70-73 100 Jahr Kalender

Transcription

70-73 100 Jahr Kalender
GESELLSCHAFT Lebensstil
Wetterhoroskop
aus dem
Mittelalter
Der 100-jährige Kalender ist Legende – und
wird noch immer rege benutzt. Dies, obschon
seine Wettervorhersagen auf einem längst überholten Weltenbild beruhen und in Wirklichkeit
eher nicht zutreffen.
Text und Fotos: Andreas Walker
E
rfunden wurde der 100-jährige
Kalender vom Abt Moritz Knauer
(1613–1664), der das Kloster
Langheim im Bistum Bamberg,
Deutschland, betreute. Knauer hatte sich
zum Ziel gesetzt, aufgrund regelmässiger
Wetterbeobachtungen Aussagen über die
bäuerliche Arbeitsfolge, die zu erwartende Ernte, über Fischmenge, Ungeziefer und sogar Krankheiten zu machen.
Das Ganze war sehr praxisorientiert,
denn die Menschen wollten herausfinden, wann in den einzelnen Jahren gesät
und geerntet werden soll und in welchen
Jahren gute und schlechte Ernten zu erwarten wären. Daraus ging wiederum
hervor, wann man Vorräte anlegen sollte,
wann hohe Marktpreise zu erwarten
waren und wann man sich besonders
vor Krankheiten schützen sollte.
So entstand eine Zusammenstellung
von Wettervorhersagen, die als «Calendarium oeconomicum practicum perpetu»
verfasst wurde. Dieses Buch sollte Knauer
und seinen Klosterbrüdern ermöglichen,
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das Wetter in Franken vorherzusagen
und damit die Landwirtschaft zu optimieren. Knauer machte sieben Jahre
lang, von 1652 bis 1658, tagebuchartige Wetteraufzeichnungen, jedoch
ohne meteorologische Messinstrumente.
Der Siebenjahreszyklus
Nach diesen sieben Jahren stellte der Abt
seine Wetterbeobachtungen ein, denn er
war der festen Meinung, dass das Wetter
durch die Planeten bestimmt wird. Wichtig zu wissen ist: Zu jener Zeit war der
Teil unseres Sonnensystems jenseits des
Saturns noch völlig unbekannt. Zudem
betrachtete man Sonne und Mond als
Planeten. Daraus ergaben sich die sieben
wetterbestimmenden Planeten: Sonne,
Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und
Saturn.
Hinter dieser Art von «Wetterhoroskop» stand der Glaube, dass diese
sieben Planeten in einem festen immer
wiederkehrenden Rhythmus die Natur
und damit auch das Wetter beeinflussten.
Ein solches «Planetenjahr» dauerte jeweils von Frühlingsanfang zu Frühlingsanfang.
In diesem regelmässigen Zyklus
konnten gelegentliche Störungen auftreten, verursacht etwa durch Kometen
oder eine Sonnenfinsternis. Ansonsten
aber glaubten die Gelehrten des späten
Mittelalters an diese vorgegebene Regel-
Lebensstil GESELLSCHAFT
Ein Arzt vollendet das Werk
mässigkeit. Jeder Planet prägte «seinem
Jahr» eine bestimmte Witterung auf. So
war zum Beispiel ein Jupiterjahr warm
und trocken, während ein Saturnjahr
kalt und feucht war.
Nach einer Siebenjahresperiode begann der Zyklus wieder von vorn, deshalb beendete Knauer in gutem Glauben
nach sieben Jahren seine Beobachtungen.
Hätte er seine Beobachtungen noch einige Jahre weitergeführt, so hätte er feststellen müssen, dass die Natur viel komplexer ist, als er angenommen hatte. 1664
starb er, ohne seine Aufzeichnungen
aber je veröffentlicht zu haben.
Dies übernahm später der geschäftstüchtige Arzt Hellwig aus Frankfurt. Er ordnete den Wetteraufzeichnungen von
Knauer die Planeten für die Jahre 1701
bis 1801 zu. 1721 erschienen dann diese
modifizierten Aufzeichnungen erstmals
unter dem Begriff «100-jähriger Kalender».
Das Büchlein war ein Erfolg und
seine Bedeutung so gross, dass es zur Zeit
Friedrich des Grossen neben der Bibel
zu den am meisten verbreiteten deutschen Büchern gehörte. Seine Popularität
war so enorm, dass er nicht nur in
Deutschland, sondern auch in den östlichen Nachbarländern zur Wettervorhersage herangezogen wurde.
Vergleicht man nun aber Wetterereignisse im 100-jährigen Kalender
mit dem realen Wetter, so kann es
durchaus sein, dass ein «vorhergesagtes Ereignis» eintrifft, denn
dieser Kalender behauptet grundsätzlich nichts Unmögliches.
Wenn man also Ereignisse erwartet wie eine trübe erste Februarhälfte oder starke Gewitter Anfang August, so kann dies
durchaus zutreffen. Es kann
aber genauso gut danebengehen. Im 100-jährigen Kalender sind auf lange Sicht
hin genauso viele Treffer
wie Nieten zu erwarten.
Dass sich der 100-jährige
Kalender bis heute grosser Beliebtheit erfreut, liegt
wohl vor allem einem Wunschdenken
zugrunde, das Wetter wirklich vorausberechnen zu können.
Die andauernde Beliebtheit des 100jährigen Kalenders zeigt, dass er trotz
aller Vorbehalte als ein Stück Volksgut
anzusehen ist. Auch wenn er die meteorologischen Erwartungen nur zufällig
erfüllt, bleibt er ein interessantes Objekt
der Kulturgeschichte.
Wetter ist schwer
berechenbar
Heute ist bekannt, dass gerade das Wetter
ein System ist, welches nicht einem periodischen Zyklus folgt. Es ist ein so genanntes «chaotisches System», welches
fast so unberechenbar ist wie ein Lebewesen.
Historisches Titelblatt
des 100-jährigen Kalenders
Macht man bei der Berechnung von
Planetenbahnen einen unbedeutend
kleinen Fehler, so schlägt sich dieser Fehler im Ergebnis auch unbedeutend klein
nieder. Beim Wetter jedoch scheinen
sich unbedeutend kleine Fehler mit der
Zeit sehr gravierend bemerkbar zu machen. So ist in der Meteorologie der
Schmetterlingseffekt bekannt geworden,
eine Vorstellung, die besagt, dass ein
einzelner Schmetterling, der mit seinen
Flügeln in Peking die Luft bewegt, einen
Monat später Sturmsysteme über New
York beeinflussen kann.
Würde der 100-jährige Kalender
funktionieren, wären die Meteorologen
schon längst alle arbeitslos geworden,
denn dann wären ohne Probleme Wettervorhersagen über Tage, Wochen, Monate,
ja sogar Jahre möglich – und das mit einer
Trefferquote von 100 Prozent.
Die Realität zeigt jedoch immer wieder, dass selbst mit den grössten und
leistungsfähigsten Computern bereits eine
Fünftagesprognose eine recht unsichere
Sache ist.
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Mittelalterliche Studierstube:
Ein Gelehrter berechnet das Wetter
mit Hilfe der Planeten
Infobox
Literatur zum Thema
• «100-ähriger Kalender 2007»,
Verlag Mohndruck 2006,
ISBN: 3-8318-3112-2, Fr. 24.80
• Aabe: «Wetter-Lexikon»,
Verlag Unterwegs 2006,
ISBN: 3-86112-214-6, Fr. 9.20
• Albisser: «Wetterkunde für Bergsteiger»,
Verlag SAC 2001,
ISBN: 3-85902-201-6, Fr. 39.–
• Allaby: «Faszination Wetter», Verlag Dorling
Kindersley 2001, ISBN: 3-8310-0082-4
Fr. 26.80
Internet
• www.meteo.ch
• www.swisswetter.ch
• www.sgm.ethz.ch
Auf Bauernregeln
ist Verlass
Anders ist die Situation bei Bauernregeln. Sie beinhalten Wetterprognosen
für längere Zeiträume. Ihre Entstehung
verdanken sie sehr sorgfältigen Beobachtungen, die die Bauern der heranreifenden Ernte schenkten. Die Ernte und
somit auch der Wohlstand hingen sehr
direkt vom Wetter ab. Früher, als noch
keine modernen Wetterstationen existierten, waren die Bauernregeln sehr
wichtig. Sie waren die einzige Möglichkeit, den Trend des Wetters und somit
auch indirekt den Lohn der Arbeit abzuschätzen.
Obwohl das Wetter manchmal wilde
Kapriolen schlägt, gibt es dennoch einen ungefähren durchschnittlichen Jahresverlauf. Dieser hängt von unzähligen, verschiedenen Faktoren ab und
ist auch heute noch schwer durchschaubar. Moderne Forschungen zeigen, dass
selbst weit entfernte Faktoren wie Mee-
Der 100-ährige Kalender zum Wetter im Jahr 2006
Juli desto mehr. Der Mai ist von Anfang bis gegen den 16. sehr schön mit
großer Hitze, doch etwas Regen. Darauf folgt große Kälte mit Hagel, Reif
und Eis bis gegen den 25., danach wieder kalte Regenfälle. Der Juni ist sehr
schön, bisweilen aber von Regen unterbrochen.
Abt Moritz Knauer,
der Erfinder des 100-jährigen Kalenders
Das Mondjahr ist insgesamt mehr
feucht als trocken. Es ist auch mehr
kalt als warm, weil der Sommer zwar
manchmal heiß sein kann, meistens
aber kalt ist.
Der Frühling
Der Frühling ist sehr feucht und daneben warm, doch gibt es zwischendurch
auch Frost. Der ganze März ist kalt,
der April von Anfang an bis gegen den
14. verregnet – auch an schönen warmen Tagen geht zwei- oder dreimal
Regen nieder. Es folgen einige raue
kalte Tage, danach ist es wieder
schön, bis gegen Ende des Monats erneut viel Regen fällt.
Merke: Wenn um diese Zeit wenig Regen fällt, so kommt er im Juni oder
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Der Sommer
Der Sommer ist manchmal sehr warm,
doch er kommt spät und dauert nur
kurz. Öfter aber ist er sehr kalt und
bis nach Bartholomäus (24. August)
nass und sehr kalt. Ebenso beginnt auch
der September, der vom 7. bis 14.
starken Reif und Frost bringt und im
übrigen bald feucht, bald schön warm
ist.
Merke: Wenn im Venus-Jahr, das
zwei Jahre vor dem Mond-Jahr liegt,
der Sommer trocken gewesen ist, so
ist dieser jetzt sehr feucht mit täglichem Regen bis Ende August. Ist er
aber feucht gewesen, so ist er in diesem Jahr auf sechs oder sieben Wochen schön, besonders wenn es im
Frühling eine Sonnenfinsternis gegeben
hat.
Der Herbst
Der Herbst ist kalt und anfangs feucht
und unbeständig. Vom 14. Oktober an
wird er sehr kalt, es friert beständig
mit einzelnen Schneefällen und etwas
Regen. Der November fängt mit starkem Regen an, danach friert es. Ab
Mitte des Monats wird das Wetter milder, gegen Ende wintert es zu.
Der Winter
Der Winter ist anfangs mittelmäßig
kalt, danach sehr feucht und regnerisch. Der Dezember bringt bald
Schnee, darauf große Regengüsse.
Nach dem 20. ist es ziemlich kalt,
aber trüb bis gegen den 12. Januar.
Danach wird es etwas milder, doch
folgt wiederum Kälte bis gegen den
25., wo erneut große Regengüsse
niedergehen. Es wird dann bald wieder
kälter, bis nach dem Anfang des Februar wieder heftiger Regen niedergeht, dem starke Schneefälle und nach
etlichen Tagen noch einmal Regengüsse
folgen. Vom 17. an fällt mildes Wetter
ein mit einigen schönen warmen Tagen
bis zum Ende des Monats. Der März
ist anfangs rau und kalt, danach viele
Tage lang sehr warm und am Ende
klar, kalt und rau. In diesem Winter
sterben viele Schafe und auch die Bienen.
Lebensstil GESELLSCHAFT
resströmungen, antarktisches Eis,
Wüstengürtel und Tropenwälder
das tägliche Wettergeschehen beeinflussen.
Dies war natürlich schon früher so, nur wussten die Menschen
davon noch viel weniger als heute.
Trotzdem war es möglich, brauchbare Trends abzuschätzen, die
in den Bauernregeln festgehalten
wurden. So konnte festgestellt
werden, dass ein bestimmtes Wet-
terereignis ein anderes nach sich
zieht, ohne dass man über dessen
Ursachen Bescheid wusste. So entstand mit der Zeit ein Wissen, das
es ermöglichte, Wetterregeln ganz
praktisch anzuwenden.
Systematische Untersuchungen
von Bauernregeln haben gezeigt,
dass sie – im Gegensatz zu den
Prognosen des 100-jährigen Kalenders – in zwei von drei Fällen ziemlich genau stimmen.
■
Der 100-ährige Kalender im Test
Nicht nur für das ganze Jahr, auch für den
einzelnen Monat sagt der 100-jährige
Kalender das Wetter voraus. Ein Vergleich
mit den tatsächlichen Wetterereignissen
zeigt, wie wenig die mittelalterlichen
Prognosen zutreffen.
Mai-Wetter im 100-jährigen Kalender:
Der Monat fängt mit einer herrlich schönen
warmen Zeit an, bis zum 9. herrscht sehr
grosse Hitze wie in den Hundstagen. Vom
10. bis zum 13. regnet es, der 14. und 15. sind
wieder schöne Tage. Am 16. fällt Regen,
danach ist es kalt. Am 23. hat es vier mal
gehagelt, und es war sehr kalt. Am 24. gibt es
Reif und Frost, vom 25. bis 27. starken Regen.
Der 28. und 29. sind kalt, der 30. und 31.
schön warm.
Das tatsächliche Mai-Wetter
Der ganze Monat war geprägt durch unbeständiges Wetter mit meist milden Nächten.
Dadurch erreichten die meisten Tage überdurchschnittliche Tagesmitteltemperaturen.
Nach Angaben von MeteoSchweiz gab es
Kälterückschläge nur am 9. Mai und vor allem
zum Monatsende, als 6 bis 9 Grad
unterdurchschnittliche Temperaturen gemessen wurden und Schnee teils bis unter
1000 Meter hinunterfiel. Starke Gewitter und
Hagelunwetter blieben aus.
Juni-Wetter im 100-jährigen Kalender:
Der Juni fängt mit herrlich schönem Wetter
an, das bis zum 4. dauert. Am 5. ist es sehr
neblig, am 6. fällt starker Regen, danach gibt
es schönes warmes Wetter, bis zum 27. fällt
nur zweimal ein wenig Regen. Am 28. und 29.
regnet es, der 30. hat eine sehr kalte Nacht.
Das tatsächliche Juni-Wetter:
Nach dem viel zu nassen, unbeständigen Mai
und dem zu kalten Junianfang stellte sich die
Grosswetterlage am 7. Juni über Mitteleuropa
komplett um. Nach Angaben von MeteoSchweiz
verlagerte sich ein kräftiges Hoch mit seinem
Zentrum von den Britischen Inseln nach
Mitteleuropa und Skandinavien. Die kalte
Nordströmung verschob sich dementsprechend nach Osteuropa. Das heisse Sommerwetter verursachte in der zweiten Junihälfte an
etlichen Orten starke Gewitter mit Sturmböen
und Hagelschlägen.
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