4 Merkmale einer Platonischen Idee Platon hat seine Ideenlehre

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4 Merkmale einer Platonischen Idee Platon hat seine Ideenlehre
4 Merkmale einer Platonischen Idee
Platon hat seine Ideenlehre nicht in einem systematischen Zusammenhang dargelegt; infolgedessen muss
man sie aus verschiedenen Stellen zusammentragen. Sie war jedoch für ihn keineswegs selbstverständlich,
was aus einer Selbstkritik und aus der Kritik anderer damaliger Missverständnisse innerhalb der Akademie
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hervorgeht .
Bereits in den Frühdialogen bedeuten Tugenden zugleich etwas an sich Seiendes; sie müssen demnach
ontologische Bedeutung haben: So ist z.B. die Tugend der Tapferkeit etwas allgemein Geltendes und liegt
den jeweiligen tapferen Handlungen zugrunde. Die Tugenden erweisen sich somit als ethische Ideen und
werden letztendlich ontologisch begründet. Erst im Laufe der Entwicklung der Platonischen Philosophie stellt
sich heraus, dass die Was-ist-Frage nach dem fragt, was etwas an sich ist, d.h. nach der Idee, in der letztlich
erfasst wird, was etwas wesentlich und eigentlich ist.
Man kann vier grundlegende Charakteristika angeben, um das Wesen der Platonischen Idee – wenn
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auch nicht vollständig – zu bestimmen :
(1) Die Idee ist Eines und Allgemeines.
(2) Die Idee ist das Seiende selbst.
(3) Die Idee ist das ständig Bleibende.
(4) Die Idee ist das rein Gedachte.
Die Idee ist zunächst (1) ein Eines (›n) und Allgemeines oder ein Gemeinsames (koinon) für Vieles, das
dieser Idee unterzuordnen ist. Die Annahme von Ideen ergibt sich für Platon notwendigerweise, da nur sie
eine Erkenntnis des Wahren ermöglichen. Denn die sinnliche Wahrnehmung bezieht sich stets auf Wechselndes, von dem nicht einheitlich erkannt werden kann, was es ist, wohl aber in der Idee, der gleichbleibenden Einheit für viele Zustände oder Gegenstände. Offenbar haben für Platon bei der Konzeption seiner Ideenlehre epistemologische Gründe eine zentrale Rolle gespielt. Die Idee, die das, was etwas ist, in seinem
An-sich-Sein ausmacht, antwortet auf die Was-ist-Frage, indem sie die Einheit für Vieles und daher Allgemeinheit angibt (Rep. VI, 507b). Aus dieser epistemologischen Bedeutung der Platonischen Idee als Allgemeines und daher wissenschaftliche Erkenntnis Ermöglichendes ergeben sich weitere Grundbestimmungen
der Idee:
Sie ist (2) das Seiende selbst. Dieses An-sich-Seiende, das Seiende als solches (to on kath’ hauto), ist
das Wassein oder das Wesen. Denn nicht das sinnlich Wahrnehmbare, das vielfältig wechselt, macht dasjenige aus, was etwas ist (to ti esti), sondern nur das, was als ein identisches Eines und Allgemeines (1) gefasst wird. Die Idee als das wesentliche Wassein von etwas gilt demnach als eigentlich und an sich Seiendes. So ist z.B. ein Tisch nicht aufgrund seiner zufälligen sinnlichen Beschaffenheiten, die sich ebensogut
auch ändern können, ein Seiendes von bestimmter Art; vielmehr ist dieser Gegenstand Tisch aufgrund derjenigen Einheit und Allgemeinheit, die für alle Tische gilt. Denn diese erweist sich jeweils als identisches
Wesen oder Wassein gegenüber allen sinnlichen ständig sich verändernden Zufälligkeiten. Das, was an
einem Tisch tatsächlich Bestand hat und existiert – die Idee des Tisches, d.h. das ihm Einheit gewährleistende Tischsein – macht diesen Gegenstand erst zu dem, was er ist. Ein solches Sein nennt Platon Ousia
oder „das auf seiende Weise Seiende“ (to ontôs on, Phaidr. 247e; Rep. X, 596b, 597d). Die Idee ist also
dasjenige, was eigentlich ist, was etwas wesentlich ist. Darin liegt ihre ontologische Bedeutung. Jede Idee
fungiert somit als Wesen oder Wassein von etwas, als dessen An-sich-Sein und gilt demgemäß als Ousia.
Daraus ergibt sich: Was eigentlich existiert, ist dasjenige, was über Ousia verfügt. Dieses Einheitliche und
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Diese Kritik führt Platon in den Spätdialogen Parmenides und Sophistes durch. Zu einigen Einwänden gegen die
Ideenlehre vgl. bes. das Argument des ‚dritten Menschen‘ und zur Modifikation die Lehre oberster Gattungen und von
der Teilhabe der Ideen aneinander im Spätdialog Sophistes). – Die folgende Skizzierung seiner Ideenlehre sei jedoch
auf den ‘mittleren Platon’ (Phaidon, Politeia) beschränkt.
Vgl. hierzu J. Derbolav, op. cit.; D. Ross, Plato’s Theory of Ideas, Oxford 1951.
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Allgemeine ist nach Platon das eigentlich und an sich Seiende. Als solches kommt der Idee auch eine bestimmte Seinsart zu:
Die Idee ist (3) das beständig Bleibende, das identisch Beharrliche gegenüber dem vielfältigen Wechsel
des Sinnlich-Wahrnehmbaren, das immer zu etwas Anderem wird, und bei dem nie etwas Beständiges, Wesenhaftes auszumachen ist. An dieser Seinsweise der Ousia, der Beständigkeit, wird auch die Wendung der
Ideenlehre gegen die Herakliteer und die Sophisten deutlich, nach deren Ansicht es ja nichts Beständiges
gebe, alles ‘im Fluss’, d.h. in Bewegung und Veränderung begriffen und infolgedessen auch nichts erkennbar sei. Demgegenüber folgt die Ideenlehre des mittleren Platon dem Parmenideischen Eleatismus, nach
welchem dasjenige, was ist, beständig ist und sich nicht verändert; sie folgt somit der entsprechenden Auffassung über die Seinsart der Ousia: Das eigentlich Seiende – dasjenige, was an sich ist und sich als Ousia
erweist – ist das unveränderlich Gleichbleibende (vgl. Phaid. 78d, Rep. VI, 484b, 485b). Diese Beständigkeit
kommt also der Idee als Wesen und An-sich-Sein von etwas zu, ergibt sich unmittelbar aus der epistemologischen und ontologischen Bedeutung der Idee und unterstreicht, dass die Ermöglichung dauerhafter, wesenhafter Erkenntnis der Hauptgrund für Platons Annahme von Ideen ist. Denn als ein Allgemeines (1) erweist
sich die Idee als das wissenschaftlich Erkennbare, als Gegenstand der Wissenschaft im eigentlichen Sinne.
Die Idee ist (4) das rein Gedachte (noeton). Denn nur das Denken kann die Idee als ein Identisches für
Vieles, d.h. das Wesen in Beständigkeit erfassen und somit etwas erkennen. Gegenüber der sinnlichen
Wahrnehmung, die nur das für sich genommen völlig einheitslose Vielfältige kennt, ist die der Idee als rein
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Gedachtem angemessene Vorstellungsweise das Denken, und zwar des Erfassenden (nous) .
Die Idee wurde oben in einer Bestimmung auch als das rein Gedachte bezeichnet. Es stellt sich dann allerdings die Frage, worin denn das Verhältnis der Ideen als rein intelligibler Entitäten zu den sinnlich wahrnehmbaren Dingen bestehen soll, deren Wassein sie ausmachen. Platon nennt die Ideen als das eigentlich
und wesentlich Seiende, das erkannt wird, Urbilder (paradeigmata) für das Aussehen und für die Beschaffenheit der sinnenfälligen Dinge als deren ‘Abbilder’. Denn sie spiegeln ein derartiges Sein lediglich wider
und hängen daher von jenen ‘Urbildern’ notwendigerweise ab. Wenn diese als Ideen – wie dargelegt – reine
Gedankeninhalte sind, dann kann die Rede von ihrem Urbildcharakter eigentlich nur metaphorisch verstanden werden, da wir Urbilder ja nur aus dem Bereich der Sinnlichkeit kennen.
Man muss das Verhältnis der Ideen zu den Sinnendingen also auf andere Weise charakterisieren, und
zwar mit Hilfe des Begriffes der Teilhabe (methexis): Nach Platon haben die sinnlich wahrnehmbaren Dinge
an den Ideen dadurch teil (Phaid. 100c-d), dass jenen bestimmte Eigenschaften in spezifischer Weise zukommen, die in der Idee allgemein und wesentlich gedacht werden. Die Einzeldinge sind also dasjenige,
was sie eigentlich und an sich sind, erst aufgrund ihrer Teilhabe an den jeweiligen Ideen. Dass man an den
stetig sich verändernden Sinnendingen überhaupt etwas erkennen kann, beruht darauf, dass sie an den
allgemeinen, einheitlichen, eigentlich und an sich seienden, immer gleich bleibenden, d.h. unveränderlichen
und rein gedachten Ideen partizipieren.
In diesem Sinne versteht Platon die Ideen auch als Ursachen (aitiai) für das Sosein der einzelnen Sinnendinge (Phaid. 99b, 100c-d, 101c), d.h. für deren wesentliche Bestimmung und spezifische Beschaffenheit.
Der Begriff ‚Ursache‘ ist hier allerdings nicht im Sinne kausal-mechanischer Wirksamkeit aufzufassen, sondern als konstituierende Möglichkeitsbedingung für die Gestalt und das Aussehen der Sinnendinge. Die Bestimmung des Verhältnisses von Idee und Einzelding als eine Teilhaberelation erweist sich offenbar nicht als
metaphorisch, so dass sich auf diese Weise jenes streng genommen nur metaphorisch zu verstehende Urbild-Abbild-Verhältnis von Idee und Einzelding durchaus originär begrifflich fassen lässt. Der Begriff der
‘Teilhabe’ grenzt einerseits Ideen und sinnenfällige Einzeldinge voneinander ab, bezieht sie aber andererseits auch aufeinander. Dies wird für die im Folgenden zu erörternde Kritik des Aristoteles an Platons Ideenlehre von besonderer Bedeutung sein.
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Daher sagt Aristoteles in De an. III 4 durchaus Platonisch, der Nous sei der „Ort der Ideen“ (topos eidôn, 429a27f.).
Vgl. hierzu K. Bormann, Platon, Freiburg/München 1973, ²1987, ³1993, 50.