Bericht Eltern - Gedenkportal Raphael „Raffi“ Abt

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Bericht Eltern - Gedenkportal Raphael „Raffi“ Abt
Raphael in Los Angeles
Gedenken besteht nicht in der Aufbewahrung der Asche,
sondern in der Weitergabe des Feuers
Gustav Mahler
Liebe Freunde
An den Gedenkfeiern vom 15.12.12 im Hotel Seerose, Meisterschwanden und am 18.1.13 im Hotel Post,
Mitterdorf/Steiermark, haben wir Euch informiert:
Der andere Teil seiner Asche werden wir im Laufe des kommenden Sommers nach L.A. bringen, um ihn im Dreieck von Beverly Hills,
Laurel Canyon und West Hollywood auszustreuen. So kommt Raphael doch noch in sein geliebtes Kalifornien.
Vom 9. – 18.6.13 haben wir das nun ausgeführt. Diese Tage waren so bewegend und tiefgründig, dass wir Euch
hierüber gerne ausführlicher berichten möchten:
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Nach einem 12-stündigen Flug von Zürich nach Los Angeles bezogen wir im Hotel Casa del Mar, das
direkt am Strand gegenüber dem Peer von Santa Monica liegt, unser Zimmer. Nach einem Sushi setzten
wir uns an die Bar, um einen Nachtdrink zu nehmen. Dabei kamen wir mit einem neben uns sitzenden
Mann ins Gespräch, der uns einige Empfehlungen über Aktivitäten in Santa Monica gab. Er stellte sich
dann als ein Juwelier aus Santa Monica vor. Wie in Amerika üblich, stellte er sich mit Vornamen vor:
Rafael. Uns stockte der Atem: 10‘000 km von zu Hause weg, und der erste Mensch mit dem wir näher
ins Gespräch kamen, heisst wie unser Sohn. Was für ein Empfang!
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An einem Abend waren wir durch die Vermittlung des Musikers und Musikproduzenten Al Walser im
Schweizer Konsulat zu einem Event: Creative Swiss, Artist Community Network, eingeladen. Neben
honorigen Künstlern aller Art lernten wir auch die junge Aargauer Sängerin Manou Oeschger aus Wil
AG kennen. Im Gespräch mit ihr bekamen wir einen Einblick, wie junge Musiker den Erfolg anstreben:
Mit 18 Jahren studierte sie in New York Schauspiel, Tanz und Gesang. Zwischenzeitlich war sie mit der
Band BeFour erfolgreich. Seit 2010 baut sie weiter an ihrer eigenen Karriere in Los Angeles und hat
nun nach 3 Jahren harter Arbeit ihren ersten Auftritt als Sängerin am 14.7.13 im berühmten Rockclub
Whisky a Go Go am Sunset Strip in West Hollywood. Unvergesslich: Sie strahlte eine
aussergewöhnliche Leidenschaft für Musik und eine zielgerichtete Unbeirrbarkeit in ihren Bemühungen
aus. In ihrem ganzen Habitus glich sie unserem Raphael.
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Täglich spazierten wir den langen, feinsandigen Strand von Santa Monica nach Venice Beach und
zurück. Die dortige quirlige und lebenshungrige Atmosphäre scheint ein Schmelztiegel für erste
künstlerische Aufritte zu sein: Bei manch einer Bluesband hätte Raphael den Leadgitarristen jederzeit
ersetzen können.
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Ein ganz besonderes Vergnügen waren die Besuche der beiden Getty Museen:
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im Getty Center in den Ausläufern der Santa Monica Berge. Ein auf drei Quadratkilometern
angelegtes Labyrinth eines architektonischen Meisterwerks für Gemälde, Skulpturen,
Fotografien, Dekorativkunst, alte Manuskripte und Konstruktionszeichnungen. Besonders
angetan waren wir vom Portrait der Prinzessin Leonilla von Sayn-Wittgenstein-Sayn (1843)
vom deutschen Maler F. X. Winterhalder. Die Ausstrahlung der Prinzessin wirkt wie die
Verkörperung der wissenden Melancholie. Wir waren augenblicklich angesprochen, da die
Prinzessin zeigt: Unsere tiefe Trauer um den Tod von Raphael ist einer lebensfähigen
Melancholie gewichen. So scheint unser Leben weiterhin möglich.
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in der Getty Villa in Malibu am Pacific Coast Highway. Eine auf 26 ha nachgebaute Villa dei
Papiri, ein römisches Landhaus in Herculanum, welche Stadt beim Vesuvausbruch 79 n. Chr.
untergegangen war. Mittels Skulpturen der Griechen, Etrusker und Römer werden die Kulturen
der antiken Welt des Mittelmeeres gezeigt. In Bann geschlagen hat uns die in der Mythological
Heroes Gallery ausgestellte Terracotta Staue des legendären Musikers Orpheus: Orpheus stieg
in die Unterwelt, um durch seinen Gesang und das Spiel seiner Lyra den Gott Hades zu
bewegen, ihm seine Geliebte zurückzugeben. Seine Kunst war so groß, dass ihm seine Bitte
tatsächlich gewährt wurde. Wunderbar, als die alten Götter noch helfen konnten. Heute:
Raphael und uns verbindet sein herrliches Gitarrenspiel.
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An einem wolkenlosen, heissen Nachmittag beschlossen wir am im 5. Stockwerk gelegenen Pool uns
einige Stunden zu entspannen. Sogleich kamen wir mit einem neben uns liegenden jungen Mann ins
Gespräch: Julien Brand, ein aufstrebender Jungschauspieler in Hollywood, Sohn von Annie Finch, der
berühmten amerikanischen Lyrikerin aus Main (ihr Vater war noch Schüler des österreichischen
Philosophen Ludwig Wittgenstein) und Glen Brand, dem Umweltaktivisten. Beeindruckend: Julien
hatte eine Zulassung zur George Washington University, lehnte sie aber ab, weil er lieber Schauspieler
werden wollte. Er studierte an der New York Tisch School of the Arts bevor er nach Hollywood kam,
um hier zu reüssieren. Gerade hatte er für einen Fernsehfilm 4 Wochen ununterbrochen ohne Pause
gearbeitet; jetzt wartet er Woche um Woche auf einen neuen Auftrag. Damit er seine Arbeit sofort auf
hohem Niveau beginnen kann, trinkt und raucht er nicht, geht auf keine Partys, sondern studiert andere
Schauspielvorbilder wie Jack Nicholson oder in Frage kommende Skripts. Wir bekamen einen Einblick,
mit welch erstaunlicher Kraft und Konsequenz, mit welcher Leidenschaft dieser ungewöhnliche junge
Mann seiner Berufung nachkommt. Erinnerung: Raphael hatte jeden Tag mehrmals auf seiner Gitarre
geübt und experimentiert, ohne jemals dazu angehalten worden zu sein. Welch eine unbezähmbare
Leidenschaft dieser jungen Menschen: Raphael, Manou, Julien; überwältigend und vorbildlich.
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Mit grossen Erwartungen haben wir das berühmte Musicians Institut MI, College of Contemporary
Music am Hollywood Boulevard vis à vis des Dolby Theatre, wo die Oscar Verleihungen alljährlich
stattfinden, besucht. Hinter einem unscheinbaren, bewachten Eingang erstreckt sich ein monumentales
Backsteingebäude. In dessen Hall of Fame erlebten wir eine Überraschung; zwei Bilder zeigen Slash
mit Graduierten des MI: Jennifer Batton, die amerikanische Gitarristin spielte mit Slash bei Michael
Jackson; und Dave Kushner, der amerikanische Gitarrist war mit Slash Mitglied bei Velvet Revolver.
Beide wurden hier zur Meisterschaft geformt. Hätte das Raphael gewusst, wäre er absolut sicher
gewesen, am richtigen Ort zu studieren. Die Atmosphäre mit all diesen jungen, coolen, aufstrebenden
Musikern war kreativ, aufgeräumt, fröhlich: eine Werkstatt, aus der die Gitarristen der nächsten
Generation kommen. Raphael wäre einer von ihnen geworden: his life - his career - his school!
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Besonderen Dank schulden wir Al Walser, der uns in diesen bewegenden Tagen hilfreich zur Seite
stand. Bei einem Nachtessen in der Polo Lounge des Beverly Hill Hotel am Sunset Boulevard haben wir
besprochen, wo ein geeigneter Platz für Raphael sein könnte. Al empfahl uns die Gegend um das
Griffith Observatory von Los Angeles an der Südseite des Mount Hollywood im Griffith Park in
300m Höhe.
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Am Freitagmorgen um 10 Uhr haben wir uns auf den Weg dorthin gemacht. Der Rundblick beim
Observatorium über ganz Los Angeles bis hin zum Pazifik ist hinreissend, träumerisch. Auf der
rechten Seite sieht man den legendären Schriftzug „Hollywood“ weiss in der Sonne gleissen.
Langsam stiegen wir den Hügel vor dem Observatorium hinauf. Nach einigen hundert Metern
sah Gabriela einen überaus grossen, schwarz-weiss gestreiften Schmetterling, eine Art
überdimensionierter Schwalbenschwanz aus der Familie der Papilionidae. Er sass friedlich auf
einem Strauch, als er sich plötzlich erhob, uns umflog, weg- und wieder zu uns zurückflog, einen
Zitronenfalter von uns wegtrieb; ein friedlich-fröhlicher Tanz, der nur uns zu gelten schien.
Dieses durch und durch luftige Wesen verband sich sofort mit unserer Absicht: für die alten
Griechen stellte ein Schmetterling die Seele dar, für uns den Führer zum Platz für Raphael. Wir
folgten seinem Flug zu einer Bank mit Aussicht auf den Hollywood Hill und den Laurel Canyon.
(Raphael erzählte einmal, dass er bei seinen Motoradausfahrten öfter bei einer Bank auf einem
Hügel angehalten und sich hingesetzt hat, um die Stille und die Aussicht zu geniessen). Wir
setzten uns, und der Schmetterling verschwand. Stille umfasste uns. Eine vor uns stehende alte,
mächtige Föhre erweckte unser Interesse. Ein kleiner, unscheinbarer Weg führt von der Bank
zum Baum. Wir beide wussten sofort, dass dies der Ort für Raphael ist. Am Freitag, 14.6.13
genau um 12 Uhr mittags (High Noon) haben wir am Fusse dieser alten Föhre seine Asche
ausgestreut. Lange noch verweilten wir dort in schweigender Erinnerung an unseren über alles
geliebten Sohn. Gerade als wir uns entfernen wollten, flogen plötzlich zwei Raben heran und
setzten sich unbeweglich auf einen benachbarten Baum. Der schwarze Vogel war bei den alten
Ägyptern der Todesbote, der aus dem Totenreich zu den Lebenden kam, um sie zu mahnen, sich
wieder dem Leben zuzuwenden. Dadurch hatte sich der Lebenskreis für uns wieder geschlossen.
Als wir uns Richtung Observatorium aufmachten, verliessen wir den Wald durch ein hohes
Holztor unterhalb der Bank, und umdrehend lasen wir: Welcome to Berlin Forest, dedicatet to
the Friendship between Berlin and Los Angeles, 1967. Raphael hat also seinen Platz auf
europäisch-amerikanischem Boden. Es ist wohl nicht verwegen, wenn wir glauben, dass dieser
High Noon ein mystisches Erlebnis für uns war: Raphaels Platz ist nun unsere Lebensquelle.
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Nach einer Besichtigungstour des berühmten drei Kilometer langen Rodeo Drive mit seinen innen so
extravagant ausgestatteten Boutiquen erholten wir uns an der Bar im The Blvd des Beverly Wilshire
Hotel am Wilshire Boulevard. Bald kamen wir mit einem neben uns sitzenden, in Beverly Hills
praktizierenden Schönheitschirurgen ins Gespräch: Er habe in uns sofort die Europäer erkannt, er reise
sehr gerne in Europa herum. Was wir denn an Amerika liebten? Wir: Die Weite und Grösse des Landes,
die Freundlichkeit und Spontaneität der Amerikaner, ihre Hilfsbereitschaft und Toleranz. Aber was
liebe er denn an Europa? Er: die Differenziertheit und Tiefe der Europäer, die Überschaubarkeit der
Länder. So hatten wir einen weiteren Hinweis, warum Raphael und wir von Amerika so angetan waren
und sind.
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Als wir im LAX International Airport Los Angeles auf unseren Abflug warteten, war neben uns noch
ein kleiner Tisch mit wenigen Plätzen frei. Nacheinander kamen acht baumlange, bärtige Kerle in
Ledermonturen und drückten sich um diesen Tisch; bald sahen wir, dass alle Harley Davidson Jacken
anhatten. Darauf angesprochen, erzählten Sie uns, dass sie die Route 66 mit 6‘500 km Länge in 21
Tagen mit gemieteten Harleys befahren hätten. (Sie beginnt in Chicago und endet in Santa Monica; der
letzte R 66 Store befindet sich auf dem Santa Monica Peer, nicht unweit unseres Hotels Casa del Mar).
Sie seien alles Norweger mit eigenen Harleys zu Hause. Letztes Mal hätten Sie den Grand Canyon
befahren. Erinnerung: Raphael wollte unbedingt den Grand Canyon und die Route 66 mit dem
Motorrad befahren, zusammen mit uns und seinem Freund Loris. Mit dieser Erinnerung an unser
Versprechen (das wir immer noch gegenüber Loris haben), das zu tun, endete diese unfassbare Woche.
Was für ein Abschied!
Liebe Freunde, entschuldigt bitte diese langen Ausführungen, aber wir konnten nicht anders. Obwohl wir an
keine Vorsehung, keine Hinter-oder Überwelten ö. ä. glauben, haben diese wunderbaren Tage doch ein
mystisches Gefühl in uns geweckt, das nicht verblasst. Vielleicht wisst ihr mehr hierüber, dann freuen wir uns,
mit euch uns auszutauschen.
Herzliche Grüsse
Gabriela & Armin Abt
Nachtrag: Spenden für Raphael
Nach Gesprächen mit unserem Anwalt und dem Musiklehrer von Raphael, Stefan Meister, sind wir zum fachlichen Schluss gekommen,
dass wir das gesamte Equipment von Raphael und alle eingegangenen Spenden in einen technisch voll ausgerüsteten Bandraum für begabte
Nachwuchsmusiker investieren wollen. Stefan Meister hat hierfür zusammen mit den Verantwortlichen der Musikausbildung an der Alten
Kantonsschule Aarau AKSA ein entsprechendes Projekt lanciert. Der Bandraum soll in neuen Räumlichkeiten der AKSA implementiert
werden. Sowohl die Schulleitung der AKSA als auch das Departement für Bildung, Kultur und Sport BKS Kanton Aargau haben ihre
Unterstützung zugesagt. Sobald das Projekt tatsächlich realisiert ist, werden wir wieder informieren. Zudem haben wir die Architektur für
Raphaels Gedenkportal entwickelt und lassen es von der eicom GmbH ins Netz stellen; es soll am Todestag von Raphael, 23.11.13 für die
Öffentlichkeit zugänglich werden. Inzwischen danken wir allen Spendern nochmals ganz, ganz herzlichen für ihre Zuwendungen, die
das Gedenken an Raphael und seine musikalische Leidenschaft so wertvoll unterstützen.