Vor allem der
der Gegenpartei einen Vergleich und vereinbarten Stillschweigen.
Geheime Deals gehören inzwischen
zum Standardrepertoire, anders wäre die
jüngste Prozessflut nicht zu bewältigen.
Weil nämlich das reformierte Schuldrecht
seit 2002 nur noch 3 statt 30 Jahre Verjährung vorsieht, stürmten die Anleger
Ende 2004 nochmals das Landgericht in
Hannover.
Über vierhundert Klagen mit einem
Streitwert in zweistelliger Millionenhöhe
gingen ein, viele davon betrafen den AWD.
Und der einigt sich inzwischen aus
Effizienzgründen wie am Fließband mit
seinen Gegnern, heißt es in Anwaltskreisen. Ohne eine Schuld anzuerkennen, zahlt
der Finanzvertrieb ein paar tausend Euro
und verlangt dafür Stillschweigen.
Zur Zahl der Vergleiche und
der zugesagten Vergleichssumme will der AWD keine Stellung nehmen. Man verweist auf
den BGH, der „jüngst in zwei
Entscheidungen bundesweite
Rechtsprechungen der Oberlandesgerichte im Sinne des
AWD bestätigt hat“. Das Urteil
von Celle passt allerdings nicht
in diese Verteidigungslinie.
Das Immobiliengeschäft der
Vergangenheit könnte Maschmeyer auch weiterhin Prozessrisiken bescheren. Von den
über drei Milliarden Euro, die
die insolvente Münchner FalkGruppe für ihre Immobilienfonds eingesammelt hatte,
stammen nämlich sieben Prozent von AWD-Kunden.
Während sich verschiedene
Anwälte von Falk-Anlegern auf
die nächste Auseinandersetzung vorbereiten, gibt sich der
AWD gelassen. Man sehe „keinerlei Ansatzpunkte für etwaige Schadensersatzansprüche“, weil der AWD keinen
der Fonds vermittelt habe, die die schwierige wirtschaftliche Lage der Falk-Gruppe
verursacht haben.
Zumindest langfristig betrachtet können
sich die AWD-Juristen tatsächlich entspannen. Denn die Prozesspotenz deutscher Anleger wird schleichend und systematisch ausgehöhlt. Abgesehen von der
drastischen Verkürzung der Verjährungsfrist bricht künftig die Finanzkraft der
potentiellen AWD-Gegner, also seiner
Kunden, weg.
Wer das Kleingedruckte der vom AWD
vermittelten Rechtsschutzversicherungen
genau liest, weiß, warum. Immer mehr
Anbieter schließen auch Kapitalanlagegeschäfte aus dem Rechtsschutz aus. Damit
verkauft der AWD oft eine juristische Waffe, die keiner mehr gegen ihn richten kann.
Eine Klageflut wie bei den Dreiländerfonds
wird in Zukunft immer unwahrscheinlicher.
Beat Balzli, Christoph Pauly
WEGER / STAR PRESS
Ersatz für die provisionsträchtigen Kapitallebensversicherungen finden, die noch
bis zum 31. Dezember 2004 steuerbefreit
waren.
„Es ist davon auszugehen, dass Maschmeyer bereits im Februar über die Insiderinformation verfügte, dass die Geschäfte
rückläufig waren“, sagt der Hamburger
Anwalt Jascha Alleyne. Dann hätte er die
Öffentlichkeit mit seinen optimistischen
Prognosen getäuscht, um den Verkaufserlös seiner Aktien zu maximieren.
Der BaFin wurden als Beweis interne
Ranglisten der besten Mitarbeiter vorgelegt, die per Ende Februar 2005 im Vergleich zum Vorjahr einen Umsatzrückgang
auf sämtlichen Hierarchieebenen offenbaren. Bei den 15 Direktoren, die die
höchsten Umsätze generieren, habe der
Freunde Maschmeyer (2. v. r.), Schröder*: Gemeinsam im Learjet nach Zürich
Rückgang gegenüber den beiden Monaten
2004 bei 22 Prozent gelegen, auf der
zweiten Hierarchieebene gar bei 43 Prozent.
Dem hält Brammer entgegen, dass sich
Anfang 2005 beispielsweise die Zahl der
Direktoren fast verdoppelt habe und deshalb die Zahlen nicht vergleichbar seien.
Aus dem Geschäft einzelner Mitarbeiter
ließe sich nicht die Entwicklung der Konzernerlöse ersehen.
Maschmeyer selbst gibt den von seinem
Freund Schröder im Mai 2005 angesetzten
Bundestagsneuwahlen die Schuld am
schlechten Geschäft: „Durch die Bundestagsneuwahl hat sich die Unsicherheit der
Kunden und dadurch ihre Kaufzurückhaltung erheblich verstärkt.“
Die BaFin prüft nach wie vor die
Vorwürfe wegen Insiderhandels gegen
Maschmeyer, sieht aber bisher keinen
* Bei einer Geburtstagsfeier am 31. Januar 2004 in
Hannover.
118
Fonds 94/17 bescherte den Anlegern wenig
Freude. Er hatte den Musical- und Freizeitkomplex Stuttgart International für den
Musicalbetreiber Stella finanziert, doch der
musste 1999 Insolvenz anmelden. Statt hoher Erträge erzielten die Anleger Verluste.
Die Klagewelle dieser enttäuschten
Kunden gegen den AWD hält bis heute an.
Sie fordern Schadensersatz, weil sie sich
falsch beraten fühlen.
Neben vielen juristischen Siegen im Fall
DLF musste Maschmeyer die größte Niederlage ausgerechnet in der niedersächsischen Heimat einstecken. Im August 2002
bestätigte das Oberlandesgericht in Celle
ein Urteil aus Hannover. Nach Ansicht der
Richter hatte der AWD den Kunden unzureichend über die Risiken des Dreiländerfonds 94/17 aufgeklärt.
Die Schlacht vor der nächsten Instanz,
dem Bundesgerichtshof (BGH), fiel dann
aber aus. Eine Niederlage vor den höchsten Richtern wollten die AWD-Juristen
offenbar nicht riskieren. Sie schlossen mit
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Ausland
IRAN
Kontakt zum
Großen Satan
NIGERIA
Ruin trotz Reichtum
ie Ölvorräte sind für das westafrikanische Land mehr Fluch als
D
Segen: Freitag voriger Woche starben
etwa 200 Menschen, als eine Pipeline
45 Kilometer östlich von Lagos explodierte. Diebe und Bewohner des Dorfes
Ilado hatten aus einer angebohrten Leitung Treibstoff gezapft. Zu solchen Unglücken kommt es immer wieder: Bei
einer Explosion 1998 waren sogar mehr
als tausend Menschen verbrannt. Nigeria
gehört zu den großen Hoffnungen im
internationalen Ölgeschäft, die Förderung soll sich in den nächsten zehn
Jahren verdoppeln. Obwohl das Land
schon heute sechstgrößter Ölexporteur
der Welt ist, verhindern Misswirtschaft
IRNA / DPA
n Teheran sorgt der künftige
Umgang mit dem Erzfeind USA
für Konfliktstoff. Durch den Brief
von Staatschef Mahmud Ahmadinedschad an US-Präsident George
W. Bush fühlen sich sowohl die
erzkonservative Gefolgschaft des
iranischen Obereiferers als auch
das gegnerische Reformlager provoziert.
Der erste Kontakt eines iranischen Führers mit dem Erzfeind
Amerika seit der Revolution 1979
sei der „Bruch eines traditionellen Tabus“, empörte sich der
frühere Vizepräsident Mohammed
Ali Abtahi. Auch der Sprecher des
von den Konservativen dominier- Ahmadinedschad (vor Chamenei-Poster)
ten Parlaments ließ eher Ablehnung erkennen. Der Brief dürfe
auf keinen Fall „als Beginn eines
Heilungsprozesses“ der Beziehungen gewertet werden, spielte
Gholam-Ali Haddad Adel die Bedeutung des Präsidentenvorstoßes
herunter. Tatsächlich hatte Ahmadinedschad in dem 18-seitigen
Schreiben über Saddam Hussein
und Jesus Christus schwadroniert
und prophezeit, dass „die Ideologie und das Gedankengut liberaler demokratischer Systeme zerbrechen und untergehen“.
LANDOV / INTER-TOPICS
I
Der liberalen Fraktion wiederum,
die auf ein Comeback hofft,
fehlt ein konkretes Angebot an
Washington. Ganz im Sinne des
Reformlagers forderte Ex-Staatschef Mohammed Chatami seinen
Amtsnachfolger eindringlich auf,
„den Dialog weiterzuführen“.
Chatamis eigenen Versuch einer
Annäherung hatten die Konservativen seinerzeit torpediert.
Noch während seines Staatsbesuchs in Indonesien Mitte vergangener Woche legte Präsident
Ahmadinedschad nach und versprach „einen Dialog ohne Grenzen“. In Teheran kündigte ein Regierungssprecher „weitere Schreiben an andere Staatschefs“ an.
Bestärkt sieht sich der fanatische
Präsident durch Rückendeckung
von der höchsten Instanz des
Gottesstaates, Ajatollah Ali Chamenei. Der religiöse Führer, dem
in Teheran seit geraumer Zeit
durchaus eine gewisse Altersweisheit zugeschrieben wird,
hatte direkten Kontakten zu
dem „Großen Satan“ schon vor
Wochen seinen Segen gegeben.
Ahmadinedschad kann sich bei
seiner Initiative zudem auf ein
historisches Vorbild berufen, das
für gläubige Muslime geradezu
sakrosankt ist: Auch der Prophet
Mohammed hatte an die Herrscher der damaligen Großreiche
geschrieben – um sie zum Islam
zu bekehren.
Besetzung der US-Botschaft (1979)
ökologischen Kollaps. Weil zu wenig
und Korruption, dass die Bevölkerung
Raffinerien im Lande funktionieren,
von dem Reichtum profitiert. Dabei
muss der Ölgigant Nigeria sogar Benzin
fährt der Staat 80 Prozent der Erlöse
aus dem Ausland einführen.
ein, nur 4 Prozent bleiben bei den Ölkonzernen. Etliche Rebellengruppen und Räuberbanden kämpfen um
Zugang zum Öl und eine
gerechtere Verteilung
der Einkünfte. Sie haben
sich eine lukrative Einkommensquelle erschlossen, indem sie beinahe wöchentlich Mitarbeiter ausländischer
Konzerne entführen und
Lösegeld erpressen.
Große Teile des Nigerdeltas stehen zudem
durch die rücksichtslose
Ausbeutung vor dem
Rettungsarbeiten bei Ilado
d e r
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121
AKINTUNDE AKINLEYE / REUTERS
Panorama
Panorama
RUSSLAND
Angst vor Regress
D
MANISH SWARUP / AP (L.); BINOD JOSHI / AP (R.)
ie Führung in Moskau fürchtet
Schadensersatzforderungen Polens
und der drei baltischen Republiken,
wenn es zum Bau der geplanten nordeuropäischen Gaspipeline durch die
Ostsee kommt. Das geht aus Unterlagen
des russischen Kabinetts hervor, die
dem SPIEGEL vorliegen. In zwei
Schreiben an den Konzern Gasprom
und das Energieministerium verweist
die „Abteilung für Soziale Entwicklung
und Umweltschutz“ der Regierung auf
Warnungen des Moskauer Umweltexperten Wladimir Anikijew. Der hält ein
juristisches Vorgehen
Polens und der baltischen Länder wegen
Ökoschäden durch
den Pipelinebau für
sehr wahrscheinlich.
Nach Ansicht Anikijews könnten sich
die Forderungen auf
„mehr als zehn Milliarden Dollar im Jahr“
belaufen – vor allem
wegen der versenkten
deutschen Giftgasbestände aus dem Zweiten Weltkrieg, die
dort verstreut auf dem
Meeresboden liegen
Putin
und durch den Pipelinebau aufgewühlt werden könnten.
Anlass für die Befürchtungen ist eine
internationale Tagung von Meereskundlern und Ökoexperten im litauischen
Klaipeda Ende Mai. Dort wollen Spezialisten aus den Ostseeanrainern, weiteren EU-Staaten und den USA mögliche Risiken des Projekts diskutieren.
Zur Eröffnung der Konferenz soll Litauens Präsident Valdas Adamkus sprechen.
Der gelernte Umweltingenieur gilt als
scharfer Kritiker des Gasröhrenprojekts,
dessen Aufsichtsrat Ex-Kanzler Gerhard
Schröder leitet.
MISHA JAPARIDZE / AP
Maoistischer Kämpfer in Butwal
N E PA L
Maoisten ins Boot
Der norwegische Entwicklungshilfeminister Erik Solheim, 51, über die Chancen
einer Friedensmission im HimalajaKönigreich
Solheim: Dass König Gyanendra Ende April
das Parlament wieder einsetzte, war ein
historischer Wendepunkt. Ich wollte meine
Solidarität zeigen. Das Volk, die Parteien
und auch die Maoisten wollen endlich Frieden. Das verdient volle Unterstützung.
SPIEGEL: Will sich Norwegen offiziell als
Schlichter engagieren?
Solheim: Die internationale Gemeinschaft
sollte nicht vorpreschen, sondern abwar-
SPIEGEL: Sie vermitteln seit sieben Jahren
zwischen den Bürgerkriegsparteien auf Sri
Lanka, sind aber vergangene Woche überraschend nach Nepal gereist. In neuer
Mission?
wegung und linker Gruppen waren wegen
des laufenden Disziplinarverfahrens gegen
die Richter Mahmud Makki und Hischan
Bastawissi auf die Straße gegangen. Die
beiden Juristen hatten Manipulationen bei
den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Herbst vorigen Jahres kritisiert.
ÄGYPTEN
Offensive gegen
die Opposition
or dem Prozess gegen zwei regimekritische Richter am Donnerstag drohen
in Kairo erneut Auseinandersetzungen
zwischen Oppositionellen und Sicherheitskräften. Erst vergangene Woche wurden in Ägyptens Hauptstadt Demonstrationen brutal niedergeschlagen. Mehrere
hundert Anhänger der verbotenen Muslimbruderschaft, der liberalen Kifaja-Be-
Gaskompressoren in Russland
Verhaftung von Demonstranten in Kairo
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GORAN TOMASEVIC / REUTERS
VIKTOR KOROTAYEV / REUTERS
V
Ausland
Mit Schlagstöcken ging die Polizei gegen
die Demonstranten vor, Hunderte wurden
verhaftet – unter ihnen der bekannte OnlineJournalist Alaa Seif al-Islam.
Beobachter werten das harte Durchgreifen
der Sicherheitskräfte als Zeichen der
Schwäche des Regimes. Noch vor einem
Jahr hatte Präsident Husni Mubarak demokratische Reformen versprochen. Inzwischen jedoch verlängerte die Regierung den
Ausnahmezustand, welcher seit 1981 in
Kraft ist, um weitere zwei Jahre. Druck aus
Washington muss der Präsident nicht erwarten. Die Amerikaner hatten zwar noch
vergangenes Jahr auf Reformen gepocht,
mittlerweile fürchten sie jedoch die steigenden Wahlchancen der Islamisten im Land.
H. SCHWARZBACH / ARGUS
den seien. Die neue und bislang
zweite Unterwassertrasse gilt
als ehrgeizigstes Projekt der
18 Schafsinseln. Für die zweispurige Fahrröhre zwischen den
Hafenstädtchen Klaksvik und
Leirvik mussten 420 000 Kubikmeter Fels weggesprengt werden. Der Tunnel, jubelten die
Organisatoren, verbinde jetzt 85 Prozent der Bevölkerung durch Straßen –
wobei es nur rund 47 000 Inselbewohner
gibt. Autocruisen allerdings gehört zu
deren beliebtesten Freizeitbeschäftigungen: Rund 17 000 Haushalte hatten 2003
immerhin 24 000 Autos angemeldet.
Schon bald übrigens soll das nächste
Bauprojekt in Angriff genommen werden: ein rund zwölf Kilometer langer
Tunnel zur südlichen Insel Sandoy. Der
wiederum kostet nochmals fast 70 Millionen Euro – zu Lasten Kopenhagens.
Siedlung auf Vagar
FÄ R Ö E R
Freie Fahrt auf den
Schafsinseln
E
in gigantisches Tunnelprojekt der
dänischen Inselgruppe im Nordatlantik irritiert die Öffentlichkeit im Mutterland. Ein 6,3 Kilometer langer Tunnel, der – in bis zu 150 Meter Tiefe – die
Inseln Eysturoy und Bordoy verbindet,
kostete etwa 355 Millionen Kronen
(umgerechnet 48 Millionen Euro). Das
macht über die Hälfte der jährlichen
Kopenhagener Finanzbeihilfen für die
Insulaner aus. Auf die möchten die
Anhänger der Unabhängigkeit der teilautonomen Färöer allerdings auch im
Falle eines Austritts aus der „Reichsgemeinschaft“ nicht verzichten, was alle
Verhandlungen um die Zukunft der
Färöer bisher ins Stocken brachte. Kritiker werfen den Inselpolitikern eine
„grenzenlos naive nationale Eitelkeit“
vor – und verlangen die Rückzahlung
von Schulden in Höhe von insgesamt
etwa 1,1 Milliarden Euro, die „für alle
Brücken und Tunnel verpulvert“ wor-
FÄ RÖ ERI N SEL N Eysturoy
20 km
Suduroy
D
ie tristen Wohnblocks an der Haberdasher Street und am Charles
Square im trendigen Londoner Stadtteil
Shoreditch gelten als Problemviertel;
jeder zweite Anwohner wurde hier
schon einmal überfallen. Sicher ist’s nur
daheim, vor dem Bildschirm, und der
überträgt neuerdings, in vorerst 200
Wohneinheiten, eine ganz besondere
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Bordoy
Sandoy
Nachbar passt auf
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Klaksvik
Leirvik
Torshavn
G R O S S B R I TA N N I E N
Kameras in der Victoria Station
Streymoy
Vagar
BERNHARD CLASSEN / VARIO-PRESS
ten. Die Nepalesen haben bisher nur angedeutet, dass sie bei Verhandlungen mit den
Maoisten neutrale Beobachter gut gebrauchen könnten. Deshalb habe ich mein Land
nicht als Vermittler angeboten, sondern lediglich Hilfsbereitschaft signalisiert, sofern
auch andere Mächte mitmachen. Vor allem
Indien sollte sich engagieren.
SPIEGEL: Sind die Konflikte in Nepal und
Sri Lanka vergleichbar?
Solheim: Auf Sri Lanka kämpfen ethnische
Gruppen mit unterschiedlichen Sprachen
und Religionen um territoriale Vorherrschaft. Im bitterarmen Nepal geht es dagegen eher um Verteilungskämpfe. Dieses
Land braucht dringend demokratische Institutionen, die seinen Bürgern politische
und wirtschaftliche Rechte garantieren.
SPIEGEL: Sie sind selbst
Sozialist und haben sich
auch mit dem Chef einer kommunistischen
Partei getroffen, die
den Maoisten nahesteht. Worum ging es
dabei?
Solheim: Wir haben
über künftige Herausforderungen gesproSolheim
chen und viele Gemeinsamkeiten entdeckt. Der Marxismus als
wissenschaftliche Theorie dürfte sowohl
für Asien als auch für Europa wieder
wichtiger werden, da er hilft, aktuelle
Probleme der Globalisierung besser zu
verstehen.
SPIEGEL: Bislang wurden die Maoisten
von der Regierung bekämpft, jetzt soll es
Verhandlungen geben. Woher kommt der
Meinungswandel?
Solheim: Der Konflikt in Nepal hat sehr
reale Ursachen, die erst politisch und später
militärisch eskalierten. Um ihn zu lösen,
müssen auch die bewaffneten Gruppen mit
ins Boot.
Tunnel
Damm
Reality-TV-Show: Livebilder von 30
Videokameras, die an neuralgischen
Punkten das öffentliche Leben filmen.
Privatleute können seit vorigem Montag
in „Shoreditch TV“ hineinzappen und
Bobby spielen. Fällt ihnen etwas Ungewöhnliches auf, benachrichtigen sie
die Polizei. Die verantwortliche Firma
Shoreditch Trust hofft, dass 70 000
Haushalte bei dieser Form des „neighbourhood watch“, der aufmerksamen
Nachbarschaft, mitmachen und im
Ernstfall Alarm schlagen. Kritiker warnen vor der totalen Überwachungsgesellschaft, doch allein in der Hauptstadt
sind rund 400 000 Kameras installiert,
jeder Londoner wird angeblich bis zu
300-mal am Tag von elektronischen
Spionen erfasst. Außerdem können die
Befürworter der flächendeckenden
Kontrolle auf einen großen Erfolg verweisen: Nach den Attentaten auf die
Londoner U-Bahn im vorigen Juli wurden einige der Täter schnell identifiziert
und festgenommen. Man brauchte nur
genügend Videos auszuwerten.
123
Ausland
USA
Im Visier der Datenfischer
Um Terroristen auf die Spur zu kommen, speicherte die Abhörbehörde NSA Milliarden Daten über
Telefongespräche von Amerikanern. Der von George W. Bush genehmigte
Lauschangriff schadet dem Präsidenten: Er sieht sich in Kommentaren als neuer Nixon verhöhnt.
NSA-Hauptquartier bei Fort Meade: „Wir weichen nicht zurück“
E
inwohner nennen ihre Stadt „Crypto City“. Sie liegt in der Nähe von
Fort Meade im US-Bundesstaat
Maryland unweit von Washington und ist
auf keiner Landkarte verzeichnet.
Wäre sie es, die Heimat der National Security Agency (NSA) wäre eine der größten Gemeinden des Staates mit 17000 Parkplätzen, 50 Kilometer Straßen und einer
eigenen Polizei. „Wir weichen nicht zurück“, gibt ein riesiges Banner das Motto
des teuersten Geheimdienstes der USA
wieder. An den Kiosken im riesigen Operations Center, in den Washingtons Kongressgebäude gut viermal hineinpassen
würde, sind Schokoriegel und Kopfschmerztabletten die Verkaufsschlager. Abhören strengt an.
Und das Pensum der Angestellten von
Crypto City ist gewaltig. Millionen abgehörte Telefonate, E-Mails, Daten von angezapften Computern laufen hier täglich
ein. Amerikanische U-Boote haben Abhörstationen der NSA auf dem Grund der
Ozeane stationiert, wo die großen Kabelstränge einer vernetzten Welt lagern, und
124
von dort, wie von Kommunikationssatelliten aus dem All, schwappen die Bits und
Bytes der elektronischen Kommunikation
in einer riesigen Welle nach Maryland.
Und jeden Tag werden es mehr. Alle
hundert Tage verdopple sich der Datenverkehr im Internet, behauptet ein Plakat
in der Operationszentrale, allein 35 Millionen Botschaften würden jede Stunde auf
Anrufbeantwortern hinterlassen.
Und genau dafür interessiert sich die
NSA. Da ist es geradezu ein Wunder, dass
die Amerikaner wähnten, ausgerechnet
ihre gutvernetzte Nation werde von der
Sammelwut der Behörde verschont.
Schließlich garantierten einschlägige Gesetze, dass nur ein Gericht das Abhören
eines US-Bürgers anordnen kann.
Seit voriger Woche wissen die Amerikaner es besser: Über eine Milliarde Verbindungsdaten hat die NSA von den
großen Kommunikationskonzernen erhalten und gespeichert. Wie Big Brother weiß
nun eine der größten Datenbanken der
Welt, wer wann mit wem wie lange in Verbindung gestanden hat. Nicht mehr nur,
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wer einen Anruf oder eine Mail aus SaudiArabien oder Afghanistan erhalten hat,
kann von modernsten Rechnern aus der
Datenflut herausgefiltert werden, sondern
auch jeder, der mit diesem Empfänger
in Verbindung stand. So kristallisieren
sich Verhaltensmuster heraus, so werden
Gruppen definiert, ungeahnte Verbindungen erkennbar. Aus einem Verdächtigen
werden schnell Hunderte, Tausende, Zehntausende. Der Pool mit den Verbindungsdaten amerikanischer Fernsprechteilnehmer ist die Grundlage für die Entscheidung, wessen Kommunikation dann
lückenlos überwacht wird.
Nichts davon wird vernichtet, jeden Tag
landen Abermillionen neue Datensätze in
dem Pool, die Tag, Zeit und Dauer der
Anrufe festhalten. Und wer heute noch
unverdächtig ist, kann vielleicht schon
morgen ins Visier der Datenfischer
geraten.
Solche Erkenntnisse über die Kommunikationsgewohnheiten der Amerikaner,
in der vergangenen Woche durch die Zeitung „USA Today“ enthüllt, haben zu
GREG E. MATHIESON / PICTURE-ALLIANCE / DPA
TIM SLOAN / AFP
Kopfschütteln und Empörung
ausdrücklichen Ermächtigung
geführt. Sie haben als falsch
des Foreign Intelligence Surenttarnt, was die Regierung
veillance Court abhängig. Das
von George W. Bush bisher
Gericht, das in einem abhörals Entschuldigung für bereits
sicheren Saal im obersten
bekannt gewordene Fälle von
Stockwerk des US-JustizAbhörskandalen vorgeschoministeriums tagt, war eingeben hat: Nur eine geringe
richtet worden, nachdem
Zahl ganz konkreter Verdächwährend des Vietnam-Kriegs
tiger sei betroffen. Jetzt lässt
Tausende Kriegskritiker beder Lauschangriff auf Amerilauscht worden waren. Nie
ka selbst treueste Bush-Anwieder sollten die beinahe
hänger an ihrem Präsidengrenzenlosen Möglichkeiten
ten zweifeln. John Boehner,
der NSA gegen ihre eigenen
Mehrheitsführer der RepubliBürger eingesetzt werden.
kaner im Abgeordnetenhaus,
Diese juristischen Sicheverlangt vollständige Aufrungen wollte das Weiße
klärung über den Umfang
Haus nach dem Attentatsder Aktion, die als „Spezielles
schock nicht mehr gelten lasZugangsprogramm“ höchster
sen, der Präsident unterGeheimhaltung unterliegt. Sezeichnete eine großzügige
nator Arlen Specter, Chef
Abhörvollmacht für die NSA.
des mächtigen JustizausschusZutiefst ist Bush überzeugt
ses im Senat, will die bisdavon, dass er wirklich einen
her beharrlich schweigenden
Krieg führt, und im Krieg geVorstandsvorsitzenden der
nießt der Präsident als OberUS-Kommunikationskonzerbefehlshaber annähernd unne per Vorladung zur Aussage
beschränkte Vollmacht. Die
zwingen. „Wollen Sie uns sanutzt das Team im Weißen
gen, dass Millionen AmerikaHaus denn auch nach Kräften
ner mit al-Qaida in Verbin- Designierter CIA-Chef Hayden (M.), Dienstherr Bush*: „Stunde null“
aus. Da wurden Terrorverdung stehen?“, wütet der dedächtige an Länder überstellt,
mokratische Senator Patrick Leahy in bei einer Aussage vor dem Kongress, ge- die dafür bekannt sind, ihre Gefangenen
setzliche Auflagen würden es sogar un- zu foltern. Verhörmethoden wurden entRichtung des Präsidenten.
„Wir schürfen und fischen nicht im Pri- möglich machen, Osama Bin Laden ab- wickelt und abgesegnet, die in Guantanavatleben Millionen unschuldiger Amerika- zuhören, wenn er in die USA käme. Er mo und Abu Ghureib zu Menschenrechtsner“, beteuert Bush, aber genau danach brauche mehr Flexibilität, um Gefahren verletzungen führten. Die Administration
sieht es aus. Was genau sein Geheimdienst abzuwenden.
behielt sich das Recht vor, im Namen ihres
Die hatte er sich damals längst genom- heiligen Kriegs das Recht zu brechen.
da getrieben hat, will er nicht preisgeben,
men. Am 10. September 2001, einen Tag
„das hilft nur dem Feind“.
Sogar die Rechte amerikanischer BürDas erste Opfer der Empörung über das vor den Attentaten, die Amerika verän- ger waren nicht mehr sicher. Von einer
Ausschnüffeln einer ganzen Nation droht derten, hatten die Antennen der NSA zwei „wahrhaft atemberaubenden Ausweitung
jetzt ausgerechnet Michael Hayden zu wer- Anrufe aus Afghanistan aufgefangen: der Regierungsgewalt“ sprach Bushs deden, den Bush als neuen CIA-Direktor no- „Morgen ist die Stunde Null“, hieß es in ei- mokratischer Wahlgegner Al Gore.
miniert hat. Der Vier-Sterne-General war nem, „Das Spiel beginnt“ in dem zweiten.
Als bevorzugtes Mittel, seine imperiale
von 1999 bis 2005 Chef der NSA und hat Aber die Hinweise blieben unbeachtet. Präsidentschaft abzusichern, galt das sosich – mindestens – der groben Irreführung Hayden, berichteten Freunde, war zutiefst genannte Präsidial-Statement anlässlich eischuldig gemacht. Im Oktober 2002, als erschüttert. Der größte Geheimdienst der ner Gesetzesunterzeichnung. Darin erklärt
seine Behörde schon längst alle juristischen Weltgeschichte hatte versagt.
der Präsident, wie er ein vom Kongress
Noch größer als seine Sorge vor Vor- verabschiedetes und von ihm unterzeichHemmungen über das Abhören von
Landsleuten abgelegt hatte, jammerte er würfen aber war die Angst vor einer zwei- netes Gesetz interpretiert, und wie er es zu
ten Angriffswelle an der Westküs- befolgen gedenkt.
te. US-Geheimdienstler fürchteSo hat der Kongress im Dezember mit
ten, dass al-Qaida bereits weitere großer Mehrheit ein striktes Folterverbot
Attentäter in die USA einge- erlassen, und Bush hat das Gesetz auch unschleust hatte. Um sie zu finden, terzeichnet. In einem separaten Statement
entschloss sich der NSA-Chef, die hat er aber gleichzeitig festgelegt, dass die
riesigen Ressourcen der Agency Ausführungsbestimmungen „mit der verfür die Suche nach ihnen einzu- fassungsmäßigen Autorität des Präsidenten
setzen. Er ließ Abhörantennen übereinstimmen müssen, einer einheitlichen
landeinwärts drehen.
Exekutive vorzustehen“. Soll heißen: Wenn
An eine juristische Ermächti- der Präsident es für erforderlich hält zu folgung für diesen Schritt dachte tern, kann er, Gesetz hin oder her, den Bezunächst niemand. Dabei sind fehl dazu geben. 750 solcher Statements hat
Abhöraktionen der NSA gegen er bereits abgegeben; sollen die ParlamenAmerikaner seit 1978 von einer tarier doch ein Amtsenthebungsverfahren
einleiten, wenn sie es denn wagen.
Natürlich wagte es – bisher – niemand:
* Mit dem Geheimdienstkoordinator John
Wer will dem Oberbefehlshaber schon in
Negroponte im Oval Office.
Abhörstation in Maryland: „Elektronische Brühe“
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JOHN MOORE / AP
Ausland
Einzelhaft-Käfig in Abu Ghureib: „Das ist der Krieg, den wir führen“
den Arm fallen, solange der vermeintliche
Krieg noch tobt?
Die im Terrorkrieg genehmigte Abhöraktion folgt der Logik der Rasterfahndung: Weil niemand verdächtig ist, sind
erst einmal alle verdächtig. „Wir müssen
uns nun mal auch in Sackgassen verirren,
um den einen, entscheidenden Hinweis zu
finden“, rechtfertigte Hayden das Schleppnetz der Verbindungsdaten. „Das ist der
Krieg, den wir führen“, assistiert General
Keith Alexander, sein Nachfolger. So klein
bleibt der Kreis der Eingeweihten, dass
nicht einmal die Anwälte des Nationalen
Sicherheitsrats im Weißen Haus um ein
Rechtsgutachten gebeten wurden.
Erste Enthüllungen hatte Bush im Dezember noch versucht zu verhindern, indem er die Chefs der „New York Times“
ins Oval Office lud und an ihre patriotische Gesinnung appellierte. Als das Blatt
dennoch Teile der Abhöraktion bekannt
machte, behauptete der Präsident, nur wer
mit dem Ausland kommuniziere, könne
überhaupt in Verdacht geraten. Auch
das erweist sich jetzt nur als halbe
Wahrheit.
Denn jeden Tag tauchte die NSA ihre
Schöpfkelle tiefer in die elektronische
Brühe. Um Schritt zu halten, hat sich die
Behörde von jeher auf eine enge Kooperation mit der US-Industrie verlassen.
Schon heute läuft gut ein Drittel der weltweiten Kommunikation durch amerikanische Netze, und die NSA drängt darauf,
den Anteil noch zu erhöhen.
Wie reibungslos die klandestine Kooperation mit Branchengrößen wie AT&T verläuft, hat unlängst der ehemalige Firmentechniker Mark Klein offengelegt. 2003 sei
gleich neben einer Schaltzentrale in San
126
Francisco ein Abhörraum der NSA eingerichtet worden. Geheimdienstler hätten
ihre Geräte mit den Knotenpunkten des
Internet und des AT&T-Telefoncomputers
verbunden. In Seattle, Los Angeles, San
Diego und San Jose sei die NSA ebenfalls
aufgetaucht.
Klein, der 22 Jahre für den Konzern arbeitete, will seine Vorwürfe mit Hilfe von
Dokumenten beweisen. Eine Bürgerrechtsgruppe hat AT&T verklagt, aber auf
Antrag der Firma und des US-Justizministeriums müssen die 140 Seiten der Klage
vorerst unter Verschluss bleiben.
Im Schatten der Vorgänger
Zustimmung zur Amtsführung in Prozent*
0
10
20
30
Clinton
Bush junior
Reagan
Kennedy
Eisenhower
Nixon
Eisenhower
Bush senior
Ford
Carter
Clinton
Johnson
Reagan
Truman
1998
Bush junior
2006
40
50
2002
1986
1962
1954
1970
1958
1990
1974
1978
1994
1966
1982
1950
* jeweils zur Mitte der Amtszeit; Präsidenten seit 1945
Quelle: Charles Franklin, www.mysterypollster.com
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Big Brother lauscht nicht, er sammelt
nur, lautet Bushs Verteidigung: „Es gibt einen Unterschied zwischen der Suche und
dem Abhören.“ So argumentiert auch die
NSA: Nicht die Kontrolle durch Maschinen, sondern nur durch Menschen soll
als Bruch des Fernmeldegeheimnisses
gelten.
Um den Aufruhr zu dämpfen, wird der
Bush-Administration wohl nichts anderes
übrigbleiben, als jetzt endlich mit den
angeblich so sensationellen Erfolgen der
Abhöraktion herauszurücken. „Tausende
Leben wurden gerettet“, behauptet beispielsweise Vizepräsident Dick Cheney.
Inzwischen muss sich der Präsident, der
unmittelbar nach dem Irak-Krieg in Umfragen noch Beliebtheitsrekorde eingefahren hatte, sogar mit Richard Nixon vergleichen lassen – einem Mann, der noch
immer als der Inbegriff eines Gauners im
höchsten Staatsamt gilt. US-Kommentatoren erinnern die juristisch zweifelhaften Abhörvollmachten für die Geheimdienste an Nixons legendären Ausspruch:
„Wenn es der Präsident tut, ist es nicht
illegal.“
Zeitungsanzeigen von Bürgerrechtsgruppen zeigen Bilder der beiden Republikaner-Präsidenten. Bildzeile zum NixonPorträt: „Dieser Mann stand nicht über
dem Gesetz.“ Unterschrift zum Bush-Bild:
„Dieser auch nicht.“
Noch nie ist ein Präsident zu einer Halbzeitwahl mit derartig geringer Zustimmung
angetreten. Nur noch 31 Prozent der Amerikaner schätzen die Arbeit ihres Präsidenten. Eine Ära geht zu Ende: Der Mann,
der mit unverrückbarem Selbstbewusstsein
die Antwort des Westens auf die Herausforderung von al-Qaida diktierte, hat nur
noch wenige Freunde.
Schon machen sich die Demokraten Hoffnungen, dass sie bei den
Wahlen im November endlich wieder die Mehrheit im Kongress zurückgewinnen könnten. Sicherstes
70
Anzeichen dafür, dass so etwas wie
Panik das Weiße Haus befallen hat,
ist die Aufgabe, die Bush bei der
Neuordnung seines Stabs seinem
Vertrauten Karl Rove überantwortet
hat. Der geniale Wahlkampfstratege
soll sich ausschließlich darum
kümmern, die zerbrochene Wählerkoalition wieder aufzubauen.
Längst sind auch die republikanischen Granden im Kongress auf
Distanz zu ihrem Präsidenten gegangen. Der hat seine Parteifreunde angefleht, kein Haushaltsgesetz
zu verabschieden, welches das riesige Defizit noch weiter verschärft.
Umsonst: Nach dem Motto „Rette
sich, wer kann“ verteilten die Republikaner in der vorigen Woche
eifrigst teure Geschenke an ihre
Hans Hoyng,
Wähler.
Georg Mascolo
Ausland
Mafiöses
Netzwerk
MICHEL EULER / AP
Jacques Chirac beendet seine
Karriere als tragische Figur –
der Präsident und sein Premier
geraten immer tiefer in den
Strudel des Clearstream-Skandals.
vorwürfe im Zusammenhang mit dem milliardenschweren Verkauf von Fregatten an
die Inselrepublik Taiwan. Zum großen Politikum wurden die Anschuldigungen, weil
sie als Munition in einer Schmutzkampagne gegen den heutigen Innenminister
Nicolas Sarkozy dienten – sie waren aber
ganz offenbar manipuliert.
Sarkozy und die Namen weiterer Prominenter aus Politik, Wirtschaft und Hochfinanz erscheinen auf ominösen Kontolisten des Luxemburger Finanzdienstleisters Clearstream, die dem Pariser Untersuchungsrichter Renaud Van Ruymbeke
Partner de Villepin, Chirac: Diktatur des Gerüchts und der Verleumdung?
D
er 27. Mai ist kein Gedenktag der
Fünften Republik, doch für die Biografie von Jacques Chirac besitzt das
Datum durchaus Bedeutung: An jenem
Frühlingstag im Jahre 1974 bezog der Nachwuchspolitiker aus Frankreichs ländlichem
Südwesten das Hôtel Matignon. Zum ersten
Mal saß der erfolgreiche Elitebeamte, zuvor
Staatssekretär, Landwirtschafts- und Innenminister, als Regierungschef an den zentralen Schalthebeln der Macht.
Er hat sie nie mehr ganz aus der Hand
gegeben. Seit über drei Jahrzehnten gehört
Chirac, ob als Premier, Pariser Bürgermeister oder Präsident, zum Inventar der französischen Führungskaste, und doch besteht
am diesjährigen Jubiläumstag kaum Grund
zum Feiern. Ausgerechnet jetzt, auf der
letzten Etappe seiner Polit-Karriere, wird
Chirac von den Verwicklungen des Clearstream-Skandals eingeholt.
Götterdämmerung im Elysée: Der Präsident und mit ihm sein Premierminister
Dominique de Villepin werden in den Pariser Medien als Zeugen oder Mitwisser
einer dubiosen Verleumdungsaffäre dargestellt, ja sogar als deren Drahtzieher und
Kulissenschieber. Das entsprechende Wissen stammt offenbar aus Ermittlungsakten.
Es geht in erster Linie gar nicht mehr um
die – längst entkräfteten – Korruptions128
im Frühsommer 2004 zugespielt wurden.
Absender war, so der Verdacht, Jean-Louis
Gergorin, Top-Manager des Luftfahrtkonzerns EADS, ein „brillanter Kopf“, wie ihn
Kollegen beschreiben. Gergorin informierte aber nicht nur die Justiz, sondern drei
Monate zuvor schon seinen Kumpel Dominique de Villepin – welcher damals noch
Außenminister war.
Und der biss offenbar an. Statt Sarkozy
und andere inkriminierte Kollegen zu informieren, beorderte de Villepin in klarer
Übertretung seiner Kompetenzen den
Geheimdienstmann Philippe Rondot in
sein Büro am Quai d’Orsay. Im Beisein
von EADS-Manager Gergorin betraute ihn
der Minister mit unauffälligen Ermittlungen. Offenbar sollte der gewiefte Abwehrmann mit Hilfe der Clearstream-Listen
kompromittierendes Material gegen de
Villepins Intimfeind Sarkozy zusammentragen.
Glaubt man den Aussagen und Niederschriften Rondots, wusste auch Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie von
der Privatfehde mit Sarkozy, selbst Präsident Chirac war von Anfang an eingeweiht. „Meine Zweifel bestehen weiter“,
notiert ein skeptischer Rondot am 19. Juli
2004. Und der treue Beamte ist sogar besorgt – „Das Risiko: Der PR (Präsident der
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Republik) könnte in
Mitleidenschaft gezogen werden.“
Genau das ist nun
passiert. Mittlerweile
verstricken sich Chirac
und de Villepin in immer neue, zuweilen
widersprüchliche Einlassungen. Nein, der
Name Sarkozy sei bei
einem Gespräch mit
Gergorin und Rondot
nie gefallen, behauptet
Minister Sarkozy
de Villepin. Oder doch,
so das Eingeständnis ein paar Tage später
– aber nicht im Zusammenhang mit Korruptionsvorwürfen. Chirac wiederum verteidigt sein Interesse an den ClearstreamVorgängen mit dem „Kampf gegen mafiöse Netzwerke“. Aber Politiker auszuforschen, nein, so etwas habe der Präsident
nie in Auftrag gegeben, heißt es aus dem
Elysée.
Ob sich aus einer Wagenburg unablässiger Dementis heraus die Krise noch länger
beherrschen lässt, ist fraglich. Zu den ersten Kollateralschäden zählt bereits EADSManager Gergorin; er beschloss, „auf eigenen Wunsch“ seine Aufgaben im Konzern ruhen zu lassen, um sich „besser auf
seine Verteidigung vorzubereiten“. Auch
Untersuchungsrichter Van Ruymbeke fällt
als Bauernopfer: Die Beförderung des Juristen wurde zurückgestellt, weil er die
Identität seines Informanten Gergorin verschwieg. Zugleich rüstete die Regierung
Ende voriger Woche zum Gegenangriff.
Justizminister Pascal Clément kündigte
rechtliche Schritte gegen die Medien an –
sie hatten aus Ermittlungsakten zitiert.
Viel helfen solche Ablenkungsmanöver
offenbar nicht. Sogar in der Regierungspartei wächst der Druck auf Chirac, den
umstrittenen Regierungschef nun zu entlassen. Angeheizt wird die Stimmung von
Sarkozys Seilschaften im Parlament,
während sich der Innenminister nach
außen hin in der Rolle des unschuldigen
Opfers gefällt – Mobbing mit Methode.
Noch hält der Präsident fest zu seinem
Premier. „Die Republik ist keine Diktatur
des Gerüchts oder der Verleumdung“, doziert Chirac pathetisch und versichert, er
habe „Vertrauen in die Regierung von Dominique de Villepin“.
Eine nächste Nagelprobe auf diese Solidarität ist schon in Sicht: Am Dienstag werden die Sozialisten einen Misstrauensantrag gegen de Villepin stellen. Sollte die
eigene Fraktion den Premier mit einem
nur mageren Votum abstrafen, wäre er politisch kaum noch zu halten.
Dann träte jenes unheilvolle Szenario
ein, von dem de Villepin mit Blick auch auf
den Präsidenten bereits im Juli 2004 ahnungsvoll orakelt haben soll: „Wenn diese
Sache ans Licht kommt, sind wir beide geliefert.“
Stefan Simons
GILLES BASSIGNAC / GAMMA / STUDIO X
FRANKREICH
Ausland
Papst Benedikt XVI., Kardinal Zen
MAURIZIO BRAMBATTI / ANSA / DPA
„Eine Wende Pekings würde honoriert“
CHINA
„Alle wollen dem Papst folgen“
Der Hongkonger Kardinal Joseph Zen über die Beziehungen
zwischen Peking und dem Vatikan, den Streit über die
Ernennung von Bischöfen und die Lage der katholischen Kirche
Bischof Zen, 74, wurde von Benedikt
XVI. jüngst zum Kardinal ernannt, er
gehört zu den wichtigsten Beratern des
Papstes in der China-Politik des Vatikans.
Die Beförderung hat Peking verärgert,
da Zen sich in Hongkong aktiv für demokratische Reformen einsetzt.
gen zwischen dem Vatikan und Peking
über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen stecken in einer Krise. Gibt es
noch eine Chance, dass Kirche und Kommunistische Partei zusammenkommen?
Zen: Die chinesische Seite stellt dafür zwei
Bedingungen. Diese zu erfüllen sollte nicht
so schwer sein: Der Vatikan hat sich schon
bereit erklärt, statt Taiwan künftig Peking
diplomatisch anzuerkennen. Peking besteht außerdem darauf, die katholischen
Bischöfe selbst zu ernennen. Das ist für
uns unannehmbar. Allerdings hat der Chef
des staatlichen Religionsbüros, Ye Xiaowen, hier Verhandlungsbereitschaft angekündigt. Unglücklicherweise gibt es in
jüngster Zeit eine neue Entwicklung, die
aus unserer Sicht völlig unrechtmäßig ist.
SPIEGEL: Die Ernennung von drei Bischöfen
ohne Zustimmung des Vatikans.
Zen: Ich hoffe, dass die Initiative dazu nicht
von der obersten Führungsspitze kam, son130
REUTERS / ULLSTEIN BILDERDIENST
SPIEGEL: Herr Kardinal, die Verhandlun-
Pekings St.-Joseph’s-Kirche (Ost-Kathedrale)
Geteilte Kirche
Seit das Land nach der Machtübernahme
der KP 1951 die Beziehungen zum Vatikan
abgebrochen hat, sind Chinas etwa 14
Millionen Katholiken gespalten: in eine
offizielle Kirche, die sich Patriotische Vereinigung nennt und sich dem Staat und
der Partei unterordnet, und in eine – sehr
viel größere – Untergrundkirche, die
ausschließlich den Vatikan anerkennt.
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dern von untergeordneten Stellen wie der
Patriotischen Vereinigung …
SPIEGEL: … wie sich Chinas von der Partei
kontrollierte katholische Kirche nennt …
Zen: … und vom staatlichen Religionsbüro.
Ich hoffe, die Führungsspitze wird dem ein
Ende bereiten. Sonst würden Verhandlungen keinen Sinn mehr machen.
SPIEGEL: Der Vatikan hat die Ernennung
der Bischöfe ungewöhnlich scharf kritisiert.
Dabei hat China in den letzten Jahrzehnten immer wieder eigene Bischöfe berufen, ohne sich mit Rom abzustimmen. Warum diese Aufregung?
Zen: Die chinesische Seite verbreitet viele
Lügen, lassen Sie mich die Fakten geraderücken: Als China noch von der Außenwelt
isoliert war, ernannte die Regierung die
Bischöfe allein. Das war völlig inakzeptabel. Aber die Geistlichen wussten genau,
dass sie keine Legitimation besaßen und
dass der Papst das letzte Wort haben muss.
Als sich China Ende der siebziger, Anfang
der achtziger Jahre öffnete, baten sie den
Heiligen Vater um Verzeihung und beantragten, sie nachträglich anzuerkennen.
Meistens erfüllte der Papst diese Bitte.
SPIEGEL: Was geschah dann?
Zen: Später wandten sich die Bischofskandidaten schon vor ihrer Ernennung an den
Papst. Sie akzeptierten die Beförderung
nur nach grünem Licht aus Rom. Im Jahr
2000 zum Beispiel nahmen von zwölf Kandidaten nur fünf das Amt an, einige allerdings ohne die Erlaubnis des Heiligen Vaters. Offenkundig standen sie unter starkem Druck. Denn wer ohne das Ja des
Papstes die Bischofswürde akzeptiert, wird
von Geistlichen und Gläubigen isoliert. In
letzter Zeit wurden fast alle Bischöfe vom
Heiligen Stuhl gebilligt.
SPIEGEL: Die chinesische Regierung hat diese Praxis stillschweigend toleriert?
Zen: Sie droht allen mit Strafen, die über
ihre Verbindung zum Vatikan offen sprechen. Die neuen Bischöfe dürfen im Gottesdienst nicht die Ernennungsurkunde
Roms verlesen, nur die der sogenannten
staatlichen Bischofskonferenz.
SPIEGEL: Was war anders bei den jüngsten
Fällen?
Zen: Ein Kandidat war vom Heiligen Stuhl
gebeten worden zu warten, weil die Überprüfung noch nicht fertig war. Den anderen
hatte der Papst schon im Februar abgelehnt. Er sagte damals seine Ordination ab.
Wir wissen nicht, warum er plötzlich das
Amt akzeptierte.
SPIEGEL: Warum ist Rom eigentlich so stark
an Beziehungen mit einer kommunistischen Diktatur wie China interessiert?
Zen: Manche halten den Vatikan für naiv.
Aber ich glaube, wir sollten nicht für unseren Optimismus verurteilt werden, wonach selbst eine kommunistische Partei zur
Vernunft kommen kann. Denn eine Nor-
Ausland
132
ZYPERN
Früchte des Starrsinns
Die Dichterin Nese Yasin tritt als erste türkische Zyprerin
zur Parlamentswahl im griechischen Süden an –
doch eine Lösung für die geteilte Insel liegt in weiter Ferne.
JIHAN AMMAR / AFP
malisierung wäre nicht nur für den Vatikan
sinnvoll, der sich dann um Millionen von
Gläubigen direkt kümmern könnte, sondern auch für die Regierung. China würde
harmonischer werden. Die Katholiken
könnten ihren Beitrag für die Gesellschaft
leisten, zum Beispiel mit Sozialarbeit. Derzeit dürfen wir nur in der Kirche beten.
Außerdem würde eine solche Wende Pekings international honoriert.
SPIEGEL: Ist die Angst vor der katholischen
Kirche innerhalb der chinesischen KP nicht
durchaus nachvollziehbar? Denken Sie an
Polen: Dort hat der Klerus wesentlich zum
Sturz des kommunistischen Regimes beigetragen.
Zen: Es ist lächerlich, China mit Polen zu
vergleichen. Polen ist zu 95 Prozent katholisch, in China sind wir eine kleine Minderheit. In Polen stand die sowjetische Armee,
hier sind wir alle Chinesen. Es herrscht
keinerlei Hass.
SPIEGEL: Dennoch fürchtet die KP die Kirche – weil sie ähnlich gut organisiert ist?
Zen: Sie fürchtet alles, was sie nicht vollständig kontrollieren kann.
SPIEGEL: Wo sehen Sie Kompromissmöglichkeiten zwischen Rom und Peking?
Zen: Die Grundbedingung ist: Die letzte
Entscheidung über die Ordination eines
Bischofs gehört dem Heiligen Stuhl. Aber
die Regierung kann ihre Meinung äußern.
Der Vatikan präsentiert Namen und hört
die andere Seite an.
SPIEGEL: Was würde sich im Alltagsleben
der chinesischen Katholiken ändern, falls
Vatikan und KP sich einigen?
Zen: Käme es zu wirklicher Religionsfreiheit, würden die Patriotische Vereinigung
und das staatliche Religionsbüro überflüssig. Noch allerdings leidet die Kirche unter
zahllosen Restriktionen. Die Hälfte der
Vorstände in den Priesterseminaren sind
staatliche Funktionäre. Solch eine Situation ist einfach lächerlich, so etwas gibt es
nirgendwo in der Welt.
SPIEGEL: Die Repressionen haben nicht
nachgelassen?
Zen: Die Kommunikation zwischen Vatikan und Gläubigen ist besser geworden,
die offizielle Kirche und die Untergrundkirche kommen einander näher. Alle wissen,
dass sie denselben Glauben teilen. Alle wollen dem Papst folgen. Die Untergrundkirche betet nun sogar für die offiziellen Priester, damit sie mehr Kraft haben, dem Druck
der Regierung zu widerstehen.
SPIEGEL: Immer noch sitzen zahlreiche
Priester im Gefängnis, Bischöfe stehen unter Hausarrest, weil sie dem Vatikan nicht
abschwören. Ist ihre Freilassung Bedingung
für die Aufnahme von Beziehungen?
Zen: Ja. Wie kann es anders sein? Wir wissen, dass sie keine Kriminellen sind.
SPIEGEL: Ist Papst Benedikt stärker an China interessiert als sein Vorgänger?
Zen: Papst Benedikt nimmt bedeutende
Dinge selbst in die Hand. China ist wichtig
für ihn.
Interview: Andreas Lorenz
Kandidatin Yasin (in Nikosia): Vages Gefühl von Verlust
N
ese Yasin lag in ihrem Bett, sie war
17 Jahre alt, sie war traurig. In ihr
Album schrieb sie ein Gedicht:
„Liebe dein Land, sagt mein Vater, doch
mein Land ist entzwei. Welche Hälfte soll
ich lieben?“
Sie dachte nicht, dass ihr Gedicht etwas
Besonderes sei, aber dann wurde es in
einem angesehenen Magazin gedruckt.
Der griechisch-zyprische Musiker Mario
Tokas komponierte eine Melodie dazu,
und das Lied wurde berühmt auf der Insel
Zypern. Jeder kannte es fortan, es lief in
Cafés und im Radio, im Norden und im
Süden, auf Griechisch und auf Türkisch.
Vielleicht ist dieses Lied nach 32 Jahren
der Trennung das Einzige, was alle Zyprer
noch verbindet – das vage Gefühl von
Verlust.
Nese Yasin ist heute 47 Jahre alt, eine
der bekanntesten Schriftstellerinnen des
Landes. Sie hat ihre rotgeblümte Bluse unter ihrem Dekolleté verknotet und sitzt auf
einem Sofa in ihrer hellen Wohnung im
Süden der Hauptstadt Nikosia. Sie gibt
jetzt viele Interviews. Sie kandidiert für
das Parlament der Republik Zypern – als
erste türkische Zyprerin seit der Teilung
des Landes.
Bei der Wahl am kommenden Sonntag
tritt sie für eine linke Splitterpartei an, die
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derzeit nur einen Abgeordneten stellt: die
Vereinigten Demokraten. Sie macht sich
wenig Hoffnungen, dass sie den Sprung ins
Parlament schafft, aber sie sagt: „Falls ich
gewählt werden sollte, wäre das für Zypern eine Revolution.“
Nese Yasins Kandidatur ist vor allem ein
Symbol. Aber in diesem Land, in dem alle
Politik symbolisch ist und sich realpolitisch
seit zwei Jahren nichts mehr bewegt, ist
das schon viel.
Am 24. April 2004 zerschlugen sich alle
Hoffnungen, dass das Zypernproblem endlich gelöst werde: 76 Prozent der griechischen Zyprer lehnten an diesem Tag den
Friedensplan von Uno-Generalsekretär
Kofi Annan ab, der beide Landesteile zu
einer Föderation mit weitgehenden Selbstbestimmungsrechten zusammengeführt
hätte. Die türkischen Zyprer allerdings hatTürkische Republik
Nordzypern
nur von der Türkei anerkannt
Demarkationslinie
seit 1974
Nikosia
Republik Zypern
griechischer Teil
Larnaka
Limassol
50 km
kei vorerst weiterhin Soldaten im Norden
hätte stationieren dürfen, weil auch Zehntausende türkische Siedler im Lande geblieben und verlorengegangene Grundstücke der Griechen nicht vollständig zurückgegeben worden wären. Befürworter
des Uno-Projekts erklärte der Präsident
kurzerhand zu Verrätern und versprach
einen „besseren“ Plan.
Eine Lösung hat im Wahlkampf keine
der Parteien zu bieten. Präsident Papado-
REPORTERS / LAIF
ten mit 65 Prozent zugestimmt. Einmal
mehr war das Land geteilt.
Am 1. Mai desselben Jahres trat Zypern
der Europäischen Union bei – offiziell als
Ganzes. Weil aber die „Türkische Republik Nordzypern“ von keinem Land der
Welt anerkannt wird, außer von der Türkei
selbst, ist de facto nur der griechische Süden EU-Mitglied.
Seither fordern die griechischen Zyprer
im Süden neue Verhandlungen – die Re-
Griechisch-zyprischer Soldat an der Uno-Pufferzone: „Welche Hälfte soll ich lieben?“
gierung des türkisch besetzten Nordens
hält unverdrossen am Annan-Plan fest.
Auf diese Weise hat sich die EU einen
anachronistischen Territorialkonflikt ins
Haus geholt, um den sie sich am liebsten gar nicht kümmern würde – einen
Konflikt in einem Land, das so weit im
Osten liegt, dass es sogar auf den EuroScheinen fehlt. Die Situation ist absurd:
Der Beitrittskandidat Türkei erkennt eines der EU-Mitgliedsländer nicht an und
verweigert Schiffen und Flugzeugen aus
Zypern den Zugang zum eigenen Territorium. Die Republik Zypern indessen droht
damit, den EU-Beitritt der Türkei mit
ihrem Veto zu verhindern. Für Brüssel
wird die Zypernfrage immer mehr zu einem Problem.
Der Ausgang der Wahl im südlichen Inselteil wird an dieser Situation kaum etwas
ändern. Präsident Tassos Papadopoulos,
72, ist noch bis 2008 im Amt und unverändert populär – seine Zustimmungsrate
liegt bei 60 Prozent. Die Umfragen sagen
seiner buntgemischten Koalition, bestehend aus Postkommunisten, Sozialdemokraten und der eigenen Mitte-rechts-Partei,
eine klare Mehrheit voraus.
Papadopoulos hatte die Ablehnung des
Annan-Plans vor dem Referendum zur patriotischen Pflicht erhoben – weil die Tür-
poulos wiederholt nur unentwegt, der
Friedensprozess sei tot, falls man zu früh
wieder verhandle – und dann scheitere.
Welche Lösung ihm vorschwebt, ist völlig
unklar. Gegenüber einem französischen
Magazin stellte er vor zwei Wochen sogar
den bisher kleinsten gemeinsamen Nenner
in Frage und forderte statt der Föderationslösung einen einheitlichen Staat. Nach
Protesten ruderte er zurück: Er sei „falsch
verstanden“ worden, so sein Sprecher.
Auf beiden Seiten sitzen noch immer
jene an den politischen Schalthebeln, die
sich zuvor jahrzehntelang bekriegten. Präsident Papadopoulos zum Beispiel gehörte
in den fünfziger Jahren der gefürchteten
Eoka an, der Untergrundarmee der Griechen, die gegen die britischen Kolonialherren und die türkischen Zyprer kämpfte.
Auf beiden Seiten werden die eigenen
Kämpfer heroisiert, Verbrechen den Gegnern zugeschrieben. Verhandlungen sind
für beide Lager ein Nullsummenspiel,
nachgeben will keiner.
Die Früchte des Starrsinns lassen sich
mitten im Zentrum von Nikosia besichtigen. Die Ledra-Straße, eine belebte Shopping-Meile im griechischen Süden, endet
unversehens an einer hohen Mauer mit
Aussichtsplattform, die von einem gelangweilten Soldaten bewacht wird. Verirrte
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Strandtouristen und Schulklassen besichtigen hier die Uno-Pufferzone, die den Norden vom Süden der Stadt seit 1964 trennt,
einen knapp hundert Meter breiten Streifen, in dem sich die Straße gespenstisch
fortsetzt – zerschossene Häuser aus dem
Krieg stehen hier, unberührt seit mehr als
40 Jahren und von Unkraut überwuchert.
Gegenüber, auf der türkischen Seite, führt
eine weiße Brücke aus Metall in die Pufferzone. Sie ist gesperrt.
Eigentlich sollte hier, im Herzen von Nikosia, bald ein weiterer Übergang zwischen
Nord und Süd eröffnet werden. Doch die
Griechen sind wütend, weil die Türken die
Brücke ohne Absprache gebaut haben und
die Abfertigungshäuschen in der verbotenen Pufferzone stehen.
Die Türken ihrerseits weigern sich, die
Brücke wieder abzureißen. Dafür haben
sie ein Transparent aufgehängt: „An jene,
die von der Mauer der Schande herübersehen – hier steht die Brücke des Friedens.“ Der Übergang bleibt vorerst geschlossen.
Trotz des täglichen Propagandakleinkriegs gibt es seit dem EU-Beitritt wieder
einen Grenzverkehr zwischen Nord und
Süd – 7000 Pendler strömen täglich in den
reichen griechischen Teil, viele von ihnen
Bauarbeiter. Die griechischen Zyprer wiederum gehen in den Norden, um dort billig einzukaufen. Der lange isolierte türkische Teil erlebt seither einen Wirtschaftsboom – das Bruttoinlandsprodukt ist in
zwei Jahren um über 30 Prozent gewachsen, allerdings auf einer niedrigen Grundlage. Die Käufer reißen sich um Immobilien, türkische Investoren bauen monströse Hotelanlagen. Die EU will nun auch den
Norden mit 139 Millionen Euro unterstützen – eine Geste der Ratlosigkeit angesichts ihres geteilten Mitgliedslandes.
Das eigentliche Zypernproblem, sagt
Nese Yasin, seien die Politiker. „Sie sind
gar nicht daran interessiert, es zu lösen.
Sie leben ja davon.“
Ihr ganzes Leben hat sie für eine Einigung gekämpft. Sie hat sich in Friedensgruppen engagiert und ist früher auf
Schmugglerwegen illegal vom Norden in
den Süden geschlichen, bis sie vor neun
Jahren endgültig in den Süden zog – um
ein Zeichen zu setzen. Um zu demonstrieren, dass man als türkische Zyprerin nicht
unbedingt nur im Norden leben muss.
Nese Yasin will an die Tage erinnern, als
türkische und griechische Zyprer friedlich
nebeneinander lebten, so wie in ihrem
Heimatdorf Peristerona, aus dem sie mit
ihrer Familie 1963 vertrieben wurde.
Sollte sie gewählt werden, will sie im
Parlament Türkisch reden und sich die
griechischen Debatten von einem Dolmetscher übersetzen lassen. Sie sagt, dass sei
ihr verfassungsmäßiges Recht. Und: „Was
wäre das für ein Signal – wenn im zyprischen Parlament wieder Türkisch gesprochen würde!“
Mathieu von Rohr
133
Demonstration für die Unabhängigkeit*
SERBIEN UND MONTENEGRO
Ungedeckte
Schecks
Im Südosten Europas droht
die nächste Sezession:
Die Montenegriner müssen entscheiden, ob es bald einen
weiteren Zwergstaat geben wird.
I
m Kulturzentrum der montenegrinischen Küstenstadt Kotor skandiert eine
fast tausendköpfige Menge „Srbija,
Srbija“ (Serbien, Serbien). Fahnen der serbisch-montenegrinischen Staatenunion
werden geschwenkt, und alle paar Minuten
dröhnt wie aus einer Kehle ein „Ne“ durch
den Saal: „Nein“ – zur Unabhängigkeit.
In Kotor wird an diesem Abend gegen
die drohende Eigenständigkeit der Heimat
demonstriert. Kommenden Sonntag sollen
die wahlberechtigten Bürger der 630 000
Einwohner zählenden Minirepublik entscheiden, ob es in Europa einen neuen
Zwergstaat geben wird – oder die mit Serbien eingegangene Union bestehen bleibt.
Bei Gründung des Staatenbundes im
Jahr 2003 war Montenegro das Recht auf
eine Volksabstimmung drei Jahre später
zugestanden worden. Doch die Hoffnung
der EU auf einen funktionierenden Gemeinschaftsstaat wurde enttäuscht; auch
Bemühungen, die in zwei unversöhnliche
Lager gespaltene Bevölkerung Montenegros zum Einlenken zu überreden, fruchteten nicht. Während sich die einen als
ethnische Serben fühlen, berufen sich die
anderen auf eine montenegrinische Nation,
welcher der Berliner Kongress 1878 schon
einmal Eigenstaatlichkeit zugestand.
Nun soll abgestimmt werden über die
Zukunft der Republik. Alle sehen sie in
düsterstem Schwarz – für den Fall, dass
die jeweilige Gegenseite gewinnt. Die proserbische Allianz, angeführt von Opposi134
und verspricht seinen Anhängern – ungeachtet klarer Dementis aus Brüssel –
schnelle EU-Mitgliedschaft, den Nato-Beitritt und wirtschaftlichen Segen.
Ausländische Investoren könnten laut
Djukanoviƒ das Land in eine „Schweiz des
Balkans“ verwandeln oder in eine Attraktion wie Monte Carlo. Letzteres ist allerdings genau die Sorge der internationalen
Gemeinschaft: Sie fürchtet, ein unabhängiges Montenegro könnte zu einem Dorado
für Schmuggler und GeldRUMÄNIEN wäscher verkommen, zur
Heimstatt brummender
BOSNIENBelgrad
Spielcasinos und der rusHERZEsischen Mafia. Immerhin
SERBIEN UND
GOWINA
tionsführer Predrag Bulastand die Küstenrepublik
MONTENEGRO
toviƒ, zählt in Kotor die
lange im Ruf, Zentrum
Montenegro
vermeintlich schrecklides internationalen ZigaKosovo
chen Folgen einer Unabrettenschmuggels zu sein.
Kotor Podgorica
hängigkeit auf: In Serbien
Die italienische Justiz erlebende Montenegriner
mittelt seit Jahren gegen
Adria
würden schlagartig zu
den montenegrinischen
ALBA- MAZEDONIEN
NIEN
100 km
passpflichtigen AuslänRegierungschef – Djukadern, Tausende montenoviƒ soll in den profitanegrinischer Studenten
blen „Transit“ unverzollmüssten serbische Uniter Glimmstengel über
versitäten verlassen, und
montenegrinische Häfen
der Tourismus wäre manverwickelt sein.
gels serbischer Urlauber
Die Siegeschancen des
bald bankrott.
Premiers sind dennoch
Für die Schwankenden
gut, auch wenn die Unhält Bulatoviƒ die Komabhängigkeitsbefürworter
promissversion
eines
mindestens 55 Prozent
Bundesstaates bereit: 90
der gültig abgegebenen
Prozent aller republik- Premier Djukanoviƒ
Stimmen einfahren müsrelevanten Entscheidun- Siegesfeier schon geplant
sen, um internationale
gen würden weiter autoLegitimität zu erlangen.
nom von der montenegrinischen Regie- Ein riskantes Manöver: Denn wenn das
rung gefällt; lediglich die Verteidigung, Ergebnis in der Grauzone zwischen 50 und
einige Aspekte der Außen- und Innenpoli- 55 Prozent liegt, werden sich beide Seiten
tik sowie der Außenhandel fielen der Zen- als Gewinner sehen.
tralführung zu. Selbst den Euro – seit 2002
Djukanoviƒ ist nach jüngsten Umfragen
in Montenegro offizielles Zahlungsmittel – von seinem Triumph überzeugt, die Einlawolle man im Gegensatz zu Belgrad als dungen zur Siegesfeier sind gedruckt.
Währung beibehalten.
Grund genug für Serbiens Justizminister
Solche Verheißungen sind eher irre- Zoran Stojkoviƒ, die Sezessionisten noch
führend. Belgrad hat längst klargestellt: einmal zu verwarnen: 260 000 MonteneEine Niederlage der Unabhängigkeitsbe- griner, die oft schon seit Generationen in
fürworter würde das Ende montenegrini- Serbien leben und kein Stimmrecht beim
scher Privilegien bedeuten. Die Machtzen- Referendum haben, könnten nach der
trale wäre künftig in Belgrad, Podgorica Trennung die Arbeitsämter ihrer urnur der folgsame Statthalter an der Adria. sprünglichen Heimat überschwemmen –
Doch auch die Gegenseite wirbt mit un- als „Ausländer“ sei ihnen der Job in Sergedeckten Schecks. Chefpropagandist ei- bien nicht mehr sicher.
nes souveränen Montenegro ist Premier
Wie die Abstimmung auch ausgehen
Milo Djukanoviƒ mit seiner Demokrati- mag: Ein Teil des gemeinsamen nationalen
schen Partei der Sozialisten, unterstützt Erbes könnte künftig allein in Podgoricas
von den Liberalen und den Sozialdemo- Zuständigkeit fallen. Die Tochter des jüngst
kraten sowie den albanischen und bos- verstorbenen Slobodan MiloΔeviƒ, die in
nisch-muslimischen Minderheiten.
Montenegro lebt und dessen StaatsbürgerEin selbständiges Montenegro werde schaft besitzt, hofft auf die Exhumierung
nicht mehr Geisel einer nationalistischen ihres in Serbien begrabenen Vaters.
serbischen Politik sein, gelobt Djukanoviƒ
Er soll in der Erde seiner Vorfahren
ruhen, fordert sie. Im Staate Montenegro.
DIMITAR DILKOFF / AFP
RISTO BOZOVIC / AP
Raus aus der politischen Geiselnahme
* In Herceg Novi.
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Renate Flottau
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ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL
Jüdische und indische Händler vor der Diamantenbörse in Antwerpen: Angst vor der neuen Ordnung
BELGIEN
Curry-Spieß und Pflaumenzimmes
Nach einem halben Jahrtausend haben die jüdischen Diamantenhändler
von Antwerpen ihre Vorherrschaft im Geschäft mit den teuren Steinen abgegeben. Die Kaufleute
vom indischen Subkontinent sind die erfolgreicheren Global Players.
W
enn Jumi Hoffmann, Teilhaber
des koscheren Imbissbetriebs
„Hoffis Take away“ in der Lange
Kievitstraat, an die Zukunft der jüdischen
Gemeinde von Antwerpen denkt, dann
wird ihm froh und bang zugleich. Dass
seine Heimatstadt die größte jüdisch-orthodoxe Gemeinde Europas beherbergt
und dass das auch so bleiben wird, das
macht ihn froh. Dass die meisten seiner
20 000 Glaubensbrüder, die hier leben,
scheinbar unaufhaltsam in die Armut
abgleiten, das macht ihn ganz krank
vor Sorge.
„Der jiddische Mensch verliert sein
Brot“, sagt Jumi Hoffmann. Soll heißen:
Die jüdischen Händler haben ihre führende Rolle im Antwerpener Diamantengeschäft aufgeben müssen. Früher erwirtschafteten sie 70 Prozent des Umsatzes,
heute ist es nur noch ein Viertel. Bei weiterhin sinkender Tendenz. Jetzt beherrschen Händler aus Indien das Geschäft.
136
Mehr als 500 Jahre nach der Ankunft spanischer und portugiesischer Sepharden in
Flandern geht eine Ära zu Ende.
Weil Jobs fehlen, wandern jedes Jahr
1000 bis 2000 Juden aus Antwerpen ab.
Die meisten nach Israel und Amerika, viele auch nach Deutschland. Dass die Gemeinde trotzdem nicht kleiner wird,
liegt daran, dass die meisten Familien
noch mehr Kinder haben als die deutsche Familienministerin Ursula von der
Leyen.
Jumi Hoffmann ist elffacher Vater. Acht
Kinder gehen noch zur Schule, zwei lernen
Apotheker, einer Rabbi. Diamantär will
keiner mehr werden. Vor 20 Jahren arbeiteten in den Straßen rund um die Börse an
der Hoveniersstraat 30 000 Diamantenschleifer. Zehnmal so viele wie heute.
Die Machtübernahme an der großen
Diamantenbörse hat sogar die Speisekarte
in der Kantine verändert. Früher wurden
hier fast nur koschere Gerichte serviert.
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Heute essen Juden auch Curry-Spieß und
Inder auch Pflaumenzimmes. Es ist ein
bisschen wie in dem alten jiddischen
Gleichnis: As a milner schlogt sich mit n
kojmenkerer, wert der milner schwarz un
der kojmenkerer wajs. Auf Deutsch: Wenn
sich der Müller mit dem Kaminfeger prügelt, wird der Müller schwarz und der
Kaminfeger weiß.
Über dem Konklave der Diamantenhändler hängt ein Kammerton in Moll.
Man spricht leise und gedämpft. Abschlüsse werden per Handschlag besiegelt
und von einem frommen Wunsch begleitet:
masl un broche, Glück und Segen. Auch
die Asiaten benutzen diese Formel. Aber
Jiddisch verliert langsam seine Rolle als
Hauptbörsensprache. Mit Englisch kommt
man auch ganz gut durch.
Der Hohe Diamantenrat, die Standesorganisation der Händler, hat die Wende
noch nicht vollzogen. Obwohl mindestens
15 der 23 Milliarden Euro Umsatz auf die
Ausland
Flandern-Metropole Antwerpen: Wenn der Wind weht, soll man Windmühlen bauen
Amsterdam, die Antwerpen äußerlich sehr
ähnlich ist, findet hier nicht statt.
Die Angst vor militanten Muslimen und
vor der neuen Ordnung in der Welt der
Diamanten hat die politische Szene Flanderns auch um eine bizarre Facette bereichert. Eine wachsende Minderheit der Antwerpener Juden sympathisiert mit dem
Vlaams Belang, der erfolgreichsten Rechtsradikalenpartei Europas, die seit 2004 die
stärkste Fraktion im flandrischen Regionalparlament stellt. Der Vlaams Belang
gibt sich betont Israel-freundlich. Er fordert
auch ein schärferes Vorgehen gegen marokkanische Einwanderer, die aus ihrer
Feindschaft gegenüber Juden keinen Hehl
machen.
Der Flirt belgischer Juden mit den rechten Ultras bereitet prominenten Juden Sorge. Der Nobelpreisträger und AuschwitzÜberlebende Elie Wiesel hat die flämische Gemeinde ermahnt, bei der Auswahl
ihrer Freunde etwas umsichtiger zu sein.
„Kein Jude sollte sich nach rechtsaußen
wenden.“
Rabbiner und Rechtsanwalt Henri Rosenberg, dessen Eltern ebenfalls den Holocaust überlebten, sieht das pragmatischer. In Zeiten der Not müsse man sich
fragen dürfen, was gut sei für die jüdische
Gemeinde. Er könne verstehen, wenn Juden sich politisch an den Vlaams Belang
anlehnten, deren Fraktionschef Filip Dewinter vermutlich der nächste Bürgermeister von Antwerpen sein werde.
Im handwerklichen Teil des Geschäfts
mit den teuren Steinen haben die früheren
Platzherren ihr Monopol energischer verteidigt. Von den Hochkarätern gehen die
meisten immer noch durch die traditionsreichen jüdischen Schleifereien. „Nicht
wegen unserer guten Beziehungen, wie
immer behauptet wird, sondern weil wir
besser sind als andere“, sagt Mosche Weiss,
der Branchen-Doyen.
Mosche Weiss und sein Sohn Joseph
beschäftigen 32 Schleifer. An die teuersten
Stücke legt der Chef meist persönlich mit
Hand an. Joseph hat gerade einen Stein
von 52 Karat in Arbeit. Ein Traumstück in
Rosa. „Bei den großen Schmucksteinen
sind wir die Nummer eins. Big is beautiful.“ Groß ist aber auch relativ. In den
großen Pranken von Joseph Weiss wirken
selbst zehnkarätige Steine ganz klein.
Mit Hilfe der Computertechnik kann der
Schleifer die Edelsteine noch edler machen. Der Rohling wird gescannt, gewogen, vermessen und dann dreidimensional
auf den Monitor projiziert. Weiss kann den
virtuellen Stein nach Belieben drehen und
wenden und schließlich bestimmen, wo er
den Schnitt und den Schliff ansetzt. Man
müsse das Licht aus dem Stein herausholen, sagt er, das mache ihn lebendig.
Die Maschine und die Software kommen aus Israel. Das Programm überträgt
die Koordinaten, die Weiss am Bildschirm
festgelegt hat, auf die rechnergesteuer-
2 0 / 2 0 0 6
137
Inder entfallen, stellen sie im Hohen Rat
nur eine Minderheit der zwölf Direktoren.
Sie machen sich aber nichts daraus, weil
der Hohe Rat weniger Einfluss auf die
Geschäfte hat, als er glaubt. Die wirklich
großen Deals werden nämlich überwiegend in den kleinen Büros über dem Börsensaal abgeschlossen.
Obwohl sie hart miteinander konkurrieren, haben Juden und Inder keine Nachbarschaftsprobleme. Es gibt sogar einige
jüdisch-indische Ehepaare in Antwerpen.
„Das Judentum und unser Jainismus haben Berührungspunkte“, sagt Diamantenhändler Ramesh Mehta. Juden und Jainas
seien es gewohnt, hart zu arbeiten, und
sie lehnten jede Form von Gewalttätigkeit ab.
Noch wichtiger: Juden wie Indern sei es
nicht fremd, global zu denken und zu handeln. Sie wissen auch, dass sie sich aufeinander verlassen können. Ein indischer Trader lässt sich keine Quittung geben, wenn
er seinem jüdischen Kollegen ein Säckchen
Juwelen gibt, damit der es über Nacht im
Tresor verwahrt.
Die indischen Händler stammen fast alle
aus dem Bundesstaat Gujarat, dem Zentrum des indischen Diamantenhandels. Sie
sind bescheidene Leute und ernähren sich
vegetarisch. Aber sie haben auch keine
Probleme damit, ihren Wohlstand in Szene
zu setzen, wenn sie meinen, dass der Anlass es gebietet.
Vergangenes Jahr ließ Diamantenhändler Vijay Shah für seinen Sohn und seine
Tochter hier eine Doppelhochzeit ausrichten, deren Pracht der königlichen Familie
würdig gewesen wäre. Kenner schätzten
den Aufwand auf 14 Millionen Euro. Bei
den Cricket-Spielen, die jedes Jahr von
einer der großen indischen Familien veranstaltet werden, versucht jeder Clan,
den Ausrichter vom Vorjahr an Prunk und
Luxus zu übertreffen.
Dem jüdischen Viertel hinterm Hauptbahnhof sieht man es an, dass es schon
bessere Zeiten erlebt hat. Die Fassaden
sind grau geworden, das Pflaster hat
Kaugummiflecken. An einigen Türen und
Fenstern hängen Mesusa-Kapseln. Die
Zitate aus den religiösen Schriften der
Juden, die darin stecken, sollen gegen
sündige Versuchung schützen. Die Stadtverwaltung verlässt sich lieber auf dicke
Betonklötze auf den Gehwegen und auf
Videokameras.
Etwas wohltemperierter Alarmismus
gehört zur psychologischen Grundausstattung der Antwerpener. Die Sicherheitslage
ist aber nicht dramatisch. Der entwurzelte
Kosmopolitismus der Grachtenmetropole
Diamantenhandel
in Belgien
Nordsee
80% aller Rohdiamanten
werden über Antwerpen
gehandelt.
Brüssel
BELGIEN
FRANKREICH
LUX.
23 Mrd.¤ Umsatz
1500 Diamantenfirmen
Diamantenhändler Jahwery: „Ein Geschäftsmann muss flexibel sein“
HEMISPHERES / LAIF
ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL
NIEDERLANDE
Antwerpen
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FRANKLIN HOLLANDER
Ausland
Indische Händler in der Diamantenbörse: Masl un broche – Glück und Segen
138
werpen haben ihre Wurzeln in Palanpur:
die Mehtas, die Shahs, die Jahwerys. In
den siebziger und achtziger Jahren sind sie
nach Antwerpen gekommen, angelockt
von den riesigen Umsätzen, aber auch von
den liberalen belgischen Einwanderungsgesetzen. Weil neun von zehn Erben im
Diamantengeschäft sich ihre Ehepartner
im eigenen Umfeld suchen, sind die großen unter den 300 indischen Familien von
Antwerpen auch fast alle miteinander
verwandt.
Ein Geschäft, das in wesentlichen Bereichen von der eigenen Familie kontrolliert würde, sagt Jahwery, sei der Konkurrenz immer haushoch überlegen. So sehen
es wohl auch die anderen Unternehmenschefs aus Gujarat. Sie bauen auf ihren weltweiten Familienverbund und ihre Firmenniederlassungen auf allen Kontinenten.
Das ist es, was sie von den früheren
Marktführern unterscheidet: Die indischen
Clans, nicht die jüdische Mischpoke sind
die wirklichen Global Players.
Ashwin Jahwery hat Niederlassungen in
Taiwan, Thailand, China, Australien,
Großbritannien und Spanien, die von seinen Vettern geleitet werden. Seine zwei
Söhne studieren noch an der Antwerpener Universität, der eine Betriebswirt-
ERICH WIEDEMANN / DER SPIEGEL
te Schleifanlage. Weil sie auf einen Hundertstelmillimeter genau arbeitet, sind
Schmucksteine heute viel ebenmäßiger als
früher. Der Computer rechnet auch aus,
welche Form am wenigsten Abfall verursacht – Tropfen, Herz, Princess oder
Emerald.
Vater und Sohn Weiss haben immer die
neuesten Maschinen. Deshalb sind ihre
Steine brillanter als die der Konkurrenz.
Und deshalb haben sie ihren Vorsprung
am Markt erfolgreicher als andere verteidigt. Zu ihren Kunden gehören die Großen
und Reichen: Könige und Showstars, die
Firmen Tiffany, Van Cleef & Arpels.
Bei Weiss lassen auch viele von den
großen indischen Händlern schleifen. „Die
Juden sind fünf- bis zehnmal teurer als
unsere Schleifer in Bombay, aber auch besser“, sagt Ashwin Jahwery, der Chef des
Grossisten „Diabelge“. Die Kalkulation ist
ganz einfach. Bei den Hochkarätern ist der
Arbeitskostenanteil minimal. Ein großer
Stein bringt leicht 100000 Euro mehr, wenn
man 5000 statt 1000 Euro in den Schliff
investiert.
Ashwin Jahwery sieht die Zukunft für
die jüdischen Diamantärs nicht so schwarz
wie die Juden selbst. Solange sie handwerklich besser seien als die Inder, meint
er, würden sie immer genügend Gewinn
machen. Es ist allerdings nur noch ein Teil
des Geschäfts. Die kleinen Steine, bei denen die Arbeitskosten stärker ins Gewicht
fallen, werden heute vorwiegend in Indien
geschliffen.
Die jüdischen Händler, meint Jahwery,
brauchten mehr Kampfgeist. „Sie klagen
zu viel, und sie vergessen: Wenn der Wind
bläst, muss man Windmühlen bauen und
nicht nach Schutz suchen.“
Jahwery stammt aus der Stadt Palanpur
in Gujarat. Sein Urgroßvater bearbeitete
dort die Diamanten noch auf einem
Schleifrad, das über ein Pedal angetrieben
wurde. Viele große Diamantärs von Ant-
Koscher-Gastronom Hoffmann
„Der jiddische Mensch verliert sein Brot“
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schaft, der andere Schleiftechnik. Ihre Positionen im Handelsimperium des Vaters
sind schon reserviert.
Seinem bescheidenen Büro kann man
Jahwerys geschäftliches Kaliber nicht ansehen: auf dem Schreibtisch ein Berg unordentlicher Akten und ein Mikroskop mit
Doppelokular, an der Wand ein Ölgemälde, auf dem eine Frau vor einem Reetdachhaus Hühner füttert, in der Ecke ein
großer, alter Tresor.
Anders als die jüdische Gemeinde kultivieren die Inder keine sentimentalen oder
heimatlichen Gefühle für Antwerpen. Sie
leben und verdienen hier gut, sie können
aber gegebenenfalls auch schnell umdisponieren.
Ein guter Geschäftsmann, meint Ashwin
Jahwery, müsse flexibel sein. Und zwar im
weltweiten Rahmen. Man muss das wohl
als Drohung verstehen. Er sagt: „Wenn die
belgische Regierung uns schikaniert, hat
der Standort Antwerpen keine Zukunft.
Was ich brauche, um an einem anderen
Punkt auf der Welt neu anzufangen, ist in
weniger als zwei Stunden gepackt.“
Einige seiner Landsleute sind dem Lockruf des neuen, aufstrebenden Diamantenstandorts schon gefolgt und nach Dubai
umgezogen.
In Antwerpen fühlen sich die Händler
vor allem von Verordnungen drangsaliert,
mit denen die Brüsseler Regierung den
Handel mit den sogenannten Blutdiamanten zu bremsen versucht. Antwerpen ist
nicht nur der größte Diamantenmarkt, sondern auch der größte Diamantenschwarzmarkt der Welt. Hier setzen afrikanische
Diktatoren und Rebellenführer die Steine
ab, mit denen sie ihre verheerenden Kriege finanzieren.
Der Preis eines Diamanten wird von den
berühmten vier hohen C bestimmt: Cut,
Clarity, Color, Carat, dem Schliff, der Reinheit, der Farbe und der Anzahl der Karat.
Der Hohe Diamantenrat, der in Antwerpen auch den Verhaltenskodex regelt, hat
ein fünftes C hinzugefügt. Es steht für
„confidence“, Vertrauen.
Das war eine schöne Geste. Aber für
die Praxis war sie belanglos. In den Juwelierläden am Hauptbahnhof fragen Händler nicht nach Ursprungszertifikaten, wenn
ihnen ein Fremder ein Säckchen Rohdiamanten zum Kauf anbietet.
Der Hohe Rat behauptet zwar, das Problem sei unter Kontrolle. Doch das ist
Wunschdenken. Die Einfuhr und Ausfuhr
von Juwelen lässt sich nicht wirksam kontrollieren. Einfach, weil sie so klein sind.
Und mit einer Hosentasche voll Klunker
kann ein afrikanischer Warlord genug Kalaschnikows kaufen, um eine ganze Armee
auszurüsten.
Als der Markt in Antwerpen noch fest in
jüdischer Hand war, konnte man sich auf
die Selbstkontrolle des Kartells ganz gut
verlassen. Das ist nun vorbei.
Erich Wiedemann
Ausland
KA IRO
Leben auf der Kippe
Global Village: Ein junger Ägypter sammelt Müll für eine Textilfirma in China.
G
STILL PICTURES / ULLSTEIN BILDERDIENST
lück ist eine Plastikflasche, auf Krü- tikmüll für Ataullah. Das fertige Granu- ropa einzukaufen, Container aufzustellen
melgröße zerschreddert. Glück ist lat holt ein Spediteur und fährt es nach und ein Heer aus ungelernten Tagelöhnern
eine Handvoll weißer Schnipsel. Alexandria, von dort werden die Müllsäcke in orangefarbene Uniformen zu stecken.
Ataullah hörte aus dem Radio davon. „Uns
Genießerisch lässt Saad Ataullah seinen nach Shanghai verschifft.
Auch Ataullah entstammt einer Sabba- hat niemand gefragt“, sagt er.
Schatz durch die Finger rieseln. „SpitzenDoch der Regierungsakt geriet zum
müll!“, sagt er: „Bessere Qualität findest lin-Familie, aber er war schlau und ehrgeizig, studierte Betriebswirtschaftslehre. Flop. Die Kairoer waren nicht bereit,
du in ganz Ägypten nicht.“
Dann verschnürt er den blauen Plas- Ein Freund überredete ihn, ins Recycling- höhere Müllgebühren zu zahlen. Die Mäntiksack wieder und klettert vom Dach sei- geschäft einzusteigen. Es wurde ein Erfolg. ner in Orange bekamen kein Gehalt, der
ner windschiefen Ziegelbude, die er zärt- Andere folgten dem Beispiel, über 200 sol- Dreck blieb liegen. Die Sabbalin holten
lich „my factory“ nennt. Sie besteht aus cher Fabriken entstanden und neue Jobs, sich ihren Abfall nun nachts, heimlich.
„Für die Behörden sind wir ein Schandrußschwarzen, fensterlosen Wänden, einer die die Armut lindern.
Im Viertel bewundern sie ihn dafür. fleck. Sie wollen uns aus dem Weg räuSchreddermaschine und fünf schwitzenden Männern, die pausenlos Körbe voll „Saad, Saad!“, rufen die Kinder und drän- men“, sagt ein Funktionär des „Verbandes
gen sich um den 28-Jährigen, der mit der Müllsammler“. Doch die Sabbalin sind
Plastikflaschen hereinschleppen.
„My factory“ liegt im Kairoer Elends- gebügeltem weißem Hemd mitten in den Kopten, ägyptische Christen, Leute, die
sich immer wieder ihrer unwirtlichen Umviertel Manschija Nasser, einem jener Orte, Abfallbergen steht.
„Die Sabbalin verstehen es wie kein an- welt anpassen. Ins Müllgeschäft drängten
die in der Welle der gewaltigen Bevölkerungsexplosion unterzugehen drohen. So derer, aus Müll Geld zu machen“, sagt die sie, weil sie keine andere Arbeit in Kairo
fanden. Als ihnen die Stadt das
eng stehen die Häuser aneinMüllsammeln per Eselskarren
ander, dass manche Bewohner
verbot, motorisierten sie sich.
den Bauch einziehen müssen,
Und noch immer leben sie
wenn sie sich durch die Gasam Mukattam-Hügel, obwohl
sen zwängen.
ihre Siedlung oft dem ErdWo aber Platz ist, klaffen
boden gleichgemacht werden
aasige Sickergruben, türmen
sollte.
sich Schrottberge. Schwarze
Neuerdings parken nicht nur
Schweine und klapprige Ziegen
Mülltransporter auf den buckwühlen im Abfall und suchen
ligen Wegen von Manschija
nach Futter. Die Luft riecht verNasser. Manchmal rumpelt
goren. Für den Recyclingunterauch ein Touristenbus den Hünehmer Ataullah ist der wüste
gel hinauf. Mit gesenktem
Standort ein Segen. Genau hier,
Blick, peinlich berührt von
am Fuße des Mukattam-Berges
Schmutz und Armut, stolpern
im Osten der 18-Millionendie Fremden weiter bergauf,
Metropole, findet er, was er
auf dem Weg zu einigen bebraucht: Müll. Und Menschen,
rühmten Felsenkirchen.
die an Müll gewöhnt sind.
Mehrere Kapellen und eine
Am Rande von Manschija Koptische Müllsammler: „Ein Schandfleck für die Behörden“
Kathedrale befinden sich auf
Nasser haben sich rund 30 000
„Sabbalin“ niedergelassen, Kairos Müll- ägyptische Entwicklungshelferin Laila Ka- dem Mukattam, dort, wo nach koptischer
sammler-Kaste. Als gesellschaftliche Parias mil. Was andere als Abfall bezeichnen, Legende vor 1000 Jahren ein Heiliger den
leben sie seit Jahrzehnten vom Abfallge- nennen sie „al-Cheir“, das Wertvolle. Etwa Berg spaltete, weil der fatimidische Kalif
schäft. Mit ihrer Hilfe will Ataullah hinein 90 Prozent des gesammelten Mülls können al-Muiss einen Beweis für die Kraft des
in den Weltmarkt. Seine Ware: geschred- die Sabbalin, die einst als landlose Wan- christlichen Glaubens verlangt hatte. Heudertes PET-Plastik. Sein wichtigster Kunde: derarbeiter aus Oberägypten in die Haupt- te, im Gedränge von Manschija Nasser,
ein internationaler Textilkonzern, dessen stadt strömten, weiterverwerten – die sind die Kreuze auf den Häuserwänden
Namen Ataullah nicht nennen will. „Mit Recyclingquote für Hausmüll in der Euro- eine Ortsmarke: hier der koptische, dort
der islamische Bezirk. Junge Sabbalin lasmeinem Müll machen die in China Fleece- päischen Union liegt unter 30 Prozent.
Dass die Sabbalin dafür unter einem sen sich Marienbilder auf den Oberarm
Jacken“, schwärmt er.
Aus dem gemahlenen Kunststoff lassen Dach mit ihren Schweinen leben, quittieren tätowieren, der Gebetsruf des Muezzin ist
sich in chinesischen Fabriken Polyesterfä- die Kairoer mit Naserümpfen. Und sind überall zu hören.
In der Felsenkirche steht ein weißbärtiden spinnen, die besonders gern für Sport- doch dankbar, dass ihnen jemand den tägger Priester vor dem Mikrofon, in seiner
bekleidung verwendet werden. Gestern lichen Dreck vom Halse schafft.
Ginge es nach der Obrigkeit, wären rechten Hand hält er ein intarsiengenoch die Wasserflasche eines durstigen
Ägypters, morgen schon die atmungsakti- Ataullah und die Sabbalin längst aus dem schmücktes Kreuz. Die Gläubigen küssen
ve Radlerjacke im deutschen Discounter, Geschäft. Anfang 2003 beschloss Ägyptens es, auch Ataullah.
Er betet, dass ihm der Zoll und die
Regierung, die betagten Kleinlaster der
so schön kann Globalisierung sein.
30 Sabbalin-Männer und -Frauen sam- Müllsammler aus dem Stadtbild zu ver- Behörden nicht doch noch das Geschäft
meln, waschen und sortieren den Plas- bannen, zwei Entsorgungsfirmen aus Eu- verderben.
Daniel Steinvorth
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Sport
WM 2006
Bei der Weltmeisterschaft vor
vier Jahren war Miroslav Klose mit fünf Treffern zweitbester Schütze nach Ronaldo.
Keiner aus der deutschen Elf hat sich seitdem als Profi
so fortentwickelt wie der Bremer, zugleich ist er boden-
ständig und bescheiden geblieben. Eigenschaften, die
der spanische Autor Javier Marías schätzt. Im WMGespräch beklagt der Fußballkenner das „Protagonistentum“ von heute: „Früher gab es mehr Würde und
mehr Respekt gegenüber dem Gegner“ (Seite 146).
FUSSBALL
Der unscheinbare Star
Der Bremer Miroslav Klose ist der Bundesligaspieler der Saison und Deutschlands Angriffshoffnung
für die WM. Der gebürtige Pole strahlt Torgefährlichkeit aus, er gilt als Muster
an Eigenmotivation und Natürlichkeit. Sein größtes Plus ist, dass man ihn dauernd unterschätzt.
Profi Klose als Bremer Torjäger (M., gegen den MSV Duisburg), als Nationalspieler: „Ich setze mir meine Schwerpunkte: Welche Marke
N
eulich im Weserstadion stellte sich
ihm unversehens Boris Becker in
den Weg, der große Becker leibhaftig. Der Tennisstar a. D. trug einen hellen, fast weißen Kamelhaarmantel, aber
auch ein Mikrofon des Senders Premiere.
Becker brauchte einen O-Ton. Miroslav
Klose musterte ihn kritisch, es war, als sammelte nun der Papst die verschwitzten Trikots für die Wäsche ein.
Er überlegte kurz und ließ den Sporthelden der Vergangenheit ohne Aufhebens
abblitzen. Als Becker Verwirrendes zu
Klinsmann, Kahn und der Nationalelf fragte („Als Nationalspieler muss ich Sie die
Torwartfrage stellen“), bedeutete ihm der
Torjäger von Werder Bremen bündig: „Es
ist so, dass ich mich dazu nicht äußere.“
142
Es ist wohl immer noch so, dass man dem
im polnischen Oppeln geborenen Stürmer
mit dem scheuen Blick nicht viel zutraut, am
wenigsten sein Selbstbewusstsein. Bei „Wetten, dass ...?“ sprach Thomas Gottschalk
mit Klose in einem Ton wie mit einem
Kleinkind. Er sei ja einer „von den Stillen“,
stellte er den scheinbar verklemmten Gast
vor. Der Nationalspieler korrigierte ihn mit
fester Stimme: „Von den Ruhigen.“
Manchmal leidet Klose, 27, darunter,
dass man ihn dauernd unterschätzt, aber er
weiß auch, dass er davon profitiert. Bei
der Weltmeisterschaft 2002 wurde er so
zum Shooting-Star, mit fünf Toren zweitbester Schütze nach Ronaldo. Vier Jahre
später haben immer noch nicht alle gemerkt, welche Bedeutung der Spätausd e r
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siedler inzwischen für die deutsche WMMannschaft hat. Es ist ihm recht, wenn es
die Gegner nicht wissen: Ohne Michael
Ballack würde Jürgen Klinsmanns junger
Garde der Halt fehlen, ohne Klose die Gefährlichkeit. Er ist gleichzeitig Anspielstation und Passgeber bei den Kombinationen am Strafraum, als Adressat wie als
Absender von Flanken geeignet.
Sein Bremer Trainer Thomas Schaaf
kennt in Deutschland „keinen kompletteren Stürmer im Moment“, Werder-Manager Klaus Allofs hält ihn „bereits jetzt für
einen Weltklasse-Spieler“. Das ist ein
großes Wort, aber klar ist auch das: Gäbe
es jetzt keine WM, müssten ihn die Experten zum deutschen Spieler des Jahres
küren. Er war – neben Torwart Jens Leh-
Nummer zu groß, die gebeugten Schultern
und flügelhaft angewinkelten Arme verleihen seinen Bewegungen etwas Unreifes,
Kindhaftes. Selbst sein Humor kommt so
unauffällig angeschlichen, dass man ihn
kaum bemerkt. Kürzlich hatte er mit dem
linken Fuß ein Traumtor gegen den 1. FC
Köln erzielt, und Journalisten übermittelten ihm das Lob des Teamkameraden
Torsten Frings: „Der kann doch eigentlich mit links gar nicht schießen.“ Klose
setzte seinen gleichgültigsten Gesichtsausdruck auf und erwiderte: „Ich kann schon
auch was mit links. Ich kann mit links
stehen.“
An jenem Samstag hatte er auch zwei
kunstvolle Maßflanken mit dem Außenrist
des rechten Fußes geschlagen. Es war ein
verwirrender Auftritt, bei dem Klose, Regisseur und Stürmer zugleich, fast alles
gelang. Als er später von Reportern ausgerechnet auf jene Szene angesprochen
Miroslav nennen, warf es ihm zu, ohne
sein Fernsehinterview zu unterbrechen,
das er im Unterhemd gab. Im Gegenzug
fing er das Trikot des Kollegen auf.
An der Perspektive, aus der er Podolski
betrachtet, erkennt man seine Entwicklung. Klose, Hobbyangler, μkoda-Fahrer
gemäß Werbevertrag und inzwischen Vater
von Zwillingen, sieht sich im künftigen
Münchner selbst: als jungen WM-Debütanten vor vier Jahren. „Da gibt es
schon Parallelen“, findet er und redet wie
Podolskis Mentor. „Ich habe ihm neulich
gesagt: Wenn ihr den Klassenerhalt schafft,
kommst du mit Euphorie zur WM. Wenn
ihr abgestiegen seid, willst du es allen beweisen und spielst auch sensationell.“
Podolski kommt als Absteiger, Klose als
erwachsen gewordener Spieler, im DauerAbstiegskampf des 1. FC Kaiserslautern bis
vor zwei Jahren gestählt. Kaum einer hat
zwischen zwei WM-Turnieren so große
wurde, in der er eine Torchance vergab,
ertrug er es mit Fassung.
Auf Seiten des Gegners hatte Lukas Podolski, 20, gestanden, gebürtiger Pole, Stürmer und personifizierte WM-Hoffnung der
Deutschen wie er. „Poldi“, Liebling der
Massen und für die Fachwelt der Talentiertere, trug Fußballschuhe in einer Signalfarbe, die an gelbe Textmarker erinnerten.
Seine Anwesenheit war, ohne dass sie etwas
bewirkte, ein einziges Ausrufezeichen.
Klose dagegen mit seinem gekrümmten
Laufstil wirkte mal wieder verhuscht wie
ein Fragezeichen, aber am Ende hatte er so
viele Marken in seiner Scorerwertung geknackt, dass „Poldi“ stolz sein durfte, beim
obligaten Trikottausch sein Hemd erbeutet
zu haben. „Mirek“, wie Freunde den
Sprünge gemacht. Jetzt sieht er sich als
„absoluten Führungsspieler“, auch in der
Nationalelf. Er freut sich auf Podolski und
„die anderen jungen hungrigen Spieler“,
sagt er, als wäre er der Trainer.
Klose startete meistens spät, aber immer senkrecht. „Er musste sich stets
behaupten“, sagt Schaaf. „Er ist noch ein
richtiger Gossenkicker“, sagt der ARD-Angestellte Alexander Schütt, ein früherer
Bundesliga-Schützenkönig im Hockey, der
ihn in Medien- und Marketingfragen berät.
Als Achtjähriger ohne Deutschkenntnisse über das Sammellager Friedland in die
pfälzische Provinz gekommen, hatte er mit
der Kugel zunächst wenig im Sinn. Mit 18
bezog der Sohn eines Fußballprofis und einer Handballnationalspielerin noch die 800
VLADIMIR RYS / GETTY IMAGES (L.); FIRO / AUGENKLICK (R.)
mann, der in England zu Ehren kam – der
Mann der Saison.
Klose sieht noch „Potential nach oben“,
das zeichnet ihn aus. Er gibt sich nicht so
leicht zufrieden. Mit dem Mittelfinger deutet er Streckenabschnitte auf der Tischkante an. „Ich setze mir meine Schwerpunkte: Welche Marke ist mir wichtig?“
Die 15 Treffer seiner ersten Bremer Spielzeit waren ihm nicht genug, so mussten es
deutlich mehr als 20 in der zweiten sein.
Jetzt will er „die fünf Tore knacken“,
die Marke seiner ersten WM. „Ich bin ja
jetzt vier Jahre weiter.“ Trainer begeistern
derlei schlichte Methoden der Eigenmotivation. Thomas Schaaf erkennt große Spieler an der Fähigkeit, immer mit der gleichen Leidenschaft anzutreten – „gegen
Barcelona wie gegen St. Pauli. Sie konzentrieren sich auf die persönlichen Ziele“.
Im Pokalspiel beim FC St. Pauli war Klose derart motiviert, dass er sich auf gefro-
ist mir wichtig?“
renem Boden einen Sehnenanriss in der
Schulter zuzog. Die folgende Zwangspause machte ihn bei der Jagd nach seinen
„Marken“ nur stärker.
„Man wird reifer“, hat er festgestellt.
Dazu zählt der selbstsichere Umgang mit
großen Tieren, auf dem Platz und daneben. Den Interviewer Boris Becker, erzählt
er, hätte er beinahe schon auf dessen unpassende Einstiegsfrage („Wie geht’s?“) hin
ins Leere laufen lassen. „Fast hätte ich gesagt: Und selbst so?“
Klose hatte da gerade alle drei Tore gegen Bayern München vorbereitet. Sogar
an solchen Glanztagen ist er der unscheinbare Star, auch wenn er sich jetzt blonde
Strähnen in die Frisur hat einbauen lassen. Auf dem Platz wirkt die Hose eine
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S.E.T. PHOTO
LORENZ BAADER
spieler erwarteten einen wie seinen Vorgänger Ailton, der vorne lauerte. Klose
wollte aber umherlaufen, „mal kurz, mal
lang, mal rechts, mal links“. Es hat dann
doch noch gefunkt. „Die Mannschaft“, sagt
Klose, „weiß jetzt, wie ich ticke.“
Das fällt vielen nicht leicht herauszufinden. Denn in der Branche wird schnell für
naiv und beschränkt gehalten, wer einfach
ungekünstelt und ehrlich ist. Auf Kloses
Kosten meinte sich mancher schon Scherze erlauben zu dürfen. „Seine Antworten
werden schon länger – so anderthalb Worte pro Satz“, witzelte in einer Schein-Eloge der ZDF-Vielredner Rolf Töpperwien.
Als Klose gegen Arminia Bielefeld auf einen Elfmeter verzichtete, indem er dem
Schiedsrichter die Wahrheit sagte, trug ihm
das zwar die Fair-Play-Trophäe der Sportjournalisten ein. Aber auch den Verdacht,
nicht professionell genug zu sein.
Klose sucht nie das Rampenlicht. Mit
dem ebenfalls aus Polen stammenden BeNationalspieler Podolski (l., 2005 gegen Frankreich): „Da gibt es schon Parallelen“
hindertensportler Wojtek
Czyz ist er nicht erst beMark Zimmermanns-Lehrgeld. Mit 19 kickkannt, seit der drei Goldte er noch bei der SG Blaubach-Diedelkopf
medaillen bei den Paralymin der siebten Liga. Mit 21 stand er, inzwipics abräumte. Er hat ihn
schen Regionalligaspieler der Kaiserslauteschon im Krankenhaus einrer Amateure, bei Heimspielen der FCKfach angerufen, wo Czyz
Profis im Fanblock 11, im Trikot von Olaf
infolge einer FußballverletMarschall. Damals sah er „oben“, bei der
zung der linke UnterschenBundesligamannschaft, regelmäßig beim
kel amputiert werden mussTraining zu und dachte: „Ich bin nicht
te. Klose hatte davon aus
schlechter als die. Ich kann das schaffen.“
der Zeitung erfahren.
Der Ehrgeiz hatte ihn befallen wie ein
Er spielt keine Rollen. An
Fieber. Ein Schlüsselerlebnis – er war 14
seinem Vorbild Fritz Walter
und zum einwöchigen Lehrgang der Südschätzt er, dass der „immer
westauswahl nach Edenkoben eingeladen
so geblieben ist, wie er wirkworden – war dafür verantwortlich. Bis 12
lich war“, und er selbst erUhr war Anreise, um 15 Uhr das erste Trai- Showgast Klose*: „Einer von den Ruhigen“
scheint sogar noch in der
ning in der Halle. Um 16 Uhr fragte ihn der
Trainer, ob er seine Eltern, die ihn herge- Agent Michael Ballacks im Fach Karriere- Werbung glaubwürdig. In einer Kaugumbracht hatten, anrufen wolle. Sie könnten planung eine Kapazität, die Klauseln für ei- mi-Kampagne tritt Klose zusammen mit
nen lukrativen Vereinswechsel. Die Abna- Nationalspieler Christoph Metzelder auf.
ihn jetzt wieder abholen.
Klose, damals einer der Jüngsten im belung von der pfälzischen Heimat kam Im TV-Spot kicken beide im Parkhaus, auf
Lehrgang, schwor sich noch auf der Rück- 2004 – ein Jahr zu spät, weiß Klose heute. einer DVD, die dem Produktpaket beiliegt,
Denn er meinte, „es den Fans schuldig“ spricht Metzelder davon, wie sehr er sich
fahrt: „Euch werde ich zeigen, dass ich
doch noch Profifußballer werde.“ Er habe zu sein, so lange zu bleiben, und dachte, es mit der Kaugummi-Marke identifiziere:
sei „wichtig, dort zu spielen, wo man ak- „Ich esse täglich Airwaves.“
dann „geschuftet ohne Ende“, sagt er.
Dass Klose sich derlei gewundene BeAuch seine Sprungkraft ist kein Zufall, zeptiert wird. Weil man sich alles erst wieund die Geschichte seiner Salti, die er nach der erarbeiten muss“. Er hatte wohl Angst. kenntnisse verkneifen dürfe, sei kein ZuUnd er hatte recht. Er musste sich in Bre- fall, sagt sein Berater. Allerdings erhält
wichtigen Toren aufführt, belegt, wie simen seine Stellung wieder erkämpfen. Aus Metzelder für den gleichen Aufwand mehr
cher er sich seiner Sache war.
Ein Freund aus Diedelkopfs Jugend- Kaiserslautern war er es gewohnt, dass der Geld. Der Bremer ist eben widerstandsmannschaft beherrschte diesen Salto nach Ball hoch und weit nach vorn geschlagen und leidensfähig. Ohne zu murren, setzt er
dem Tor. Klose bot die Wette an: „Wenn wurde, da war er als Kopfballspieler ge- sich zur Autogrammstunde in einem Disich mal Bundesliga spiele, kann ich das fragt. Bei Werder musste er sich seinen countmarkt vor eine rote Werbewand zwiauch.“ Ja klar, meinte abwinkend der Platz in der Kette von Kombinationen su- schen Boxershorts und Motoröl.
Die Leute mögen diese BodenständigFreund, und Klose verstand nicht, wel- chen und sich ans Spieltempo gewöhnen:
chem Teil der Wette die Ironie galt. Er be- „Hier war alles viel schneller.“ Das Beste, keit. Am Spielerausgang des Weserstasorgte sich eine Sprungmatte und übte. Der das einem lernenden Talent passieren kann. dions, wo die Autogrammjäger warten,
Klose jedoch kam eine Annäherung an- trug er neulich auch nach dem Duschen
Freund hatte eher den angekündigten Bunfangs unmöglich vor: „Wie zwei Pluspole“ wieder ein grünes Werder-Shirt. Er sah aus
desligaeinsatz gemeint.
Nach seinem Treffer zum 2:0-Sieg gegen hätten sich Mannschaft und Neuzugang zu- wie ein Fan. Dann sprach ihn ein Mann
Bremen am 20. Oktober 2000 sprang der einander verhalten. „Die Mannschaft hat auf Polnisch an, ein Souvenirsammler, den
Kaiserslauterer Klose seinen ersten Salto. meine Laufwege nicht gefunden.“ Die Mit- er schon länger kennt. Klose schenkte dem
Mann ein Trikot. Es war kein WerderEr lernte immer schnell. Nach der WM
besorgte ihm Berater Schütt eine Medien- * Mit Thomas Gottschalk in „Wetten, dass …?“ am Hemd, sondern ein rot-weißes. Podolskis
Trikot.
schulung, der Anwalt Michael Becker, als 4. März in Frankfurt am Main.
Jörg Kramer
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Fußballanhänger Marías
MONTSERRAT VELANDO / CONTACTO / AGENTUR FOCUS
„Ein bisschen Angst vor den Deutschen“
WM-GESPRÄCH
„Immer etwas Dramatisches“
Der spanische Schriftsteller und Fußballfan Javier Marías
über seine Erwartungen an die Weltmeisterschaft, Stilfragen auf
dem Rasen und seine Erinnerung an die „Schande von Gijón“
Marías, 54, zählt zu Spaniens bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Der
Literaturprofessor ist bekennender Verehrer von Real Madrid. 2000 veröffentlichte er ein Buch mit Essays über den
Fußball: „Alle unsere frühen Schlachten“. Jüngst erschien der zweite Band der
Trilogie „Dein Gesicht morgen. 2 Tanz
und Traum“.
SPIEGEL: Señor Marías, ein Bekenntnis zur
Fußball-Leidenschaft, die früher als anstößig galt, gehört bei Künstlern heute fast
schon zum guten Ton. Warum ist der
schweißtreibende Kampf um die Kugel
derart gesellschaftsfähig geworden?
Marías: Man dachte vielleicht, es wäre frivol, über solch populäre Dinge zu reden. In
Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Kramer und
Michael Wulzinger.
146
der Zeit des Franco-Regimes war es in
Spanien schon aus politischen Gründen
nicht gut angesehen. Tatsächlich hat der
Franquismus ja auch den Fußball benutzt –
etwa um eine Massenteilnahme an Arbeiterdemonstrationen zu verhindern, indem
man zeitgleich ein Spiel übertragen ließ.
Noch immer ist man allerdings in der Minderheit, wenn man als Schriftsteller öffentlich zugibt, dass man sich für Fußball
interessiert. Mir sagen Leser oft, das passe
nicht zu mir, das sei nicht seriös.
SPIEGEL: Passt es denn zu Ihnen?
Marías: Ja, denn wenn ich über Fußball
spreche, dann auf eine natürliche Art.
Nicht künstlich oder kunstvoll wie andere
Schriftsteller, die irgendwelche Parallelen
entdecken wollen. So, als schämten sie
sich, dass ihnen Fußball gefällt. Als suchten
sie eine Rechtfertigung: Fußball sei schließlich eine Metapher für Gott weiß was.
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SPIEGEL: Ersatzreligion, Spiegel der Gesellschaft, so heißt es oft. Oder, wie der Verhaltensforscher Desmond Morris meint:
eine rituelle Form der Jagd. Die Waffe werde zum Ball, die Beute zum Tor.
Marías: Mir erscheint das alles an den Haaren herbeigezogen. Wenn ich Artikel über
Fußball schreibe, suche ich mir keine intellektuellen Vorwände.
SPIEGEL: Wie viel planen Sie von der Weltmeisterschaft zu sehen?
Marías: Vom 9. Juni bis zum 9. Juli werde
ich mich von Verpflichtungen freihalten.
Allerdings muss ich am dritten Buch meiner Trilogie schreiben. So werde ich einige
Nachmittagsspiele aufzeichnen, um sie später anzuschauen. Das mache ich gelegentlich, aber es ist fürchterlich schwer, das
Ergebnis nicht vorher mitzubekommen.
Wenn Real Madrid im Europacup spielt,
bemerkt man zum Beispiel eine seltsame
Stille in der Stadt, wenn das Team verloren
hat. Häufig hat auch der Taxifahrer das
Radio an. Wie oft habe ich mir im Taxi
schon die Ohren zugehalten!
SPIEGEL: Der Fußball ist so allgegenwärtig
und transparent, dass man automatisch viel
über die Mannschaften aus aller Welt erfährt. Beflügelt dieses Wissen Ihre Fußballbegeisterung?
Marías: Eigentlich haben Weltmeisterschaften etwas verloren. Als die Vereinsspiele aus anderen Ländern noch nicht so
extensiv im Fernsehen ausgestrahlt wurden, hatte das Turnier noch ein Überraschungspotential. Heute kommt Argentinien mit Spielern, die wir alle aus ihren
Mannschaften in Italien, Spanien oder
England kennen. Wir sehen nur etwas
mehr vom Gleichen. Ich finde das schade.
SPIEGEL: Was reizt Sie an der WM?
Marías: Vor allem, dass viel Fußball zu
sehen sein wird. Für mich ist ein Fußballspiel immer etwas Dramatisches. Jedes ist
anders, und oft gibt es eine Wendung des
Schicksals wie im Theater. Als der AC Mailand im vorigen Jahr im Finale der Champions League 3:0 führte, konnte niemand
erwarten, dass Liverpool noch aufholen
würde. Das ist spannend wie ein Roman
oder ein Film. Und was die WM angeht,
so habe ich einen besonderen Favoriten:
Trinidad und Tobago.
SPIEGEL: Wegen der Exotik?
Marías: Und wegen der geografischen
Nähe zu der unbewohnten Karibikinsel
Redonda …
SPIEGEL: … deren König Sie quasi sind. Sie
wurden zum Chef der gleichnamigen
Künstlergemeinschaft gekürt – zu Xavier I.
Marías: Ja, und der berühmteste Spieler
von Trinidad und Tobago, Dwight Yorke,
ist schon 34. Das ist alles sehr sympathisch.
SPIEGEL: Was, glauben Sie, kann der deutsche Fußball zum Gelingen der WM beitragen?
Sport
Marías: Im dritten Jahr in Folge wird es
keinen Titel geben, das ist zuletzt 1951 passiert. Das Problem ist offenbar, dass Spieler wie Zidane, Beckham oder Raúl sich
von einem Trainer nichts mehr sagen lassen. Sie müssen sich das so vorstellen, als
wenn ich zu William Faulkner, Vladimir
Nabokov oder Thomas Mann sagte: So,
mein Lieber, dieses Buch hier können Sie
noch etwas verbessern. Das wäre doch absurd. Lächerlich. Die würden eine Augenbraue hochziehen und mich mit ihren
Blicken zerschmettern. Es ist schwierig,
diese Art von Spieler zu disziplinieren.
SPIEGEL: Benötigen sie eine starke Hand?
Marías: Ich frage mich: Wozu sind Trainer
eigentlich da, wo doch die großen Stars
schon genug über Fußball wissen? Ich denke, der Trainer dient dazu, eine Tonalität
zu vermitteln, einen Geist, eine Art Haltung. Er muss sich die Bewunderung der
Spieler verdienen. Der letzte, der das bei
Real Madrid nach meinem Gefühl konnte,
PAUL MARRIOTT / IMAGO
Marías: Man hört, dass er derzeit etwas
heruntergekommen ist. Wir Spanier haben
immer ein bisschen Angst vor den Deutschen gehabt. Ich erinnere mich gut an das
Finale bei der WM in Spanien 1982. Jeder
hier war für Italien, gegen die Deutschen.
Schon wegen ihres schrecklichen Vorrundenspiels gegen Österreich in Gijón.
SPIEGEL: Bei dem sich die Mannschaften
offenbar auf ein Ergebnis, das beiden half,
einigten und sich dann nicht mehr rührten.
Marías: Und Leidtragende waren die Algerier, die ausschieden. Der Spielbericht
erschien in einer spanischen Zeitung unter
der Rubrik „Verbrechen“. Als dann also
Deutschland im Finale beim Stand von 3:0
für Italien plötzlich ein Tor schoss, dachten
wir alle: Um Gottes willen, die werden
doch nicht … Solchen Respekt hatte man
vor ihnen: Nie konnte man davon ausgehen, dass sie besiegt sind. Deutschland war
als Mannschaft immer sehr stürmisch. Das
machte sie schon mal nicht langweilig.
Real-Star Ronaldo (M., im März gegen Arsenal London): „Etwas mehr vom Gleichen“
SPIEGEL: Früher wurden die Deutschen
Günter Netzer, Paul Breitner, Uli Stielike
bei Real Madrid verehrt. Hätten Sie Michael Ballack, der jetzt nach England geht,
auch gern bei Ihrem Lieblingsclub spielen
sehen?
Marías: Im Moment weiß ich gar nicht, wen
oder was ich in meinem Club gern sehen
würde. Wir „madridistas“ sind ein bisschen verwirrt. Die Politik, große Stars einzukaufen und sie dann in einem Team zusammenzuwürfeln, scheint ja nicht so gut
funktioniert zu haben. Ich weiß nicht, ob
Ballack der Retter hätte sein können. Er ist
sicher sehr gut, aber nicht der entscheidende Spieler. So etwas hat Johan Cruyff
seinerzeit mit dem FC Barcelona geschafft,
er holte den Club aus einer Depression.
SPIEGEL: Braucht Madrid einen Erlöser?
d e r
war Fabio Capello. Den haben sie geachtet.
Ihm wollten sie es zeigen, um wenigstens
ein Schulterklopfen von ihm zu erhaschen
– so nach dem Motto: Gar nicht schlecht
gemacht, mein Junge. Bei den anderen
denke ich: Über die lachen sie. Ein Ballack
würde mitlachen. Den würden sie hier anstecken und verderben.
SPIEGEL: Sind Sie ein Fußball-Nostalgiker?
Marías: Ach, na ja. Neulich sah ich Bayern
München spielen, es waren genau zwei
Deutsche dabei: Kahn und Deisler. Später
kam noch einer. Lamm?
SPIEGEL: Philipp Lahm, der Verteidiger.
Marías: Okay. Dann sah ich Arsenal London: kein Engländer im Team. Inter Mailand ohne einen Italiener. Das scheint mir
eine Perversion zu sein. Als Kinder spielten wir für unsere Schule gegen die Mann-
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147
M. VELANDO/CONTACTO/AG. FOCUS
GPG / PIXATHLON
SPIEGEL: Sie haben Spaniens Nationaltrainer Luis Aragonés zuletzt verteidigt, als der
den Franzosen Thierry Henry im Gespräch
mit dem Stürmer José Antonio Reyes einen
„Scheißneger“ nannte. Warum?
Marías: Erstens war es ein privates Gespräch zwischen den beiden. Zweitens ist
die Übersetzung problematisch, für viele
Spanier ist der Begriff kein rassistischer
Anwurf. In der spanischen Umgangssprache werden Beleidigungen manchmal liebevoll verwendet: Wie gut spielt dieses
Arschloch! Hätte Aragonés sich auf den
Tschechen Pavel Nedv¥d bezogen, hätte
er auch bloß gesagt: Zeig dem Scheißblonden, dass du besser bist. Ich erzähle
Ihnen zum Verständnis eine Geschichte.
SPIEGEL: Bitte.
WM-Teilnehmer Trinidad und Tobago: „Wendung des Schicksals wie im Theater“
Marías: Vor 20 Jahren, als ich in den USA
einen Kurs leitete, sprach ich mit einem
schaft der anderen Schule. Wenn Kinder SPIEGEL: Können Sie das präzisieren? Wie Kollegen an der Uni über eine Gruppe Studentinnen, die in der Nähe stand. Er sagte:
von außerhalb hinzukamen, sagten wir: ist der italienische Stil?
Nein, hier spielen nur die aus unserer Marías: Die Italiener stapeln immer tief. Die mit den Jeans ist intelligent. Es trugen
Schule, nur aus dieser Stadt. Es muss doch Ginge es um eine Liebeseroberung, müss- aber drei von den vier Mädchen Jeans. Ich
te man sagen: der Typ Mann, der versucht, fragte: Welche denn? Er antwortete: Die
ein Element der Identifikation da sein.
SPIEGEL: Sie waren als Kind schon für das bei der Frau etwas Mitleid zu erheischen. das Haar offen trägt. Es hatten aber drei ihr
Tritt schüchtern auf, und im unerwar- Haar offen. Das ging so hin und her, er verSpiel entflammt?
Marías: Neulich habe ich mir auf dem teten Moment legt er die Karten auf den suchte einfach zu vermeiden zu sagen: die
Flohmarkt das Sammelbilder-Album der Tisch. Vier Asse. Die Franzosen dagegen Schwarze. Dabei wäre der Begriff rein deSaison 1958/59 beschafft, das ich schon als sind naiver, fröhlicher. Haben Spaß am skriptiv gewesen – wie der Blonde oder die
Kind besaß. Großartig, nicht? Ich weiß schönen Spiel. Um auf das spanische Team Dünne. Für mich war der Kollege ein Rassist.
noch: Es war ganz schwierig, das Bild von zurückzukommen: Ich leide nicht mit ihm. SPIEGEL: Ihr Urteil fällt oft hart aus. Als der
Mendonça, einem Spieler von Atlético Wenn es ganz schlecht spielt, bin ich so- FC Valencia 2001 im Elfmeterschießen das
Madrid, zu bekommen. Ich habe es im gar in der Lage, mitten im Spiel die Fern- Champions-League-Finale gegen Bayern
Tausch erhalten gegen viele andere Bilder, bedienung zu nehmen und zu sagen: München verlor und Torwart Santiago
einschließlich des kleinen Fotos meiner Das war’s.
Cañizares hemmungslos heulte, fanden Sie
Tante Tina. Sie war sehr hübsch. Einer der SPIEGEL: In einem Ihrer Fußball-Artikel das zum Schämen. Darf ein Geschlagener
Jungen mochte sie halt. Jetzt ist sie 80. Ich schreiben Sie von einem wöchentlichen nicht weinen?
habe mich neulich in einem Artikel bei ihr Wiedereintauchen in die Kindheit. Was Marías: Jeder, der in der Niederlage eine
entschuldigt, dass ich sie mit sieben Jahren meinen Sie genau damit?
würdige Haltung einnimmt, kann einen befür einen Fußballspieler verkauft habe.
wegen. Aber nicht einer, der vor unseren Augen zusammenbricht, ein
SPIEGEL: Ihr Schriftstellerkollege Péter
„Selbst beim Liebes- Handtuch um das Gesicht schlägt und
Esterházy sagte, er schaue Fußball am
so eine hysterische Nummer aufführt.
liebsten allein. In Gesellschaft beginne man
kummer wird man
gibt auch eine Würde innerhalb
über das Spiel zu reden, dann sehe man es
kühler. Beim Fußball Es
der Traurigkeit. Auch die Mitspieler
nicht. Wie sind Ihre Sehgewohnheiten?
bleiben Gefühle
ließen den Torwart links liegen,
Marías: Es hängt vom Spiel ab. Wichtige
Partien sehe ich konzentriert und allein.
und Erregung gleich.“ während sein Gegenüber Oliver Kahn
ihn tröstete. Sie mochten dieses ProtNun, es gibt Ausnahmen. Ich habe eine
agonistentum nicht. Cañizares war ja
Freundin, die aus Barcelona kommt. Sie
nicht der Einzige, der verloren hatte.
ist Barça-Fan. Wir sehen uns etwa einmal
im Monat für eine Woche. Einmal fiel die Marías: Nur beim Fußball benimmt man SPIEGEL: Müssen die Stars Vorbilder
Partie Barcelona gegen Real in eine solche sich mit 30 oder 40 noch wie ein Zehn- sein?
Woche. Da haben wir uns gefragt: Was ma- jähriger. Sonst wird man ja mit der Zeit Marías: Es reicht, wenn sie Fußball spielen
chen wir jetzt? Geht einer raus in die Bar? zurückhaltender, selbst beim Liebeskum- und vermeiden, dem Gegner die Knochen
mer wird man kühler. Beim Fußball blei- kaputtzutreten. Andererseits gibt es Dinge,
Wir haben es zusammen angesehen.
ben Gefühle und Erregung gleich. Ein Tor die es früher im Fußball nicht gab und die
SPIEGEL: War es sehr schlimm?
Marías: Sie war ein bisschen provokant, ruft bei so vielen erwachsenen, zivilisierten mich heute sehr nervös machen. Dass die
hat das Barcelona-Wappen auf den Fern- Menschen gleichzeitig eine solche unmit- Spieler einander der Schauspielerei beseher gestellt. Allein ist es besser. Andere telbare Begeisterungsexplosion hervor, da zichtigen, gelbe oder rote Karten für den
Gegner fordern. Oder dass sie, wenn ElfSpiele sind mir nicht so wichtig. Ein WM- gibt es nichts Vergleichbares.
Finale etwa, da ist Spanien ja eh nie dabei. SPIEGEL: Gibt es wohl eine Art Grundbe- meter gepfiffen wird, schon anfangen zu
SPIEGEL: Seit zehn Jahren gilt Spaniens Liga dürfnis nach solchen Emotionen, die dann jubeln, bevor geschossen ist. Früher gab
es mehr Würde, mehr Edelmut, auch mehr
als die stärkste der Welt. Spaniens Natio- beim Fußball befriedigt werden?
nalteam gewinnt jedoch seit 1964 keinen Marías: Sie meinen, dass das Bedürfnis zu- Respekt gegenüber dem Gegner. Vielleicht
Blumentopf. Haben Sie eine Erklärung?
erst da ist, vor dem Fußball? Da bin ich mir bin ich aber auch schon ein etwas anMarías: Die spanische Mannschaft hat nie nicht so sicher. Ich glaube, dass der Fußball tiquierter Zuschauer.
einen eigenen Stil entwickelt. Andere, wie so ein Bedürfnis nach kindlichem Verhal- SPIEGEL: Señor Marías, wir danken Ihnen
Italiener, Franzosen, Brasilianer, haben den. ten überhaupt erst provoziert.
für dieses Gespräch.
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ALAMY
KEVIN BOOTH
Wissenschaft · Technik
Prisma
Ruine der Klosterkirche von Bylands Abbey
Destillierkolben
GESCHICHTE
Mönche als
Alchemisten?
D
er Fund eines Destillierkolbens in der britischen Abtei
von Bylands (Grafschaft Nord-Yorkshire) erhärtet den Verdacht, dass die dortigen Zisterzienser-Mönche im 15. Jahrhundert Alchemisten – also dem Aberglauben verfallen – waren.
Gefäße dieser Art wurden normalerweise zusammen mit einer
Art Stövchen verwendet, in dem spezielle Mixturen am
KRIMINALISTIK
Lügendetektor
entschlüsselt Mimik
inzige Zuckungen der Gesichtsmuskeln des Menschen können
W
verraten, ob jemand die Wahrheit sagt
Köcheln gehalten wurden. Die Dämpfe aus den Suden gelangten durch eine kleine Öffnung in den auf dem Stövchen sitzenden Destillator und wurden von dort über Röhren in eine
Kondensiervorrichtung geleitet. „Da wir keine chemischen
Spuren auf der Oberfläche des Kolbens gefunden haben, können wir nicht sicher sagen, wofür er genutzt wurde“, erklärt Kevin Booth, Kurator bei der englischen Altertümerverwaltung.
Denkbar wäre die Herstellung von Arzneimitteln oder von
geistigen Getränken für die klostereigenen Pichelbrüder. Anhaltende Gerüchte brachten die abgelegene Abtei allerdings immer wieder in Zusammenhang mit alchemistischen Machenschaften. In einem Brief von 1470 berichtete einer der dort lebenden Mönche explizit, dass es ihm gelungen sei, eine Mixtur
aus verschiedenen Metallen in Gold zu verwandeln.
scher wissen, dass sie in allen Kulturen
der Welt mit Lügen und Verheimlichen
assoziiert sind: „Die nur kurz aufblitzenden Zeichen stammen von unbewussten Muskelkontraktionen – wenn
diese Mikrozuckungen von verborgenen
Gefühlen getriggert werden, ist es fast
unmöglich, sie zu kontrollieren“, erklärt
Frank. Vom Entlarvungsprogramm des
US-Sozialpsychologen profitieren bereits Verhörprofis vom Los Angeles
Police Department und von Scotland
Yard in London.
d e r
s p i e g e l
Männer leben
gefährlicher
E
UIP / CINETEXT
oder etwas zu verbergen sucht. Bisher
war es für Ermittler eine Frage von Intuition und Erfahrung, verdächtige Signale im Gesicht zu erkennen und richtig zu interpretieren. Jetzt hat der
US-Sozialpsychologe Mark Frank
von der State University of New
York in Buffalo ein Computerprogramm entwickelt, mit dem auch
weniger versierte Kriminalisten in
die Seele Verdächtiger blicken können. Die Lügendetektor-Software erkennt auf Videobändern von Verhören automatisch jedes noch so
kleine Zwinkern und Blinkern im
Gesicht potentieller Delinquenten.
Registriert werden vor allem Muskelregungen, von denen die ForPolizeiverhör (Filmszene)
GESUNDHEIT
2 0 / 2 0 0 6
in US-Psychologe glaubt eine evolutionäre Erklärung für die geringere
Lebenserwartung von Männern gefunden zu haben: das Buhlen um Frauen.
Nicht anders als viele ihrer Geschlechtsgenossen im Tierreich legen Männer riskante Verhaltensweisen an den Tag, um
die Aufmerksamkeit von Partnerinnen
zu erregen: Sie prügeln sich, protzen
mit schnellen Autos und setzen ihre Gesundheit durch einen auch sonst wenig
schonenden Lebensstil aufs Spiel. Weil
die Lebenserwartung im Allgemeinen
steigt, erklärt Psychologe Daniel Kruger
von der University of Michigan, „erhalten solche Ursachen von Todesfällen
einen eher höheren Stellenwert“. Vor
allem für Männer mit niedrigem sozioökonomischem Status stellten gefährliche Balz- und Konkurrenzrituale ein
hohes Gesundheitsrisiko dar.
151
Wissenschaft · Technik
Prisma
Goldhamster am
Futtertrog
OKAPIA
Diese Beobachtungen
machten Experten am
Animal Center der National Institutes of
Health in Maryland mit
Hilfe eines Testapparats, der für jedes Tier
gesondert aufzeichnete,
wie oft es sich an einer
gesüßten Ethanollösung
bedient hatte. Die Folgen übermäßigen Alkoholgenusses waren ähnlich wie beim Menschen
Torkeln, Sichübergeben
und Einschlafen. Die
haarigen Trinker bewiesen nicht nur Vorlieben für bestimmte
Geschmacksrichtungen, sie legten auch unterschiedliche
Alkoholverträglichkeiten an den Tag. „Da zeigen sich wichtige Parallelen zum menschlichen Alkoholismus“, glaubt Kathleen Grant, Wissenschaftlerin am Oregon National Primate
Research Center. Goldhamster teilen mit den Menschen hingegen ein anderes Laster: Sie neigen bei Stress zu unkontrollierten Fressattacken. Während Mäuse oder Ratten weniger zu
sich nehmen, wenn sie unter Anspannung stehen, sammeln
Hamster unter Druck gewaltige Speckpolster an. Das stellten
Forscher der Georgia State University bei Testtieren immer
dann fest, wenn zwei dieser Einzelgänger gemeinsam in einem
kleinen Käfig gehalten und damit in gehörige Aufregung versetzt wurden.
TIERE
Betrunkene Affen,
Hamster mit Stressspeck
T
iere sind auch nur Menschen – das zeigen aktuelle Studien
aus der Verhaltensforschung. Rhesusaffen trinken mehr
Alkohol, wenn sie allein eingesperrt sind als in angenehmer
Gesellschaft. Nach einem anstrengenden Tag genehmigen sie
sich gern mal einen Drink. Rangniedere männliche Tiere
tendieren dabei eher dazu, sich sinnlos volllaufen zu lassen.
B O TA N I K
OKAPIA
Pflegeleichter Kurzrasen
ästiges Rasenmähen gehört vielleicht schon bald der Vergangenheit
L
an. Biologen vom kalifornischen Salk
Gartenbesitzer beim Rasenmähen
ENERGIE
Rotor auf dem Dach
it einem Mini-Windrad auf dem
Dach könnten private Haushalte
M
ihre Stromkosten reduzieren. Die von
der australischen Firma The SolarShop
in Adelaide entwickelten Rotoren stehen immer richtig im Wind, weil sich
ihre Blätter nicht um eine horizontale,
sondern um eine vertikale Achse dre152
Institute ist es gelungen, die molekulare
Signalkette jener Hormone zu entschlüsseln, die für das Wachstum von
Pflanzen mitverantwortlich sind. Diese
sogenannten Brassinosteroide kommen
in fast allen Pflanzenzellen vor und beeinflussen nicht nur die Aktivität der
Gene, die das Gedeihen der Pflanzen
steuern, sondern auch den Prozess der
Zellalterung. „Ohne die Steroide bleiben Pflanzen unfruchtbare Zwerge mit
unterentwickelten Gefäßsystemen und
Wurzeln“, erklärt Forscherin Joanne
Chory. Durch Manipulationen am Signalweg glauben die Biologen in Zukunft eine verbraucherfreundlichere
Flora schaffen zu können. Das Spektrum
reicht vom nur noch selten zu mähenden Rasen über kompaktere Stadtbäume
bis zu Beerengewächsen, zu denen man
sich nicht mehr bücken muss.
könnten dann anschließend
hen. Sie benötigen daher auch
bei der jährlichen Stromrechgeringere Windgeschwindigkeinung Abschläge geltend maten als herkömmliche Turbinen
chen. Die geeignetsten Aufund sind nach Angaben der
stellungsplätze sind laut HerFirma leiser und wenig störansteller höhere Gebäude oder
fällig. Für Vögel stellen die RoTürme in küstennahen Gegentoren keine Gefahr dar, weil
den. „Wer die Windräder an
sich ihre Schaufeln nur langMini-Windrad
der falschen Stelle montiert,
sam bewegen. Geplant ist,
schmeißt sein Geld zum Fenster hindass die in etwa einem Jahr lieferbaren
aus“, warnt Firmenmanager Adrian
Anlagen die gewonnene Energie direkt
Ferraretto.
ins Stromnetz einspeisen; ihre Besitzer
d e r
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Technik
ROBOTER
Aufmarsch der Stahlsoldaten
Schon länger setzt die US-Armee in Afghanistan oder im Irak Roboter ein. Auf
einem Truppenübungsplatz bei Würzburg lässt nun auch die Bundeswehr Maschinen gegeneinander
antreten. Doch die Kreationen der Tüftler scheitern oft noch an den Tücken des Alltags.
T
SCOTT NELSON / GETTY IMAGES
räge schleppt sich Asendro die Treppe hoch, bis er vor der geschlossenen Tür steht. Lauert dahinter eine
Bombe oder ein bewaffnetes Terrorkommando? Egal, er kennt keine Angst. Sein
Arm fährt aus, er drückt die Klinke und
öffnet die Tür ins Unbekannte.
„Asendro“ ist ein Wachschutzroboter
der neuesten Generation. Mit seinen rund
40 Kilogramm Gewicht wirkt er wie ein
Spielzeugpanzer. Mit dem Arm kann er
Türen öffnen und so mit seinen Videoaugen Orte erkunden, die für Menschen
zu eng oder zu gefährlich sind.
Seit Wochen steuert Jens Hanke seinen
ferngelenkten Wachmann mit Hilfe eines
Sensorhandschuhs und eines Computers
kreuz und quer über die Flure des vor
sechs Jahren gegründeten Unternehmens
Robowatch im Ost-Berliner Bezirk Pankow. Bis spät in die Nacht und auch an
Wochenenden ist er am Tüfteln.
Denn diese Woche soll der Roboter seinen großen Einsatz haben: auf dem Truppenübungsplatz Hammelburg nördlich von
Würzburg. Dort lädt die Bundeswehr vier
Tage lang zur „Europäischen Landroboterschau“ („Elrob 2006“), der ersten Veranstaltung dieser Art in Europa. 33 Firmen
und 14 wissenschaftliche Einrichtungen aus
neun europäischen Ländern haben sich
angemeldet, um Roboter vor fachkundigen Zuschauern aus Militär, Feuerwehr
und Zivilschutz zu präsentieren.
UNIVERSITÄT KARLSRUHE
Aufklärungsroboter von iRobot (in Afghanistan): Erkundung der Taliban-Höhlen
Experimentalroboter „Ravon“
Überlegenheit im Unterholz
154
Mit dem möglichen Einsatz von Landrobotern betritt die Bundeswehr Neuland.
Zwar setzt das Heer seit über 30 Jahren
unbemannte Flugzeuge („Drohnen“) ein,
aber am Boden tat sich bislang wenig:
Zurzeit ist „Teodor“ der einzige stählerne
Rekrut – ein Entschärfungsroboter, der
mittlerweile von Militär und Polizei in
30 Ländern eingesetzt wird. Im Juni 2003
gelangte der Automat, hergestellt von der
Firma Telerob aus Ostfildern, zu kurzer
Berühmtheit, als er zum Räumen einer
Bombe im Dresdner Hauptbahnhof eingesetzt wurde.
Bei anderen Militärs gehören Roboter
weit mehr zum Alltag. Als die US-Armee in
den Höhlensystemen von Afghanistan auf
erbitterten Widerstand der Taliban stieß,
schickten die Soldaten sicherheitshalber
„Packbot“-Roboter voraus, um die Gänge
zu erkunden. Hergestellt werden die Geräte
von der amerikanischen Firma iRobot, die
vor allem durch den Staubsaugerroboter
„Roomba“ bekannt wurde.
Auch zum Entschärfen von Minen oder
„behelfsmäßigen Sprengvorrichtungen“
d e r
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(IEDs) werden Roboter bereits häufig eingesetzt. Rund ein Drittel der bisher im Irak
getöteten US-Soldaten fiel solchen Waffen
zum Opfer, die oft durch Bewegungsmelder oder per Handy ausgelöst werden.
Ferngelenkte Aufklärungsroboter und vollautomatische Transportfahrzeuge helfen
neuerdings, das Risiko zu mindern.
Mehr noch: In einem Kraftakt will das
Pentagon in den nächsten Jahren die Streitkräfte mit dem sogenannten Future Combat System zu einer wahren Roboterarmee
umrüsten. Zum „Kampfsystem der Zukunft“ gehören neben kleinen Aufklärungsrobotern (SUGVs) auch Transportsysteme mit dem Kürzel „Mule“, die
wie ein Muli der kämpfenden Truppe folgen und deren Rucksäcke und Munition
schleppen. Sogar Transportfahrzeuge und
Kampfpanzer sollen sich künftig fernsteuern lassen. Die geschätzten Kosten für die
Armada aus Fernlenkfahrzeugen sind immens und dürften zwischen 90 und 150
Milliarden Dollar liegen.
Um die Entwicklung zu beschleunigen,
loben die Militärs immer wieder spekta-
STEPHANIE PILICK / PICTURE-ALLIANCE/ DPA
Wachroboter „Asendro“ (in Berlin)*: Schnitzeljagd zwischen Stacheldraht und Ruinen
kuläre Wettbewerbe aus. Voriges Jahr beispielsweise ging es beim „Grand Challenge“
darum, ein Geisterauto vollautomatisch und
ohne Fernsteuerung 131 Meilen weit über
eine Piste durch die Mojave-Wüste fahren
zu lassen – das Gewinnerteam schaffte die
Strecke in knapp unter sieben Stunden. Die
Belohnung: zwei Millionen Dollar.
Verglichen mit derlei Aufwand nimmt
sich das Elrob-Treffen der Bundeswehr vergleichsweise bescheiden aus. Einen Sieger
gibt es nicht und damit auch kein Preisgeld.
Nicht einmal Aufträge sind in greifbarer
Nähe, denn ein Anschaffungsetat fehlt
ebenfalls noch. Zudem müssen die Teilnehmer sogar selbst für ihre Unterkunft zahlen. Dieses Klein-Klein scheint wichtige
Teilnehmer abzuschrecken: Der Rüstungskonzern EADS etwa hat wieder abgesagt.
Unklar ist zudem, welche Art von Robotern die Bundeswehr genau sucht. Ein
Hauptziel von Elrob ist die „Entwicklung
revolutionärer Technologien“, heißt es
schwammig im Regelwerk. Außerdem sol* Vorgeführt von einem Mitarbeiter der Firma Robowatch.
len die Roboterfahrzeuge „keine Tiere an
Bord haben“.
„Auf konkrete Nachfragen hin habe ich
meist nur eine vage Antwort bekommen“,
wundert sich zum Beispiel Andreas Birk
von der International University Bremen,
dessen Team im April in Atlanta beim
Wettbewerb US Open der Rettungsroboter
gewonnen hat. Dennoch will auch er in
Hammelburg dabei sein – allein schon aus
Neugier, was die Kollegen so treiben.
Beim Wettkampf in Hammelburg stehen
für die digitalen Rekruten zwei Parcours
im Mittelpunkt: Entweder müssen sie sich
einen Kilometer weit querfeldein durchschlagen – wobei Hindernisse wie Felsen
oder Militärgerät den Weg versperren könnten. Oder aber der Weg führt sie etwa 500
Meter durch die Geisterstadt Bonnland,
die seit 1937 als Trainingskulisse für den
Häuserkampf dient. Dort sollen die Roboter sich zwischen Stacheldrahtverhauen,
Pfützen, Feuern und Trümmern hindurchwinden und versuchen, in Häuser einzudringen und wie bei einer Schnitzeljagd
bestimmte Objekte ausfindig zu machen.
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So allgemein diese Anforderungen sind,
so bunt ist das Teilnehmerfeld. Neben
einzelnen Kettenfahrzeugen ähneln viele
Gefährte in diesem bunten Bestiarium dem
legendären Roboterauto „Herbie“, das
ohne Fahrer durch eine bekannte Kinokomödie kurvte. So tritt ein umgebauter
Smart mit Namen „Smarter“ ebenso an
wie ein ursprünglich für behinderte Fahrer
elektronisch aufgemotzter Mercedes. Aber
auch raupenähnliche Radfahrzeuge sind
dabei, deren Segmente sich gegeneinander verwinden können, etwa beim „Roburoc6“ der französischen Firma Robosoft.
Eines der erstaunlichsten Systeme ist
„Satellite on the Move“: eine Art Buggy,
der per Satellit aus über tausend Kilometern Distanz fernsteuerbar sein soll, vorgestellt von der bayerischen Firma Base
Ten Systems. Vorsichtshalber heißt es in
den Teilnahmeregeln: Jeder Roboter muss
mit einem Not-Ausschalter versehen sein.
Sogar Hobbybastler sind am Start, darunter vier französische Ingenieure aus Angers mit ihrem „Home Made Robot 2“,
den man wohl eher auf einer Spielzeug155
Technik
messe erwarten würde als auf einem Truppenübungsplatz.
Doch Spielzeuge müssen nicht zwangsläufig unbrauchbar sein, wie die Erfahrungen der US-Armee zeigen: Im Irak zum
Beispiel setzen Soldaten teils fernsteuerbare Miniaturautos vom Elektronik-Discounter Radio Shack ein, um sich vor
Bomben zu schützen. Wenn sie einen Karton auf der Straße erblicken, lassen sie das
Spielzeuggefährt dagegenrumsen. Bleibt
der Karton stehen, weil ein schwerer Gegenstand darin ist, rufen die Soldaten das
Minenräumkommando. Ansonsten fahren
sie einfach weiter.
Oft sei der größte Gegner von Militärrobotern nicht der Feind, sondern die
Tücken der Technik, sagt Hagen Schempf
von der Carnegie Mellon University, der
Vorsichtshalber heißt es in den
Regeln: Jeder Roboter muss
einen Not-Ausschalter haben.
sich seit Jahren mit dem Thema befasst:
Schon eine quergestellte Couch könne einen Flur für kleine Spähroboter unpassierbar machen. „Viele europäische Entwickler sind theoretisch auf dem neuesten
Stand“, so Schempf. „Aber sie haben oft
kaum Erfahrungen mit dem Einsatz unter
Realbedingungen in Krisengebieten.“
Umso unverständlicher findet es
Schempf, dass bei der Elrob der Bundeswehr ausschließlich europäische Teams
teilnehmen dürfen: „Wer sich einen Überblick verschaffen will, sollte die Suche
möglichst breit anlegen.“
„Für das Heer hat der Schutz der Soldaten im Einsatz Priorität“, definiert das
Verteidigungsministerium auf Nachfrage
ein Ziel der Schau. Doch unklar bleibt dabei, wie man das beste System zum Schutz
vor Sprengfallen und Scharfschützen finden will, wenn man US-Firmen wie iRobot
nicht zulässt und damit auf die teuer erkaufte Praxiserfahrung mit Irak-erprobten
Geräten wie dem „Packbot“ verzichtet.
Noch aus anderen Gründen beäugen
viele Akademiker misstrauisch das Interesse der Bundeswehr an ihren Konstruktionen. „Ich sehe das militärische
Interesse an der mobilen Robotik mit
einem lachenden und einem weinenden
Auge“, sagt etwa Martin Proetzsch von der
Universität Kaiserslautern, dessen Team
mit dem Allradfahrzeug „Ravon“ vor allem beim autonomen Querfeldeinfahren
durchs Unterholz punkten will. Am liebsten wäre es ihm, wenn sein Fahrzeug eingesetzt würde, um Leben zu retten. Doch
wo liegt die Grenze in dieser Grauzone?
Proetzsch kritisiert etwa die Aufrüstung
von Robotern mit fernsteuerbaren Waffen, welche die US-Armee betreibt. „Das
finde ich unverantwortlich“, so Proetzsch,
„die Systeme sind noch viel zu unzuverlässig.“
Hilmar Schmundt
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Wissenschaft
V E R H A LT E N S F O R S C H U N G
Tierische Spaßgesellschaft
Findet in der Natur nur ein Kampf ums Überleben statt? Stimmt
nicht, sagt ein kanadischer Biologe: Auch Tiere treiben
Schabernack – und haben sogar einen subtilen Sinn für Humor.
F
ür Richard Dawkins spielt sich der
Alltag der Tiere in einer unbarmherzigen Kampfarena ab. „In der
Minute, in der ich diesen Satz niederschreibe“, so formulierte es 1995 der berühmte britische Zoologe, „werden Tausende von Tieren bei lebendigem Leibe
gefressen, andere laufen, bebend vor
Angst, um ihr Leben.“
Mit großem Erfolg hat Dawkins seine
Idee vom „egoistischen Gen“ unter Laien
wie Wissenschaftlern verbreitet. Seiner
Vorstellung zufolge sind die Geschöpfe dieser Erde nur Biomaschinen, fremdgesteuert von ebenjenen Genen, die sich der
Kreatur bedienen, um die Welt für sich zu
erobern. Gibt es Zufriedenheit, gar Glück
fürs Gekreuch? Keine Chance!
Ein ganz anderes Naturbild zeichnet
jetzt der kanadische Verhaltensforscher
Jonathan Balcombe. Die Welt der Tiere
sieht er eher als „vergnügliches Königreich“ – so lautet denn auch der Titel seines soeben erschienenen Buchs, das sich
erstmals nur mit den schönen Dingen in
* Jonathan Balcombe: „Pleasurable Kingdom – Animals
and the nature of feeling good“. Macmillan, Houndmills;
274 Seiten; 26,33 Euro.
der Welt der wilden Kreaturen beschäftigt:
mit Freude, Lust und Lachen*.
Balcombe hat in Wäldern und Savannen
geradezu eine tierische Spaßgesellschaft
ausgemacht; Spiel und Genuss triumphieren
darin über den angeblich so unerbittlichen
Kampf um die nackte Existenz. „Tiere sind
vergnügungssüchtig“, sagt Balcombe, „so
wie wir.“ Das Leben, glaubt er, „ist für
viele von ihnen durchaus lebenswert“.
Manche Tiere lieben etwa völlig sinnfreie Rutschpartien. So schlittern und kullern Raben gern Hausdächer hinunter –
und zwar immer wieder aufs Neue und
abwechselnd, wie spielende Kinder. In den
USA und in Großbritannien wurden die
Vögel dabei beobachtet, wie sie rücklings
verschneite Hänge hinabsausten; im Bundesstaat Maine scheint es Stil der Saison zu
sein, die Pisten bäuchlings zu nehmen.
Ob Matsch-, Gras- oder Schneehügel –
Schlittern gehört auch zu den Trendsportarten bei Pinguinen, Ottern und Bären. In
Alaska wurden schon Bisons beim Schlittern auf Eis gesehen. Sogar junge Alligatoren in Zoos scheinen aus reinem Spaß
immer wieder ins Wasser zu glitschen.
Auch Wasserspiele sind beliebt: Delphine vergnügen sich damit, Luftkringel aus
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ihren Blaslöchern zu pusten, durch die sie
dann, wie im Zirkus, hindurchtauchen
oder die sie kunstvoll verschmelzen lassen
– ähnlich wie Kinder mit Seifenblasen spielen. Die Meeressäuger werfen auch gern
mit Seetang, balancieren ihn oder nutzen
ihn für eine Partie Tauziehen.
Sogar Tintenfische scheinen einem gelegentlichen Späßchen nicht abgeneigt zu
sein: Eine kanadische Kraken-Expertin
beobachtete einmal ein Exemplar, wie es
eine leere Plastikflasche in den Wasserstrom eines Aquariumschlauchs hielt, fortschleudern ließ, wieder einfing und erneut
an die Schlauchmündung bugsierte.
„Das Spiel erfüllt viele Funktionen, die
einem Tier helfen können, zu überleben
und erfolgreich zu sein im Leben“, sagt
Balcombe. „So werden sie stärker, lernen
Sozialverhalten, trainieren notwendige Talente. Deswegen ist es in der Evolution
wahrscheinlich entstanden.“ Nur: In dem
Moment, glaubt der Biologe, wo zwei
Jungtiere Faxen machten, täten sie dies
wohl kaum, um „gute Erwachsene“ zu
werden. „Tiere spielen aus Spaß, nicht für
einen Zweck.“
Vergnügen, so Balcombe, sei der beste
Antrieb, Dinge zu tun, die beim Überleben
helfen – das ist beim Menschen auch nicht
anders. Beispiel Gewürze: Aus evolutionsbiologischer Sicht hat der Homo sapiens
sich gut angepasst, indem er seine Speisen
mit Curry, Pfeffer, Paprika und anderen
Mitteln schärft – die Ingredienzen helfen
unter anderem, gefährliche Keime im Essen abzutöten.
Aber wer denkt ans Abwenden einer
Infektionsgefahr, wenn er einen Löffel
Chili con Carne in den Mund schiebt? Es
157
R. USHER/WILDLIFE (L.); OKAPIA (M. + R.)
Im Schnee tollender Braunbär, grimassierender Schimpanse, spielende Zügeldelphine: „Tiere sind vergnügungssüchtig – wie wir“
Wissenschaft
gen, wenn Balcombe recht hat. Auch wenn
es sich anders anhört als beim Menschen:
Schimpansen lachen nicht nur, wenn sie
unter den Achseln gekitzelt werden, sondern auch bei Verfolgungsjagden und spielerischen Kämpfchen.
Balcombe hat in der Tat eindrucksvolle
Anekdoten zusammengetragen, die dafür
zu sprechen scheinen, dass Tiere Spaß verstehen, herumblödeln und Schabernack
treiben – und zwar gern auf Kosten anderer:
• Eine Elefantenkuh in einem Tierpark
füllte sich den Rüssel unauffällig mit
FACE TO FACE
schmeckt einfach gut – Wohlbefinden
durchströmt den Körper.
„Genuss belohnt adaptives Verhalten“,
sagt Balcombe. Die Fähigkeit, sich gut zu
fühlen, könne daher kaum „die alleinige
Domäne des Homo sapiens“ sein.
Zumal die Natur auch die anderen Wirbeltiere als potentielle Hedonisten ausstaffiert hat: Wie der Mensch besitzen sie in
der Regel alle fünf Sinne, speziell die anderen Säugetiere sogar vergleichbare
Strukturen im Gehirn sowie die gleichen
Botenstoffe, die auch dem Menschen
Elefant beim Nassspritzen seines Pflegers: Findet er das witzig?
Glück oder Schmerz vermitteln, Geborgenheit oder Stress.
So gesehen ist es auch keine Frage mehr,
ob Vierbeiner, Flügel- und Finnenträger
Lust beim Sex empfinden. Dafür sprechen
die vielen Beispiele erotischer Rendezvous
quer durch die Fauna, die eben nicht
dem Zweck der Vermehrung dienen. So
lassen sich bei Spinnerdelphinen, Grauund Grönlandwalen wahre Orgien beobachten, ebenso bei Schwalben und Reihern. Viele Geschöpfe treiben es gern
außerhalb der Brünftigkeit; und Masturbation komme bei „mindestens sieben Säugetierordnungen vor“, zählt Balcombe auf.
Was Homosexualität betrifft, sind vor
allem die Bonobos rekordverdächtig: Im
Schnitt alle zwei Stunden betreiben Weibchen gleichgeschlechtliches Miteinander.
Dabei steht ein Weibchen auf allen vieren
über dem anderen; das untere schlingt seine Beine um die Partnerin, und die beiden
reiben ihre Genitalien in flottem Tempo
aneinander. Während der üblichen 15 Sekunden rubbeln „grinsen, grimassieren
und schreien“ die beiden, beschreibt
Balcombe. Es sei schwierig, darin kein
„intensives Vergnügen“ zu sehen.
Aber der Forscher geht eben noch einen
Schritt weiter. Selbst über einen subtilen
Sinn für Humor könnten die Tiere verfü158
d e r
Wasser und prustete dann, wie mit einem gigantischen Gartenschlauch, plötzlich einen Besuchertrupp nass – fand sie
das witzig?
• Amüsieren sich Schwarzdelphine, wenn
sie sich heimlich auf dem Wasser ruhenden Möwen nähern, sie zart an einem
oder beiden Beinen packen und dann
einmal kurz tunken, bevor sie sie wieder
loslassen?
• Empfanden jene fiesen Youngster unter
den Schimpansen im Zoo von Arnheim
Schadenfreude, als sie eine ältere, behinderte Artgenossin tagelang hänselten, indem sie ihren verdrehten Gang
nachahmten?
Als Beweise taugen all diese Beobachtungen natürlich nicht; das weiß auch Balcombe. Selbst wenn Tiere über ihre Gefühle sprechen könnten – es bliebe unklar,
ob sie dasselbe meinen wie der Mensch.
Und falls der Biologe recht hat: Empfinden am Ende selbst Ameisen Freude – über
einen besonderen Leckerbissen etwa? Immerhin besitzen sie ein Nervensystem und
Sinneszellen. Wo genau verläuft die Spaßgrenze zwischen Säugetier und Amöbe?
„Ich weiß es nicht“, gibt Balcombe zu.
„Da, wo es Zweifel gibt, ziehe ich es vor,
anzunehmen, sie fühlten etwas.“
s p i e g e l
Rafaela von Bredow
2 0 / 2 0 0 6
Neues Mercedes-Benz-Museum in Stuttgart: „Gestapelte Autobrücken“
AU TOMOB I L E
Parkhaus der Mythen
Am Freitag eröffnet Mercedes-Benz das größte Automuseum der
Welt. Seine Architektur stößt an die Grenzen moderner
Baustatik und trägt schwer an Deutschlands größter Industrie-Ikone.
D
ieses Haus ist irgendwie Deutschland. Es strotzt von ungeheurer
Technik. Und doch sieht es mitgenommen aus, zerdrückt. Wie ein Denkmal der Dosenpfand-Debatte.
Bundeskanzlerin Angela Merkel wird es
am Freitag eröffnen, das neue MercedesMuseum in Stuttgart-Untertürkheim, dem
Stammsitz des Erfinders des Automobils.
Es geht um das mythenschwerste Inventar, das die deutsche Industrie auffahren
kann; und das Gebäude, versichert der
Architekt, sei dafür ausgelegt.
Der Niederländer Ben van Berkel schuf
das Mercedes-Monument aus einer hochtragfähigen Rohstoffmischung, die sich im
Parkhausbau bewährt hat: 110 000 Tonnen
Stahl und Beton stoßen an die Grenze moderner Baustatik, dessen Komplexität alle
bisherigen Schauhäuser wie simple Lagerhallen erscheinen lässt.
Grundprinzip ist der spiralförmige Wandelgang des New Yorker Guggenheim
Museums.
In Stuttgart jedoch dreht der Gang sich
nicht einfach wie eine Schraube in den
Boden. Zwei ineinander verschlungene
Korridore mäandern jeweils der Form eines Kleeblatts folgend talwärts. Inmitten
dieses Knäuels verdrehen sich Böden
zu Wänden und diese wiederum zu
Decken.
160
35 000 Baupläne liegen diesem Meisterwerk der Betongießerei zugrunde. Die
Tragwerksplaner vom Büro Werner Sobek
sprachen von „gestapelten Autobrücken“.
Tatsächlich musste die Belastbarkeit realer
Straßenbauwerke erreicht werden. Erstmals stellt Mercedes auch Nutzfahrzeuge
aus, unter ihnen einen Nachbau des Omnibusses der Fußball-Weltmeistermannschaft von 1974.
Ordnung zu kriegen in die Sakristei des
ältesten Automobilkonzerns der Welt ist
der zentrale Zweck dieser Immobilie, deren Preis zu nennen Mercedes sich ziert.
Nach seriösen Schätzungen flossen etwa
150 Millionen Euro in das mit 16 500 Quadratmeter Ausstellungsfläche größte Firmenmuseum der Welt.
„Keine Ausstellung im herkömmlichen
Sinne“ wünschte Mercedes-Chef Jürgen
Hubbert vor fünf Jahren in seinem Geleitwort zum Wettbewerb von zehn Architekturbüros, den van Berkel letztlich
gewann. Der Siegerentwurf garantierte
größtmögliche Distanz zu den eindimensionalen PS-Panoptiken herkömmlicher
Machart.
Eine formidable Zeitmaschine erwartet
den Besucher nun zum Eintrittspreis von
acht Euro. Der Eingang führt direkt ins
Herz des Bauwerks, ein Beton-Atrium, das
bis unters Dach des 47 Meter hohen Ged e r
s p i e g e l
2 0 / 2 0 0 6
bäudes emporragt. Im Brandfall soll er wirken wie ein riesiger Schlot. Luftdüsen erzeugen in ihm dann einen vertikalen Wirbelwind, um sämtliche Rauchschwaden aus
den Besucherräumen zu ziehen und tornadoartig gen Himmel zu blasen.
Die Menschen tuckern in Aufzügen
hinauf, besäuselt von Fahrstuhlmusik aus
Mobilitätsgeräuschen, die eine Reise rückwärts intonieren und mit Hufgetrappel
enden. Ganz oben am Eingang steht eine
ausgestopfte Stute, daneben der Satz Wilhelms II. aus dem Jahr 1905: „Ich glaube
an das Pferd. Das Automobil ist eine vorübergehende Erscheinung.“
Dass auch die Prognose der DaimlerWerke damals kaum optimistischer war,
lässt das Museum unerwähnt. Die Autoerfinder schätzten den gesamten Weltmarkt auf höchstens eine Million Fahrzeuge ein – tatsächlich ist dies heute allein
die Jahresproduktion von Mercedes. Nur
ein kleiner Prozentsatz der Arbeiter, so
die Begründung, tauge zum Beruf des
Chauffeurs.
Verzweigte Wege führen nun serpentinenartig talwärts, folgen dabei jedoch einem klaren System. Ein Korridor führt
durch die „Mythosräume“. Er soll chronologisch die Markenentwicklung von Mercedes-Benz dokumentieren.
Die zweite Spirale verbindet die
„Collectionsräume“, in denen MercedesFahrzeuge aus allen Epochen unter bestimmten Oberbegriffen zusammengestellt
wurden. Zudem erlaubt die Anordnung
dieser Doppelhelix häufige Wechsel zwischen beiden Rundgängen, da sich diese
auf jedem Stockwerk begegnen.
Die Sammlungsräume sind heitere
Auflockerungen, die der gesamten Schau
etwas von ihrer Strenge nehmen. Lichtdurchflutet an riesigen Glasflächen, bilden
Technik
Mythosraum mit Sportwagen der fünfziger Jahre: Ordnung in der Sakristei
die Konzernleitung nicht auf Anhieb amüsierte).
In der „Galerie der Namen“ posieren
Prominentenautos – ein Mercedes-Dorado par excellence, in dem sich schierer
Prunk mit erlesener Peinlichkeit mischt.
Die antike Staatskarosse des japanischen
Kaiserhauses findet sich im selben Raum
mit einem deftig bespoilerten 190er des
Beatle-Trommlers Ringo Starr. Der Wagen
des Popstars hätte auch im Dienst eines
oldenburgischen Rotlichtkönigs gestanden
haben können.
Kaum stilsicherer erscheint das Papamobil, in dem Johannes Paul II. wie ein
Weihnachtsmann in Aspik hochdistanzierte Bäder in der Menge nahm. Die Betrachtung aus der Nähe entzaubert den
mobilen Glaskasten gänzlich. Die schäbig
vergoldeten Felgen und sonstiger Zierrat
wirken wie Kirmestand.
Spielerisch streute Ausstellungsmacher
Merz
noch 33 „Extras“ in die
Schauräume, die wissenswerten Kleinkram rund
um das Automobil erklären, vom Kotflügel
über den Scheibenwischer, vom Autoheiligen
Christophorus bis hin zum
duftspendenden Wunderbaum.
Mythen- und Galerienstrang enden letztlich in
einer mächtigen Steilkurve mit den wichtigsten
Rennfahrzeugen der Firmengeschichte, die regelmäßig über Lautsprecher
mit ihrem eigenen Getöse
aus Originalaufnahmen
Forschungsautos im Untergeschoss: Mäandernde Korridore beschallt werden.
MICHAEL LATZ / AFP
sie einen fröhlichen Kontrast zu den durchweg fensterlosen Gemächern der sakralen
Mythengalerie.
Gar Andeutungen von Selbstironie werden hier sichtbar. Im Galerieraum „Helden
des Alltags“ parkt ein lindgrüner Mercedes
240 D, Baujahr 1982, mit fellbezogenen Sitzen und Anhängerkupplung. Mercedes verbeugt sich damit vor einer rustikalen
Stammklientel, deren Existenz das Firmenmarketing stets wacker verleugnete. „Es
fehlt noch ein speckiger Cordhut auf der
Ablage“, sagt der Stuttgarter Architekt
Hans-Günter Merz, der mit der inneren
Gestaltung des Mercedes-Tempels beauftragt wurde.
Keck driftet der Museumsroutinier an
der Grenze des guten Geschmacks. So
garnierte er die Schauräume mit kitschigen
Devotionalien und stellte auch einen
Leichenwagen in die Heldenauswahl (was
d e r
s p i e g e l
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MICHAEL LATZ / AFP
Eine geballte Ladung Autogeschichte hat
Mercedes sich da vor das Werkstor gepflanzt.
Der Strang der Mythosräume zieht sich
mit eindrucksvoller Klarheit und Stringenz bis in die fünfziger Jahre, um dann in
einer gewissen Beliebigkeit zu enden. Als
Kernthema der Sechziger und Siebziger
präsentiert das Museum Sicherheitstechnik. Kuriose Forschungsautos, die nicht
zwingend Symbole für die enormen Leistungen des Konzerns in dieser Disziplin
sind, lassen den Eindruck entstehen, das
Thema sei nur die Marotte einer Epoche
gewesen.
Nicht ganz überzeugend ist auch der
darauffolgende Raum, der die jüngste Vergangenheit feiern soll, das weltweite
Renommee der Marke, die Zuverlässigkeit
– schließlich werden die Produkte des
Weltkonzerns auch von manchen Qualitätsmängeln geplagt.
Die Ausstellungsstücke, die den hohen
Anspruch der aktuellen Mercedes-Welt
dokumentieren sollen, wirken beliebig:
Eine portugiesische Taxe, die eine Million
Kilometer mit einem Motor schaffte und
danach dummerweise neu lackiert wurde,
steht erklärungsbedürftig im schummrigen Mythenlicht; dazu ein Geländewagen,
der einmal um die Welt fuhr, was Käufer
solcher Autos durchaus erwarten dürfen.
Die S-Klasse aus dem Fuhrpark von Arnold Schwarzenegger hat so gar nichts
Spektakuläres an sich. Hier könnte auch
der Ex-Dienstwagen von Rudolf Scharping
stehen.
Museumsmacher Merz weiß um diese
Mängel und vertröstet Kritiker mit Worten, die auch den Konstrukteuren der
Fahrzeuge nicht ganz fremd sind: „Wir
können da noch nachbessern.“
Christian Wüst
161
Wissenschaft
Eine weitere Last kommt hinzu. Seit das
Gerücht umging, Ulla Schmidt würde die
Naturalrabatte verbieten, stiegen die Lieferungen der Marktführer an die Apotheken
auf wundersame Weise an. Solange es noch
Naturalrabatte gab, haben die Apotheken
ihre Lager mit Produkten von Hexal, Ratiopharm und Stada vollgestopft. Jetzt verkaufen sie diese Produkte – auch wenn der Arzt
ein wirkstoffgleiches Medikament eines kleinen Konkurrenten verschrieben hat. So nahmen die Apotheken Hexal im Januar knapp
54 Prozent mehr Ware ab, als sie an ihre
Kunden weitergaben. Bei Ratiopharm betrug der Einkaufsüberschuss 50 Prozent.
Wie sehr eine weitere Konzentration
das Sparziel der Ministerin gefährdet, zeigt
GE SUN DH EITSKOSTEN
Immer tiefer
in den Sumpf
Trotz aller Reformversuche
der Gesundheitsministerin steigen
die Ausgaben für Arzneimittel
wieder. Daran wird auch ihr jüngstes
Gesetz nichts ändern.
M
Kostenexplosion
Arzneimittelausgaben der
gesetzlichen Krankenversicherung, in Mrd. Euro
25,4
Quelle: BMG
+ 74 %
gegenüber
1991
20,1
14,6
CREAPS / ACTION PRESS
it dem Thema Kostendämpfung
hat Ulla Schmidt, seit sechs Jahren
in drei Berliner Regierungen für
die Gesundheit zuständig, inzwischen viel
Erfahrung. Besonders die Ausgabenflut der
Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
für Medikamente versuchte sie in mehreren Anläufen zu bremsen.
Das deprimierende Ergebnis nach ihren
diversen Kostendämpfungsgesetzen: Die
Mediziner fühlen sich unterbezahlt, die
Ärzte an den Universitätskliniken streiken
seit zwei Monaten. Gleichzeitig verdient
die Pharmaindustrie prächtig. 2005 gaben
die Kassen 25,4 Milliarden Euro für Pillen
und Tropfen aus – 3,6 Milliarden Euro
mehr als ein Jahr zuvor. Rekord!
Jetzt, in ihrer dritten Legislaturperiode,
hat die Ministerin ihren wohl letzten Versuch gestartet. Seit 14 Tagen ist das Arzneimittelversorgungs- und Wirtschaftlichkeitsgesetz (AVWG) in Kraft, mit dessen
Hilfe die Kassen 1,3 Milliarden Euro pro
Jahr bei den Arzneimitteln sparen sollen.
Doch lange bevor der neue Spartext im
Bundesgesetzblatt stand, hatten sich die
Marktteilnehmer wieder einmal auf die zu
erwartenden Ge- und Verbote eingestellt.
„Ulla Schmidt“, feixt ein Pharma-Manager, „hat sich von Gesetz zu Gesetz tiefer
in den Sumpf geregelt.“
Dabei war die Idee, mit der alles begann, durchaus einleuchtend. Das Preisniveau für jene Arzneimittel, die vom
Arzt verschrieben, von der Apotheke verkauft und von den Kassen bezahlt wurden, sollte sinken. Und das konnte, so
überlegten sich Ulla Schmidts Experten,
am besten dadurch geschehen, dass bei
möglichst jeder Verschreibung darauf geachtet wurde, von den Arzneimitteln mit
gleicher Wirkung das preisgünstigste abzugeben.
Also wurden die Ärzte verpflichtet, wo
immer es medizinisch vertretbar ist, nur
den Wirkstoff zu verschreiben. Die Apotheker müssen dazu das passende Präparat
unter den drei preisgünstigsten auswählen.
Doch mit der sogenannten Aut-idemRegelung (lateinisch für: oder das Gleiche)
begann der Verdruss. Denn jetzt gerieten
die Apotheker ins Visier der Marketingstrategen. In einer nie dagewesenen Rabattschlacht schütteten vor allem die drei
16,4
1991
1995
2000
2005
Apothekerin: Ins Visier der Marketingstrategen geraten
großen Anbieter von sogenannten Generika – Arzneien, die nach Ablauf der Patente den Originalen nachgebaut werden – die
Apotheken mit Gratispackungen zu.
Jede Pille umsonst, die gleichwohl mit
den Kassen abgerechnet werden konnte,
mehrte das Vermögen der Pillenverkäufer,
senkte aber nicht die Preise für die Kassen.
Für über 300 Millionen Euro luden so vor
allem die drei größten Generikahersteller
Hexal, Ratiopharm und Stada zuletzt Gratispackungen in den Apotheken ab.
In ihrem neuen Gesetz verbietet die Gesundheitsministerin die Naturalrabatte. Damit ein Teil der eingesparten Kosten der
Hersteller jetzt wirklich ihren Kassen zugutekommt, belegte sie alle Generika, deren
Preis nicht mindestens 30 Prozent unter
dem üblichen liegt, mit einem zehnprozentigen Zwangnachlass zugunsten der GKV.
Schon wieder eine gute Idee – die allerdings schlimme Folgen haben wird: Sie
wird vielen Mitbewerbern der drei großen
Generikafirmen den Garaus machen.
Die Großen waren es, die zuvor für
Hunderte Millionen Euro Rabattware abgegeben haben. Der neue zehnprozentige
Zwangsabschlag tut ihnen nicht weh –
umso mehr aber ihren kleinen Konkurrenten, die schon bei der Rabattschlacht
zuvor nicht mithalten konnten.
d e r
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2 0 / 2 0 0 6
die Preispolitik der drei Großen. Ratiopharm, Hexal und Stada meldeten zum
1. April 2006 für den Wirkstoff Tamsulosin exakt denselben Preis: 29,99 Euro für
50 Stück. Und für Omeprazol verlangen
die Großen zum 15. März für 100 Stück
genau 99,95 Euro.
Der verzweifelte Versuch Schmidts, mit
immer neuen Regeln den Wettbewerb auf
dem Arzneimittelmarkt zu fördern und
somit die Preise zu senken – er wird wohl
erneut scheitern. Selbst für das jetzt
verbotene Schmieren der Apotheker mit
Gratisschachteln haben die findigen Arzneimittelanbieter Ersatz gefunden. Die
Großen der Branche nehmen jetzt die
Krankenhäuser ins Visier. Ihr Kalkül: Wem
dort die Nachtschwester ein bestimmtes
Medikament von einem bestimmten Hersteller bringt, der wird ein treuer Kunde.
„Gültig bis 12. März 2007“ etwa bietet
Hexal den Krankenhäusern Wirkstoffe wie
Captopril für den symbolischen Preis von
einem Cent pro Pille an.
Mit diesen Dumpingpreisen allerdings
könnten die großen Generikahersteller
Probleme bekommen. Solche Rabatte verstießen, so ließ Ulla Schmidt vorigen
Dienstag die Krankenhaus-Apotheker vorsichtshalber schriftlich warnen, gegen das
Wettbewerbsrecht.
Heiko Martens
163
Frisch entstandene Nervenzelle (grün) im Gehirn einer erwachsenen Maus (Mikroskop-Aufnahme): Neue Neuronen für neue Erinnerungen
Hirn, kuriere dich selbst!
Forscher erkunden einen Jungbrunnen im erwachsenen Gehirn. Geistige Aktivität, soziale Kontakte,
aber auch körperliche Bewegung lassen neue Nervenzellen sprießen – was den Geist bis ins
hohe Alter flexibel hält. Wenn die Neuronen-Produktion erlahmt, drohen Alzheimer und Depression.
D
er Hirnforscher Jeffrey Macklis bietet seinen Mäusen jeden Tag etwas
Neues zum Schnuppern: Mal bläst
er ihnen den Geruch von Schokolade in
den Käfig, dann lässt er sie Wolken aus
Rosenwasser einatmen.
Den Tieren eröffnet er damit eine unbekannte Welt. Denn aufgewachsen in ei164
nem geruchsdichten Quartier, lebten sie
bisher stets im eigenen Mief. Keinen einzigen der vielen Dutzend Düfte, die sie
plötzlich zu schnüffeln bekommen, haben
sie jemals zuvor verspürt. Wie wird ihr Gehirn auf die unbekannten Reize reagieren?
Erstmals ist es Macklis und seinen
Kollegen am Center for Nervous System
d e r
s p i e g e l
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Repair des Massachusetts General Hospital und der Harvard Medical School in
Boston gelungen zu erspähen, was genau
im Riechhirn der Tiere passiert. Die
Forscher verfolgten dazu das Schicksal
neuer Nervenzellen, die in bestimmten
Regionen des Vorderhirns entstehen und
dann in den Riechkolben wandern, von
Titel
Ein Jungbrunnen im Gehirn? Neue
Denkkraft dank neuer Zellen? Bis vor
kurzem noch hätte man Macklis und Goldberg als Phantasten abgetan. Denn der
Mediziner aus Boston und der Neuropsychologe aus Manhattan rütteln an einem
Dogma, das ein Jahrhundert lang als unumstößlich galt: Schon im Säuglingsalter
hören Nervenzellen demnach auf, sich zu
teilen. Das Gehirn könne sein Leistungsvermögen bestenfalls auf einem bestimmten Niveau halten – und entwickle sich im
Alter meistens sogar zurück.
Doch nun tragen Neurologen, Biochemiker und Ärzte immer mehr Hin-
Besonders ermutigend: Die neuen Neuronen, die da in alten Köpfen sprießen,
erweisen sich als überdurchschnittlich
vielseitig. Aus diesem Grund tragen die
Tausendsassas wohl entscheidend zu den
erstaunlichen Leistungsreserven bei, die es
dem Gehirn erlauben, schwierige und
unerwartete Aufgaben zu bewältigen. „Vermutlich ist die Neurogenese eine wesentliche Voraussetzung dafür, bis ins hohe
Alter geistig fit zu bleiben“, meint Kempermann, 40.
Ob einem der Verstand das Leben lang
erhalten bleibt, ist demnach nicht mehr nur
den Genen überlassen. Vielmehr entscheidet
CHUNMEI ZHAO / SALK INSTITUTE (L.); LEONIE / JUMP (R.)
wo aus die Verarbeitung von Gerüchen
erfolgt.
Die Forscher stellten nun fest: Wenn es
am Tag ihrer Entstehung unbekannte Düfte zu schnuppern gibt, dann reifen die Neulinge zu besonders aktiven Nervenzellen
und integrieren sich nach zwei bis drei Wochen in die Schaltkreise des Gehirns. Sie
entwickeln lange Fortsätze und knüpfen eifrig Verbindungen (Synapsen) zu anderen
Neuronen. Im Gegensatz dazu sind die alteingesessenen Nervenzellen, die sich schon
vorher im Riechkolben vernetzt haben,
durch einen neuen Geruch kaum mehr zu
erregen. Mit jedem Duft wird also eine frische Generation von Riechzellen geprägt
und im Gehirn verankert. „Die neuen Nervenzellen ersetzen nicht einfach die alten“,
sagt Macklis, 47. „Vielmehr haben sie eine
eigene Aufgabe: das Lernen neuer Gerüche.“
Neue Nervenzellen für neue Erinnerungen – an diese Formel glaubt auch Elkhonon Goldberg, Autor und klinischer Psychologe von der New York University in
Manhattan. In seiner zwei Blocks südlich
vom Central Park gelegenen Praxis suchen
ihn immer wieder alte Menschen auf, die
ständig ihre Schlüssel verlegen, die Herdplatte anlassen oder nicht mehr wissen, was
auf der Buchseite steht, die sie gerade gelesen haben.
Gegen ihre Vergesslichkeit verschreibt
ihnen Goldberg, 59, ein Trainingsprogramm, das die verschiedenen kognitiven Funktionen ansprechen soll: das Erinnern von Wörtern, die geistige Beweglichkeit, das räumliche Denken. Dazu hat der
Psychologe rund 200 Tests gesichtet, wie
man sie für gewöhnlich bei der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten einsetzt, und
knapp 60 Aufgaben zu einem Anti-Schusseligkeits-Programm zusammengestellt:
Zweimal in der Woche gilt es jeweils eine
Stunde lang unterschiedliche Aufgaben auf
dem Computer zu lösen. Beispielsweise
müssen die vergesslichen Menschen herausfinden, nach welchen Gesetzmäßigkeiten bunte Dreiecke, Quadrate und Kreise
auf dem Bildschirm angeordnet sind.
Am Ende des Programms, das auf jeweils drei Monate angelegt ist, überprüft
Goldberg, ob die Übungsstunden auch
tatsächlich das Erinnerungsvermögen seiner Schützlinge im Alltag verbessern. Nach
bisher 100 Teilnehmern zeigt sich Goldberg von den Ergebnissen „angenehm beeindruckt“. Bei etwa 60 Prozent der Patienten wurde der schleichende Verlust des
Erinnerungsvermögens gestoppt, bei 30
Prozent sei das Gedächtnis sogar besser
geworden.
„Unsere Erfolge gehen vermutlich darauf zurück, dass im Gehirn frische Nervenzellen heranwachsen“, sagt Goldberg,
der sein Programm gegenwärtig überarbeitet und künftig als Software für zu Hause anbieten will. „Denn mit kognitiver Aktivität kann man die Entstehung neuer
Neuronen gezielt anregen.“
Urlauber beim Tai Chi am Strand: Dünger fürs Denkorgan
weise für einen gegenläufigen Trend
zusammen: Stund um Stund kommen unter dem Schädeldach junge Nervenzellen auf die Welt. Verdutzt und voller Ehrfurcht erkennen die Forscher: Die Neubildung der Nervenzellen, wissenschaftlich Neurogenese genannt, hält bis ins
Greisenalter an und scheint unentbehrlich
für das normale Funktionieren des Denkorgans.
„Wir fangen jetzt an, das Gehirn aus einer völlig neuen Perspektive zu sehen“,
urteilt Gerd Kempermann vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in
Berlin, der soeben das erste Lehrbuch zum
Thema vorgelegt hat*. „Es gibt da eine positive Tendenz: Die Entwicklung des Gehirns hält ein Leben lang an.“
* Gerd Kempermann: „Adult Neurogenesis“. Oxford University Press, New York; 426 Seiten; 66,90 Euro.
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die Lebensführung wesentlich über Wohl
und Wehe neuer Nervenzellen mit. Zu funktionstüchtigen Neuronen wachsen diese
offenbar nur dann heran, wenn man ihnen
etwas bietet: Lernreize und geistige Herausforderung. Aber auch körperliche Betätigung, das erkennen die Gelehrten, wirkt wie
Dünger fürs Gehirn. Bleiben dagegen Anregungen und Aktionen aus, geht gerade bei
alten Menschen ein großer Teil des Nervennachwuchses schnell wieder zugrunde.
„Die Leute halten das Gehirn für einen
unveränderlichen Computer“, sagt der
Neurowissenschaftler Fred Gage vom Salk
Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla. „Dabei ist es ein formbares Organ aus Fleisch, Blut und Nervenzellen. Veränderungen in diesem Organ
kann man selbst kontrollieren.“
James Watson, Mitentdecker der Struktur des Erbmoleküls DNA und inzwischen
165
ALL ACTION DIGITAL / ACTION PRESS
Titel
Violinistin Vanessa Mae: Funktionstüchtig werden neue Nervenzellen nur dann, wenn ihnen Lernreize geboten werden
78 Jahre alt, führt seine geistige Frische
auch darauf zurück, dass er sich regelmäßig mit weitaus jüngeren Tennispartnern misst. Die wichtigste Herausforderung der Medizin, urteilt Watson, liege
vielleicht gar nicht darin, ein Mittel gegen
Krebs zu finden. Dringender geboten sei es
womöglich, in alternden Gehirnen die
Fähigkeit zur Produktion neuer Nervenzellen zu erhalten.
Die Entdeckung der Neurogenese verändert gegenwärtig nicht nur das Bild des gesunden Hirns, sondern auch das Verständnis
davon, warum und wie Gehirne erkranken.
Die Alzheimersche Demenz und die Parkinsonsche Schüttellähmung etwa führte
man bisher immer auf das Absterben alter
Nervenzellen zurück. Nun denken Ärzte
um: Brechen die beiden unheilbaren Krankheiten in Wahrheit deshalb aus, weil keine
neuen Neuronen mehr geboren werden?
Auch für Lernstörungen und Depressionen, für Alkoholismus, Nikotinsucht und
schizophrene Psychosen diskutieren Mediziner inzwischen intensiv die Bedeutung
der Neurogenese. Deren Erforschung habe
sich „zu einem der interessantesten und
vielversprechendsten Projekte der modernen Neurowissenschaften und insbesondere auch der molekularen Psychiatrie entwickelt“, berichtet das Fachblatt „Der Nervenarzt“.
166
Manches, was die Forscher entdecken,
erscheint ihnen noch rätselhaft. So beschränkt sich die natürliche Neurogenese
auf Teile des Vorderhirns und auf eine Region des Hippocampus, der fürs Lernen
von grundlegender Bedeutung ist. Doch
finden sich auch in fast allen anderen Winkeln des Oberstübchens neuronale Stammund Vorläuferzellen. Diese sind teilungsfähig und haben das Potential, zu vollwertigen Neuronen heranzureifen. Bloß, sie
tun es nicht. Sie liegen vielmehr in einer
Art Dornröschenschlaf. Warum nur?
Die schlummernden Zellen zu wecken
und zum Wachstum anzuregen wäre ein
Traum der Medizin – und der Gruppe von
Jeffrey Macklis in Boston ist es zumindest
in Mäusen und Vögeln bereits gelungen. Etliche Pharmafirmen suchen seither
nach Pillen und Therapien, um späterhin
das brachliegende Potential aktivieren zu
können. Hirn, so lautet das Motto, kuriere
dich selbst!
Diese Hoffnung fußt auf einem Phänomen, das die Neurowissenschaft das
vorige Jahrhundert hindurch beharrlich in
Abrede gestellt hat. Wie ein Verdikt wirkte die Ansicht des spanischen Hirnforschers und Nobelpreisträgers Santiago
Ramón y Cajal, der 1928 schlicht befand:
„Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr und unveränderlich. Ald e r
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les kann sterben, aber nichts kann regenerieren.“
Zwar regten sich schon bald Zweifel an
der Lehrmeinung. Doch jene Experimentatoren, die sie äußerten, wurden von
ihren Kollegen nur verlacht. Joseph Altman vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge verabreichte
Wie Nervenzellen entstehen:
Neurale Stammzellen vermehren sich
durch Zellteilung.
Neurale
Stammzellen
in den sechziger Jahren erwachsenen
Ratten, Katzen und Meerschweinchen radioaktiv markierte Bausteine der Erbsubstanz DNA.
Anschließend spürte Altman die markierten Bausteine in der DNA von Nervenzellen auf: Sie waren also bei der Zellteilung in den Zellkern eingebaut worden
– ein Beweis dafür, dass sich im Gehirn
neue Neuronen gebildet hatten. Die Fachwelt jedoch ignorierte Altmans Befunde. Eine Festanstellung am renommierten MIT blieb ihm verwehrt – er fand
nur im fernen Indiana eine Stelle
und ward fortan vergessen.
Zehn Jahre später zeigte Michael Kaplan
von der University
in New Mexico
elektronenmi-
kroskopische Aufnahmen herum, auf denen frisch entstandene Nervenzellen zu
sehen waren. Aber auch er stieß auf Ignoranten. Der damals einflussreiche Hirnforscher Pasko Rakic von der Yale University
in New Haven, Connecticut, erinnert sich
Kaplan, habe den Befund hochmütig kommentiert: „Die Zellen mögen in New Mexico wie Neuro-
nen aussehen, aber in New Haven tun sie
es nicht.“
Rakic ersann sogar eine Theorie, warum
menschliche Nervenzellen sich gar nicht
teilen könnten: Irgendwann im Lauf der
Menschwerdung hätten unsere Urahnen
die Fähigkeit, neue Nervenzellen zu bilden, eingetauscht gegen das Vermögen, bei
In fast allen Regionen des Gehirns
finden sich neurale Vorläuferzellen, die
sich rätselhafterweise jedoch nicht zu
Nervenzellen teilen. Ärzte wollen die
schlummernden Zellen mit Arzneien zum
Wachstum anregen und auf diese Weise
die Folgen von Schlaganfällen und anderen Erkrankungen kurieren.
Seitenventrikel
des Vorderhirns
Aus dem Vorderhirn wandern
die frischgeborenen Neuronen
in den Riechkolben, von wo aus
Gerüche verarbeitet werden.
Die neuen Nervenzellen werden
in die Schaltkreise integriert,
wenn es neue Düfte zu riechen
gibt: Auf diese Weise lernt das
Gehirn neue Gerüche.
Hippocampus
Riechkolben
Jungbrunnen
im Kopf
Produktion neuer Nervenzellen
im erwachsenen Gehirn
Ein Teil der neuen Zellgeneration besteht aus neuralen
Vorläuferzellen.
Die jungen Nervenzellen im Hippocampus reifen offenbar nur dann
zu fertigen Neuronen heran, wenn es
neue und wichtige Lerninhalte zu
speichern gibt. Eine gestörte Neuronen-Produktion bringen Ärzte mit einer Reihe von Gehirnerkrankungen
wie Alzheimer, Parkinson oder Alkoholsucht in Verbindung.
In Teilen des Vorderhirns
sowie des Hippocampus entstehen aus Vorläuferzellen
jeden Tag neue Nervenzellen.
Aus einigen Vorläuferzellen
entstehen sogenannte
Gliazellen. Sie bilden das
Stützgewebe des Nervensystems.
Axon mit Schutzhülle
Neuron
Andere Vorläuferzellen reifen zu Nervenzellen heran. Sie bilden lange, faserartige Fortsätze (Axone). Über diese Leitungsbahnen werden die Nervenimpulse
übertragen. An ihrem Ende verzweigen sich die Axone zu einem Geflecht von
Tentakeln, deren Endköpfe Verbindungen zu anderen Nervenzellen bilden (Synapsen). An Millionen solcher Kontaktstellen werden unentwegt Signale
übermittelt.
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Synapsen
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Titel
Besonderheit der Vögel. Doch kaum hatten
sich die Forscher auf die Suche gemacht,
wurden sie allerorten fündig: Frösche, Eidechsen, Nagetiere und Affen – sie alle
verfügen über Neurogenese. Warum sollte
der Mensch da eine Ausnahme bilden?
Der Beweis jedoch war lange schwierig
beizubringen: Dazu hätte man radioaktives
Material an Testpersonen verfüttern und
diese – zur Obduktion der Gehirne – wenig später töten müssen.
Doch dann, im Jahr 1998, dämmerte es
schwedischen und amerikanischen Hirnforschern: Vielen schwerkranken Krebspatienten werden ja radioaktiv markierte
DNA-Bausteine in den Körper injiziert. Auf
diese Weise versuchen die behandelnden
Ärzte zu erkennen, wie viele neue Tumorzellen in den Geschwülsten entstehen.
Da aber die markierte DNA in jede sich
teilende Körperzelle eingebaut wird, so die
damalige Überlegung, müssten sich in behandelten Patienten neuentstandene Neuronen ebenso nachweisen lassen. Die Forscher studierten fünf Menschen mit fort-
GRANGER COLLECTION / ULLSTEIN BILDERDIENST
gleichbleibender Neuronenzahl Erinnerungen zu speichern. Im Gehirn des Homo
sapiens sei aus Stabilitätsgründen kein
Platz mehr für neue Nervenzellen.
Am Ende trugen singende Kanarienvögel maßgeblich dazu bei, das Dogma zu
Fall zu bringen. Jedes Frühjahr trillern die
Männchen ihr Lied, im Lauf des Sommers
jedoch verlieren sie ihr Repertoire wie alte
Federn in der Mauser – um im nächsten
Frühling die Weibchen mit neuen Melodien zu bezirzen.
Dem Biologen Fernando Nottebohm
von der Rockefeller University in Manhattan kam unter der Dusche die Idee, wie die
Vögel das hinbekommen: Das mit den alten Melodien angefüllte Hirnareal der Kanarienvögel stirbt einfach ab und wird im
nächsten Frühjahr gegen neue Zellen ausgetauscht. Experimente mit radioaktiven
DNA-Bausteinen bestätigten die Vermutung: Tatsächlich produzieren die Männchen jeden Tag Abertausende Neuronen.
Zwar glaubten anfangs manche, das
Nachwachsen des Hirngewebes sei eine
ANDREE KAISER / CARO
Histologische Zeichnung von Cajal, Hirnforscher
Bibliothek an der Universität Freiburg: Schlummernde Neuronen wecken
Familie beim Fernsehen: Erhöhtes Alzheimer-Risiko
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geschrittenem Kehlkopfkrebs. Nachdem
diese ihrem Tumorleiden erlegen waren,
wurden ihre Schädel geöffnet. Der Befund:
Noch bis zum Schluss hatten sich in allen
Gehirnen frische Nervenzellen gebildet.
Seither gilt als sicher: Tag für Tag kommen im Hippocampus eines Erwachsenen
einige tausend Nervenzellen hinzu. Im Vergleich zu den etwa hundert Milliarden Neuronen, aus denen das Gehirn besteht, mag
die Zahl der Novizen gering und unerheblich erscheinen. Dafür jedoch verfügen die
Nachwuchszellen noch über eine Erregbarkeit, die den alteingesessenen Neuronen
längst abhandengekommen ist. „Es genügen
offenbar bereits wenige neugebildete Zellen“, so der Berliner Hirnforscher Kempermann, „um die Netzwerkarchitektur des
Gehirns grundlegend zu verändern.“
So schenken die flexiblen Neulinge dem
Gehirn womöglich erst jene Wandlungsfähigkeit, deren Ausmaß man in den vergangenen Jahren erkannt hat. Wer beispielsweise im Erwachsenenalter mit dem
Jonglieren beginnt, der lässt sein Gehirn
dadurch gezielt wachsen – das haben Neurologen aus Jena und Regensburg als Erste
entdeckt und 2004 in der Fachzeitschrift
„Nature“ verkündet.
Die Wissenschaftler ließen Menschen,
die im Durchschnitt 22 Jahre alt waren,
drei Monate lang das Jonglieren lernen.
Die zwölf geschicktesten Kandidaten konnten am Ende drei Bälle mindestens eine
Minute lang in der Luft halten. Ihre Gehirne wurden per Kernspin durchleuchtet,
und zwar vor dem Training, direkt danach
und nach einer drei Monate langen Jonglierpause. Als Vergleich dienten die Gehirne untrainierter Probanden.
Nach drei Monaten, so zeigte sich, hatten
sich die Jongleur-Gehirne beidseitig an den
Cajal (um 1906): „Im erwachsenen Gehirn sind die Nervenbahnen starr und unveränderlich“
Seitenlappen verändert. Im sogenannten
intraparietalen Sulcus, der auf die Wahrnehmung von Objekten spezialisiert ist, war
eine deutliche Vergrößerung zu erkennen.
Nach der Trainingspause bildete sich der
Anbau im Kopf teilweise wieder zurück.
Menschen, die eine Fremdsprache lernen, verändern ebenfalls ihr Gehirn: Die
Dichte der grauen Substanz in einem ganz
bestimmten Areal des linken Kortex steigt.
Das fanden Linguisten vom University College London heraus, als sie die Gehirne
von 105 Menschen, 80 davon waren zweisprachig, mit bildgebenden Verfahren untersuchten. Zwar ist der Effekt bei Kindern besonders ausgeprägt. Aber auch wer
später im Leben Vokabeln paukt, erhöht
merklich die Dichte seiner Denkzellen.
Weder bei den Jongleuren noch bei den
Zweisprachigen allerdings konnten die Forscher bisher klären, welche Zauberkräfte
da genau im Kopf walten. Denn die erstaunliche Wandlungsfähigkeit des Gehirns,
in der Fachsprache Plastizität genannt, geht
auf mindestens drei verschiedene Mechanismen zurück: Zum einen können sich
binnen Sekunden die vorhandenen Synapsen zwischen den Neuronen verstärken –
anders wäre nicht erklärlich, dass der
Mensch sich an das erinnert, was er soeben
gehört, gefühlt oder gerochen hat.
Überdies aber können – meist im Verlauf von Stunden – neue Synapsen sprießen. Das Netzwerk der Nervenzellen
verschaltet sich also ständig aufs Neue, Erinnerungen werden auf diese Weise dauerhafter verankert.
Mit der Neurogenese schließlich kommt
nun ein weiterer Mechanismus hinzu, der
viele Tage dauert und das Gehirn womöglich besonders nachhaltig verändert. Studie um Studie stütze die These, dass das
Nachwachsen von Hirnzellen im erwachsenen Gehirn „ein wichtiger Bestandteil der
neuronalen Plastizität“ ist, berichten die
Psychiater Johannes Thome und Amelia
Eisch in „Der Nervenarzt“.
Das könnte bedeuten: Die wenigen, aber
ungemein vielseitigen Neu-Neuronen haben maßgeblich Anteil daran, dass sich das
Gehirn das ganze Leben hindurch verformen kann. So wie ein Muskel unter Belastung wächst, so gedeihen die grauen Zellen,
wenn man sie fordert: Die frischen Neuronen im Riechkolben etwa entfalten sich,
wenn sie auf neue Düfte stoßen. Und die
neuen Nervenzellen im Hippocampus gedeihen und reifen, wenn sie auf Eindrücke
treffen, die zu erinnern sich lohnt.
KARGER-DECKER / INTERFOTO
eine häufige Beobachtung bei krebskranken Menschen nahe: Durch Medikamente,
die das Tumorwachstum hemmen sollen,
wird vorübergehend auch die Neurogenese stillgelegt – und viele Patienten klagen
während solch einer Chemotherapie darüber, dass sie sich nicht mehr gut an Dinge des Alltags erinnern können.
Auch Untersuchungen auf molekularer
Ebene deuten darauf hin, dass der Neurogenese eine Schlüsselfunktion fürs Lernen
zukommt. So fanden Forscher vom Physiologischen Institut der Universität Freiburg heraus: Neue Nervenzellen sind leichter zu erregen als alte, und sie können ihre
Synapsen zu umliegenden Neuronen
schneller abschwächen und verstärken –
Ein interessanter Job hält gesund – und der vorgezogene
Ruhestand ist vielleicht ein fataler Schritt in die Verdummung.
Denn der Hippocampus ist eine Art Eingangspforte des menschlichen Gedächtnisses. Alles was ins Langzeitgedächtnis abgelegt wird, muss durch dieses Törchen
hindurch. Die einlaufenden Informationen
werden vom Hippocampus sortiert, so dass
man sich beispielsweise an die chronologische Abfolge von Erlebnissen erinnern kann.
Hapert es jedoch mit der Neurogenese,
dann ist der Hippocampus seiner Aufgabe
nicht mehr gewachsen. In etlichen Tierversuchen wurden die sich teilenden Zellen im
Hippocampus gezielt mit Strahlen oder Zellgiften abgetötet – die Tiere waren danach
lerngestört. Andere Forscher legten das Neuronenwachstum im Hippocampus mit Hilfe
von Viren lahm: Das Langzeitgedächtnis der
so traktierten Tiere war fortan getrübt.
Das scheint beim Menschen nicht grundsätzlich anders zu sein. Das zumindest legt
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das alles sind Fähigkeiten, die fürs Lernen
und Erinnern eine zentrale Rolle spielen.
So könnte sich die Neurogenese als der
lange gesuchte Mechanismus erweisen,
über den die Umwelt das Gehirn formt und
prägt. Jedenfalls zeigt sich in empirischen
Untersuchungen ein ums andere Mal: Wer
ein körperlich und geistig aktives Leben
führt, der scheint sein Gehirn vor unliebsamen Verfallserscheinungen im Alter zu
schützen.
Forscher aus Chicago zum Beispiel führten eine Erhebung unter 642 alten Menschen mit unterschiedlicher Ausbildung
durch: Jedes Studienjahr senkte das Alzheimer-Risiko um 17 Prozent. Auch weitere Ergebnisse legen nahe, dass eine formale Ausbildung vor Alzheimer schützt.
Ende der achtziger Jahre trat der kalifornische Neurologe Robert Katzman an,
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REA / LAIF
Titel
Versuchsmaus im Orientierungs- und Gedächtnistest: Nervtötender Stress
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Friedland von der Case Western Reserve
University in Cleveland, Ohio: „Ich glaube,
das alles ist irgendwie mit dem Lernen verbunden.“ Ein interessanter Job hält demnach gesund – und der vorgezogene Ruhestand ist vielleicht ein fataler Schritt in die
Verdummung.
Wer als Rentner mit seinen Enkeln in den Zoo geht und abends
mit Freunden zum Italiener, hält sein Gehirn jung.
Zumindest sollte sich, wer sich zur
Ruhe setzt, vorm Fernsehen hüten – es
erhöht Friedman zufolge das Risiko, an
Alzheimer zu erkranken. Die Forscher
befragten die Verwandten und Partner
von 135 Alzheimer-Patienten nach deren Aktivitäten vor Ausbruch der Krankheit. Die Antworten verglichen sie mit
Auskünften von 331 gesunden Kontrollpersonen.
ZACH VEILLEUX / ROCKEFELLER UNIVERSITY
das Phänomen genauer zu erklären. Seiner
Idee zufolge vergrößert das viele Denken
und Pauken die Dichte der neuronalen
Verbindungen im Gehirn – und erhöht auf
diese Weise die „kognitive Reserve“. Je
größer das geistige Gepäck eines Menschen sei, desto besser könne sein Gehirn
den Verlust von Zellen durch Krankheit
und Alter verkraften.
Bestätigt wurde Katzmans Modell 15
Jahre später. Dazu hatten Altersforscher
130 katholische Geistliche und Nonnen zu
Lebzeiten einigen kognitiven Tests unterzogen und, nach dem natürlichen Tod, ihre
Gehirne obduziert. Egal, ob die Untersuchten besonders gut oder eher schlecht
ausgebildet waren: Die typischen Plaques,
die sich im Alzheimer-Hirn ablagern, fanden sich in den Gehirnen gleich häufig.
Allerdings zeigte sich, dass die Denkorgane durch diese Ablagerung unterschiedlich stark beeinträchtigt waren: Die
Menschen mit der besseren Ausbildung
hatten kognitive Fähigkeiten im Alter wesentlich besser erhalten als die schlichter
strukturierten Personen. Mehr noch: Die
Gutausgebildeten zeigten erst dann Alzheimer-Symptome, als sie fünfmal so viele Plaques im Kopf hatten wie die weniger
gebildeten Vergleichspersonen. Anscheinend verfügten sie tatsächlich über eine
beträchtliche kognitive Reserve. Ihre Ausbildung und die damit einhergehende
Denklust halfen ihrem Gehirn, die beginnende Erkrankung zu tolerieren und zu
kompensieren.
Lesen, aber auch Kartenspielen, Handarbeiten oder Puzzeln – all das erhalte die
Denkkraft, sagt der Neurologe Robert
Die in der Zeitschrift „Brain and Cognition“ vorgelegten Ergebnisse offenbaren,
dass die Alzheimer-Kranken einen weitaus
größeren Teil ihrer Lebenszeit vor der Flimmerkiste verbracht hatten als ihre gesunden
Altersgenossen: Mit jeder Stunde, die die
Befragten durchschnittlich in ihrem Leben
vor dem Fernseher verbracht hatten, wuchs
das Alzheimer-Risiko um den Faktor 1,3.
Das muss freilich nicht bedeuten, dass
Programminhalte selbst den Geist verkümmern lassen. In jedem Fall aber ist
langer und regelmäßiger TV-Konsum Hinweis auf ein geistig träges Leben – und das
wiederum macht anfällig für Alzheimer.
Im Unterschied zu dieser Demenz, die
mit dem vollständigen Verlust der Persönlichkeit enden kann, gilt der altersbedingte Rückgang der geistigen Leistungsfähigkeit nicht als Krankheit. Gleichwohl kann
man auch dieser harmloseren Schusseligkeit gezielt entgegenwirken, wie Ulman
Lindenberger und Martin Lövdén vom
Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung voriges Jahr im Fachblatt „Psychology and Aging“ berichteten.
Die Psychologen hatten 516 Berliner
Bürger im Alter von 70 bis über 100 Jahren
in ihrer Entwicklung beobachtet und das
Ausmaß ihrer „sozialen Teilhabe“ erfasst.
In Interviews fragten sie die alten Menschen, ob sie jeweils am Tag zuvor andere
Menschen besucht oder selbst Besucher
empfangen hatten. Überdies wurden Hobbys sowie Besuche in Restaurants, von
Tanztreffen und kulturellen Veranstaltungen auf „Aktivitätslisten“ festgehalten.
Biologe Nottebohm
Geheimnis des Vogelgesangs enthüllt
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Das Ergebnis: Jene Senioren, die ein sozial reiches Leben führten, zeigten im Laufe der acht Jahre „einen geringeren Verlust
an kognitiver Leistungsfähigkeit als Personen mit einem niedrigeren Ausmaß an sozialer Teilhabe“.
Vor allem aber konnte die Untersuchung
auch klären, wie Ursache und Wirkung
zusammenhängen. Vorstellbar wäre ja gewesen, dass Menschen mit größerer Denkkraft einfach nur dazu neigen, ein besonders anregendes Dasein zu führen. In diesem Fall hätte der Lebenswandel keinerlei
Einfluss auf den Alterungsprozess im Kopf.
Lindenberger und Lövdén jedoch konnten
nachweisen, dass dem nicht so ist: Vielmehr
ist es tatsächlich das sozial aktive Leben
selbst, das den altersbedingten Denkschwund
aufhält. „Die schützende Funktion hoher sozialer Teilhabe besteht vermutlich in ihrer
stimulierenden Wirkung auf Gehirn und
Verhalten“, resümieren die Wissenschaftler.
Bezogen auf den Alltag bedeuten ihre
Befunde: Wer als Rentner nach der Matinee mit den Enkelkindern durch den Zoo
streift und abends Freunde beim Italiener
trifft, hält sein Gehirn nachweislich jung.
Titel
„Ohne Gefühl wird nichts behalten“
Der Hirnforscher Eric Kandel über Gedächtnistraining und die Pille gegen das Vergessen
in der Severingasse 8 in Wien, spielte ein
Kind mit einem blauen Spielzeugauto …
Kandel: … der kleine Junge, dem es
gehörte, war ich. Ich hatte das Auto
zum neunten Geburtstag geschenkt bekommen. Ein paar Tage später kam die
Gestapo und holte uns aus unserer
Wohnung. Als sie uns eine Woche später
wieder zurückkehren ließ, waren die
meisten Gegenstände aus der Wohnung
abtransportiert – unter anderem mein
geliebtes Spielzeugauto.
SPIEGEL: Während der Niederschrift Ihrer
soeben erschienenen Biografie haben Sie
versucht, diese und andere Erinnerungen
gezielt in ihr Gedächtnis zu rufen*.
Waren Sie zufrieden mit Ihrem Erinnerungsvermögen?
Kandel: Ich glaube, man kann da nie ganz
zufrieden sein. Aber vieles ist in lebhafter Erinnerung. Schlimmes wie auch
Schönes. Nehmen Sie unser Kindermädchen Mitzi. Eines Nachmittags saß diese
blühende junge Frau an meinem Bett, öffnete ihre Bluse, zeigte ihren Busen und
fragte mich, ob ich sie berühren wolle.
Mit meinen acht Jahren begriff ich kaum,
wovon sie redete; und doch fühlte ich
mich anders als jemals zuvor.
SPIEGEL: Haben Sie bei sich irgendwelche
Regeln ausgemacht, warum Sie manches
behalten, anderes aber vergessen haben?
Kandel: Ja, ein Geschehnis muss wichtig
für mich sein. Während es geschieht,
muss ich meine Aufmerksamkeit darauf
richten. Ohne Aufmerksamkeit wird
nichts behalten – und ohne dass es
für meine Gefühle bedeutend ist, auch
nicht.
SPIEGEL: Macht es fürs Erinnern einen
Unterschied, ob eine Erfahrung gut oder
schlecht war?
JÜRGEN FRANK
SPIEGEL: Professor Kandel, vor 68 Jahren,
Neurobiologe Kandel
„Es gibt so viele jämmerliche Erlebnisse“
nämlich rasch wieder ihre Bluse geschlossen und begründete es damit, ich
könnte schwanger werden. Instinktiv
dachte ich, sie müsse sich irren, und dennoch ließ mich der Gedanke, ich könnte
schwanger werden, erschrecken.
SPIEGEL: Was geschah in Ihrem Gehirn,
als diese Gefühlswallungen darin festgeschrieben wurden?
Kandel: Wir wissen, dass es im Gehirn
viele hemmende Komponenten gibt, beispielsweise ein Protein namens Creb-2,
das Erinnerungen unterdrückt. Diese
Hürden muss man überwinden, um
Dinge abzuspeichern. Es ist also eine
Balance zwischen unterdrückenden und
„Speicherplatz ist nicht der begrenzende Faktor, aber wir wollen
im Kopf Platz freihalten für Kreativität und neue Ideen.“
Kandel: Nicht unbedingt. Als ich Mitzi
sah, war das ein wunderbarer Anblick –
und zugleich spürte ich eine Entbehrung.
Das sind die Extreme menschlicher Erfahrung: Vergnügen zu spüren – und des
Vergnügens beraubt zu werden. Sie hat
* Eric Kandel: „Auf der Suche nach dem Gedächtnis“.
Siedler Verlag, München; 524 Seiten; 24,95 Euro.
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verstärkenden Prozessen. Gefühle schalten diese hemmenden Faktoren schlichtweg aus.
SPIEGEL: Zum Erinnern gehört auch das
Vergessen. Ist das gut für den Menschen?
Kandel: Ja, es gibt so viele jämmerliche
Erlebnisse. Anderes ist einfach unwichtig,
auch das will man lieber vergessen.
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SPIEGEL: Warum eigentlich? Gibt es einfach nicht genug Speicherplatz in den
grauen Zellen?
Kandel: Speicherplatz ist an sich nicht der
begrenzende Faktor. Aber wir wollen
Platz im Kopf freihalten für Kreativität,
für das Herumspielen mit Ideen. Menschen, die ein traumhaftes Gedächtnis
haben, fühlen sich elendig. Sie haben das
Gefühl, ihr Gehirn sei voller Müll.
SPIEGEL: Mit Ihrer Firma Memory Pharmaceuticals suchen Sie nach einer Pille,
die das Gedächtnis verbessern soll.
Kandel: Wir versuchen, Medikamente zu
entwickeln gegen Gedächtnisverlust, wie
er durch Gemütskrankheiten und durch
den Alterungsprozess auftritt. Wir kommen da ganz gut voran und haben einige
Substanzen in klinischen Versuchen.
SPIEGEL: Glauben Sie, so etwas Vielschichtiges wie das Erinnerungsvermögen durch
eine simple Pille kurieren zu können?
Kandel: In Versuchstieren funktionieren
diese Substanzen außergewöhnlich gut.
Bei Mäusen mit Gedächtnisverlust war
der Effekt sogar dramatisch. Wenn Sie
eine Maus wären, könnten wir viel für
Sie tun.
SPIEGEL: Was aber, wenn wir gar nicht beeinträchtigt wären, aber dieses Gespräch
hier gern etwas besser behalten wollten?
Wäre es gut, eine Pille geschluckt zu
haben?
Kandel: Das ist eine andere Frage. Das
eine ist: Würde Ihr Gedächtnis verbessert? Vermutlich. Ist das gut für Sie? Vermutlich nicht. Bedenken Sie, jede Arznei
hat Nebenwirkungen. Im Falle einer Beeinträchtigung nehmen Sie diese gern in
Kauf, weil ein gestörtes Gedächtnis so
furchtbar ist. Aber wenn Sie jung und vital sind, dann können Sie das Manuskript
dieses Gesprächs einfach ein paarmal
lesen. Pillen wären etwas für Kinder mit
kognitiven Problemen und für Ältere mit
Gedächtnisverlust. Für Gesunde gibt es
bessere und sicherere Möglichkeiten, das
Erinnerungsvermögen zu verbessern.
SPIEGEL: Zum Beispiel?
Kandel: Intellektuelle Aktivität, das Lernen einer Fremdsprache, ein Leben mit
vielen Sozialkontakten, aber auch körperliche Fitness.
SPIEGEL: Treiben Sie denn noch regelmäßig Sport?
Kandel: In der Mittagspause ziehe ich in einem Schwimmbad auf unserem Campus
RONALD FROMMANN / LAIF
Jugendliche beim Gedächtniswettbewerb: Zum Erinnern gehört auch das Vergessen
meine Bahnen, zu Hause trainiere ich auf
einem Laufband. Außerdem spiele ich
Tennis, samstags Einzel, sonntags Doppel.
SPIEGEL: Einst waren Sie Studienanfänger in Harvard, heute sind Sie ein 76 Jahre alter Nobelpreisträger. Wie hat sich Ihr
Gehirn unterdessen verändert?
Kandel: Je älter man wird, desto ausgereifter fällt man sein Urteil über andere
Menschen. Sie können von den Erfahrungen eines ganzen Lebens zehren. Da
haben Sie ein reichen und vielgestaltigen
Verstand.
SPIEGEL: Ermöglicht Ihnen dieser Erfahrungsschatz auch zu kaschieren, dass
Ihr Gehirn eben nicht mehr das eines
jungen Mannes ist?
Kandel: Zum Teil ist das so. Würde jemand
meinen rechten Arm auf meinen Rücken
binden, so begänne ich, mit der linken
zu schreiben. Ähnlich können wir auch
Dinge in unserem Gehirn kompensieren.
Merken Leute, dass ihr Gedächtnis nachlässt, beginnen sie, sich selbst Hinweise zu
schreiben. Sie legen ihren Autoschlüssel
jeden Tag an dieselbe Stelle.
SPIEGEL: Haben Sie in Ihrer Karriere als
Gedächtnisforscher irgendeinen besonderen Trick entdeckt?
Kandel: Keinen besonderen. Aber vielleicht ist meine Auffassung von Lebenserwartung anders. Mit 65 oder 70 Jahren
denken manche ja: „Jetzt mache ich mich
bereit für das Grab.“ Anders als in anderen Ländern muss man hier in den Vereinigten Staaten zum Glück nicht in den
Ruhestand, sondern kann emsig weiterarbeiten. Meinen Vertrag habe ich gerade
erst erneuert bekommen. Mindestens die
nächsten sieben, acht Jahre werde ich
noch forschen können.
Interview: Jörg Blech, Gerald Traufetter
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Dieser Effekt werde durch körperliche
Aktivität und Sport noch weiter verstärkt,
sagt Psychologe Lindenberger. „Die Koordination der Sinne mit dem Körper erfordert mit zunehmendem Alter immer mehr
Aufmerksamkeit“, erklärt er. Das Überqueren einer Straße etwa nehme das Gehirn eines Greises weitaus stärker in Anspruch als das eines Teenagers.
Wer seinen Körper jedoch trainiert und
fit hält, der kann diesen Aufmerksamkeitsbedarf spürbar verringern. „Die dadurch frei werdenden Kräfte kann man für
andere geistige Aktivitäten nutzen“, sagt
Lindenberger, der das Modell der kognitiven Reserve damit um eine Sport-Komponente erweitert.
Im nächsten Schritt wollen die Berliner
Psychologen sich nun ein Bild davon machen, wie genau geistige und körperliche
Aktivitäten ihre Heilkraft im Menschenhirn entfalten. Sie werden junge und alte
Menschen an drei Tagen in der Woche auf
einem Laufband durch ein virtuelles Labyrinth schicken: eine Art Tierpark, wo es
beispielsweise gilt, den Weg vom Löwenkäfig zum Elefantengehege zu finden.
Vier Monate lang müssen die Testpersonen das Training absolvieren. Mit Kernspin-Untersuchungen wollen die Psychologen dann beobachten, wie sich die Gehirne der Probanden in Reaktion auf die
neuen Umweltreize verändern. Einem gilt
ihr Augenmerk dann ganz besonders: der
Produktion neuer Nervenzellen.
In dem Maß, wie Forscher die normale
Funktion der Neurogenese erforschen, erkennen sie auch, was schlecht für sie ist.
Stress haben sie als einen Hauptfeind ausgemacht. Dieser äußert sich durch bestimmte Hormone („Glukokortikoide“),
die mit dem Blut durch die graue Masse gespült werden. Zwar hat jeder Mensch zu allen Zeiten einen gewissen Pegel dieser
Stoffe im Blut; gelegentliche Hormonschübe können sogar das Überleben sichern, weil dadurch in brenzligen Lagen
die Aufmerksamkeit erhöht wird.
Wenn sie allerdings chronisch ausgeschüttet werden, können diese Hormone
wie ein Nervengift wirken. Darunter leiden
zum Beispiel Ratten, die in Experimenten
dauerhaft dem Geruch eines Fuchses aussetzt werden – in ihrem Hippocampus reifen kaum mehr Zellen heran.
Das in Indochina heimische Spitzhörnchen der Art Tupaia belangeri ist ein weiteres Modelltier der Stressforscher. Von
Natur aus Einzelgänger, können die Tiere
sich buchstäblich nicht riechen: Wenn zwei
von ihnen zusammen eingesperrt werden,
versiegt die Regenerationsfähigkeit ihres
Hippocampus. Ein gestresstes Gehirn
kämpfe um sein Überleben, erklärt der
Stressforscher Christian Mirescu: „Da ist es
nicht interessiert daran, in Zellen für die
Zukunft zu investieren.“
An der Princeton University (US-Bundesstaat New Jersey) hat Mirescu in einem
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RONALD FROMANN / LAIF
Kernspintomografie: Wirkung von Umweltreizen beobachten
Experiment neugeborene Ratten systematisch von der Mutter getrennt, einige
15 Minuten lang, andere sogar für drei
Stunden. Der kurze Mutter-Entzug hatte
Folgen fürs ganze Leben. Selbst als die Tiere längst ausgewachsen waren, blieb ihre
Neurogenese eingeschränkt.
Diese und ähnliche Befunde aus dem
Stresslabor elektrisieren Psychologen wie
Psychiater. Immer wahrscheinlicher erscheint ihnen: Anstrengende, belastende
Umwelteinflüsse untergraben offenbar die
Regenerationsfähigkeit des Gehirns und
wirken auf diese Weise buchstäblich
nervtötend. Es werde „zunehmend klar“,
resümiert „Der Nervenarzt“, dass Stress
„massiv auf die neuronale Plastizität einwirken und so zur Manifestation
von psychiatrischen Störungen beitragen kann“.
Beispiel Depression: Seit langem ist bekannt, dass chronischer Stress zu krankhaftem Traurigsein führen kann. Das langgesuchte Bindeglied zwischen Ursache und
Wirkung, das schält sich jetzt heraus, könnte die Neurogenese sein.
Als einer der Ersten hat das der Pharmakologe Ronald Duman von der Yale
University in New Haven, Connecticut,
geahnt. Den schmalen, graumelierten
Mann hatte seit je gewundert, warum ein
Antidepressivum wie Prozac zu Beginn
einer Tablettenkur keine Wirkung hat.
Vielmehr heitert es die Stimmung erst
nach einigen Wochen auf – nach etwa der
Zeitspanne also, die eine Vorläuferzelle
Der gewandte Geist
Wie das Gehirn immer neue Herausforderungen bewältigt
VERSTÄRKUNG ALTER
SYNAPSEN
Durch einen Außenreiz
werden vorhandene Verbindungen zwischen den
Fortsätzen von Nervenzellen (Synapsen) verstärkt. Auf diese Weise
werden Erinnerungen
kurzfristig gespeichert.
AUSBILDUNG
NEUER FORTSÄTZE
Durch starke Außenreize
sprießen aus Nervenzellen
neue Nervenenden hervor.
Diese knüpfen mit anderen
Nervenzellen zusätzliche
Synapsen: Erinnerungen
werden so länger gespeichert.
PRODUKTION NEUER
NERVENZELLEN
Im Hippocampus und
im Riechhirn entstehen ständig neue
Zellen. Sie reifen aber
nur dann zu funktionstüchtigen Neuronen
heran, wenn es neue
und bedeutsame Informationen zu speichern gibt. So können
neue Lerninhalte gespeichert werden.
einiger Stunden
mehrerer Tage
ZEITFENSTER
Aufbau innerhalb
weniger Sekunden
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braucht, um zu einem Neuron heranzuwachsen.
Zur Überprüfung seines Verdachts gab
Duman Laborratten Prozac zu fressen.
Prompt stieg die Rate der Neurogenese um
50 Prozent. Weitere Experimente liefen aufs
Gleiche hinaus: Antidepressiva wie Lithium
und elektrokonvulsive Therapie bewirken in
Labortieren ebenfalls eine vermehrte Neuronen-Teilung im Hippocampus.
Mit Kollegen aus New York machte Duman die Gegenprobe. Diesmal verfütterten
die Forscher Prozac an Mäuse, was diese
deutlich furchtloser machte. Im nächsten
Schritt jedoch bestrahlten sie die Versuchstiere gezielt mit Röntgenstrahlen, so
dass alle sich teilenden Zellen im Hippocampus abstarben – und mit ihnen verschwand auch die angstlösende ProzacWirkung.
Noch zögern die Wissenschaftler, die Ergebnisse auf den Menschen zu übertragen.
Doch schon jetzt haben die Resultate zu einem grundlegend neuen Bild der Depression geführt. Zum einen spornen sie die Industrie an, künftig Antidepressiva zu entwickeln, mit denen sich die Neurogenese
ganz gezielt und viel wirkungsvoller als bei
Prozac und vergleichbaren Pillen ankurbeln lässt.
Zum anderen scheint sich ein neues Verständnis der Krankheit abzuzeichnen:
Menschen werden deshalb depressiv, weil
ihre Gehirne an Plastizität eingebüßt haben. Dieser Verlust macht sie zunehmend
unfähig, die Unwägbarkeiten des Alltags
und die Herausforderungen des Berufs zu
meistern. „Der Rückzug in die Isolation“,
sagt der Berliner Kempermann, „könnte
darin begründet sein, dass die Patienten
die Neuartigkeit von Reizen nicht adäquat
verarbeiten können, was wiederum zu
Angstgefühlen führt.“
Sogar schizophrene Psychosen zählen
Nervenärzte inzwischen zu den Leiden,
bei denen der Neurogenese eine Rolle zufallen könnte. Wird das Gleichgewicht aus
Zelluntergang und Neubildung gestört, so
die neue Vermutung, könnten dadurch
neuronale Netzwerke aus der Balance gebracht werden. Kommt dann ein Reiz aus
der Umwelt („auslösender Stressor“) hinzu, kann sich die Seelenstörung manifestieren.
Schließlich werden mittlerweile auch
die häufigsten Süchte mit dem Phänomen
in Verbindung gebracht: der Alkoholismus und die Nikotinabhängigkeit. Dass
stetes Trinken nämlich nicht nur alte
Nervenzellen ruiniert, wurde unlängst an
Ratten bewiesen, denen man übermäßige Alkoholmengen verabreichte. Die Vermehrung von Vorläuferzellen im Hippocampus war bei ihnen deutlich gebremst, das Überleben junger Neuronen
vermindert. Diese reduzierte Neurogenese, befürchten die Psychiater Thome und
Eisch, könnte „ein relevanter Faktor bei
der Entstehung von alkoholindizierten ko-
Neurologe Goldberg
Programm gegen Schusseligkeit entwickelt
losigkeit zu den Vorboten des Alzheimerschen Schwachsinns.
Aufgrund dieser Beobachtungen bewerten Ärzte die Krankheit nunmehr neu:
Vielleicht liegt der wahre Grund der augenfälligen Degeneration in einer gestör-
ten Regeneration. Bisher war man immer
davon ausgegangen, dass bestimmte Proteine, sogenannte Beta-Amyloide, krankhaft verklumpen und das Gehirn gleichsam verstopfen. Doch inzwischen zeigt
sich: Beta-Amyloide haben noch eine zweite ungute Eigenschaft – sie behindern das
Alzheimer-Kranke in einer betreuten Seniorenwohnanlage: Schützt Bildung vor Demenz?
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Wachsen und Heranreifen der neuralen
Vorläuferzellen.
Bis heute stoppt kein Medikament Alzheimer. Vielleicht werden Therapien der
Zukunft weniger darauf abzielen, das Neuronensterben zu verlangsamen, sondern
eher darauf, die Bildung frischen Denkmaterials anzuregen. „Neurogenese könnte vonnöten sein, um den kognitiven Niedergang wirklich zu verbessern oder umzukehren“, heißt es dazu im Fachblatt
„Current Alzheimer Research“.
Genau das scheinen demente Gehirne
aus eigener Kraft zu probieren: Indem sie
frische Nervenzellen produzieren, versuchen sie dem Abgleiten in den Schwachsinn zu entgehen. Bis ins hohe Lebensalter
kann eine gut funktionierende Neurogenese eine beginnende Alzheimer-Erkrankung zumindest teilweise kompensieren.
Diese Abwehrschlacht der Neuronen ist
nur ein weiterer Hinweis auf die Plastizität
des Hippocampus. Zu Beginn einer Erkrankung versucht das Hirnareal, seinem
Untergang entgegenzusteuern.
Nicht nur in vergreisenden Köpfen, auch
im Gefolge eines Schlaganfalls schnellt die
Neurogenese-Rate in die Höhe. In den von
Erwachsene Mäuse bilden mehr Nervenzellen aus, wenn sie in
einer abwechslungsreichen Umgebung gehalten werden.
PETER GRANSER / LAIF
gnitiven Funktionsstörungen beim Menschen sein“.
Interessanterweise legen die Befunde
nahe, dass es für einen Entzug nie zu spät
ist. Nach vier bis fünf Wochen ohne Alkohol sprang die Neuronen-Produktion wieder an – und die Tiere schnitten in Verhaltenstest wieder besser ab.
Französische Forscher wiederum haben
Laborratten Nikotin in Mengen verabreicht, wie rauchende Menschen sie im
Körper haben: Die Rate der Neurogenese
im Hippocampus fiel glatt um die Hälfte.
Das Gleiche gilt für Opiate wie Morphium
und Heroin, bei denen ebenfalls nachgewiesen wurde, dass sie Neuronen-Nachwuchs killen.
Auch bei der Parkinsonschen Schüttellähmung erkennen Ärzte eine Verbindung zur Neurogenese. Bekannt war
bisher, dass den Patienten der Botenstoff Dopamin im Gehirn fehlt. Nun hat
der Mediziner Günter Höglinger von der
Universität Marburg herausgefunden:
Ohne Dopamin ist das Wachstum neuer
Nervenzellen gestört. Verabreicht man
den Stoff jedoch wie ein Medikament,
läuft die Neurogenese wieder auf normalen Touren.
Die Alzheimersche Krankheit wurde
bisher ausschließlich auf das massenhafte
Absterben von Nervenzellen zurückgeführt. In dem Maße, wie das Gehirn
schrumpft, verlieren die Patienten das Vermögen, alte Erinnerungen abzurufen und
neue zu formen.
Ausgerechnet der Hippocampus, der
Geburtsort neuer Neuronen, ist vom Abbau besonders früh betroffen; zugleich
zählen Merkstörungen und Orientierungs-
JAMES LEYNSE
Titel
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der Blutzufuhr abgeschnittenen Hirnregionen sind die Nervenzellen zum Untergang verdammt. Dafür werden im Hippocampus nun auf einmal besonders viele
Frischzellen produziert. „Offensichtlich“,
sagt Fred Gage aus La Jolla, „werden hier
Nervenzellen bereitgestellt, die das beschädigte Hirngewebe wiederherstellen
sollen.“ Tatsächlich wandern einige der
Neulinge in das erkrankte Areal und reifen
dort zu Neuronen heran. Allerdings ist ihre
Zahl so gering, dass sie die Schäden eines
schweren Schlaganfalls nicht beheben können. Womöglich aber können sie immerhin
kleine Infarkte reparieren, die der Mensch
gar nicht bemerkt.
Dass in bedrohlichen Situationen urplötzlich sogar abseits des Riechkolbens
und des Hippocampus neue Nervenzellen heransprießen, fasziniert die Wissenschaftler im besonderen Maße. So gelang
es Harvard-Forscher Macklis und seinen
Kollegen, in Mäusen künstlich Nervenwachstum hervorzurufen: Zunächst ließen
sie mit energiereichen Lichtblitzen gezielt
eine Sorte von Nervenzellen in der Hirnrinde (Cortex) verkümmern, wie bei einer
neurodegenerativen Erkrankung. In Reaktion auf diesen Anschlag wuchsen umgehend frische Nervenzellen heran.
Der wunderliche Trick klappte auch bei
Zebrafinken. Zunächst wurden fürs Singen zuständige Neuronen gezielt beschädigt: Das fröhliche Gezwitscher erstarb.
Doch bald berappelte sich das beschädigte
Organ: Neue Nervenzellen gediehen – und
SORGE / CARO
Titel
Chinesische Akrobaten beim Jonglieren: Vergrößertes Gehirn
nach vier Monaten war das Gezirpe der
Zebrafinken wieder zu hören.
Angespornt von diesen Befunden trachten die Forscher nun danach, solche Selbstheilungskräfte im Gehirn des Menschen anzustoßen. Das Zeug dazu hat es offenbar.
Überall, meist in der Nähe von Blutgefäßen,
finden sich Vorläuferzellen, aus denen noch
komplette Nervenzellen heranreifen können. Allerdings schlummern sie, als wären
sie tot. Warum der Körper dieses Potential
von allein offenbar nicht nutzt, das ist eines
der großen Rätsel der Neurowissenschaft.
Jetzt sucht die Zunft nach Wegen, die
Faulpelze aus ihrem Tiefschlaf zu reißen.
Das schrumpelige Denkorgan eines Alzheimer-Patienten oder das verkümmerte
Nervensystem eines Menschen mit amyotropher Lateralsklerose, so die Vision,
könnten eines Tages durch aufgeweckte
Ersatz-Neuronen aufgemöbelt werden.
Gegenwärtig studiert die Gruppe von
Macklis im molekularen Detail, welche
Faktoren zusammenspielen müssen, damit
eine Vorläuferzelle sich in ein bestimmtes
Neuron verwandelt. Mittlerweile konzentrieren die Forscher sich auf 30 bis 35 verschiedene Gene und Moleküle.
Zwei solcher Stoffe haben japanische
Kollegen sogar schon als Medikament für
Schlaganfallpatienten ausprobiert. Sie
178
schnitten dazu Nagetieren die Blutzufuhr
in Teilen des Gehirns ab und verabreichten
ihnen hernach zwei bestimmte Proteine.
Und tatsächlich: Im Zuge der Behandlung
wurden abgestorbene Nervenzellen durch
neue ersetzt, und die Lähmungserscheinungen verringerten sich.
Mäuse sind jedoch keine Menschen; und
noch kann kein Mediziner versprechen, ob
Wuchsstoffe jemals in der Apotheke zu haben sein werden. Näherliegend ist es, die
Neurogenese rechtzeitig mit Maßnahmen
zu aktivieren, die fast jeder Mensch zu ergreifen vermag: mit geistigem Training und
körperlicher Aktivität.
Es waren zwei junge Forscher aus
Deutschland, der Berliner Kempermann
und Hans-Georg Kuhn (heute Göteborg),
die den segensreichen Effekt vor zehn
Jahren im Labor von Fred Gage am Salk
Institute for Biological Studies im kalifornischen La Jolla entdeckten. Sie hielten
erwachsene Mäuse in einer abwechslungsreichen Umgebung mit Tunneln, Laufrädern und vielerlei Spielzeugen. Die
spätere Beschau ihrer Gehirne ergab: Diese Tiere hatten deutlich mehr Nervenzellen
ausgebildet als Artgenossen, die in übliche
kleine Laborkäfige gezwängt vor sich hin
vegetiert hatten – die komplexe Umgebung
formte offenbar komplexe Gehirne.
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Wie die Umwelt auf die graue Masse einwirken und diese verändern kann, erklärt
Kempermann so: Anfangs teilen sich neuronale Vorläuferzellen und produzieren unreife Nachkommen im Überfluss. „Bleiben
die stimulierenden Außenreize aus, stirbt
ein großer Teil von ihnen wieder ab.“
Die vielfältigen Beobachtungen hat
Kempermann soeben in einer fesselnden
Hypothese vereint: Demnach sorgen die
neuen Neuronen im Hippocampus dafür,
dass sich der Mensch einer sich ständig
verändernden Umwelt anpassen kann. Sie
verleihen ihm die Fähigkeit, neuartige
Erlebnisse und Außenreize zu verarbeiten
– ohne ältere Erinnerungen löschen zu
müssen.
Da die Ausbildung und Vernetzung neuer Neuronen zwei bis drei Wochen dauert, müssen dem Modell zufolge andauernd Neuronen auf Vorrat produziert werden. Um aber nicht zu viele Nervenzellen
zu verschwenden, erhöht das Gehirn die
Rate der Neurogenese nur dann, wenn die
Wahrscheinlichkeit für neue Reize steigt.
Wie viele Eindrücke aber das Hirn stimulieren, das hat jeder gesunde Mensch
selbst in der Hand. Vielfältige Reize kann
er ihm schließlich leicht liefern: indem er
ein geistig und körperlich aktives Leben
führt.
Jörg Blech
Kultur
FOTOS: COLLECTION ROLF HEYNE
Szene
Moses-Aufnahmen aus dem Bildband „Manuel“
riat erlöst (Collection Rolf Heyne; 29,90
Euro). Über ein Jahr lang begleitete Moses seinen fünfjährigen Sohn. Der Kamera scheint Manuel sich nie bewusst zu
sein, oft ist er nackt, und so berührt dieses Fototagebuch durch die emotionale
Unmittelbarkeit seiner Sechziger-JahreTraumwelt. Und durch seine Botschaft.
Die ist simpel: Kinder gehören zum wahren Leben – weil sie cool sind und nicht,
weil man mit ihnen demografische Krisen lösen kann.
FOTOGRAFIE
Seifenblasen der Sechziger
r sei schon sehr früh ein sehr altes
Kind gewesen, hat Stefan Moses, der
1928 geborene Fotograf, einmal gesagt.
Und damit die Gefühlslage einer ganzen
Elterngeneration beschrieben: Groß geworden in schwierigen Zeiten, wollte sie
ihren eigenen, in den sechziger Jahren
AU S ST E L L U NGE N
Schnüffeln vor
Blümchenmuster
Z
geborenen Kindern das richtige Leben
herbeizaubern, mit Seifenblasenpusten,
wilden Spielen im Garten und Lagerfeuer am Strand. Die Blaupause für diese
Träume lieferte der großartige Bildband
„Manuel“ von 1967, den jetzt eine Neuauflage vom Dahinsiechen im Antiqua-
chen. Dort wird parallel eine zweite
Fuchs-Serie namens „Toys“ gezeigt:
In Geschäften und Privatsammlungen
stießen die Fotografen auf kuriose
Spielzeugfiguren, auf die Mini-Ausgaben etwa von Saddam Hussein und
Osama Bin Laden. Blümchentapete im
Stasi-Reich und ein Plastik-Hussein –
man kann das Böse auf die eine oder
andere Art banalisieren.
wei Jahre lang war das westdeutsche Fotografenehepaar Daniel und
Geo Fuchs der ostdeutschen Vergangenheit auf der Spur. Es besuchte von
Berlin bis Magdeburg die Stätten, an
denen das Ministerium für Staatssicherheit wirkte: Büros, Verhörzimmer, Untersuchungsgefängnisse, eine
Häftlingsbibliothek (mit Erich-Honecker-Porträt). Man sieht karge
Keller, schmale Pritschen, lange Gänge, aber auch geblümte Tapeten und
pinkfarbene Teppiche als Beispiele
fürs Neo-Biedermeier im Osten.
Die Innenausstatter des Schnüfflerministeriums gaben sich Mühe, Gefangene und wohl auch Mitarbeiter
mit Geschmacklosigkeit einzuschüchtern. Die Atmosphäre des Schreckens
ist noch präsent. „Auf mich haben
die Orte wie konserviert gewirkt“,
sagt Geo Fuchs, 36. Die großformatigen Aufnahmen des Duos werden
nun erstmals ausgestellt. Die Schau
„Stasi – Geheime Räume“ startet am
Mittwoch in der Villa Stuck in MünFuchs-Fotografie eines Erich-Mielke-Büros
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AU TOR E N
Zurück aus der Stille
anche Autoren schweigen so lange und so beharrlich, dass man
M
sie irgendwann beinahe vergisst. So
DANIEL UND GEO FUCHS
E
auch der dänische Erfolgsschriftsteller
Peter Høeg. Ein ganzes Jahrzehnt hatte
sich der 48-Jährige nach seinen Welterfolgen „Fräulein Smillas Gespür für
Schnee“ und „Die Frau und der Affe“
in einem esoterischen New-Age-Center
in der jütländischen Provinz völlig
zurückgezogen. Interviews und öffentliche Debatten lehnte er rigoros ab.
Doch nun meldet sich Høeg mit einem
neuen Roman („Das stille Mädchen“.
Rosinante Verlag, Kopenhagen) zurück.
Das Buch erzählt die Geschichte des
spielsüchtigen Zirkusartisten Kasper
Krone, der sich in einem überfluteten
Kopenhagen der Zukunft herumtreibt.
Auch diesmal ist Høeg ein hochliterarischer Thriller gelungen, der in diesen Wochen in dänischer Sprache erscheint. Übersetzungen dürften nicht
allzu lange auf sich warten lassen: Etliche deutsche und andere ausländische
Verlage stehen bei dem kleinen Kopenhagener Verlag bereits für die Rechte
Schlange.
181
Szene
L I T E R AT U R
KUNST
Kein Beileid, bitte
Finale in
Pastelltönen
A
Albert Drach: „Das Beileid. Nach Teilen eines Tagebuchs“. Zsolnay Verlag, Wien; 288 Seiten; 21,50 Euro.
182
D
NATIONAL GALLERY OF ART, WASHINGTON
ie französischen Impressionisten und ihre lichte Malerei – alle Jahre wieder werden
sie von den Ausstellungsmachern
neu entdeckt: Sie sind nun
einmal die Lieblinge des Publikums und garantieren einen
großen Besucherandrang. Von
dieser Woche an dürfen sich die
Kunstfreunde wieder auf die
Reise machen: in die Staatsgalerie Stuttgart. Dort widmet man
sich nach Manet, Renoir und
Degas nun Claude Monet und
seinen Landschaftsbildern. Die
Schau, die am Freitag eröffnet
wird, soll auch so etwas wie
ein triumphales Finale sein: Der
Staatsgalerie-Direktor Christian
von Holst verabschiedet sich in
diesem Jahr in den Ruhestand,
sein Nachfolger ist der Brite Sean Monet-Gemälde „Der Spaziergang“ (1875)
Rainbird, der lange beim Londoner Museum Tate Modern als Aus- er in Großbritannien feierte: Gerhard
stellungskurator tätig war und dort be- Richter, Max Beckmann, Joseph Beuys
wiesen hat, dass man auch mit der Kunst und zuletzt Martin Kippenberger. Die
des 20. und 21. Jahrhunderts viel Publi- impressionistische Phase – sie könnte in
kum ins Haus ziehen kann. Regelmäßig Stuttgart demnächst der Vergangenheit
waren es übrigens deutsche Künstler, die angehören.
MARCO DRESEN / VENTURA
uch der Zorn ist eine Begabung.
Wo er sich nicht äußert, wo brüllen,
stampfen und schlagen sich verbieten,
kommt die Sprache als Äußerung in
Frage. Im Falle des Schriftstellers Albert
Drach (1902 bis 1995) ist es nicht nur
sozial ein glücklicher Umstand, dass
Drach sich immerhin äußern konnte und
so nicht zum Amokläufer oder Selbstmörder wurde. Seine Stimme ist einzigartig in der Literatur: von ruppiger Sachlichkeit, Kälte und penetranter Unerbittlichkeit. Drach floh als Jude vor den
Nazis nach Frankreich, schlug sich dort
mühsam durch. Er kehrte zurück und
ließ sich nieder in jener „Anhäufung der
Rührseligkeit und Hinterfotzigkeit“, die
für ihn den Namen Österreich trägt. Der
gelernte Jurist prozessierte um die Rückgabe seines Vaterhauses, in dem die
Denunzianten von ehedem sich breitgemacht hatten, jahrzehntelang auch gegen
den Staat, der dem Enteigneten die Mieteinnahmen schuldig geblieben war. Er
blieb ein Ausgestoßener durch das, was
er erlebt hatte, durch
die Erinnerung daran
und durch die Beharrlichkeit, mit der
ein beinahe Ermordeter die Rückkehr
in die Gesellschaft
fordert, wenigstens
und immerhin in der
Sphäre der Justiz:
„Als gefühlvolles
und in bürgerlichen
Rechtsregeln verfangenes Gespenst und dessenthalben auch
von jenen geächtet, die am Rande oder
auch in der Mitte seinerzeit mitgemacht
hatten, war ich auf dem traurigen Wege
zur Wiedergeburt und hatte hierzulande
auf Beileid kein Recht.“
Der Büchner-Preisträger Drach ist auch
in der Literatur ein Fremder geblieben –
hochgeachtet und kaum gelesen. Die
notwendige Zumutung seines Zorns und
das Eigentümliche seiner Sprache –
prägnant in der Verzweiflung, von bitterem Humor und vibrierend lebendig –
sorgten für eine verschworene, kleine
Anhängerschaft. Um dem abzuhelfen,
veröffentlicht der Zsolnay Verlag Drachs
literarisches Werk nun in einer gut kommentierten Werkausgabe, mit Fotos und
Dokumenten. „Das Beileid“ berichtet
von Drachs letzten Monaten im Exil und
seiner Rückkehr nach Österreich. Ein
grimmiges Vergnügen.
Ayoub in „Private“
„Private“ erzählt auf engstem Raum
vom israelisch-palästinensischen Konflikt. Ein muslimischer Pazifist (Mohammad Bakri) weigert sich, sein umkämpftes Haus im Westjordanland zu verlassen, und lebt fortan mit seiner Frau,
Tochter Mariam (Hend Ayoub) und weiteren vier Kindern streng bewacht im
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Erdgeschoss, während israelische Soldaten den ersten Stock
besetzt halten. Unweigerlich
gefährden der revolutionäre
Elan der Heranwachsenden
und die Neugier der Kinder
den Hausfrieden. Der Italiener
Saverio Costanzo übernimmt
in seinem Debütfilm mit Einfallsreichtum die von Angst
beherrschte Perspektive seiner
palästinensischen Figuren und
lotet spielerisch die Chance
ziviler Lösungen auf ideologisch vermintem Terrain aus.
„Falscher Bekenner“ handelt von einem
apathischen Rebellen: Still und störrisch
widersetzt sich der 18-jährige Armin
(Constantin von Jascheroff) dem Terror
der Ereignislosigkeit in einer deutschen
Kultur
SPIEGEL: Aber Brasilien ist auch ein
„Wir sind die Tropen“
Brasiliens Sänger und Kulturminister
Gilberto Gil, 63, über das Festival
In Transit, das er am 25. Mai im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet, und den Rassismus im Sport
SPIEGEL: Señor Gil, brasilianische Kultur
boomt in Europa. Jetzt laden Sie zur
WM der Kulturen ein. Was planen Sie?
Gil: Das Kulturprogramm umfasst über
250 Veranstaltungen in Deutschland und
Brasilien. Von Kammermusik bis zu
Funk und HipHop werden
wir die ganze Bandbreite
unserer Musik vorstellen,
nicht nur Samba. Außerdem haben wir deutsche
Künstler nach Brasilien
eingeladen, so dass beide
Nationen etwas von dem
Projekt haben.
SPIEGEL: Warum übt
Brasilien eine so große
Faszination auf die
Deutschen aus?
Gil: Gegensätze ziehen
sich an. Unsere Kultur
basiert auf Intuition. Wir
sind ein Volk von Misch- Gil
lingen, verschiedene Kulturen und Religionen leben friedlich
nebeneinander. Wir haben eine optimistische Vision des Lebens, es erscheint
uns als Paradies. Wir sind die Tropen,
Europa ist Winter und Nebel.
Land voller Gewalt und sozialer Konflikte.
Gil: Im Vergleich mit den sogenannten
zivilisierten Nationen schneidet Brasilien nicht schlecht ab. In den USA und
Frankreich ist das Gewaltpotential
ebenfalls riesig, das haben wir bei den
Aufständen in Paris gesehen.
SPIEGEL: Schwarze Fußballspieler in
Europa klagen über den zunehmenden
Fremdenhass im Sport …
Gil: … und das ausgerechnet in Ländern wie Italien und Spanien, die eine
lange Tradition afrikanischer Einflüsse
haben. Dieser Rassismus ist purer Exhibitionismus. Unter
den Jugendlichen finden die Neofaschisten
viel Zulauf, weil sie
auf der Suche nach
der eigenen Identität
sind. Sie wollen anders
sein, suchen das Exotische. Das hängt mit
dem Überschuss an
sexueller Energie in
diesem Alter zusammen, die sich dann von
Zeit zu Zeit in Gewalt
äußert.
SPIEGEL: Leiden auch
schwarze Künstler unter
Rassismus?
Gil: In der Kultur ist der Rassismus verschleiert. Im Sport und in der Kunst
werden die Schwarzen geschätzt, weil
sie gut sind. Sie haben sich mit großem
Einsatz Freiraum geschaffen. Endlich.
ECKEHARD SCHULZ / AP
V E R A N S TA LT U N G E N
Kino in Kürze
Kleinstadt und der fürsorglichen Umklammerung seiner Eltern. Er flüchtet in
bizarre erotische Phantasien und bezichtigt sich eines Verbrechens, das er nicht
begangen hat. Dank eines feinen Sinns
für den Aberwitz des Alltags und eines
Hauptdarstellers, der dem Überdruss ein
interessantes Gesicht gibt, gelingt es dem
Regisseur Christoph Hochhäusler, Lange-
weile so darzustellen, dass sie kaum auf
den Zuschauer übergreift.
PIFFL MEDIEN
„The Sounds of Silents – Der Stummfilmpianist“ porträtiert einfühlsam und humor-
voll die Berliner Kino-Legende Willy Sommerfeld. Der inzwischen 102 Jahre alte,
aus Danzig stammende Musiker begleitete schon in den zwanziger Jahren Stummfilme am Klavier und schafft es noch heute spielend, seinem Instrument die ganze
Bandbreite menschlicher Emotionen zu
entlocken. Die Filmemacherin Ilona Ziok
feiert den verschmitzten Sommerfeld, der
auch dirigiert und komponiert hat, als letzten Meister seines Fachs und leidenschaftlichen Interpreten des frühen Kinos, der
noch dem betulichsten Melodram ungeahnte Verve verleihen kann.
Szene aus „Falscher Bekenner“
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THE NEW YORKER / REUTERS (L.); ALI IMAM / REUTERS (R.)
Irakischer Gefangener der Amerikaner, Anti-US-Protest in Pakistan: Verwerfliche Mittel zerstören das beste Ziel
PHILOSOPHIE
„Adler des Geistes“
Eine Ausstellung in Paris prüft das Erbe der großen Aufklärer des 18. Jahrhunderts und die
Bedeutung ihres Denkens für die Kulturkämpfe der Gegenwart. Aufklärung bleibt
ein geschichtlich unvollendetes Projekt – und damit ein immer neu zu erfüllender Auftrag.
D
ie „Vormünder“, wie Immanuel
Kant die Hüter des politisch und
religiös Korrekten seinerzeit nannte, kleiden sich gern in den Mantel gravitätischer Ernsthaftigkeit. Der erhobene
Zeigefinger ist ihre normale Positur. Die
befreite Vernunft dagegen liebt die Heiterkeit und das Lachen.
Niemand wusste das besser als der geniale französische Spötter Voltaire, der in
seiner Polizeiakte von den königlichen
Aufpassern als „groß, hager, mit dem Aussehen eines Satyrs“ beschrieben wurde.
Der Witz war die stärkste subversive Waffe dieses „Adlers des Geistes“, der die
Tischrunden des Preußen-Königs Friedrich
II. mit seinem scharfen Esprit unterhielt.
Aber auch der tiefernste Königsberger Phi184
losoph Kant hielt den Lächerlichkeitstest
für die strengste Wahrheitsprobe einer
Theorie – nur was sich nicht ad absurdum
führen lässt, hat vor der kritischen Prüfung Bestand.
Voltaire und Kant sind die beiden emblematischen Hauptvertreter der Aufklärung, jener Geistesbewegung, die am
Anfang des modernen Europa steht:
„Ohne Europa keine Aufklärung; aber
auch: ohne Aufklärung kein Europa“, sagt
der französische Ideengeschichtler Tzvetan Todorov, der als gebürtiger Bulgare in
seiner Jugend unter der humor- und geistlosen Diktatur des Kommunismus litt.
Todorov hat eine epochale Ausstellung
organisiert, die derzeit noch in der französischen Nationalbibliothek über die
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„Aufklärung! – Ein Erbe für morgen“
(„Lumières!“) zu sehen ist. Nach dem Tod
Gottes, nach dem Zusammenbruch der
Utopien des 20. Jahrhunderts erscheint
ihm die Aufklärung als der einzige solide
intellektuelle und moralische Sockel, auf
dem sich die humanistischen Werte des
Westens in den Kulturkämpfen der Gegenwart aufbauen lassen.
Jean-Noël Jeanneney, Präsident der Pariser Nationalbibliothek, kam die Idee zu
diesem grandiosen Projekt schon einige
Zeit nach dem 11. September 2001 während
einer Reise durch die USA. Der Anblick
der noch rauchenden Trümmer der Zwillingstürme in New York, erzählt er, habe in
ihm die Bilder von Kämpfen eines anderen
Zeitalters wiederauferstehen lassen.
Kultur
schließung und des Mutes liegt, sich seiner
ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der
Wahlspruch der Aufklärung.“
Das bedeutet, dass der Mensch ständig aufgefordert bleibt, seiner irdischen Existenz einen Sinn zu geben, ganz gleich, welche Hoffnung er in ein Leben nach dem
Tod setzt. Nicht mehr die Autorität der Götter, der Vorfahren oder der Traditionen
bestimmt das Ziel menschlichen Lebens,
sondern der Entwurf für die Zukunft. Der
Verstand und die Erkenntnisse der Wissenschaft sind dafür die geeigneten Instrumente.
Ebendarin liegt eine Versuchung und
eine Gefahr: die Vergöttlichung des Selbst,
die Verabsolutierung des mündigen Ich. In
seinem Versuch, den Geist der Aufklärung
auf die Gegenwart zu übertragen, hat Ausstellungsleiter Todorov die Denker des
18. Jahrhunderts deshalb einer radikalen
Kritik unterzogen. Er will das Erbe der
Vergangenheit bewahren, indem er sie neu
begründet: „Nur indem wir die Aufklärung
kritisieren, bleiben wir ihr treu.“
Schon die Französische Revolution, eine
Kopfgeburt der Aufklärung mit der Proklamation der Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Trennung von Staat und
Religion sowie der Wissenschafts- und
Vernunftgläubigkeit, lieferte den Gegnern
der Aufklärung ein gewichtiges Argument:
Aufklärung gleich Revolution, Revolution
FOTOS: AKG
Europa hervor, nicht nur aus einem oder
zwei Ländern. Auch wenn sie Frankreich,
Deutschland, England und Italien in den
Mittelpunkt stellt, illustriert die Pariser
Ausstellung das Grenzüberschreitende, ja
Globale einer Bewegung, an der Friedrich
II., der Philosoph von Sanssouci und Gastgeber Voltaires, genauso beteiligt war wie
Katharina die Große in Sankt Petersburg,
die sich gern als „Minerva“ feiern und von
dem Voltaire-Mitstreiter und Enzyklopädisten Denis Diderot beraten ließ.
Die Vereinigten Staaten von Amerika
sind ein Kind der Aufklärung, mithin eine
„Projektion des europäischen Geistes“, so
der französische Dichter Paul Valéry; USPräsident Bush beruft sich auf ihren Geist,
wenn er Demokratie mit Waffengewalt im
Irak durchsetzen will – und verstößt doch
gegen ihre Grundbedingungen, wenn er
das autoproklamierte Recht auf Einmischung beansprucht, Folter im Namen der
Humanität duldet und die politische Wahrheit dem militärischen Gebot unterwirft.
Niemals kann das Ziel die Mittel rechtfertigen, verwerfliche Mittel aber können das
lauterste Ziel zerstören – dieser Grundwiderspruch hat Amerikas Krieg gegen Saddam Hussein womöglich von Anfang an
zur verlorenen Sache gemacht.
Aber was ist heute noch Aufklärung?
Ihr einmaliges Projekt beruht auf drei
großen Ideen, die ihrerseits unzählige Konsequenzen nach sich ziehen: Autonomie
AKG
ERICH LESSING / AKG
Krieg gegen den Terrorismus, wie USPräsident George W. Bush ihn sofort erklärte? Nun ja, aber doch zuallererst ein
geistiger, kultureller Krieg gegen das, was
Voltaire einst als das „Infame“ angeprangert hatte – Obskurantismus, Fanatismus,
Fundamentalismus jeder Art, die den westlichen Gesellschaften einen „Kampf auf
Leben und Tod“ liefern, so Jeanneney, und
in einem planetarischen Totentanz mörderischen Aberglauben und zerstörerische
Vorurteile in einer längst überwunden geglaubten Barbarei vereinigen.
„Écrasez l’infâme“ (Zerschmettert
die Niederträchtige): Dieser antiklerikale
Schlachtruf Voltaires gegen die religiöse
Bevormundung im 18. Jahrhundert hat
durch Islamismus und Dschihad eine neue,
ungeahnte Aktualität erhalten. Die Gesellschaften des Westens, glaubt Jeanneney,
müssten neue Lebenskraft im Zeitalter der
Aufklärung suchen, die in den drei Vierteljahrhunderten vor der Französischen
Revolution alle moralischen und politischen Gewissheiten zertrümmerte oder
doch zumindest aushöhlte.
Diese geistig-moralische Wende, die
1789 mit dem Sturm auf die Bastille ihren
ersten Höhepunkt erreichte und 200 Jahre
später mit dem Fall der Berliner Mauer
eine erneute Zäsur markierte, begründet
für den Historiker Todorov mehr denn je
die gegenwärtige Identität des zusammengewachsenen Europa: „Zum ersten Mal in
Philosophen Voltaire, Diderot, Kant, Rousseau: Die Aufklärung kritisieren, um ihr treu zu bleiben
der Geschichte beschließen die menschlichen Wesen, ihr Schicksal in die Hand
zu nehmen und das Wohlergehen der
Menschheit als letztes Ziel ihres Handelns
zu bestimmen.“ Die Suche nach dem diesseitigen Glück ersetzt das Streben nach
dem jenseitigen Heil, das Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird getrennt von
der Sünde wider Gott – dieses laizistische
Grundprinzip, das im Übrigen private religiöse Überzeugungen unangetastet lässt,
hat der Islam bis heute nicht übernommen.
Die Aufklärung ging in einem atemberaubend verdichteten Zeitraum, einer
Beschleunigung der Geschichte, aus ganz
und Emanzipation des Individuums, Humanismus als Selbstzweck (also eine anthropozentrische, vom Sakralen entzauberte Welt) und Universalität, die sich in
unantastbaren Menschenrechten und mithin im Gleichheitsgebot ausdrückt.
Die wohl berühmteste Definition hat
Kant gegeben: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit
ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,
wenn die Ursache derselben nicht am
Mangel des Verstandes, sondern der Entd e r
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gleich Terror. „Die Revolution hat mit der
Erklärung der Menschenrechte begonnen“,
behauptete der Monarchist und Reaktionär
Louis de Bonald, „deshalb ist sie im Blut
geendet.“
Das Vergehen der Aufklärung bestünde
demnach darin, den Menschen an Gottes
Stelle als Quelle seiner Ideale gesetzt zu
haben, die Vernunft, der jeder Einzelne
sich frei bedienen möchte, an die Stelle
der kollektiven Überlieferung, die Gleichheit statt der Hierarchie, den Kult der Vielfalt statt der Einheit zu propagieren.
Eine Kritik, die nicht ganz unberechtigt ist, wie Todorov und die Pariser Aus185
SAMMLUNG RICHTER / CINETEXT
Kultur
Sklavenzüchtigung*: „Pflicht, die niederen Rassen zu zivilisieren“
stellung zeigen. Die Dialektik der Aufklärung birgt immer die Möglichkeit ihres
Umschlagens ins Totalitäre; nicht nur die
moderne Demokratie, auch die totalitäre
Utopie des Kommunismus entspringt
ihrem Ansatz.
Jede rein fortschrittsgläubige Deutung
der Geschichte fällt der Illusion anheim.
Das Vertrauen in die lineare Evolution der
Aufklärung hat manche ihrer Denker zu
kapitalen Fehlschlüssen verleitet, darunter
Turgot, Lessing und Condorcet. „Die
ganze Masse des Menschengeschlechts“,
schrieb Turgot, „bewegt sich unablässig,
wenn auch mit langsamen Schritten, auf
eine größere Vollkommenheit zu.“
Voltaire dagegen hat nie aus dem Blick
verloren, dass Geschichte ihrem Wesen
nach tragisch ist. In seinem „Candide“ mokierte er sich über den naiven Aberglauben
an die „beste aller Welten“. Und auch
Jean-Jacques Rousseau, der vielleicht tiefgründigste und vielseitigste Philosoph der
französischen Aufklärung, wusste nur zu
* Illustration um 1900.
186
gut, dass es nach dem Kampf gegen die Bigotterie einen zweiten, ungewöhnlicheren
Streit geben würde – den gegen den „modernen Materialismus“.
Geschichte lässt sich nicht von ihrem
Endzustand her denken, den sie – als Paradies – ohnehin nie erreicht. Was die
Menschheit auszeichnet, ist nicht der lange Marsch zur Vollkommenheit, sondern
die mühselige Fähigkeit der Verbesserung,
so klein die einzelnen Schritte auch sein
mögen. Die Ergebnisse sind nie garantiert,
auch nicht unumkehrbar. Doch dieser
Gang der Geschichte rechtfertigt alle Anstrengungen und Bemühungen, ohne irgendeinen Erfolg zu gewährleisten.
Rousseau glaubte sogar, dass jeder objektive Fortschritt, vor allem in der Wissenschaft, mit einem Rückschritt auf anderem Gebiet bezahlt werden müsse – ein
Dilemma, das noch heute die Ethik von
Medizinern, Biologen, Genetikern oder
Physikern prägt und wahrscheinlich nicht
aufzulösen ist.
In ihren Fehlleitungen und Zweckentfremdungen kann die Aufklärung zuletzt
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sogar zur Legitimation von Verbrechen
gegen die Menschheit, wie die Sklaverei,
missbraucht werden – ein Widerspruch in
sich selbst. Todorov weist nach, wie Jules
Ferry, der große französische Bildungspolitiker des 19. Jahrhunderts, Verfechter
der obligatorischen und kostenlosen Schulunterrichtung für alle Kinder, gleichzeitig
koloniale Eroberungen der Dritten Republik in Indochina oder Nordafrika im Namen des Bildungsideals rechtfertigte. Die
überlegenen Völker, allen voran Franzosen und Engländer, hätten ein Recht auf
Einmischung in die Angelegenheiten der
Minderwertigen und Zurückgebliebenen:
„Sie haben die Pflicht, die niederen Rassen
zu zivilisieren.“
In Wirklichkeit konnte davon natürlich
keine Rede sein. Marschall Bugeaud, der
Mitte des 19. Jahrhunderts Berber und
Araber in Algerien massakrierte, versuchte erst gar nicht, den Schöngeist zu mimen: „Ich werde immer die französischen
Interessen einer absurden Philanthropie
für Fremde vorziehen, die unseren gefangenen oder verletzten Soldaten die Köpfe
abschneiden“, erklärte er unter dem Beifall
der Abgeordneten vor dem Parlament.
Alexis de Tocqueville, der Herold und
scharfsinnige Analytiker der amerikanischen Demokratie, pflichtete dem Haudegen bedenkenlos bei: Das herausragende
Verdienst Bugeauds bestehe nicht darin,
ein Philanthrop zu sein – „nein, was ich
glaube, ist, dass Monsieur le Maréchal auf
afrikanischem Boden seinem Land einen
großen Gefallen erwiesen hat“.
Nationalismus statt Humanismus, Chauvinismus statt Universalität, Recht auf Eingreifen statt Pflicht zum Beistand – bis heute droht Aufklärung sich immer in Repression zu verkehren, mit bestem Wissen und
Gewissen.
Drei Ankläger sind es, die laut Todorov
die Keime des zerstörerischen Totalitarismus in der Aufklärung besonders scharf
erkannt haben. Nicht zufällig sind sie, bei
aller Unterschiedlichkeit, religiös inspiriert:
der anglikanische Brite T. S. Eliot, der orthodoxe Russe Alexander Solschenizyn
und der polnische Papst Johannes Paul II.
Eliot versuchte am Beginn des Zweiten
Weltkriegs zu beweisen, dass der einzig
echte Widerstand gegen den Totalitarismus nur von einer wirklich christlichen
Gesellschaft ausgehen könne. Ein Drittes
gebe es nicht: „Wenn ihr keinen Gott haben wollt (und Er ist ein eifersüchtiger
Gott), müsst ihr euch Hitler oder Stalin
unterwerfen.“ Die Zurückweisung Gottes
aber ist die zentrale Errungenschaft der
Aufklärung, die es möglich gemacht hat,
moderne Staaten auf eine rein menschliche
Basis zu gründen.
Der rationalistische Humanismus, der
Anthropozentrismus, also die Idee des
Menschen als Mittelpunkt des Seienden,
geboren aus dem Geist der Renaissance, in
politische Formen gebracht während der
DAVID CARR / BNF
Kultur
Ausstellung „Lumières!“ in Paris: „Ohne Aufklärung kein Europa“
Aufklärung, so auch das vernichtende Urteil Solschenizyns, ständen am Anfang des
Totalitarismus: „Wer sich heute noch festhält an den erstarrten Formeln der Aufklärung, erweist sich als rückständig.“
Papst Johannes Paul II. entwirft die gleiche Ideen-Genealogie. Die Ideologien des
Bösen leiten sich ihm zufolge aus dem europäischen Denken ab, aus der Renaissance, dem Cartesianismus, der Aufklärung. Deren kapitaler Fehler sei es gewesen, die Suche nach dem Glück über
die des Seelenheils zu stellen. So blieb der
Mensch allein: allein wie der Schöpfer seiner eigenen Geschichte; allein als derjenige, der darüber entscheidet, was gut und
was böse ist.
Von da bis zu den Gaskammern des
Konzentrationslagers Auschwitz ist es nur
ein Gedankenschritt: „Wenn der Mensch
von sich aus ohne Gott entscheiden kann,
was gut ist und was schlecht, dann kann er
auch verfügen, dass eine Gruppe von Menschen ausgelöscht wird.“ Das Drama der
Aufklärung bestehe in der Zurückweisung
des Christus, wer Gott leugne oder verdränge, sei unter Umständen auch bereit
zum Genozid und zum äußersten Bösen.
Nun ist Völkermord im Lauf der Geschichte auch im Namen Gottes begangen
worden, die Aufklärung lässt sich dafür
nicht heranziehen. Denn ihr Diskurs und
ihre Moral sind nicht subjektiv, sondern
intersubjektiv, sagt Todorov, das heißt, die
Prinzipien des Guten und des Bösen sind
Gegenstand eines Konsenses, erarbeitet in
einem herrschaftsfreien Dialog, der potentiell die ganze Menschheit einbezieht:
„Die Moral der Aufklärung ergibt sich
nicht aus der egoistischen Liebe zu sich
selbst, sondern aus der Achtung vor der
Menschheit.“
Die christliche Nächstenliebe braucht
folgerichtig nicht die Krücke der Religion,
zu ihrer Begründung reicht der kategori188
d e r
sche Imperativ von Kant. Die Aufklärung
hat die einzige rein laizistische Ethik der
modernen Geschichte geschaffen – das ist
ihr bleibendes Verdienst. Sie hat sich ihre
Grenzen immer selbst gesetzt; der Wille
der Völker und der Menschen ist frei, aber
das macht ihn nicht willkürlich.
So bleibt die Aufklärung nicht nur ein in
der Geschichte unvollendetes Projekt, sondern ein in ihren intellektuellen Voraussetzungen immer neu zu erfindendes Erbe.
Die Pariser Veranstaltung mit ihren etwa
140 Ausstellungsstücken – Bildern, Stichen,
Erstausgaben und Manuskripten, versehen
mit essayartigen Erklärungen in sechs Themengruppen – definiert den modernen Philosophen nicht als Verkünder des Glücks
und des Endes der Geschichte, sondern als
Wächter vor dem Unheil und dem Nichts.
Im letzten Saal der Nationalbibliothek
liegt Rousseaus „Contrat social“ neben einer französischen Ausgabe der ursprünglichen amerikanischen Verfassung. Darüber
prangt eine Zeichnung des Malers JeanHonoré Fragonard von US-Gründervater
Benjamin Franklin als Jupiter.
Der aufgeklärte, vernunftgesteuerte
Mensch, ein Gott? Nur wenn er sich seiner
Endlichkeit und Unzulänglichkeit als rationalistischer Blitzeschleuderer bewusst
bleibt. Aufklärung geht nie zu Ende, sie
ist tatsächlich ein nie vergehendes „Erbe
für morgen“.
Der große französische Historiker Fernand Braudel stellte sich vor, Voltaire hätte auf seinem Sitz in Ferney bei Genf in einem langen Tiefschlaf überlebt. Würde er
heute aufwachen, so sein Fazit, könnten
„wir uns ausführlich mit ihm unterhalten,
ohne große Überraschung. Auf der Ebene
der Ideen sind die Männer des 18. Jahrhunderts unsere Zeitgenossen“.
Für den Königsberger Kant, diesen Weltgeist vor Hegel, würde natürlich erst recht
Romain Leick
das Gleiche gelten.
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Kultur
punkt erreicht der Rummel um „Sakrileg“
erst in dieser Woche: Am Mittwoch hat die
„Sakrileg“-Verfilmung Premiere, zum Auftakt der Filmfestspiele von Cannes; danach
kommt die 125-Millionen-Dollar-Produktion weltweit in die Kinos.
Regisseur Ron Howard („A Beautiful
Mind“) gibt sich redlich Mühe, die zahlreichen Volkshochschul-Passagen der Vorlage
in packende Bilder zu verwandeln: Eine
Szene, in der Leonardos „Abendmahl“ zu
Leben erweckt werden soll, sieht aus wie
die Power-Point-Präsentation eines ehrgeizigen Kunstlehrers. Immerhin gibt es eine
schöne Verfolgungsjagd, in der die Hauptdarsteller Tom Hanks und Audrey Tautou
in einem Smart durch Paris rasen.
Spannender als das Werk selbst ist denn
auch die Marketing-Schlacht, die sich das
verantwortliche Filmstudio Columbia – Teil
des Sony-Konzerns – seit Monaten mit den
strenggläubigen Opus-Dei-Anhängern lie-
FILM
Limonade statt
Zitronen
Zur Premiere der BestsellerVerfilmung „Sakrileg“ entbrennt
eine bizarre PR-Schlacht: Der
Geheimbund Opus Dei sieht sich
durch Hollywood verunglimpft.
E
FOTOS: HIPP-FOTO
s ist, je nach Betrachter, „die größte
Verschleierungsaktion in der Geschichte der Menschheit“, eine zum
Himmel stinkende Gotteslästerung oder
einfach nur eine krude Räuberpistole. Die
Idee: Jesus war gar kein kinderloser Single,
wie die Bibel behauptet. Vielmehr habe
„Sakrileg“-Stars Hanks, Paul Bettany, Tautou: Die Kirche als Verbrecherbande dargestellt
der fromme Mann aus Nazaret mit Maria
Magdalena eine Tochter gezeugt, die treue
Anhänger vor der Welt versteckten. Bis
heute, so die kühne These, leben Nachfahren Jesu im Untergrund und geben keine Interviews.
Einem phantasiebegabten Englischlehrer
aus New Hampshire namens Dan Brown
ist es zu verdanken, dass die ganze Sache
trotzdem weltweit Schlagzeilen machte.
Brown baute die heilige Mär inklusive
Gralslegende in einen weltlichen KrimiPlot ein, wonach ein cleverer Symbologe
nach einem Mord im Pariser LouvreMuseum dem Geheimnis auf die Spur
kommt und dabei von einem blutrünstigen Mitglied des katholischen Elite-Bundes Opus Dei verfolgt wird. Seit 2003 hat
sich Browns Roman „The Da Vinci Code“
(deutscher Titel: „Sakrileg“) weltweit mehr
als 50 Millionen Mal verkauft.
Es dürften demnächst wohl noch ein
paar mehr werden, denn seinen Höhe190
fert. Vorteil des Opus Dei: Anders als Sony,
das unbedingt seinen „vorprogrammierten
Mega-Hit“ („Bunte“) landen muss, hat es
nichts zu verlieren.
Denn die rund 88 000 Mitglieder des
Opus Dei („Werk Gottes“) gelten vielen
Kritikern als die Taliban der katholischen
Kirche, als eine hermetisch abgeschottete
Gemeinschaft, ideologisch verbohrt, sagenhaft einflussreich und Diktaturen nicht
abgeneigt. So bewunderte der Gründer
Josemaría Escrivá de Balaguer, 2002 von
Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen,
einst Spaniens faschistischen Diktator
Franco und soll ihn sogar als „guten Christen“ bezeichnet haben. Auch dass sich
manche Opus-Dei-Aktivisten bei bizarren
Ritualen selbst geißeln, bis das Blut spritzt,
erregt außerhalb von Sado-Maso-Zirkeln
eher Misstrauen.
Jahrelang galt die Opus-Dei-Zentrale an
der Lexington Avenue in Manhattan als so
verschwiegen wie der Aldi-Konzern; die
d e r
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Öffentlichkeitsarbeit der Personalprälatur
nahmen allenfalls Fachleute zur Kenntnis –
bis Brown in seinem Roman das Opus Dei
als sinistre Katholen-Stasi karikierte, die
sogar einen „Mönch“ namens Silas als Auftragskiller losschickt.
Zumindest bei der „Sakrileg“-Verfilmung wollte Opus Dei diese Darstellung
verhindern. Doch ein Brief an Studio-Chefin Amy Pascal („Wie wäre es wenigstens
mit einem Hinweis im Vorspann, das Ganze
sei nur Fiktion?“) hatte keinen Erfolg.
Seitdem herrscht Glasnost bei Opus Dei.
Geschickt nutzt man dabei den Wirbel,
den die PR-Profis aus Hollywood entfachen, für eigene Zwecke. „Diese Art Publicity kann man nicht kaufen“, glaubt
Opus-Dei-Kampagnero Austen Ivereigh.
Wenn so viele Menschen „Sakrileg“ für
bare Münze nähmen, „warum soll man
dann nicht ins Rampenlicht treten und zeigen, wer man wirklich ist?“
„Aus Zitrone Limonade machen“ nennt Marc Carroggio,
Pressesprecher des Opus Dei
in Rom, die Methode. Neben
pikierter Kritik an Buch und
Film („Die Kirche wird als Verbrecherbande dargestellt“) versteht die Organisation darunter mittlerweile eine Art Erlebnis-PR. Zum Beispiel wegen
Silas, des „Sakrileg“-Mörders:
Wer mag, kann ein echtes
Opus-Dei-Mitglied namens Silas treffen – Silas Agbim ist angeblich ein nigerianischer Börsenhändler mit Wohnsitz in
Brooklyn.
Auf eine direkte Konfrontation mit Sony will sich Opus
Dei nicht einlassen. „Niemand
wird Drohungen verkünden,
zu einem Boykott aufrufen
oder Ähnliches“, sagt Carroggio – anders als der Vatikan:
Glaubenskongregations-Sekretär Angelo
Amato forderte alle Katholiken auf, den
Film zu boykottieren. Opus Dei hielt es
für effektiver, diskret an die Sony-Aktionäre und die Bosse in Tokio zu schreiben und an die japanische Firmenkultur
zu appellieren.
Regisseur Howard reagiert zunehmend
gereizt auf die Attacken: „Es dreht sich
hier weder um Religion noch um Geschichte.“ Kein Wunder: Mittlerweile hat
in dem Millionenspiel um „Sakrileg“ nicht
mehr Opus Dei, sondern Sony den Ruf,
ein Haufen geheimniskrämerischer, misstrauischer Dunkelmänner zu sein. Offenbar um vorzeitige Verrisse zu verhindern,
bekamen Journalisten bisher nur 35 von
148 Minuten des Films zu sehen – mit der
Auflage, selbst darüber wochenlang Stillschweigen zu bewahren.
Dan Brown würde wohl sagen: „Die
größte Verschleierungsaktion in der Geschichte Hollywoods.“
Martin Wolf
JAN-PETER BOENING / AGENTUR ZENIT
Staatsoper Unter den Linden, „Tristan und Isolde“-Szene*: Auf Schönklang und Plattenreife getrimmt
Primadonna als
Pflegefall
Künstlerisch strahlt Berlins
Staatsoper Unter den Linden, doch
hinter den Kulissen vergammelt
der Prachtbau. Nun will die Politik
helfen – mit Notlösungen.
M
it dem Tourismus hinter der Bühne hat er Erfahrung. Seit Jahren
führt Klaus Wichmann, Technischer Direktor der Berliner Staatsoper Unter den Linden, immer wieder Besuchern
die malerischsten Scheußlichkeiten des
Opernhauses vor – schaurig-schöne Ansichten einer verkommenden Pracht.
Wichmanns Tour führt vom Dach mit
den offenliegenden Kabelsträngen bis in
den wie eine Kloake riechenden Keller.
Und überall hat der Cicerone des Schreckens dasselbe zu bieten: Verfall, Verrottung, Provisorien. Hinter der imposanten
Fassade ist die Oper nur noch eine abgetakelte Primadonna: verlebt, verbraucht,
verlottert – ein trauriger Pflegefall.
Die Staatsoper, von Georg Wenzeslaus
von Knobelsdorff 1743 unter Preußenkönig
Friedrich II. erbaut, ist die – von weitem –
immer noch schönste Oper der Republik,
ein Barock-Juwel im Herzen der Stadt. Architektonisch ein Glücksfall, technisch ein
Desaster.
Und seit Daniel Barenboim, 63, vor 14
Jahren Generalmusikdirektor wurde und
die Staatskapelle auf Schönklang und Plattenreife trimmt, macht das Haus auch mu-
sikalisch ordentlich was her. Etwa mit bestens besetzten Wagner-Aufführungen wie
zuletzt an Ostern, als Barenboim eine Art
Berliner Bonsai-Bayreuth abhielt. Melomanen aus aller Welt pilgerten zu seinem
„Parsifal“ und zum neuen „Tristan“ im
verschwommenen Gummi-Bühnenbild der
Schweizer Stararchitekten Herzog & de
Meuron.
Doch hinter den Kulissen, klagt der Maestro, geht es erbärmlich zu. Und manchmal merkt sogar das Publikum etwas von
der Malaise. So ging im vergangenen
Herbst ausgerechnet während einer Vorstellung von Verdis „Macht des Schicksals“
für Minuten das Licht aus: kompletter
Stromausfall.
Die Untermaschinerie der Bühne, mit
der Hubpodien verschoben werden können, ist inzwischen lahmgelegt. Verwandlungen bei offener Bühne sind nicht mehr
möglich, Menschen dürfen auf den Podien
nicht mehr bewegt werden, nachdem sich
bei einer Probe zu Wagners „Tannhäuser“
ein Element selbständig machte und meterweit abwärtsrauschte.
Mit schwarzem Humor kolportieren die
Techniker des Hauses den lästerlichen
Spruch, dass der TÜV Berlin-Brandenburg
die Staatsoper schon gar nicht mehr kon-
MARCUS BRANDT / DDP
H AU P T S TA D T
Intendant Mussbach, Dirigent Barenboim
* Mit René Pape, Katarina Dalayman.
192
Billiglösung oder Grundsanierung?
d e r
s p i e g e l
2 0 / 2 0 0 6
trolliere, weil er sonst den Betrieb umgehend stilllegen müsste.
Geradezu stolz weist Wichmann beim
Gang durch das Opernhaus im Keller auf
eine besonders prekäre Stelle. Im Durchgang zur Druckzentrale für die Bühnenmaschinerie quillt seit Jahren klebriges Bitumen aus dem Boden. Die Masse stammt
aus dem Jahr 1928, als die Oper mit einer
riesigen Betonwanne gegen das Berliner
Grundwasser geschützt wurde. Inzwischen
drückt das Wasser gegen den mürben Beton und lässt die klebrige Masse hervorquellen.
Die Schäden und Mängel am Haus sind
so gravierend, dass inzwischen selbst die
Politik reagiert hat – hinhaltend. Der Berliner Senat hat einer Sanierung grundsätzlich zugestimmt, lässt Zeitpunkt und Umfang aber offen. Und auch Bernd Neumann, Staatsminister für Kultur, will im
Prinzip helfen. Schließlich ist seine Chefin
bereits seit langem als Opernfan geoutet.
Auch Unter den Linden ist Kanzlerin Angela Merkel als Selbstzahlerin Stammgast.
Doch selbst höchstes Wohlwollen hat
bislang noch nichts bewegt. Das Land
Berlin ist überschuldet und kann sich eine
teure Sanierung kaum leisten. Selbst eine
Lösung, die nur das Schlimmste verhindert und die baupolizeilichen Auflagen
erfüllt, würde an die 90 Millionen Euro
kosten. „Das wäre das Gröbste“, sagt Peter
Mussbach, 56, der Opernintendant, und
hält diese Ausgabe „für rausgeschmissenes Geld“.
„Die billigste Variante“ (Mussbach) gäbe
es für 113 bis 117 Millionen. Damit könnten
auch kleine Modernisierungen finanziert
werden. Interessant und für die Oper sinnvoll würde es aber erst bei einem Etat von
140 bis 150 Millionen Euro. Dann könnte
sich das Haus auch ein neues Magazingebäude für Kulissen leisten und eventuell
eine Art Wintergarten für die Besucher.
DARMER / POP-EYE
Kultur
Es entstünde „das offene Haus“, von dem
Mussbach träumt.
Der Vorsitzende des Freundeskreises der
Oper, der Unternehmer Peter Dussmann,
ist sich sicher, allein 30 Millionen Euro von
Spendern und Sponsoren auftreiben zu
können. Den Rest müssten sich Bund und
Land wohl teilen.
In einer großen Lösung wäre auch – Barenboims größter Wunsch – die Wieder-
herstellung des vierten Zuschauerrangs
enthalten. Nach dem Krieg hatten die
DDR-Behörden beschlossen, die Decke der
Oper abzusenken, der vierte Rang und mit
ihm ein Gutteil der bis dahin berühmten
Akustik gingen so verloren. Eine Wiederherstellung brächte nicht nur rund 200
neue Zuschauerplätze, sondern auch entsprechende Mehreinnahmen.
Doch ein größeres Platzangebot würde
die mühsam und künstlich aufrechterhaltene Balance zwischen den drei Berliner
Opernhäusern stören und neue Rivalitäten schüren.
Mit jetzt 1396 Plätzen nimmt die Staatsoper Unter den Linden hinter der Deutschen Oper an der Bismarckstraße (1865
Plätze) und vor der Komischen Oper (1270
Plätze) den zweiten Rang ein. Das entspricht in etwa auch den Subventionen
durch das Land Berlin. 36,84 Millionen
Euro bekommt die Deutsche Oper im Westen, 35,90 Millionen die Staatsoper, und
die Komische Oper ist mit 29,22 Millionen
Euro dabei. Der Bund unterstützt die Berliner Staatskapelle, das exzellente Orchester der Staatsoper, zusätzlich mit 1,8 Millionen Euro.
Künstlerisch dominiert die Staatsoper
längst das Berliner Musikleben und hängt
die Deutsche Oper locker ab. Intendant
Mussbach und Dirigent Barenboim hüten
sich jedoch davor, öffentlich die Führungs-
rolle für ihr Haus zu reklamieren. Nach
außen gilt immer noch das Solidaritätsprinzip der drei Berliner Opern: eine für
alle, alle für eine.
Auch Berlins ungeliebter Kultursenator
Thomas Flierl (PDS) hält sich eher zurück.
Seine Autorität, ohnehin nie sehr ausgeprägt, ist spätestens dahin, seit klar ist, dass
Bürgermeister Klaus Wowereit ihn nach
einem möglichen Wahlsieg im September
am liebsten loswerden möchte.
Zudem ist es äußerst unwahrscheinlich,
dass die Bundesregierung durch eine Finanzierungszusage für die Opernsanierung
dem rot-roten Senat von Berlin vor dem
Urnengang ein solches attraktives Wahlgeschenk machen wird.
Derweil ist Klaus Wichmann bei seiner
Führung durch die Oper in einem ungelüfteten Kabuff angekommen, in dem der
Tonmeister seinen Dienst versieht. Dort
steht auf einem wackeligen Tischchen ein
Mikrofon.
Darüber hängt eine handelsübliche
Haustürklingel. Sollen die Besucher zur
Vorstellung oder aus der Pause gerufen
werden, betätigt der Tonmeister die Klingel und überträgt deren Geschepper per
Lautsprecheranlage durchs ganze Haus.
Irgendwie, findet Wichmann, sei die lose
baumelnde Klingel doch ein Symbol für
die Staatsoper. Und für Berlin.
Joachim Kronsbein
Kultur
Pilgerort Santiago de Compostela
Spuren von über tausend Jahren
TOPHOVEN / LAIF
Kerkeling: Keineswegs. Ich rede bloß erst
jetzt über etwas, das ich schon seit etlichen
Jahren tue. Zum Beispiel bin ich einmal
zehn Tage Gast in einem umbrischen Franziskanerkloster gewesen, habe mit den
Mönchen gebetet …
SPIEGEL: … und kein deutscher Sandalenbruder erinnerte sich an Ihren BahnSketch „Klingelingeling, hier kommt der
Eiermann“?
Kerkeling: (lacht) Nein! Ich habe ganz anonym meine Ruhe gehabt, und das ist sehr
wichtig. Wenn ich in Deutschland erkannt
werde, bereite ich Leuten unwillkürlich einen besonderen Moment; das stört mich
auf die Dauer. Auch wenn die allermeisten
sehr höflich und diskret sind: Ich kann die
Begeisterung einfach nicht immer so teilen
und will schon gar nicht dauernd der Knaller sein.
SPIEGEL: Stattdessen sind Sie nun mehrere hundert Kilometer in sengender Hitze
marschiert …
TA G E B Ü C H E R
„Auf den Zähnen gelaufen“
Der Fernsehkomiker Hape Kerkeling über seine
Wanderung auf dem Jakobsweg, deutsche Mühen mit dem
Humor und die neue Sehnsucht nach Form
SPIEGEL: Herr Kerkeling, was ist plötzlich in
Sie gefahren? Hätte Ihnen als Herausforderung nicht auch die Strecke Düsseldorf–Köln genügt?
Kerkeling: Am Ende vielleicht schon – eigentlich ist es fast gleichgültig, wo man
läuft. Aber dieser Jakobsweg existiert eben
seit über tausend Jahren, und ich bilde mir
ein, das hinterlässt Spuren, auch unsichtbare: Legenden und vieles mehr. Vor allem
trifft man erstaunlich viele, die ebenso auf
der Suche sind.
SPIEGEL: Wollten Sie auch körperlich in Bewegung kommen, wie Joschka Fischer das
als „langen Lauf zu sich selbst“ beschrieben hat?
* Hape Kerkeling: „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf
dem Jakobsweg“. Malik Verlag, München; 344 Seiten;
19,90 Euro. Erscheint am 22. Mai.
196
Kerkeling: Nein, es ging mir wirklich um –
ja: um die spirituelle Herausforderung.
Nach dem Göttlichen bin ich schon lange
auf der Suche. Als mir dann nach einer
Gallenoperation und einem Hörsturz klar
wurde, dass ich in so etwas wie einer Lebenskrise stecke, wollte ich meine Zweifel
in einer Auszeit ins Reine bringen, um
ganz banal zu mir und zu Gott zu finden.
SPIEGEL: Große Worte. War nicht auch
Überdruss am Fernsehalltag und Ihrem
Image als fröhlichem Spinner mit im Spiel?
Kerkeling: Nein. So oberflächlich es dort
zugeht, so sehr mich mein Beruf häufig
anödet, dafür liebe ich ihn doch zu sehr.
SPIEGEL: Schon vor über 13 Jahren haben
Sie im SPIEGEL die Verflachung auf dem
Bildschirm verflucht. Sehen Sie Ihre Schreckensvisionen von damals bestätigt?
Kerkeling: Allerdings. Im Fernsehen, ganz
gleich, ob öffentlich-rechtlich oder privat,
geht es um Quote und nur um Quote, da
soll sich niemand was vormachen.
SPIEGEL: Will einer wie Sie da vielleicht
endlich einmal Buße tun?
Kerkeling: Das nicht. Die Pilgerei sollte kein
Gegenprogramm werden. Aber Abstand
gewinnen wollte ich.
SPIEGEL: Reichlich spät und plötzlich, Ihr
kurzzeitiger Ausstieg, oder?
d e r
s p i e g e l
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HAPE KERKELING
Kerkeling, 41, gilt spätestens seit seinem
Auftritt als Königin Beatrix der Niederlande (1991) als netter, anarchischer Spaßvogel des deutschen Fernsehens. Er moderiert zurzeit die RTL-Tanzshow „Let’s
Dance“. Nun veröffentlicht er sein Tagebuch über seine rund 800 Kilometer lange Wanderung auf dem Jakobsweg, der
alten Pilgerstrecke durch Nordspanien*.
Pilger Kerkeling
„Auf das Zielbewusstsein kommt es an“
Kerkeling: … und habe mich dabei am An-
fang komplett übernommen. Die erste
Etappe war gleich die schwierigste, es
regnete in Strömen, und ich war völlig
untrainiert. Klar, dass ich bald auf den
Zähnen gelaufen bin. Um so mehr habe
ich gestaunt, was der Wille oder der Geist
zuwege bringt. Kondition ist nicht entscheidend, auf das Zielbewusstsein kommt
es an. Ich habe jedenfalls tatsächlich
keine Blase an den Füßen bekommen –
erst hinterher, als ich mir am Ziel, in
Santiago de Compostela, neue Schuhe
leistete.
SPIEGEL: Ein Wunder, oder was?
Kerkeling: Ach, was Sie wollen. Ich habe
jedenfalls schnell gemerkt, dass ich nicht
nach irgendeiner göttlichen Instanz, sondern nach mir suchen muss. Historische
Vorbilder waren mir egal. Mehr als das Jakobspilgerbuch der Schauspielerin Shirley
MacLaine hatte ich nicht gelesen, mehr als
ankommen wollte ich nicht.
Sie zuweilen den Bus nahmen und fast nie
in den spartanischen Gratis-Herbergen
nächtigten. Sind Sie ein Luxuspilger?
Kerkeling: Natürlich. Sechs Wochen wegfahren, schon das kann nicht jeder. Muffige Mannschaftsschlafsäle und Gemeinschaftsduschen finde ich seit früher Kindheit grauenvoll und erniedrigend, also habe ich mir, so oft es ging, ein Pensionszimmer genommen. Und nach wochenlangem
Schwitzen in denselben, abends notdürftig
gewaschenen Klamotten war ein neues
Hemd schon wunderbar. Die komplette
Askese ist mir nicht geglückt, zugegeben.
SPIEGEL: Hat das Pilgerdasein nicht auch
etwas Urkomisches?
Kerkeling: Und wie! Ich betrachte sowieso
alles mit neugierigem Humor, aber hier
genügte es oft, einfach den Leuten am Nebentisch zuzuhören. Ich habe für das Buch
wirklich nur ein paar Namen verfremdet.
SPIEGEL: Die anstrengendsten Typen, denen Sie unterwegs begegneten, waren
Deutsche. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Kerkeling: Ich glaube, wir Deutschen können uns nicht ertragen, und das strahlen
wir auch aus. Ich habe das mal ein paar
Stunden lang an der Spanischen Treppe in
Rom erlebt, wo alle ihr Erinnerungsfoto
machen. Die Amerikaner stellen sich für
alle sichtbar und rücksichtslos fröhlich hin.
Die Franzosen sind locker, Japaner akkurat. Nur die Deutschen wollen eigentlich
nicht gesehen werden – und werden gerade dadurch um so sichtbarer. Da nörgelt
der Ehemann: „Hilde, nee, geh du weiter
… nee, so is nich schön. Nu komm, Hilde,
stell dich jetzt bitte da …“ „Aber so seh ich
doch die Kirche nich!“ „Ja, aber komm,
jetzt mach, die Leute kucken schon …“
und so weiter.
SPIEGEL: Und Ihre Erklärung?
Kerkeling: Der Perfektionismus erschlägt
uns, und außerdem wirken wir sowieso
kantig und tumb. Romanen finden uns
schon deshalb zum Brüllen komisch, weil
wir keine Körpersprache haben.
SPIEGEL: Aber eine Pilgertour ist doch etwas Besonderes. Gilt sie nicht wenigstens
für die Gläubigen als witzfreier Raum?
Kerkeling: Im Gegenteil. Fast alle, die ich
getroffen habe, waren sehr humorvoll.
Man begegnet ja auch skurrilen Typen:
Eine hört Stimmen, ein anderer provoziert
grundlos. Eine Brasilianerin wollte mich
insgeheim vom ersten Moment an heiraten
und war erbittert, als sie endlich erfuhr,
dass ich andere Neigungen habe.
SPIEGEL: Trotzdem: Als gigantischen Gag
schildern Sie Ihre Auszeit nun wirklich
nicht. Manchmal klingt Ihre Tagesbilanz
richtig fromm. Ein Signal für das Ende der
Spaßgesellschaft, die alles begrinst?
Kerkeling: Schwer zu sagen. Ich finde ja,
die sogenannte Spaßgesellschaft war für
Deutschland ein Segen. Die Humorkultur
krampfte herum, seit man in der NS-Zeit
alle kreativen, witzigen Köpfe vertrie198
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JENS HARTMANN / PEOPLE PICTURE
SPIEGEL: Das ist Ihnen gelungen – auch weil
Moderator Kerkeling in „Let’s Dance“
„Gemeinsam finden wir den Rhythmus“
ben oder umgebracht hatte. Inzwischen
herrscht einigermaßen Normalität und Offenheit.
SPIEGEL: Soll das heißen, Ihre RTL-Tanzshow „Let’s Dance“, bei der sich die ehemalige Ministerpräsidentin von SchleswigHolstein, Heide Simonis, so blamierte,
stärkt die geistige Volksgesundheit?
Kerkeling: Unsinn. Aber vielleicht mal abgesehen von dieser Situation, wo ein
Mensch durch die Berichterstattung nahezu beschädigt wurde, hat es mir Freude
gemacht. Ich konnte Dinge in eine Form
bringen. Das ist, finde ich, mein Beruf.
SPIEGEL: Wie bitte? Wenn Sie in der Bundespressekonferenz nach Plätzchen fragen
oder als Reporter Horst Schlämmer vor
laufender Kamera Politiker veralbern, brechen Sie da nicht alle gewohnten Formen?
Kerkeling: Sicher, ich hinterfrage sie, aber
ich freue mich doch, dass sie da sind. Seit
einiger Zeit scheint mir, dass wir nicht nur
in Deutschland, sondern überhaupt in der
westlichen Welt wieder auf der Suche nach
Form sind. Es ist alles aus den Fugen geraten. Wir mussten uns zum Beispiel als Kinder auf dem Schulhof noch in Reih und
Glied aufstellen. Natürlich hassten wir diesen Zwang. Aber inzwischen weiß ich, er
gab dem Schultag eine Form. Wenn so etwas freiwillig geht, wäre ich dafür. In meiner Tanzshow passierte genau das: Schrittmuster ohne Worte, Eleganz, die nur gelingt, wenn einer von beiden sich führen
lässt. Gemeinsam bekommen wir es auf
die Reihe, gemeinsam finden wir den
Rhythmus: Das ist doch eine positive Botschaft, sicher unterhaltsam, aber eben nicht
nur unterhaltsam.
SPIEGEL: Ist das Ihr Ernst – die Tanzshow
als Schule des Lebens?
Kerkeling: Es klingt hochtrabend und banal
zugleich, ich weiß. Aber so ist es mit vielen Sachen, nicht wahr?
Interview: Johannes Saltzwedel, Martin Wolf
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Kultur
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom
Fachmagazin „buchreport“; nähere Informationen und Auswahlkriterien finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Bestseller
Belletristik
Sachbücher
1
(1)
Daniel Kehlmann Die Vermessung
der Welt Rowohlt; 19,90 Euro
2
(5)
François Lelord Hectors Reise
(7)
(1)
Frank Schätzing Nachrichten aus
einem unbekannten Universum
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
2
Piper; 16,90 Euro
3
1
(2)
Dan Brown Diabolus
Senta Berger Ich habe ja gewußt,
daß ich fliegen kann
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
Lübbe; 19,90 Euro
4
(3)
Scherz; 12,90 Euro
5
6
(4)
(2)
3
(5)
Eva-Maria Zurhorst
Liebe dich selbst Goldmann; 18,90 Euro
4
(3)
Frank Schirrmacher
Minimum
Tommy Jaud Resturlaub
Cecelia Ahern Zwischen Himmel
und Liebe W. Krüger; 16,90 Euro
Blessing; 16 Euro
Leonie Swann Glennkill
Letzte Rettung
Familie: soziologischer
Thriller zur kinderlosen Gesellschaft
Goldmann; 17,90 Euro
7
(6)
Bernhard Schlink Die Heimkehr
Diogenes; 19,90 Euro
8
(9)
Henning Mankell Kennedys Hirn
9
(10)
Peter Hahne Schluss mit lustig
5
(4)
6
(6)
Dietrich Grönemeyer Der kleine
Medicus Rowohlt; 22,90 Euro
7
(7)
Albrecht Müller Machtwahn
Johannis; 9,95 Euro
Zsolnay; 24,90 Euro
Ingrid Noll Ladylike
Diogenes; 19,90 Euro
10 (13) John Irving Bis ich dich finde
Droemer; 19,90 Euro
Diogenes; 24,90 Euro
8
11 (11) Stephen King Puls
(10)
Harry G. Frankfurt Bullshit
Suhrkamp; 8 Euro
Heyne; 19,95 Euro
9
12 (14) Joanne K. Rowling Harry Potter
und der Halbblutprinz
Carlsen; 22,50 Euro
(12)
Volker Weidermann Lichtjahre
Kiepenheuer & Witsch; 19,90 Euro
10 (13) Shirin Ebadi Mein Iran
Pendo; 19,90 Euro
13
(8)
Truman Capote
Sommerdiebe
11
(8)
Corinne Hofmann Wiedersehen
in Barsaloi A 1; 19,80 Euro
12
(9)
Michael Baigent Die GottesMacher Lübbe 19,90 Euro
Kein & Aber; 16,90 Euro
Die 17-jährige Grady
flaniert durch ein
schwüles New York –
Capotes postum
entdecktes Debüt
13 (16) Lars Brandt Andenken
Hanser; 15,90 Euro
14
14 (12) Ilija Trojanow Der Weltensammler
Hanser; 24,90 Euro
15 (15) Dan Brown Sakrileg
Lübbe; 19,90 Euro
16 (17) Jürgen von der Lippe / Monika
Cleves Sie und Er Eichborn; 12,95 Euro
17
(–)
Minette Walters
Des Teufels Werk
Goldmann; 19,95 Euro
18 (16) Simon Beckett Die Chemie des
Todes Wunderlich; 19,90 Euro
19
(–)
Jan Weiler Antonio im
Wunderland Kindler; 16,90 Euro
(–)
Jürgen Roth Der
Deutschland-Clan
Eichborn; 19,90 Euro
15 (14) Eduard Augustin / Philipp von
Keisenberg / Christian Zaschke
Fußball Unser Süddeutsche Zeitung; 18 Euro
16 (19) John Dickie Cosa Nostra –
Die Geschichte der Mafia
S. Fischer; 19,90 Euro
17 (15) Marion Knaths Vom Krebs
gebissen Hoffmann und Campe; 12,95 Euro
18
(–)
Werner Bartens Das neue
Lexikon der Medizin-Irrtümer
Eichborn; 19,90 Euro
19 (20) Eric-Emmanuel Schmitt Mein
Leben mit Mozart Ammann; 19,90 Euro
20 (18) Irene Dische Großmama packt aus
20 (–) Ben Schott Schotts Sammelsurim
Hoffmann und Campe; 23 Euro
Bloomsbury Berlin; 16 Euro
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199
Kultur
K U LT U R G E S C H I C H T E
Das ganz und gar
Unerträgliche
Haben Frauen für ihre Hingabe
an die Literatur einen zu hohen Preis
gezahlt? Das behauptet ein neuer
Porträtband – mit einer flammenden
Vorrede von Elke Heidenreich.
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202
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GEDENKSTÄTTE DEUTSCHER WIDERSTAND / AFP
BRIDGEMAN ART LIBRARY
* Virginia Woolf (1902), Sophie Scholl (1941), Harriet Beecher Stowe (um 1843).
** Stefan Bollmann: „Frauen, die schreiben, leben gefährlich“. Elisabeth Sandmann Verlag, München; 152 Seiten; 19,95 Euro.
PICTURE-ALLIANCE
ie Geschichte der Frauenemanzipation ist, als zunehmender Erfolg
der Romanform seit der Aufklärung, auch ein Kapitel der Literaturgeschichte. Familien- und Liebesromane, oft
in Briefform – das war schon früh, was es
heute wieder zu werden droht: vor allem
ein Tummelplatz weiblicher Autoren.
Zu ihren historischen Heldinnen gehören
Frauen wie Jane Austen, George Sand,
Harriet Beecher Stowe oder – in deutscher
Sprache – Bettina von Arnim.
Stefan Bollmanns neuer, reich bebilderter Porträtband „Frauen, die schreiben, leben gefährlich“ rekonstruiert einfühlsam die alltäglichen Hindernisse, die
dichtende Frauen der alten Zeit zu überwinden hatten**. Und die diesen Frauen
oft mehr Kräfte abverlangten als etwa
die Geldsorgen ihren männlichen Mitbewerbern. Wobei die Frage offenbleiben
muss: Waren die „häuslichen Pflichten“
(Kinder und Küche) verheirateter Dichterinnen nur Hindernisse oder auch produktive Herausforderungen, ohne die so
mancher Schmerzensschmelz, zumal in
Briefen und Gedichten, niemals Sprache
geworden wäre?
Elke Heidenreich, wer sonst, hat den
vielen anrührenden, vor allem aus den
vergangenen 250 Jahren geschöpften Leidensgeschichten schreibender Damen ein
temperamentvolles Vorwort-Banner spendiert, das deutlich sagt, wer das harmonische Leben dieser Frauen stets dramatisch gefährdet: Es ist der Mann (wer
sonst).
Heidenreich schreibt: „Das, was Männer beflügelt, zerstört offenbar Frauen:
die Gleichzeitigkeit, eine Liebe zu leben
und sich künstlerisch zu etablieren. Dazu
kommt … etwas ganz und gar Unerträgliches: Frauen regeln den Alltag von Männern, damit diese schreiben (oder was auch
immer tun) können. Wer regelt eigentlich
den Alltag von Frauen?“ Und, was noch
ärger ist: „Frauen werden gern als die Musen der Männer bezeichnet. Wer und wo
sind denn aber die Musen der Frauen?“
Schreibende Frauen*
Hindernis Mann?
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Heidenreich spitzt gern zu, und darin
kann sie grandios wirken. Trotzdem hat
sie nicht immer recht. So mancher große Schriftsteller kam ohne weibliche Muse
aus – Marcel Proust oder Thomas Mann
ließen sich lieber von jungen Männern
inspirieren.
Als prominentes Beispiel in ihrer Galerie jener Schriftstellerinnen, die fürs
Schreiben „mit ihrem Leben“ bezahlt haben, nennt Heidenreich Virginia Woolf. Sie
„steckte sich Steine in die Jackentaschen
und ertränkte sich … in einem Fluss – sie
hielt den Wahnsinn des Schreibens nicht
mehr aus“.
Im selben Buch, 79 Seiten später, wird
Heidenreich korrigiert: Virginia Woolf,
neben James Joyce die wichtigste Protagonistin tiefenpsychologisch grundierter
Bewusstseinsströme in Literaturform, war
schwer depressiv, das hatte aber mit ihrer
Liebe zum Wort nichts zu tun. Ihre psychische Erkrankung, schreibt Bollmann zu
Recht, „hätte sich eingestellt, auch wenn
sie nicht geschrieben hätte“.
Virginia Woolf lebte selbstbewusst im
Mittelpunkt recht privilegierter Bohemiens
und wurde auch nicht von ihrem Mann
unterdrückt. Kurz vor ihrem Tod (nicht im
50., wie Heidenreich meint, sondern im
60. Lebensjahr) machte sie ihm das Geständnis: „Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als
wir gewesen sind.“
Im 20. Jahrhundert behindert weniger
der egozentrische Mann die schreibende Frau, eher schon das tradierte Idealbild selbstloser Weiblichkeit. Es verführt
viele Frauen dazu, die eigene Kreativität
zugunsten jener des Mannes zurückzunehmen.
An diesem Bild haben allerdings nicht
nur Macht-Männer und Frauenverächter
wie Friedrich Nietzsche ihren Anteil, daran hat auch, wie Virginia Woolf einmal
feststellt, die „Einbildungskraft“ der Frauen selbst mitgemalt.
Besonders verdienstvoll ist das bewegende Kapitel über „Schreiben als Widerstand“. Dabei geht es um Flugblätter gegen
die Nazis (Sophie Scholl), um Tagebücher
(Anne Frank), um die Briefe einer im Konzentrationslager leidenden Mutter an ihre
Kinder oder um jenes Sittengemälde eines
nicht allzu heftigen Widerstands, das die
russische Erzählerin Irène Némirovsky
während der Nazi-Besetzung Frankreichs
zusammengetragen hat und das erst 2004
unter dem Titel „Suite française“ erschienen ist – 62 Jahre nach der Ermordung der
Autorin in Auschwitz.
Das Buch hat Lücken – warum fehlen
Anna Seghers, Rose Ausländer, Nelly
Sachs? Wieso gibt es kein Namensregister?
Bestechend dagegen: die großformatigen Porträtbilder und die sehr lebendige
grafische Gestaltung. So kann Literaturgeschichte auch Augenmenschen geMathias Schreiber
fallen.
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203
Chronik
6. bis 12. Mai
S A M S TA G , 6 . 5 .
D I E N S TA G , 9 . 5 .
KRAWALL Nach dem Absturz eines briti-
HAFT Eine Schwurgerichtskammer des
schen Militärhubschraubers auf ein
Wohngebiet der irakischen Stadt Basra
kommt es zu Unruhen, bei denen fünf
Menschen sterben.
Frankfurter Landgerichts verurteilt
Armin Meiwes, den sogenannten Kannibalen von Rotenburg, zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe.
FUSSBALL Durch ein 1:1 gegen den 1. FC
Kaiserslautern wird der FC Bayern
München einen Spieltag vor Saisonende
Deutscher Meister.
ERFOLG Deutschland wird in New York
mit 154 Stimmen als Mitglied in den
neuen Uno-Menschenrechtsrat gewählt.
AUFHOLJAGD Michael Schumacher gewinnt
in der Formel 1 auf dem Nürburgring
den Großen Preis von Europa und verringert den Abstand zum WM-Spitzenreiter Fernando Alonso auf 13 Punkte.
TERROR Bei Anschlägen im Irak sterben
über 40 Menschen.
SIEG Die CDU behauptet sich bei den
Kommunalwahlen in Thüringen mit
41,4 Prozent der Stimmen als stärkste
Partei.
M O N TA G , 8 . 5 .
KONTAKTAUFNAHME US-Präsident George
W. Bush erhält einen persönlichen Brief
des iranischen Präsidenten Mahmud
Ahmadinedschad zum Atomstreit.
TAUCHGANG Der amerikanische Aktionskünstler David Blaine verlässt nach
sieben Tagen ohne Schlaf und feste Nahrung einen durchsichtigen Wassertank
vor der New Yorker Metropolitan Opera
und stellt damit einen Weltrekord auf.
SPIEGEL TV
EXTRA
Kämpfen oder kellnern –
Hauptsache Nebenjob
Mehr als drei Millionen Bundesbürger gehen regelmäßig oder unregelmäßig einer
Nebentätigkeit nach – nicht immer ist
die zusätzliche Einnahmequelle nur notwendiges Übel. Ob als Cocktailmixerin,
MITTWOCH, 10. 5.
BELASTUNGEN Die Bundesregierung beschließt die Einschränkung von Steuervorteilen wie der Pendlerpauschale und
dem Sparerfreibetrag.
ITALIEN Im vierten Wahlgang wird der
80-jährige Giorgio Napolitano zum neuen
Staatspräsidenten gewählt.
D O N N E R S TA G , 1 1 . 5 .
STAATSKASSE Der Steuerschätzerkreis
sagt voraus, dass die Einnahmen von
Bund, Ländern und Kommunen um 8,1
Milliarden Euro über den Prognosen vom
vergangenen November liegen werden.
VERSCHÄRFUNG In das deutsche Strafge-
setzbuch wird der neue Paragraf 238
eingefügt, der Opfer von Belästigungen
durch Stalker besser schützen soll.
F R E I TA G , 1 2 . 5 .
KONFRONTATION Im Konflikt um den Ein-
satz der Bundeswehr im Inneren
kann sich die Große Koalition auf keine
Lösung einigen.
DONNERSTAG, 18. 5.
22.05 – 22.55 UHR VOX
ENTTÄUSCHUNG Zwei Monate nach Beginn
SPIEGEL TV
S O N N T A G , 7. 5 .
SPIEGEL TV
Nebentätigkeit als Model
Fetischmodel, Tagelöhner oder erotische
Ringerin – fast jeder Job wird erledigt.
SPIEGEL TV Extra begleitet unter anderem die 22-jährige Julia, die als Model
für Nylonstrumpfhosen ihr Lehramtsstudium finanziert.
FREITAG, 19. 5.
23.25 – 0.25 UHR VOX
SPIEGEL TV
THEMA
Edelkarossen am Haken –
Das Mercedes-Benz-Museum zieht um
des Ärztestreiks scheitert ein weiteres
Spitzengespräch zwischen der Tarifgemeinschaft deutscher Länder und den
Vertretern der Mediziner.
AUSZEICHNUNG Das Stasi-Melodram „Das
Leben der Anderen“ von Florian
Henckel von Donnersmarck gewinnt in
Berlin den Deutschen Filmpreis.
Oldtimer vor Mercedes-Benz-Museum
Ein Model stellt in
Tokio einen BH vor,
dessen Applikationen dazu beitragen
sollen, den dramatischen Geburtenrückgang in Japan
aufzuhalten.
Am 19. Mai 2006 ist es so weit: MercedesBenz eröffnet vor den Toren des Werks in
Stuttgart-Untertürkheim sein neues Museum. Rund drei Jahre dauerten die Bauarbeiten für den futuristischen Tempel
der Markengeschichte, der in seinem
Aufbau einer doppelten Spirale gleicht.
Entstanden ist eines der kompliziertesten Projekte der jüngeren Architekturgeschichte. SPIEGEL TV hat die Bauarbeiten im Museum und den Umzug der
wertvollen Mercedes-Oldtimer exklusiv
begleitet.
YURIKO NAKAO / REUTERS
SONNTAG, 21. 5.
SPIEGEL TV MAGAZIN
Diese Sendung entfällt wegen eines Sonderprogramms auf RTL.
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205
Register
Die Klinsmannschaft steht. Nach der
Nominierung muss die Truppe zuerst
gegen ein Amateurteam aus Brandenburg
antreten. Alles weitere zur WM im
großen SPIEGEL-ONLINE-SPEZIAL.
왘왘
POLITIK
Zitterpartie: Die EU-Kommission
entscheidet, ob Rumänien und
Bulgarien 2007 oder 2008 der
Gemeinschaft beitreten. SPIEGEL
ONLINE analysiert die Chancen
der Wackelkandidaten.
왘왘
NETZWELT
Blogger gegen Mullahs: Oppositionelle in der islamischen Welt
wagen im Internet die freie Meinungsäußerung. SPIEGEL ONLINE
porträtiert die Web-Rebellen.
왘왘
WISSENSCHAFT
Vorstoß ins Dunkel: Kommunikation
mit Koma-Patienten – ein Widerspruch in sich? SPIEGEL ONLINE
berichtet über Forscher, die neue
Zugänge zu den Dahindämmernden
suchen.
왘왘
KULTUR
HipHop: SPIEGEL-ONLINE-Interview
mit dem US-Rapper Juvenile, der
sein neues Album den Opfern des
Hurrikans „Katrina“ widmet.
Jeden Tag.
24 Stunden.
www.spiegel.de
Schneller wissen, was wichtig ist.
GETTY IMAGES
Soraya, 37. Ihr Debütalbum „On Nights
Like This/En esta noche“ widmete die Musikerin ihrer 1992 an Brustkrebs verstorbenen Mutter. Die in den USA aufgewachsene Tochter kolumbianischer Eltern
lernte bereits mit fünf
Jahren Gitarre und
später auch Geige spielen. Ihre selbstgetexteten Lieder sang sie
auf Englisch und Spanisch. 2004 erhielt Soraya einen Latin Grammy. Ihre Songs waren
nicht nur in Süd- und
Nordamerika Chartshits, auch in Deutschland stand ihr erstes
Album wochenlang in den Top Ten. Mit
ihrer Musik und ihrem persönlichen Engagement setzte sich der Latin-Star bis zuletzt für Brustkrebsprävention ein. Im Jahr
2000 wurde bei ihr die Erkrankung im fortgeschrittenen Stadium festgestellt. Trotz
anfänglicher Bedenken in ihrem Umfeld
ging die Künstlerin mit ihrer Krankheit
sehr offen um, so gab sie noch während einer Chemotherapie ein Interview, um anderen Patientinnen Mut zu machen. Soraya
starb am 10. Mai in Miami.
Grant McLennan, 48. Er und sein musikalischer Partner Robert Forster wurden
als „Australiens Lennon und McCartney“
bezeichnet. Wobei McLennan die McCartney-Rolle innehatte, also für die geschmeidigeren und romantischeren Momente verantwortlich war. The Go-Betweens hieß
ihre Band und wurde von Kritikern weltweit geschätzt. Ihr so hochmelodischer wie
gewitzter Gitarrenpop erfreute zuerst die
Briten; die Gruppe lebte eine Zeit lang auf
der Insel. Gefeierte Alben wie „Send Me a
Lullaby“ oder „16 Lovers Lane“ blieben
aber kommerziell hinter den Erwartungen
zurück, Ende 1989 trennte sich die Band.
Nach diversen Solo-Werken startete sie vor
sechs Jahren erneut – mit erstaunlichem
Erfolg. Das McLennan-Werk „Cattle And
Cane“ wurde jüngst unter die „zehn größten australischen Songs aller Zeiten“ gewählt. Grant McLennan starb am 6. Mai
in Brisbane.
Alexander Sinowjew,
83. Der promovierte
Philosoph war als Querdenker eine Ausnahmeerscheinung unter
den sowjetischen Dissidenten. Der Sohn eines Arbeiters und einer Bäuerin wurde
1939 aus politischen
Gründen vom Studium relegiert und kam
aus dem Zweiten Weltkrieg als hochdekorierter Kampfflieger zurück. Nach 1945
machte er in Moskau Karriere an der Akademie der Wissenschaften. Wegen seines
satirischen Romans „Gähnende Höhlen“
wurde er 1978 ausgebürgert und ließ sich in
München nieder. 1999 kehrte er nach Russ206
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land zurück. Der Träger des Europäischen
Essay-Preises von 1977 und Autor von 40
wissenschaftlichen und künstlerischen
Büchern prägte den Begriff vom „Homo
sovieticus“. Heimgekehrt überraschte der
russische Patriot durch Nähe zu den Kommunisten. Nach dem Systemwechsel sah
er sein Heimatland in einer „katastrophalen allseitigen Degradierung“ versinken.
Die national angehauchte Kommunistische
Partei empfand er als stärkste Gegenkraft
zu einem „imitierten Westlertum“, das er
verachtete. Alexander Sinowjew starb am
10. Mai in Moskau an einem Gehirntumor.
DANNY MOLOSHOK / DPA
TESTFALL LUCKENWALDE
Floyd Patterson, 71.
Der drahtige Schwergewichtskämpfer aus
New York schrieb Boxgeschichte, indem er
ein Branchengesetz außer Kraft setzte, wonach ein geschlagener
Weltmeister den Titel
nicht zurückgewinnen
könne („They never come back“). Patterson besiegte 1960 im Rückkampf den Schweden Ingemar Johansson, der ihm zuvor den
WM-Gürtel abgenommen hatte. Der Amerikaner, der 1952 mit 17 Jahren bereits Olympiasieger wurde und vier Jahre später Weltmeister, beendete erst als 37-Jähriger seine
Karriere nach einer K.-o.-Niederlage gegen
Muhammad Ali. Im Alter litt er an möglichen Spätfolgen seines Berufs: „Manchmal
kann ich mich nicht an den Namen meiner
Frau erinnern“, gestand er einmal. Floyd
Patterson starb am 11. Mai in New York.
SERGEY CHIRIKOV / DPA
OLIVER BERG / DPA
gestorben
Eberhard Wachsmuth, 86. Seit dem ersten Heft des Jahres 1955 erscheint der
SPIEGEL-Titel mit dem roten Rahmen.
Dieses Markenzeichen ist nicht das einzige
Vermächtnis des Mannes, der fast 30 Jahre lang als Chefgrafiker und Titelbildgestalter das Erscheinungsbild des Nachrichtenmagazins prägte. Er führte Anfang der
Sechziger die Illustration auf dem SPIEGEL-Titel ein – nach langen Jahren reiner
Fotoporträts bis heute das Mittel der Wahl,
um komplexe Themen pointiert darzustellen. Viele Wachsmuth-Titel sorgten für
Aufsehen, wie der berühmte Spaghettiteller mit Pistole zum Thema Kriminalität
und Terrorismus in Italien (Nr. 31/1977).
Sein größter Coup dürfte allerdings 1972
die „Documenta 5“ gewesen sein: Die
berühmteste Weltausstellung moderner
Kunst zeigte 40 Titelbilder des SPIEGEL.
Eberhard Wachsmuth starb am 11. Mai im
italienischen Evigno.
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Personalien
ANDREA COMAS / REUTERS
Günther Beckstein, 62, bayerischer Innenminister, erwies sich wieder einmal als
prinzipienfeste Haut. Bei der Übergabe
von 50 extra zur Fußballweltmeisterschaft
georderten Polizeiautos vor der Münchner
Feldherrnhalle erschien das BMW-Vorstandsmitglied Michael Ganal, 51. Als passionierter Rechtsaußen brachte er zwei
Bälle mit. Während der Automann leichtfüßig mit dem Ball
tändelte, hielt der Politiker seinen eisern
fest. Er wolle hier
nicht herumkicken,
sagte Beckstein, womöglich noch einen
Wagen beschädigen,
außerdem sei er „immer Handballer gewesen“. Was denn
der Minister gesagt
habe, wollten Mitarbeiter von Ganal wissen, als der, ballverliebt noch immer
dribbelnd, sich zu ihnen gesellte, und warum der Minister nicht
Ganal, Beckstein
gekickt habe. „Der
wollte die Autos von uns nicht kaputtmachen“, brummte der Vorständler: „Der
kann nur Handball und Politik.“
208
Scharapowa
Gernot Mittler, 66, scheidender rheinlandpfälzischer Finanzminister, traf bei der
Finanzministerkonferenz der Länder in
München vor der Residenz auf Ver.di-Demonstranten und gab den bescheidenen,
Marija Scharapowa, 19, Tennisstar und Vermarktungsgenie,
betätigte sich diesmal selbst
als Schiedsrichterin. Die schöne
Weltranglistendritte war vergangene Woche Mitglied einer
Jury, die für das WTA-Damenturnier in Madrid besonders
hübsche Balljungen aussuchte,
allesamt laufsteggeübte junge
Herren. Die sozialistische Regierung Spaniens beklagte daraufhin „den eklatanten Sexismus“ der Organisatoren und
Sponsoren des Turniers. Doch
die konterten ebenso wie die
konservative Zeitung „ABC“,
der Vorwurf sei unfair, es handle sich bei dem Casting um
einen Akt der „Gleichberechtigung der Geschlechter“. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr bereits unter mancherlei harscher Kritik Models
als Ballmädchen ausgesucht
und zur Steigerung der Attraktivität beim WTA-Herrenturnier in Madrid eingesetzt.
auf die Menschen zugehenden Politiker.
Er sei selbst „40 Jahre in der HBV, also
jetzt Ver.di“, er sitze im derzeitigen Tarifkonflikt nun „auf der anderen Seite des
Verhandlungstisches“, sie sollten ihm „mal
vernünftig“ ihre „Ideen mitgeben, statt zu lärmen“, „wir
sitzen doch in einem Boot“.
Mittler nahm Vorschläge entgegen. Kurz darauf erschien
der Verhandlungsführer der
Arbeitgeber, der niedersächsische Finanzminister Hartmut Möllring, 54, und entbot
eine ganz andere Nummer.
„So, mal zur Sache“, herrschte er eine Gruppe der Demonstranten an, „warum stehen Sie hier?“ Ein junger
Mann drängte sich nach vorn.
Er sei „beim Stadttheater von
FRANK OSSENBRINK
Gerhard Schröder, 62, Altbundeskanzler
und Aufsichtsratschef einer Gasprom-Tochter, mag seinen direkten Draht zu Russlands
Präsident Wladimir Putin nicht für Kritiker der russischen Wirtschaftsweise aktivieren. Der britische Magnat William Browder, mit seinem Hermitage Capital Fund
größter ausländischer Finanzinvestor in
Russland – Investitionssumme rund 4,1 Milliarden Dollar, davon 250 Millionen von
deutschen Anlegern –, hatte sich an Schröder gewandt, da ihm seit November vergangenen Jahres die Einreise nach Russland
verweigert wird; dabei hat Browder seit
zehn Jahren einen Wohnsitz in der russischen Hauptstadt und besaß ein bis dato
gültiges Einreisevisum. Browder ist bekannt
dafür, dass er die undurchsichtige Unternehmensführung russischer Firmen mitunter heftig kritisiert. Putin-Freund Schröder hingegen reagierte abweisend: „Ich
habe nur einen knappen Brief erhalten“,
so Browder, „der Vorfall tue ihm leid, aber
er könne mir nicht helfen.“ Das Büro des
Altkanzlers bestätigte die Absage. Die britische Regierung hat in dem Fall unterdes
bei der russischen Regierung interveniert
und will das Thema beim G-8-Gipfeltreffen im Juli in St. Petersburg ansprechen.
Auch die Bundesregierung gibt deutliche
Signale: In Berlin wurde der Zwangsexilant
vorvergangene Woche von hochrangigen
Beamten aus Auswärtigem Amt und Wirtschaftsministerium empfangen.
GETTY IMAGES
FRANK OSSENBRINK
Jurorin Scharapowa
Möllring (M.), Demonstranten
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STEPHANE DE SAKURIN / AFP
Weilheim und …“ Möllring unterbrach:
„Na, sehn Se mal, das ist doch schön, dass
Sie noch einen Job haben, hätt’ ja auch anders kommen können.“ Tumult. Zuletzt
trat der Bundesfinanzminister auf. Peer
Steinbrück sprang medienbewusst aus
dem Auto auf die Demonstranten zu – mit
Bodyguards – und rief, scheinbar ahnungslos: „Worum geht es hier?“ Die Demonstranten lachten nur, der Minister möge
doch mal „auf die Transparente schauen“.
Douste-Blazy
Philippe Douste-Blazy, 53, Außenminister
in Frankreich, setzte die französischen Botschafter in Alarmbereitschaft. Seit geraumer Zeit wird der studierte Arzt und
frühere Gesundheits- und Kulturminister
bei seinen Auslandsreisen auf Schritt und
Tritt von einem hohen Beamten begleitet,
der ihn vor peinlichen Ausrutschern bewahren soll. Anlass dafür waren eine Reihe von Auftritten, bei denen der Minister
seine Gesprächspartner durch offenkundige Wissenslücken verblüffte. So verwechselte der frühere Bürgermeister des Wallfahrtsortes Lourdes mehrfach Taiwan mit
Thailand und Kroatien mit der Unruheprovinz Kosovo. Bei einem Besuch im Jerusalemer Shoah-Museum fragte er, wieso
aus Großbritannien keine Juden deportiert
wurden – und erhielt von dem entgeisterten Museumsdirektor die Antwort: „Aber
Herr Minister, England war nicht von den
Nazis besetzt.“ Problematisch ist auch,
dass „Douste-Blabla“, wie der Minister von
seinen Beamten genannt wird, keinerlei
Fremdsprachen spricht. Als die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice
vor einigen Monaten nach Telefonaten mit
ihren europäischen Amtskollegen auch den
Chef des Pariser Außenamtes sprechen
wollte, erhielt sie einen Korb. Es war Freitagabend, Douste-Blazy war bereits in
seinem Wahlkreis in Toulouse und hatte
keinen Dolmetscher zur Hand. Diplomaten
zufolge, so die Tageszeitung „Le Monde“,
ließ er der konsternierten US-Außenministerin ausrichten, sie solle nach dem
Wochenende wieder anrufen.
KEVIN MAZUR / WIREIMAGE (O.); ABACA / REFLEX (U.)
George W. Bush, 59, US-Präsident, wird
derzeit überrollt von einer Lawine von
Protestsongs, in denen er direkt und persönlich angegriffen wird. „Mr President,
wie schlafen Sie in der Nacht, während der
Rest von uns weint?“, singt Pink, 26, auf
ihrem neuen Album „I’m Not Dead“.
„Let’s impeach the president – lasst uns
den Präsidenten absetzen, der sich der
Religion bemächtigt hat, um gewählt zu
werden“, lautet ein Text von Neil Young,
60, auf seinem jüngsten Album. Und der
Songschreiber und Frontmann von Pearl
Jam, Eddie Vedder, singt in dem Lied
„World Wide Suicide“ angesichts der toten
US-Soldaten im Irak: „Der Präsident lässt
selbstverständlich andere die Zeche zahlen.“ Als die Girls-Band Dixie Chicks vor
drei Jahren den US-Regierungschef kritisierte, wurde sie von den Musiksendern
weithin geschnitten. Aber seit Bushs rekordverdächtigem Umfragetief ist Kritik
am Präsidenten, so weiß „Newsweek“,
„weniger riskant“.
Pink, Young
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Hubertus Heil, 33, SPD-Generalsekretär,
begegnete fernab von Berlin unverhofft sozialdemokratischer Geschichte. Bei einem
Besuch der deutschen Botschaft in Moskau
in der vorvergangenen Woche bat ihn Botschafter Walter Jürgen Schmid auf das Sofa
der Residenz. Kaum hatte Heil Platz genommen, eröffnete ihm der Botschafter:
„Und wenn Sie jetzt noch ein paar Zentimeter weiterrutschen, dann sitzen Sie genau an der Stelle, an der Herbert Wehner
saß, als er über Willy Brandt sagte: ‚Der
Herr badet gern lau.‘“ Reflexhaft rutschte
Heil daraufhin in die Mitte des zweisitzigen
Möbels. Seine Erklärung: „Als bekennender Willy-Brandt-Fan will ich nicht in dieser Ecke sitzen.“ Mit seiner Bemerkung in
Moskau im September 1973 hatte Wehner
maßgeblich zum späteren Rückzug Brandts
vom Amt des Bundeskanzlers beigetragen.
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209
Hohlspiegel
Aus den „Badischen Neuesten Nachrichten“: „Zahlreiche Hitzetote sorgten im
Sommer 2003 für Naturkatastrophe.“
Anzeige aus dem „Hamburger Abendblatt“
Aus dem „Bergsträßer Anzeiger“: „Bei der
Pannenstatistik des ADAC schneiden deutsche Fahrzeug-Marken gut ab. Sie bleiben
oft seltener liegen als die Autos anderer
Hersteller.“
Aus dem Pressedienst des Bayerischen
Bauernverbands
Aus der „Rheinpfalz“: „‚David‘ schleuderte das ungeschriebene Pokal-Gesetz, das
immer eine Chance erkennt für den
Außenseiter, ‚Goliath‘ kam nie gescheit auf
die Beine im Pfalzpokal-Halbfinale der
Handballerinnen in Annweiler.“
Aus einer Buchkritik in der „Bild am Sonntag“: „‚New York Times‘-Journalist Eichenwald hat ein präzises und vor allem
spannendes Buch geschrieben. Die Seiten
kleben einem förmlich an den Händen.“
Aus der Schweizer „Basellandschaftlichen
Zeitung“
Aus der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“:
„Da leben Mensch und Tier auf engstem
Raum, haben ständigen Kontakt und werden oft auch noch gegessen, wenn sie an
einer Krankheit verenden.“
Die „Frankfurter Allgemeine“ über ein Teleskop: „Wie sich im leise verschwingenden Zittern des Stativs die beleuchteten
Bergspitzen des Mondes scharf aus dem
Dunkel erheben und die ungemein leistungsfähige Kombination aus rezipierendem Auge und lichtschnell kalkulierendem
Gehirn das in den Wärmeschlieren des
frühen Abends noch leicht wabernde Bild
vom Mars stabilisiert – das führt durch die
Unendlichkeit des Weltalls wieder ganz auf
den Betrachter selbst zurück.“
210
Rückspiegel
Zitat
Das „Handelsblatt“ erinnert anlässlich
der Wahl Kurt Becks zum neuen
Parteichef an das SPIEGEL-Gespräch
mit dem damals designierten
Vorsitzenden der SPD „Es geht um
das Signal“ (Nr. 16/2006):
Erst trat er mit einem SPIEGEL-Interview
eine unnötige Steuererhöhungsdebatte los.
Zwar hatte er nur in einem Nebensatz gesagt, „die aktuelle Steuerlastquote von unter 20 Prozent“ reiche nicht aus, um sämtliche Zukunftsaufgaben des Staates zu finanzieren … Doch Beck brauchte eine
quälend lange Woche und ein Telefonat mit
dem in Sibirien weilenden Finanzminister
Peer Steinbrück, bis er dem öffentlichen
Eindruck entgegentrat, er fordere über die
bereits angekündigten Steuererhöhungen
hinaus weitere Anhebungen der Abgabensätze. Das lässt nur zwei Deutungen zu:
Entweder war ihm die ursprüngliche Interpretation aus parteitaktischen Gründen
ganz willkommen, oder ihm ist ein ziemlicher medialer Anfängerfehler unterlaufen.
Der SPIEGEL berichtete …
… in Nr. 10/2006 „Die 24. Stunde“ über
den Kampf einer Krankenschwester
gegen das Universitätsklinikum Leipzig.
Sie warf dem Krankenhaus vor, bei
der Behandlung ihres Mannes tödliche
Fehler gemacht zu haben.
Jetzt hat die Krankenschwester vor Gericht
einen Vergleich erreicht. Das Landgericht
Leipzig wies in mehreren Punkten auf ein
Verschulden des Krankenhauses hin. Um
den Patienten fehlerfrei zu behandeln, hätte es eine Röntgenuntersuchung geben müssen, ein frühes EKG bei Aufnahme des
Patienten, eine ärztliche Visite am zweiten
Behandlungstag, eine Verlegung auf die
Intensivstation und eine „engmaschige Beobachtung“ an den beiden Tagen, bevor der
Mann starb.
… in Nr. 19/2006 „Verschwiegene Vergangenheit“ über den Generalsekretär
des Internationalen Sachsenhausen-Komitees, Hans Rentmeister, der hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter gewesen war.
Inzwischen hat der Direktor der Stiftung
„Brandenburgische Gedenkstätten“, Günter Morsch, die Zusammenarbeit mit dem
Ex-Stasi-Mann für beendet erklärt. Die
SPIEGEL-Nachricht, sagte Morsch, „hat
uns sehr enttäuscht“. Der 66-jährige Rentmeister hatte bei einer Gedenkveranstaltung im früheren KZ Sachsenhausen Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm
heftig attackiert, weil dieser auch der Opfer
des dort nach 1945 eingerichteten sowjetischen Speziallagers gedachte.
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Documents pareils