Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit

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Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit
James Menz
Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur
Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015
Der Beitrag bespricht die wichtigsten Entscheide, die vom Bundesgericht in
Sachen internationale Schiedsgerichtbarkeit in den Jahren 2014 und 2015 gefällt wurden. Die Auswahl der besprochenen Fälle berücksichtigt insbesondere sechs der acht ergangenen Leitentscheide, d.h. in der amtlichen Sammlung
des Bundesgerichts publizierte Entscheidungen, sowie einige der erfolgreichen
Schiedsbeschwerden, welche so selten sind, dass ihnen meistens eine besondere Bedeutung zukommt. Der Beitrag enthält Verweise auf weiterführende
Literatur zu den hier relativ summarisch besprochenen Entscheiden und den
darin thematisierten Fragestellungen.
Beitragsarten: Kommentierte Rechtsprechungsübersicht
Rechtsgebiete: Schiedsgerichtsbarkeit
Zitiervorschlag: James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit
2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
ISSN 1424-7410, http://jusletter.weblaw.ch, Weblaw AG, [email protected], T +41 31 380 57 77
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
Inhaltsübersicht
1.
2.
Überblick
Zuständigkeit (Art. 190(2)(b) IPRG)
2.1. BGE 140 III 75: Fehlende Zuständigkeit ratione temporis bei Schiedsspruch nach Ablauf der vereinbarten Frist
2.2. Urteil des Bundesgerichts 4A_124/2014 vom 7. Juli 2014: Grundsätzliche zwingende
Natur von FIDIC-Schiedsgremien
2.3. Urteil des Bundesgerichts 4A_450/2013 vom 7. April 2014: Ausweitung der Schiedsvereinbarung auf eine Drittpartei in einem Konzern
2.4. Liegt eine Schiedsvereinbarung vor? BGE 140 III 367 und Urteil des Bundesgerichts
4A_136/2015 vom 15. September 2015
3. Rechtliches Gehör (Art. 190(2)(d) IPRG): Urteil des Bundesgerichts 4A_460/2013 vom 4.
Februar 2014 und 4A_246/2014 vom 15. Juli 2015
4. Der Umfang zulässiger Rügegründe gegen einen Zwischenentscheid (Art. 190 Abs. 3 IPRG):
BGE 140 III 477 und 140 III 520
5. Unterstützung des Schiedsgerichts durch «Consultants» und Schiedssekretäre (Urteil des
Bundesgerichts 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015)
6. Res Judicata in internationalen Schiedsverfahren (BGE 141 III 229, BGE 140 III 278 und
Urteil des Bundesgerichts 4A_374/2014 vom 26. Februar 2015)
7. Investitionsschiedsgerichtsbarkeit (BGE 141 III 495)
8. Abschliessende Bemerkungen
1.
Überblick
[Rz 1] Die Schweiz ist weltweit eine der führenden Schiedsorte. Gemäss veröffentlichten Statistiken der Internationalen Handelskammer in Paris gehört die Schweiz regelmässig zu den am
häufigsten gewählten Schiedsgerichtständen.1 Zu den Gründen, warum sich internationale Unternehmen häufig für die Schweiz entscheiden, zählt insbesondere ihre Rechtsordnung. Das 12.
Kapitel des Bundesgesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) hat sich als progressives
lex arbitri bewährt, und das Schweizerische Bundesgericht zeichnet sich durch eine rasche und
schiedsgerichtsfreundliche Abhandlung von Beschwerden gegen Schiedssprüche von internationalen Schiedsgerichten mit Sitz in der Schweiz aus. Im Bereich der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit können Entscheide von Schiedsgerichten unter den Voraussetzungen der Art. 190–
192 IPRG mit Beschwerde in Zivilsachen angefochten werden (Art. 77(1) Bundesgerichtsgesetz;
BGG). Die im Art. 190(2) IPRG genannten Rügegründe umfassen (a) unrichtiger Zuständigkeitsentscheid; (b) vorschriftswidrige Besetzung des Schiedsgerichts; (c) Entscheid ultra petita bzw.
infra petita; (d) Verletzung des rechtlichen Gehörs oder des Gleichbehandlungsgebots; und (e)
Verletzung des Ordre Public.
[Rz 2] In den Jahren 2014 und 2015 hat das Bundesgericht zum heutigen Stand2 46 respektive
51 Entscheide im Bereich der internationalen und internen Schiedsgerichtsbarkeit gefällt. Die
nachfolgende Tabelle liefert eine statistische Übersicht über diese Rechtsprechung:
1
2014 ICC Dispute Resolution Statistics, Place of arbitration in: ICC Dispute Resolution Bulletin 2015/No. 1.
2
Berücksichtigt wurden Beschwerden gegen Schiedssprüche aber auch andere Entscheide im Zusammenhang mit
Schiedsverfahren, etwa Verfahren zur Anerkennung ausländischer Schiedssprüche oder Beschwerden im Zusammenhang mit Nichteintretungsbeschlüssen nach erfolgter Schiedseinrede, die bis zum 1. Februar 2016 publiziert
wurden. Zurückgezogene Fälle wurden nicht mitgezählt.
2
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Jahr
2015
2014
Anzahl
Fälle
Gesamt
51
46
GutAbgegewiesen
heissen
3
48
8
38
Leitentscheide
4
4
Sport v.
Kommerziell
11
11
40
35
International
v. Inländisch
39
32
12
14
Sprache
D
19
19
F
28
24
I
4
3
2.
Zuständigkeit (Art. 190(2)(b) IPRG)
2.1.
BGE 140 III 75: Fehlende Zuständigkeit ratione temporis bei Schiedsspruch nach Ablauf der vereinbarten Frist
[Rz 3] Seit geraumer Zeit mehren sich die Klagen, dass Schiedsverfahren zu lange dauern.3 Die
Schiedsinstitutionen versuchen gegenzusteuern: zuletzt hat beispielsweise die Internationale Handelskammer in Paris bekannt gegeben, unentschuldigte Verzögerungen bei der Ausstellung eines
Schiedsspruchs mit Reduktionen der Schiedsrichterhonorare pönalisieren zu wollen.4
[Rz 4] Das nachfolgend besprochene Urteil ist insofern tagesaktuell, allerdings zugleich ungewöhnlich, weil die Parteien und der Schiedsrichter eine Frist für die Ausfällung des Schiedsspruchs abgemacht hatten.
[Rz 5] 2010 begann ein ad hoc-Schiedsgericht, wobei sich die Parteien im April 2010 auf einen
Einzelschiedsrichter geeinigt haben. Das eigentliche Verfahren begann im Juni 2010 und endete
mit den mündlichen Schlussplädoyers im Mai 2011. Danach liess der Einzelschiedsrichter trotz
wiederholter Reklamationen über ein Jahr verstreichen, ohne den Schiedsspruch auszustellen.
Im Juni 2012 begann die Klägerin zu drohen, die Streitsache vor ein staatliches schweizerisches
Gericht zu bringen. Der Schiedsrichter bot daraufhin den Rücktritt von seinem Amt an, falls
er bis zu einer gewissen Frist, die schliesslich bis zum 2. September 2013 erstreckt wurde, den
Schiedsspruch nicht erstellt hätte. Der Schiedsspruch erging einen Tag nach der vereinbarten
Frist, am 3. September 2013, woraufhin die Klägerin, gestützt auf Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG
beim Bundesgericht den Schiedsspruch mit der Begründung anfocht.5
[Rz 6] Das Bundesgericht stützte sich bei seiner Analyse auf die privatrechtliche Natur des Schiedsrichtervertrags. Dieser Vertrag sei als sui generis Mandat (gem. Art. 394 ff. Obligationenrecht; OR)
zu verstehen, wobei jedoch insbesondere die Vertragsbeendigungskonditionen nicht mit denen
des Mandats übereinstimmen. Gewöhnlich endet das Mandat mit der Beendigung des Schiedsverfahrens, doch kann es vorzeitig beendet werden. Das Bundesgericht diskutierte insbesondere
Möglichkeiten der Abberufung, der Absetzung, und des Rücktritts. Des Weiteren könnten die
Parteien aber auch in einer Schiedsvereinbarung, im Schiedsrichtervertrag oder in einem Folge-
3
Siehe u.A. Queen Mary University/White & Case, International Arbitration Survey: Improvements and Innovations in
International Arbitration, abrufbar unter: http://www.arbitration.qmul.ac.uk/research/2015/ (nachstehend «Queen
Mary Survey»), (alle Websites zuletzt besucht am 23. März 2016), S. 7.
4
Siehe Pressemitteilung der ICC, ICC Court announces new policies to foster transparency and ensure greater efficiency, 5. Januar 2016, abrufbar unter: http://www.iccwbo.org/News/Articles/2016/ICC-Court-announces-newpolicies-to-foster-transparency-and-ensure-greater-efficiency/.
5
BGE 140 III 75 E. A–C; Für eine nähere Besprechung dieses Entscheids, siehe Martin Molina, Swiss Federal Supreme Court Annuls Belated Award of «Resigning» Arbitrator: A Curse in Disguise?, ASA Bulletin, 3/2014, S. 635–
644.
3
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abkommen die Mission des Schiedsgerichts oder des Einzelschiedsrichters zeitlich begrenzen.
Diese Möglichkeit werde explizit im Art. 366 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO) für interne
Schiedsgerichtbarkeit festgehalten.6 Vorliegend bestand eine dreiseitige Vereinbarung zwischen
den Parteien und dem Schiedsrichter über eine zeitliche Begrenzung des Schiedsgerichts. Der
Schiedsspruch wurde einen Tag nach Beendigung der von den Parteien vereinbarten Mission des
Einzelschiedsrichters gefällt.7
[Rz 7] Der Beschwerdeführer focht den Schiedsspruch auf der Grundlage von Art. 190 Abs. 2
lit. a IPRG an, mit der Begründung, dass der Schiedsspruch durch ein nicht mehr existentes
Schiedsgericht gefällt wurde. Das Bundesgericht entschied jedoch und klärte damit eine bis anhin
ungeklärte Frage, dass Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG zur Anwendung käme, da das Schiedsgericht
nach Ablauf der vertraglich abgemachten Frist ratione temporis nicht mehr zuständig wäre.8 Es
gilt also, dass ein Schiedsentscheid, der nach dem Abschluss der zeitlich begrenzten Mission des
Schiedsgerichts gefällt wurde, wegen fehlender Zuständigkeit des Schiedsgerichts anfechtbar ist.9
2.2.
Urteil des Bundesgerichts 4A_124/2014 vom 7. Juli 2014: Grundsätzliche zwingende Natur von FIDIC-Schiedsgremien
[Rz 8] Dies ist das erste Urteil des Bundesgerichts zu Art. 20 der Allgemeinen Vertragsbedingungen («General Conditions») der Musterverträge des internationalen Verbands beratender Ingenieure (FIDIC).10 FIDIC-Musterbedingungen werden häufig in internationalen Bauverträgen
verwendet. Art. 20 statuiert für die Streitschlichtung primär die Zuständigkeit eines Schiedsgremiums (DAB), wobei ein Schiedsgericht nur dann entscheiden soll, wenn kein DAB Entscheid
vorliegt oder eine der beiden Parteien dessen Entscheid ablehnen.
6
BGE 140 III 75 E. 3.2.1.
7
Ibid. E. 3.3 S. 83.
8
Zur Begründung des Bundesgerichts und insbesondere zur Frage des richtigerweise anwendbaren Rügegrundes
siehe Molina, ASA Bulletin 3/2014, S. 639 f. Molina bemängelt u.A., dass das erklärte Ziel des Bundesgerichts,
rechtliche Sicherheit zu schaffen, insofern verfehlt wurde, als dass mit dem Ende des Schiedsauftrags und der
schiedsgerichtlichen Zuständigkeit dem Kläger nur der Weg an das staatliche Gericht bleibt.
9
BGE 140 III 75 E. 4.1.
10
Die Bestimmung hat unter dem Schlagwort «the gap in subclause 20» international für erheblich Diskussionen betreffend der Frage gesorgt, wie die im DAB-Verfahren obsiegende Partei mit der Weigerung der unterlegenden Partei umgehen kann, den Entscheid des Adjudication Boards zu befolgen. Siehe dazu das Urteil der Supreme Court of
Singapore in der Sache PT Perusahaan Gas Negara (Persero) TBK v. CRW Joint Operation [2015] SGCA 30 von 27
May 2015; eine Besprechung dazu liefern Michael Hwang / Kenneth J.H. Tan, Contribution to the ITA Board of
Reporters, abrufbar unter: http://www.kluwerarbitration.com/CommonUI/document.aspx?id=kli-ka-15-29-001;
siehe auch Eugene Tan / Rupert Coldwell, Another (Unsuccessful) Challenge to the Finality of Interim Arbitral Awards in Singapore and Enforcing DAB Decisions on International Projects under FIDIC, Kluwer Arbitration Blog, 15. Juni 2015, abrufbar unter: http://kluwerarbitrationblog.com/2015/06/15/another-unsuccessfulchallenge-to-the-finality-of-interim-arbitral-awards-in-singapore-and-enforcing-dab-decisions-on-internationalprojects-under-fidic/. Der Entscheid des Bundesgerichts betrifft allerdings nicht diese, sondern die ebenfalls international diskutierte Frage, inwieweit vertragliche dem Schiedsverfahren vorgeschaltete Streitbeilegungsmechanismen zwingend sind und deren Nichtbeachtung das nachfolgende Schiedsverfahren hemmt. Siehe dazu Domitille
Baizeau / Anne-Marie Loong, Chapter 13, Part X: Multi-tiered and Hybrid Arbitration Clauses in Manuel Arroyo (Hrsg.), Arbitration in Switzerland: The Practitioner’s Guide 3. Aufl. 2013, S. 1451; Ausführlicher wird der
Bundesgerichtsentscheid in Matthias Scherer / Sam Moss, Swiss and English Courts Analyse Enforceability of
Multi-tier Dispute Resolution Provision Providing for DAB Proceedings (FIDIC, clause 20), ASA Bulletin 4/2014, S.
849–853, besprochen.
4
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[Rz 9] Da FIDIC-Verträge und internationale Bauverträge oft schweizerisches Recht für anwendbar erklären und häufig mehrstufige Streitbeilegungsklauseln enthalten, ist dieses Urteil von besonderer Relevanz.
[Rz 10] Ein französisches Bauunternehmen verpflichtete sich, einen Teil der nationalen Autobahn
für ein rumänisches Staatsunternehmen zu errichten. Als ein Streit entstand, wandte sich der
Bauunternehmer an ein DAB. Die Wahl eines Vorsitzenden dauerte ein Jahr und es wurde keine
DAB-Vereinbarung geschlossen, wofür der Auftraggeber wegen seiner relativen Inaktivität und
wiederholten Ablehnung des Vorsitzenden die überwiegende Verantwortung trug. Der Bauunternehmer beantragte ein Schiedsverfahren, gegen welches der Auftraggeber jedoch vorbrachte,
dass das zwingend vorgeschaltete DAB-Verfahren noch nicht abgeschlossen sei. Das Schiedsgericht verneinte die zwingende Natur des DAB-Verfahrens und erklärte sich in einem Zwischenentscheid für zuständig. In der Beschwerde an das Bundesgericht rügte der Auftraggeber, dass die
Zuständigkeit des Schiedsgerichts mangels Abschluss des DAB-Verfahrens zu verneinen sei, und
beantragte subsidiär, dass Schiedsverfahren sei bis Abschluss des DAB-Verfahrens auszusetzen.11
[Rz 11] Das Bundesgericht folgte dem Schiedsgericht im Ergebnis, nicht jedoch in der Begründung.12 Es folgte der Mehrheit der Lehre, die den Abschluss des FIDIC DAB-Verfahrens grundsätzlich als zwingende Voretappe zur Eröffnung eines Schiedsverfahrens sieht.13 Zwar befand es,
dass das DAB nicht als ad hoc, sondern als permanentes System gedacht wurde, welches zeitnah
und baubegleitend Streitigkeiten behandeln kann, ohne den Bauverlauf zu behindern. Vorliegend
wurde das DAB erst nach Baubeendigung einberufen, was diese letztlich nicht in einem direkt
vollstreckbaren Titel resultierende Streitbeilegungsstufe weniger sinnvoll erscheinen lässt, weil
die Wahrscheinlichkeit, dass ein anschliessendes Schiedsverfahren notwendig wird, grösser ist.
Primär hängt aber die Frage, ob diese Vorstufe die Zuständigkeit des Schiedsgerichts ausschliesst,
vom guten Glauben derjenigen Partei ab, welche es durchzuführen bzw. zu überspringen sucht.
Das Bundesgericht verneinte die Gutgläubigkeit des Auftraggebers, da er die Verzögerung der
Bestellung des Schiedsgerichts zu verantworten hatte.14
[Rz 12] Das Bundesgericht hielt an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, nach der eine Verletzung einer vertraglichen Streitbeilegungsvorstufe in einem Schiedsverfahren gemäss Art. 190
Abs. 2 lit. b IPRG (mangels anderer anwendbarer Rügegründe) gerügt werden kann, ohne allerdings umstrittene Frage zu klären, wie ein Schiedsgericht mit einer solchen behaupteten Verletzung umgehen soll.15
[Rz 13] Das Bundesgericht stellt im vorliegenden Fall zudem klar, dass in den Fällen, wo die
Schiedsabrede schweizerischem Recht unterliegt, Art. 178 Abs. 2 IPRG (der das Prinzip des favorem validitatis widerspiegelt) auch für Vorstufen des Schiedsverfahrens gilt.16
11
Urteil des Bundesgerichts 4A_123/2014 vom 7. Juli 2014 E. A–C.
12
Ibid. E. 3.2.3.3.
13
Ibid. E. 3.4.4 und darunter zitierte Literatur.
14
Ibid. E. 3.5.
15
Ibid. E. 3.2.
16
Ibid. E. 3.3.
5
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2.3.
Urteil des Bundesgerichts 4A_450/2013 vom 7. April 2014: Ausweitung der Schiedsvereinbarung auf eine Drittpartei in einem Konzern
[Rz 14] Die Einbeziehung Dritter in ein Schiedsverfahren ist ein oft diskutiertes Thema in der
Schiedsgerichtsbarkeit17 . Sie ist auch in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung wiederholt thematisiert worden, wobei das Bundesgericht mehrmals festgehalten hat, dass es verschiedene Konstellationen gibt, in denen eine Partie, die die Schiedsvereinbarung nicht unterzeichnet hat, dennoch an die Schiedsvereinbarung gebunden ist.18
[Rz 15] Das diesem Entscheid zugrundliegende Schiedsverfahren betraf einen Streit über den Bau
von Industrieanlagen zwischen dem Aluminiumunternehmen A und der Unternehmensgruppe
B. Die Muttergesellschaft B2 hielt Tochtergesellschaften B1 und B3 sowie die Geschäftsabteilung
B4. A und B1 unterschrieben drei Verträge die jeweils Schiedsklauseln beinhalteten: ein General
Agreement, ein Contract for Supply of Equipment und ein Contract for Service (die «Verträge»). Auf
Wunsch von A übertrug die Tochtergesellschaft B1 die Verantwortung für das gesamte Bauprojekt der Geschäftsabteilung B4. Zudem gewährte B2 dem Unternehmen A eine Garantie für die
Forderungen aus dem Contract for Service. Später wurde die jetzt für das Projekt verantwortliche
Abteilung B4 an die Tochtergesellschaft B3 übertragen.
[Rz 16] B1 leitete ein Schiedsverfahren gegen A, welches in seiner Antwort Widerklagen gegen B1
und B3 gelten machte. B3 hatte wie erwähnt keine Schiedsvereinbarung unterzeichnet. Weil sich
B3 weigerte, am Verfahren teilzunehmen, zog A ein Teil seiner Widerklagen zurück und leitete
gleichzeitig ein zweites Schiedsverfahren gegen B1 und B3 ein, gestützt auf deren solidarischen
Haftung für die Gesamtforderung. Beide Schiedsverfahren wurden vereinigt und B3 nahm am
Verfahren teil, rügte jedoch die fehlende Zuständigkeit des Schiedsgerichts. Das Schiedsgericht
verneinte seine Zuständigkeit. Das Schiedsgericht verneinte das Bestehen eines dreiseitigen Vertrags zwischen A, B1 und B3. Zudem kam es nach einer Analyse der Umstände der Ausführung
des Vertrags durch B3, des Prinzip des guten Glaubens und der Prinzipien der Transparenz und
des Durchgriffs zum Schluss, dass B3 nicht der Schiedsvereinbarung beigetreten sei.19
[Rz 17] Das Bundesgericht hob im Ergebnis den Schiedsspruch teilweise auf, entschied aber nicht
selbst sondern wies die Frage an das Schiedsgericht zurück, ob B3 Partei der Schiedsvereinbarung geworden war.20 Es kam in einer ausführlichen Analyse zum Schluss, dass A aufgrund des
(konkludenten) Verhaltens der Unternehmensgruppe sowie der Tochtergesellschaft B3 in guten
Treuen hätte annehmen dürfen, dass ein Rechtsverhältnis sowohl zu B1 als auch zu B3 bestand
und B3 daher an die Schiedsklausel gebunden sei. Relevant war besonders den Umstand, dass
B3 bei der Übernahme der Projektleitung durch B4 nicht explizit kundgab, nicht Vertragspartei
werden zu wollen.21 Mit Hinblick auf die undurchsichtige Struktur der Unternehmensgruppe B
17
Siehe u.A., Bernard Hanotiau, Chapter II: May an Arbitration Clause be Extended to Non-signatories: Individuals,
States or Other Companies of the Group? In: Complex Arbitrations: Multiparty, Multicontract, Multi-Issue and
Class Actions, International Arbitration Law Library 14, Kluwer Law international, 2006; Tobias Zuberbühler,
Non-Signatories and the Consensus to Arbitrate, ASA Bulletin 26/2008.
18
Siehe Urteil des Bundesgerichts 4A_44/2011 vom 19. April 2011 E. 2.4.1; Urteil des Bundesgerichts 4A_376/2008
vom 5. Dezember 2008 E. 8.6; BGE 134 III 565 E. 3.2; Urteil des Bundesgerichts 4P.48/2005 vom 20. September
2005 E. 3.4.1; BGE 129 III 727 E. 5.3.1.
19
Ibid. E. 3.3.1–3.3.3.
20
Ibid. E. 3.6.
21
Ibid. E. 3.5.5 f.
6
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
konnte A nicht stets den Überblick darüber gehabt haben, wer ihr tatsächlicher Geschäftspartner
war.22
[Rz 18] Das Urteil ändert grundsätzlich nichts an der bundesgerichtlichen Jurisprudenz und stellt
insbesondere keine Hinwendung gegenüber der bisher in der Schweiz abgelehnten Doktrin der
«group of companies» dar.23 Es erinnert aber an das Risiko, dass eine Schiedsvereinbarung auch
nicht unterzeichnende Parteien binden kann, wenn eine juristische Person einen Vertrag unterzeichnet, eine andere juristische Person jedoch rechtlich oder faktisch Verantwortung für die Ausführung des Vertrags übernimmt, insbesondere wenn die jeweiligen Rollen für die Gegenpartei
nicht vollständig ersichtlich sind. Will eine Unternehmensgruppe verhindern, dass verschiedene juristische Personen in ein Schiedsverfahren hineingezogen werden, sollte sie der Gegenpartei
klar kommunizieren, welche Person durch den Vertrag und die Schiedsvereinbarung gebunden
ist.
2.4.
Liegt eine Schiedsvereinbarung vor? BGE 140 III 367 und Urteil des
Bundesgerichts 4A_136/2015 vom 15. September 2015
[Rz 19] Schlecht formulierte Schieds- bzw. Streitbeilegungsklauseln beschäftigen das Bundesgericht mit einer gewissen Regelmässigkeit. Zwei Entscheide aus den Jahren 2014 und 2015 enthalten wichtige Klarstellungen zu diesem Themenkomplex.
[Rz 20] Der publizierte Entscheid 140 III 367 betrifft die interne Schiedsgerichtsbarkeit, ist aber
auch für die internationale Schiedsgerichtsbarkeit von Bedeutung.24 Ein Konsortialvertrag bestimmte Meilen als Gerichtsstand. Zugleich sah die Streitbeilegungsklausel aber vor, dass Streitigkeiten «nach Möglichkeit unter Ausschluss der ordentlichen Gerichte durch ein Schiedsgericht» zu
erledigen seien. Die Klägerin leitete eine Forderungsklage vor dem Bezirksgericht Meilen ein. Die
Beklagte erhob die Schiedseinrede, woraufhin das Bezirksgericht auf die Klage nicht eintrat. Das
Obergericht des Kantons Zürich wies die Berufung gegen diesen Entscheid ab. Dagegen erhob die
Klägerin erfolgreich Beschwerde vor dem Bundesgericht.
[Rz 21] Einschlägig war Art. 61 ZPO: «Haben die Parteien über eine schiedsfähige Streitsache eine
Schiedsvereinbarung getroffen, so lehnt das angerufene staatliche Gericht seine Zuständigkeit ab, es
sei denn . . . (b) das Gericht stelle fest, dass die Schiedsvereinbarung offensichtlich ungültig oder nicht
erfüllbar sei».25
[Rz 22] Mit dem Wortlaut von Artikel 61 lit. b ZPO, der dem von Art. 7 lit b. IPRG gleicht (ausser,
dass dieser im Unterschied zu Art. 61 lit. b ZPO das Wort «offensichtlich» nicht enthält), wollte der Gesetzgeber die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 7 lit. b IPRG kodifizieren.26
Diese unterscheidet dabei zwischen der Konstellation, in der die strittige Schiedsvereinbarung
einen Schiedssitz innerhalb und ausserhalb der Schweiz statuiert. Im ersteren Fall prüft das an-
22
Ibid. E. 3.5.3.3.
23
Vgl. Xavier Favre-Bulle, Case Notes on International Arbitration, SZIER 2/2015, S. 299 ff.
24
Eine weiterführende Besprechung findet sich in Bernhard Berger, Negative effect of competence-competence
revisited. Note on 4A_560/2013, Judgment of 30 June 2014, ASA Bulletin 3/2014, S. 530.
25
Art. 61 Ingress ZPO.
26
BGE 140 III 367 E. 2.2.3.
7
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gerufene staatliche Gericht die Schiedsvereinbarung nur summarisch; im zweiten Fall mit voller
Kognition.27
[Rz 23] Vorliegend hielt das Bundesgericht fest, dass die Frage, ob überhaupt eine Schiedsvereinbarung vorliegt, mit voller Kognition zu prüfen sei. «Erst wenn eine Schiedsvereinbarung über einen
schiedsfähigen Streitgegenstand i.S. von Art. 61 Ingress ZPO vorliegt, ist in einem zweiten Schritt nach
Art. 61 lit. b ZPO zu prüfen, ob die Schiedsvereinbarung offensichtlich ungültig oder nicht erfüllbar
ist».28
[Rz 24] Da diese Unterscheidung in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu Art. 7 lit. b IPRG
noch nicht getroffen wurde zeigt der vorliegende Entscheid möglicherweise eine entsprechende
Richtungsänderung an.29
[Rz 25] Nach Prüfung der vorliegenden Streitbeilegungsklausel mit voller Kognition kam das
Bundesgericht zum Schluss, dass die Vorinstanz eine unrichtige objektivierte Auslegung der Klausel vorgenommen habe. Im Wortlaut sei kein Konsens über den Verzicht auf die staatliche Gerichtsbarkeit zu erkennen denn es fehle eine klare und unzweideutige Willenserklärung der Parteien, den Streitgegenstand nicht nur vorzugsweise vor ein Schiedsgericht zu bringen, sondern
eindeutig einer verbindlichen Beurteilung durch ein Schiedsgericht zu unterstellen.
[Rz 26] Die Entscheidung ist auch insofern bedeutsam, als dass sie der bundesgerichtlichen Rechtsprechung folgt, nach der die Frage, ob die Parteien überhaupt eine Schiedsvereinbarung getroffen und damit die staatliche Gerichtsbarkeit ausgeschlossen haben, restriktiv zu beurteilen ist.30
Diese ist von einigen Kommentatoren hinterfragt worden.31 Unstrittig dagegen ist, dass wenn
«als Auslegungsergebnis [feststeht], dass die Parteien die Streitsache von der staatlichen Gerichtsbarkeit ausnehmen und einer Entscheidung durch ein Schiedsgericht unterstellen wollten, bestehen jedoch
Differenzen hinsichtlich der Abwicklung des Schiedsverfahrens, besteht kein Anlass zu einer restriktiven
Auslegung mehr».32 Wie weit das Bundesgericht bei der Umsetzung dieses liberalen Auslegungsgrundsatzes geht beweist eindrücklich der oben in Abschnitt 5 zitierte Fall BGE 140 III 477, in
dem das Bundesgericht die Zuständigkeit des Einzelschiedsrichter in einem Swiss Rules Verfahren trotz einer relativ stark pathologischen Schiedsklausel bejahte.33
[Rz 27] Im Urteil des Bundesgerichts 4A_136/2015 vom 15. September 2015 ging es um eine
denkbar ungünstig formulierte Streitbeilegungsklausel. Ein Dreiparteienvertriebsvertrag enthielt
einen Artikel 22 namens «Arbitration», der dann aber vorsah, dass die Parteien «shall submit their
dispute to the empowered jurisdiction of Geneva, Switzerland». Russisch war eine der zwei Vertrags-
27
BGE 138 III 681 E. 3. Diese Rechtsprechung, bekannt unter dem Schlagwort der «negativen KompetenzKompetenz», war Gegenstand der parlamentarischen Initiative Lüscher: Bericht der Kommission zur
am 20. März 2008 eingereichten Parlamentsinitiative 08.417 n Pa. Iv. bezüglich der Änderung von Art. 7
IPRG, 4. Mai 2009, abrufbar unter: https://www.parlament.ch/afs/data/d/bericht/2008/d_bericht_n_k12
_0_20080417_0_20090504.html.
28
BGE 140 III 367 E. 2.2.3.
29
Berger, pp. 541–542.
30
Siehe dazu BGE 140 III 134 E. 3.1 und 3.2; BGE 130 III 66 E. 3.1; BGE 138 III 29 E. 2.2.3 und 2.3.1; BGE 129 III 675
E. 2.3; BGE 128 III 50 E. 2c/aa.
31
Siehe Gabrielle Kaufmann-Kohler / Antonio Rigozzi, International Arbitration: Law and Practice in Switzerland,
Oxford University Press 2015, Rz. 3.137 ff; Laurent Lévy / Blaise Stucki, Note – Tribunal fédéral, 16 octobre 2003,
Rev. arb. 3/2004 S. 707–718.
32
BGE 140 III 477 E.5.2.1.
33
Die Schiedsklausel lautete: «For all disputes arising out of this context, the Arbitration Committee, to be established in
Basel (Switzerland), is authorized. . . ».
8
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
sprachen und im Russischen bedeutet die Überschrift des Artikel 22, «arbitrazh», eben nicht
«arbitration», sondern in etwa «Gerichtsstand». Nach Vertragskündigung leitete die Klägerin ein
Schlichtungsgesuch vor dem Tribunal de premiere instance in Genf ein. Daraufhin erhob die Beklagte die Schiedseinrede und erklärte, vorliegend handle es sich um eine mehrstufige Streitbeilegungsklausel mit Schiedsabrede vor der Genfer Handelskammer. Die Klägerin zog ihr Schlichtungsgesuch zurück und erhob Schiedsklage. Daraufhin wand die Beklagte ein, Artikel 22 sei
doch eine staatliche Gerichtstandsklausel. Der von der Genfer Handelskammer bestellte Einzelschiedssrichter bejahte seine Zuständigkeit.
[Rz 28] Das Bundesgericht stützte diesen Entscheid. Da sich der Einzelschiedsrichter auf ein gemeinsames subjektives Verständnis der Parteien gestützt und insofern eine Tatsachenentscheidung getroffen hatte, konnte das Bundesgericht diesen Entscheid nicht überprüfen.34 Jedoch untersuchte das Bundesgericht die Zuständigkeit auch quod non, dass die Streitbeilegungsklausel
objektiviert auszulegen sei. Ausschlaggebend dafür, dass es sich bei Artikel 22 gemäss dieser objektivierten Auslegung um eine Schiedsklausel handelte, war nach Ansicht des Bundesgerichts
u.A. folgender Umstand:
«Le caractère international du contrat de distribution plaide également en faveur de la
qualification retenue par l’arbitre. Il est assez vraisemblable, en effet, que trois sociétés
commerciales ayant leur siège respectif dans trois pays différents n’appartenant pas
tous à la même zone économique et juridique – la République de Russie, d’une part,
la France et le Royaume-Uni, membres de l’Union européenne, d’autre part – aient
souhaité recourir à un arbitrage privé plutôt que de se soumettre à la juridiction d’un
tribunal régional d’un pays tiers. Ça l’est d’autant plus que l’arbitrage, qu’on le veuille
ou non, tend à devenir la justice de droit commun du commerce international et que
Genève est une place d’arbitrage connue».
[Rz 29] Das Bundesgericht gab also zu erkennen, dass es in internationalen Verträgen die Schiedsgerichtsbarkeit als «default» Streitbeilegungsmechanismus betrachtet. Dies widerspricht implizit
der eingangs erwähnten bundesgerichtlichen Rechtsprechung, nach der eine Schiedsvereinbarung nur zurückhaltend anzunehmen sei.35 Allerdings waren im vorliegenden Fall sicherlich die
krass widersprüchlichen Plädoyers der Beklagten massgeblich, welche ein- und denselben Artikel einmal als Schiedsabrede und einmal als staatliche Gerichtsstandsklausel auslegte.
3.
Rechtliches Gehör (Art. 190(2)(d) IPRG): Urteil des Bundesgerichts
4A_460/2013 vom 4. Februar 2014 und 4A_246/2014 vom 15. Juli
2015
[Rz 30] In den Urteil des Bundesgerichts 4A_460/2013 vom 4. Februar 2014 und 4A_246/2014
vom 15. Juli 2015 stellte das Bundesgericht Verletzungen des rechtlichen Gehörs fest, weil sich
das Schiedsgericht mit wichtigen Argumenten der Parteien nicht befasste.
34
Urteil des Bundesgerichts 4A_136/2015 vom 15. September 2015 E. 2.2.1 f.
35
Siehe dazu BGE 140 III 134 E. 3.1 und 3.2; BGE 130 III 66 E. 3.1; BGE 138 III 29 E. 2.2.3 und 2.3.1; BGE 129 III 675
E. 2.3; BGE 128 III 50 E. 2c/aa.
9
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
[Rz 31] Gegenstand des ersten Falls war ein ICC Schiedsverfahren zwischen einer finnischen und
einer bulgarischen Gesellschaft über den Kauf von Vorrichtungen und Materialien zur Erneuerung von Boilern. Der klagenden bulgarischen Gesellschaft wurde in einem Schiedsspruch die
Zahlung einer Konventionalstrafe und Schadenersatzes durch die beklagte finnische Gesellschaft
zugesprochen. Die Beklagte rügte eine Verletzung ihres rechtlichen Gehörs, mit der Begründung
das Schiedsgericht habe u.A. ihr Argument bezüglich des vertraglichen Haftungsausschlusses im
Schiedsspruch ignoriert.36
[Rz 32] Das Bundesgericht stimmte dem zu.37 Gemäss ständiger Rechtsprechung verletzt ein
Schiedsgericht das rechtliche Gehör, wenn es rechtserhebliche Argumente, Behauptungen oder
Beweise unberücksichtigt lässt, ohne darzulegen, dass diese für die konkrete Falllösung nicht erheblich sind oder sie implizit entkräftet.38 Dabei hat das Bundesgericht nicht zu prüfen, ob der
Schiedsspruch bei Berücksichtigung des Vorbringens materiell effektiv anders ausgefallen wäre,
sondern es hebt den Schiedsspruch wegen formeller Verweigerung des Gehörsanspruchs auf.39
[Rz 33] Dem zweiten Fall ging ein CAS Schiedsverfahren bezüglich der Auszahlung von Löhnen von neun professionellen Fussballspielern voraus. Nach einer erfolglosen Bestreitung vor der
zuständigen Beschwerdekommission des bei der Schlichtungskammer abgelegten Gesuches der
Spieler auf Auszahlung des Restlohns und rechtmässige Vertragskündigung, rief der Beschwerdeführer das Sportschiedsgericht (CAS) an. Auch dieses verneinte seine Ansprüche und stützte den
Entscheid der Beschwerdekommission. Vor dem Bundesgericht rügte der Beschwerdeführer drei
Verletzungen: die Verletzungen der Regel ne infra petita, gestützt auf Art. 190 Abs. 2 Bst. c IPRG,
des rechtlichen Gehörs, gestützt auf Art. 190 Abs. 2 Bst. d IPRG und des verfahrensrechtlichen
Ordre Public.40
[Rz 34] Das Bundesgericht verneinte die Verletzungen nach der Regel ne infra petita41 und des
verfahrensrechtlichen Ordre Public42 mit der Begründung, das Schiedsgericht hätte sich hinreichend mit den vorgetragenen Argumenten auseinandergesetzt und die Abnahme vorgebrachter
Beweismittel zurecht abgelehnt. In seinem Urteil auf Teilaufhebung des Schiedsspruchs stellte
das Bundesgericht jedoch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs fest, weil im Schiedsspruch
zwei rechtserhebliche Argumente der Beschwerdeführerin, bezüglich der gesundheitlichen Lage
von Spieler 2 und der Berechnung des Lohnes von Spieler 1 und 3, nicht behandelt wurden.43
[Rz 35] Beide Entscheide folgen einen in den letzten Jahren zunehmend zu beobachtenden Trend
in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung, genauer zu untersuchen, ob Schiedsgerichte in ihrem Schiedsspruch die Argumente der Parteien berücksichtigt haben. Allerdings sah sich das
Bundesgericht in einem neuesten Entscheid zu einer bemerkenswerten Feststellung angehalten
als Reaktion auf die offenbar zunehmenden Versuche von Parteien, unter dem Mantel der formellen Gehörsverweigerungsrüge eine inhaltliche Überprüfung des Schiedsspruches zu erwirken:
das Bundesgericht betonte, dass es in keiner Weise seine Rechtsprechung aufgeweicht habe, nach
36
Urteil des Bundesgerichts 4A_460/2013 vom 4. Februar 2014 E. A–C.
37
Ibid. E. 3.2.1 und 3.2.2.
38
BGE 133 III 235 E. 5.2 mit Hinweisen.
39
Ibid. E. 3.1.
40
Urteil des Bundesgerichts 4A_246/2014 vom 15. Juli 2015 E. A–C.
41
Ibid. E. 5.2.1–5.3.
42
Ibid. E. 7–7.2.2.
43
Ibid. E. 6.3.1, 6.3.2. und 8.
10
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
der die Beschwerde gegen Schiedssprüche nicht der inhaltlichen Kontrolle des Schiedsspruchs
dienen kann.44
4.
Der Umfang zulässiger Rügegründe gegen einen Zwischenentscheid
(Art. 190 Abs. 3 IPRG): BGE 140 III 477 und 140 III 520
[Rz 36] In beiden zeitgleich ergangenen Urteilen hatte das Bundesgericht die Zulässigkeit vorgebrachter Rügen gegen sogenannte «Vor-» oder «Zwischenentscheide» zu beurteilen. Unter den
Voraussetzungen von Art. 190 Abs. 3 IPRG können und müssen sogenannte Zwischenentscheide sofort angefochten werden. Diese ergehen häufig in geteilten Verfahren, in denen zuerst über
die Zuständigkeit oder die Haftung und in einem zweiten Schritt in der Hauptsache entschieden
wird. Die Anfechtung solcher Vorentscheide muss sofort erfolgen, ansonsten verwirken die Einwände. Zulässige Rügegründe sind nur die rechtsfehlerhafte Bestellung des Schiedsgerichts und
die unrichtige Beurteilung der Zuständigkeit.
[Rz 37] Bisher unklar war, ob im Zusammenhang mit diesen beiden Rügegründen auch andere
Beschwerdegründe aus Art. 190 Abs. 2 IPRG vorgebracht werden dürfen.45
[Rz 38] In beiden rubrizierten Urteilen bejahte das Bundesgericht diese Frage. In einer Beschwerde gegen einen Zwischenentscheid dürfen gegenüber den tatsächlichen Feststellungen, auf deren
Grundlage das Schiedsgericht seine ordnungsgemässe Bestellung (Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG)
oder seine Zuständigkeit (Art. 190 Abs. 2 lit. b IPRG) bejaht hat, alle Rügegründe des Art. 190
Abs. 2 erhoben werden – namentlich auch die Verletzungen des rechtlichen Gehörs, das Gleichbehandlungsgebots oder das Ordre Public.46 Die Nichtbeachtung solcher Rügen bezüglich eines
Vorentscheids, der von einem Schiedsgericht in Verletzung von Verfahrensregeln oder des Ordre
Public gefällt wurde, könnte dazu führen, dass das Bundesgericht, unbeachtet dieser Verletzungen und basierend auf diesen Sachverhaltsermittlungen, seinen Entscheid fällen müsste. Eine
Partei darf bzw. muss also in ihrer Beschwerde gegen einen Vorentscheid wegen vorschriftswidriger Bestellung oder fehlender Zuständigkeit alle mit diesem Zwischenentscheid im direkten
Zusammenhang stehenden Verletzungen von Art. 190 Abs. 2 lit. c, d oder e IPRG geltend machen.
44
Siehe hierzu Urteil des Bundesgerichts 4A_520/2015 vom 16. Dezember 2015 E. 3.3.1 («[La recourante] pense,
notamment, avoir mis au jour un assouplissement de cette jurisprudence dans le sens d’une volonté du Tribunal fédéral
«d’élargir le contrôle fondé sur le déni de justice formel en lien avec l’omission de traiter un argument dans la sentence»
(n. 72). . . . [L]’affirmation de la recourante est erronée, tant il est vrai que la jurisprudence en la matière n’a pas bougé
d’un iota depuis l’arrêt Ca ñas (ATF 133 III 235 consid. 5.2). Du reste, l’élargissement de ce contrôle n’est pas d’actualité,
d’autant moins que le Tribunal fédéral est confronté à une tendance, qui ne cesse de s’accentuer, consistant pour nombre
de recourants à invoquer cet aspect de la garantie du droit d’être entendu dans l’espoir d’obtenir indirectement un examen
du fond de la sentence attaquée. C’est le lieu de rappeler que le Tribunal fédéral n’est pas une juridiction d’appel et que le
législateur a consciemment et volontairement restreint son pouvoir d’examen lorsqu’il l’a chargé de statuer sur les recours
en matière d’arbitrage international.»).
45
Siehe dazu Bernhard Berger / Franz Kellerhals, International and Domestic Arbitration in Switzerland, 3. Aufl.,
Stämpfli 2015, Rz. 1690 ff.; Gabrielle Kaufmann-Kohler / Antonio Rigozzi, Arbitrage international, 2. Aufl.
2010, Rz. 717.
46
BGE 140 III 477 E. 3.1; BGE 140 III 520 E. 2.2.3.
11
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
5.
Unterstützung des Schiedsgerichts durch «Consultants» und Schiedssekretäre (Urteil des Bundesgerichts 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015)
[Rz 39] Die Rolle des «Administrative Secretary» im Schiedsverfahren ist ein Dauerbrenner, der
gegenwärtig aus mehreren Gründen besonders aktuell ist.47 Zum einen greifen verschiedene
Schiedsinstitutionen das Thema zunehmend in ihren Regelwerken oder in schriftlichen Stellungnahmen proaktiv auf. Des Weiteren hat die Young ICCA mit ihrem «Guide on Arbitral Secretaries»
2014 zum ersten Mal versucht, eine internationale «best practice» zu kodifizieren.48 Besonders
aktuell ist die Rolle des Schiedssekretärs aufgrund des Yukos Schiedsverfahrens.49 Der diesbezügliche Schiedsspruch des Permanent Court of Arbitration vom 18. Juli 2014 ist von der Russischen Föderation in der Zwischenzeit angefochten worden.50 Ein Anfechtungsgrund bestand aus
russischer Sicht darin, dass der Schiedssekretär angeblich als vierter Schiedsrichter agiert habe.
[Rz 40] Im Urteil des Bundesgerichts 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015 hat sich das Bundesgericht
soweit ersichtlich als erstes letztinstanzliches Gericht einer bedeutenden Schiedsjurisdiktion u.A.
mit der Frage des Schiedssekretärs auseinandergesetzt. Der Entscheid hat weltweit Aufmerksamkeit erlangt.51
[Rz 41] In einem ad-hoc Schiedsverfahren zwischen einem Unternehmer und seinem Auftraggeber bestellte der Einzelschiedsrichter, ein Architekt ohne juristische Ausbildung oder Erfahrung, einen Schweizer Anwalt als «rechtlichen Konsulenten» («Legal Consultant»). Dieser sollte
den Schiedsrichter zu prozessualen Fragen beraten. Des Weiteren liess sich der Schiedsrichter im
Hearing von einem Schiedssekretär (ebenfalls ein Schweizer Anwalt) unterstützen.52
[Rz 42] Der Unternehmer focht den Schiedsspruch zugunsten des Auftraggebers mit dem Argument an, der Schiedsrichter habe den Schiedsspruch zusammen mit dem Konsulenten und dem
Schiedssekretär gefällt. Unter Anderem habe effektiv der Konsulent das Hearing geleitet, nicht
der Schiedsrichter.53
[Rz 43] Das Bundesgericht lehnte die Beschwerde ab. Es hielt zunächst fest, dass grundsätzlich
auf diese Rüge Art. 190 Abs. 2 lit. a IPRG anwendbar sei. Ein Schiedsrichter sei von den Parteien intuitu personae mandatiert. Dazu gehört, dass der Schiedsrichter die Akte kennt und an den
Beratungen und der Entscheidfindung des Schiedsgerichts teilnimmt. Überträgt ein Schiedsrich-
47
Siehe James Menz, The fourth arbitrator? Die Rolle des Administrative Secretary im Schiedsverfahren, SchiedsVZ
5/2015, S. 210 et seq.
48
Young ICCA, Guidelines on Arbitral Secretaries, abrufbar unter: http://www.arbitration-icca.org/media/3/
14235574857310/aa_arbitral_sec_guide_composite_10_feb_2015.pdf.
49
Yukos Universal Ltd. v. The Russian Federation, Final Award vom 18. Juli 2014, abrufbar unter: http://server.
nijmedia.nl/pca-cpa.org/showpage.asp?pag_id=1599.
50
Finanzministerium der Russischen Föderation, Press Release vom 6. Februar 2015, abrufbar unter: http://old.
minfin.ru/en/news/index.php?id_4=24358.
51
Siehe Michael Feit / Chloé Terrapon Chassot, The Swiss Federal Supreme Court Provides Guidance on the
Proper Use of Arbitral Secretaries and Arbitrator Consultants under the Swiss lex arbitri: Case Note on DFC
4A_709/2014 dated 21 May 2015, ASA Bulletin 4/2015, S. 897–917; James Menz / Anya George, How much assistance is permissible? A note on the Swiss Supreme Court’s decision on arbitral secretaries and consultants, Journal of International Arbitration 2/2016 (forthcoming); Siehe auch Kyriaki Karedelis, Swiss court okays tribunal
assistants, Global Arbitration Review, 4. August 2015, abrufbar unter: http://globalarbitrationreview.com/news/
article/34037/swiss-court-okays-tribunal-assistants/.
52
Urteil des Bundesgericht 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015, E. A und B.
53
Ibid. E. 3.1.
12
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
ter seine Aufgabe einer Drittperson, verletzt er dieses Mandat. Vorliegend sei dies nicht der Fall
gewesen.54
[Rz 44] Das Bundesgericht verglich den Schiedssekretär mit dem staatlichen Gerichtsschreiber.
Ein Schiedsgericht darf entsprechend dem Sekretär gewisse Aufgaben übertragen wie u.A. die Organisation der Akte, die Vorbereitung von Hearings, das Erstellen von Protokollen, und auch Unterstützung beim Abfassen des Schiedsspruchs, solange dies unter Beaufsichtigung des Schiedsgerichts geschieht. Die Bestellung eines Sekretärs bedarf nicht der vorherigen Zustimmung der
Parteien. Wenn die Parteien sich aber gemeinsam gegen eine solche Bestellung ausgesprochen
haben, muss sie unterbleiben.55
[Rz 45] Betreffend des Konsulenten hielt das Bundesgericht fest, dass es Schiedsgerichten als Teil
ihrer prozessualen Gestaltungsfreiheit und vorbehaltlich einer gegenteiligen Abmachung durch
die Parteien grundsätzlich freistehe, die Unterstützung externer Konsulenten einzuholen, und
dass dies bei technischen Sachverhalten durchaus häufig geschehe.56 Der Einbezug unterliege
denselben Beschränkungen wie denen eines Schiedssekretärs, insbesondere dürfe das Schiedsgericht seine Entscheidfunktion nicht delegieren.57
[Rz 46] Mit der Entscheidung bezieht das Bundesgericht eine dezidiert liberale Position betreffend der Bestellung und des zulässigen Aufgabenumfangs von Schiedssekretären und liefert damit einen wichtigen Beitrag zur internationalen Diskussion zu diesem Thema.
6.
Res Judicata in internationalen Schiedsverfahren (BGE 141 III 229,
BGE 140 III 278 und Urteil des Bundesgerichts 4A_374/2014 vom 26.
Februar 2015)
[Rz 47] Drei Bundesgerichtsentscheide aus den Jahren 2014–2015 behandeln das Thema res judicata: BGE 141 III 229 («US Kanzlei»); BGE 140 III 278 («Ukrainische Eisenbahnbrücke») und
Urteil des Bundesgerichts 4A_374/2014 vom 26. Februar 2015 («Mexikanischer Fussballklub»).
Auch diesen Entscheiden ist bereits erhebliche Aufmerksamkeit zuteil geworden,58 zumal es in
der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit weder ein einheitliches Regelwerk gibt noch Konsens
über die Anwendung des Prinzips der res judicata besteht.59
[Rz 48] Gemäss ständiger Rechtsprechung hat der Ordre public im Sinne von Art. 190 Abs. 2
lit. e IPRG sowohl einen materiellen als auch einen verfahrensrechtlichen Gehalt. Ein Schiedsgericht verstösst gegen den verfahrensrechtlichen Ordre Public unter anderem, wenn es bei seinem
Entscheid die materielle Rechtskraft eines früheren Entscheids unbeachtet lässt oder wenn es
54
Ibid. E. 3.2.2 – 3.4.
55
Ibid. E. 3.2.2..
56
Das Bundesgericht verwies in seinen Ausführungen auf einen neueren Beitrag zu dem Thema in Bernahad F. Meyer / Jonathan Baier, Arbitrator Consultants – Another Way to Deal with Technical or Commercial Challenges of
Arbitrations, ASA Bulletin 1/2015, S. 37–57.
57
Urteil des Bundesgericht 4A_709/2014 vom 21. Mai 2015 E. 3.2.2.
58
Siehe Nathalie Voser / Julie Raneda, Recent Developments on the Doctrine of Res Judicata in International Arbitration from a Swiss Perspective: A Call for a Harmonized Solution, ASA Bulletin 4/2015, S. 749–779.
59
Siehe International Law Association, Final Report on Lis Pendensis and Arbitration, Toronto Conference on International Commercial Arbitration 2006, abrufbar unter: http://www.ila-hq.org/en/committees/index.cfm/cid/19.
13
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
in seinem Endentscheid von der Auffassung abweicht, die es in einem Vorentscheid hinsichtlich
einer materiellen Vorfrage geäussert hat.60
[Rz 49] Das Bundesgericht hat diese Rechtskraftwirkung im Verhältnis zwischen einem Schiedsgericht in der Schweiz sowie einem ausländischen Gericht (Fall Ukrainische Eisenbahnbrücke)
und einem internationalen Schiedsgericht in der Schweiz (Fall Mexikanischer Fussballklub) bzw.
im Ausland (US Kanzlei) näher umrissen. Im Fall Ukrainische Eisenbahnbrücke hielt das Bundesgericht massgeblich fest, dass grundsätzlich das lex fori auf die Frage der res judicata anwendbar
ist. Das heisst, dass die Rechtskraftwirkung eines ausländischen Entscheids nicht weiter als die
Rechtskraft eines gleichlautenden Entscheids eines Schweizer Gerichts oder eines Schiedsgerichts
mit Sitz in der Schweiz gehen kann. Andererseits kann ein im Ausland ergangener Gerichts- oder
Schiedsentscheid in der Schweiz keine weitergehenden Wirkungen entfalten als ihm im Urteilsstaat zukommen würden.
[Rz 50] Insofern werden die Folgen der res judicata eines ausländischen Entscheids durch die
Bestimmung eines «gemeinsamen Nenners» der Folgen des ausländischen und schweizerischen
Rechts beurteilt.61
[Rz 51] Aus den drei Entscheiden folgen die folgenden weiteren wesentlichen Erkenntnisse:
• Ukrainische Eisenbahnbrücke;
– Bei der Bestimmung der Parteiidentität hinterfragt das Bundesgericht einen formalistischen Ansatz. So mag unter Umständen die Parteiidentität zu bejahen sein, um prozessuale Manöver zu unterbinden;
– Sachverhaltsidentität liegt nicht vor, wenn sich der Anspruch bzw. der Entscheid im
nachfolgenden Verfahren auf neue Tatsachen stützt welche zum Zeitpunkt des ersten
Entscheids nicht vorlagen (sog. echte Noven).
• Mexikanischer Fussballklub;
– Ein ausländisches Schiedsgerichtsurteil muss, um res judicata Wirkung zu entfalten, gemäss Art.194 IPRG anerkennungsfähig sein. Die Anerkennung bestimmt sich nach Art.
V der New York Convention. Im vorliegenden Fall war der Mexikanische Schiedsentscheid das Ergebnis einer «offensichtlichen» Gehörsverletzung und daher nicht anerkennungsfähig.62 Es handelt sich dabei, soweit ersichtlich, um das erste Urteil des Bundesgerichts, das einem ausländischen Schiedsentscheid gestützt auf Art. V(2) der New
York Convention die Anerkennung verwehrt.
• US Kanzlei;63
– Das Bundesgericht zieht die in Fussnote 47 zitierten Empfehlungen der International
Law Association zu res judicata nicht heran und verwirft weitergehende Begriffe der
Rechtskraft «nach weltweit verbreitetem Konzept anglo-amerikanischer Herkunft»;64
– Grundsätzlich beschränkt sich daher die Rechtskraftwirkung auf das Urteilsdispositiv,
auch wenn sich dessen Tragweite vielfach erst aus den Urteilserwägungen ergibt. Vorliegend unterschieden sich die zwei Ansprüche in den zwei Schiedsverfahren. Zwar muss-
60
BGE 136 III 345 E.2.1.
61
BGE 140 III 278 E. 3.2; Urteil des Bundesgerichts 4A_374/2014 vom 26. Februar 2015 E. 4.2.1.
62
Urteil des Bundesgerichts 4A_374/2014 vom 26. Februar 2015 E. 4.3.2.3 f.
63
Eine nähere Besprechung dieser Entscheidung findet sich in Voser/Raneda, ASA Bulletin 4/2015 supra Fn. 46.
64
Ibid., E. 3.2.5.
14
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
ten beide Schiedsgerichte sich mit umstrittenen Grundbeträgen aus ein- und derselben
Vereinbarung beschäftigen, mit der eine deutsche Anwaltskanzlei in eine amerikanische
Kanzlei eingegliedert wurde. Das erste Schiedsgericht mit Sitz in Frankfurt entschied jedoch nur über die Beträge über die Grundbeträge für die Jahre 2009–2010, während das
zweite Schiedsgericht mit Sitz in Zürich über die Grundbeträge für die Jahre 2011–2012
zu entscheiden hatte.65 Die dafür notwendig Auslegung des Zusammenschlussvertrags
waren, so das Bundesgericht, «blosse Glieder des Subsumtionsschlusses, die für sich allein
nicht in materielle Rechtskraft erwachsen. [. . . ] Die Beschwerdeführerin verkennt, dass diese Vertragsauslegung im ersten Entscheid nicht selbst Streitgegenstand war, indem über diese
Frage ein Feststellungsurteil gefällt worden wäre.» 66 Der Fall US Kanzlei wirft also die
Frage auf, inwiefern Parteien in vergleichbarer Stellung in Schiedsverfahren vermehrt
Feststellungsanträge stellen sollten, um nicht auf die auf das Leistungsurteilsdispositiv
beschränkte Rechtskraftwirkung beschränkt zu bleiben.
7.
Investitionsschiedsgerichtsbarkeit (BGE 141 III 495)
[Rz 52] In diesem Entscheid vom 6. Oktober 2015 äusserte sich das Bundesgericht soweit ersichtlich zum ersten Mal ausführlich zur Investitionsschiedsgerichtsbarkeit. Im zugrundeliegenden Schiedsverfahren klagte der französische Energiekonzern EDFI gegen Ungarn auf Grundlage
des ECT. EDFI hatte im Jahr 2000 eine Mehrheitsposition im ungarischen Energiekonzern BERt
erworben, welche vorteilhafte langfristige power purchase agreements (PPA) mit der staatlich
kontrollierten ungarischen Energiegesellschaft abschloss. Nachdem die Europäische Kommission 2008 entschieden hatte, dass die PPAs eine nach europäischem Wettbewerbsrecht untersagte
Form der staatlichen Beihilfe darstellen, beendete Ungarn die PPAs. Im Schiedsverfahren machte
EDFI u.A. geltend, dass Ungarn gewisse Investitionskosten («stranded costs») nicht erstattet habe. Ein UNCITRAL Schiedsgericht mit Sitz in Zürich erklärte sich in einem Schiedsspruch vom
Dezember 2014 für zuständig und sprach EDFI Schadenersatz zu.
[Rz 53] Im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesgericht ging es hauptsächlich um die Auslegung
der ECT betreffend der schiedsgerichtlichen Zuständigkeit und um die Frage, ob der Schiedsspruch deswegen Ordre Public-widrig sei, weil er Ungarn zu einer Zahlung verpflichtete, die
ihrerseits EU-rechtswidrig sei.
[Rz 54] In Artikel 10 Abs. 1 ECT verpflichten sich die staatlichen Vertragsparteien, «den Investitionen von Investoren und anderen Vertragsparteien stets eine faire und gerechte Behandlung zu gewähren». Im Schlusssatz des Artikels heisst es: «Jede Vertragspartei erfüllt alle Verpflichtungen, die sie gegenüber einem Investor oder einer Investition eines Investors einer anderen Vertragspartei eingegangen
ist».67 Diese Bestimmung wird als «Umbrella Clause» bezeichnet, weil sie vertragliche Streitigkeiten zwischen einem Investor und einem Mitgliedsland den Investitionschiedsgerichtsbestimmungen des ECT unterwirft. Australien, Kanada, Ungarn und Norwegen erlauben es einem Investor
indes nicht, eine Streitigkeit über den letzten Satz des Artikels 10 Abs. 1 einem internationa-
65
BGE 141 III 229 E. 3.2.6.
66
BGE 141 III 229 E. 3.2.6.
67
Deutsche Fassung des ECT abrufbar unter: http://www.energycharter.org/fileadmin/DocumentsMedia/
Legal/ECT-de.pdf.
15
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
len Schiedsgericht vorzulegen. Vorliegend war strittig und die Zuständigkeit des Schiedsgerichts
hing davon ab, ob es sich bei EDFIs Forderungen um vertragliche Ansprüche oder um «echte»
Ansprüche gemäss Artikel 10 Abs. 1 ECT handelte.
[Rz 55] Das Schiedsgericht bejahte seine Zuständigkeit und das Bundesgericht stützte diesen
Entscheid. Das Bundesgericht lehnte Ungarns Auslegung der Umbrella Clauses ab, da sie diese
zu sehr ausdehnen würde. Demnach würde allein der Umstand, dass der Investor (auch) einen
Vertrag mit einer staatlichen Partei des ECT abgeschlossen hat, dem Investor den Zugang zu
privaten Streitschlichtung für Ansprüche wegen Verletzung der Bestimmung zur «fairen und
gerechten Behandlung» verwehren. Das Bundesgericht befand, dass das Schiedsgericht zurecht
EDFIs Anspruch als Verletzung dieser ECT Bestimmung qualifiziert hatte, da es sich bei den
Handlungen bzw. Unterlassungen Ungarns um allgemeingültige Massnahmen gehandelt hat, die
stranded costs nicht hinreichend zu kompensieren.68
[Rz 56] Ungarn hatte gerügt, die Befolgung des Schiedsspruchs setze es in Konflikt mit europäischem Wettbewerbsrecht, da die Auszahlung des Schadenersatzanspruchs eine Form der staatlichen Beihilfe darstelle. Dabei berief sich Ungarn u.A. auf den Micula Entscheid69 , in dem die
Europäische Kommission ebendiese Feststellung getroffen hatte. Das Bundesgericht wies diese
Rüge ab. Es liess offen, ob der eng umrissene Begriff des materiellen Ordre Public notwendigerweise bereits verletzt sei, weil ein Schiedsspruch eine Partei in einen Konflikt mit internationalem Recht setze. Vorliegend habe Ungarn diesen Tatbestand aber nicht nachgewiesen, weil
der verlangte Schadenersatz niedriger als die von der Europäischen Kommission als rechtmässig erachtete Kompensation gewesen sei. Zudem liess das Bundesgericht den Micula Entscheid
unbeachtet, da dieser nach dem Schiedsspruch ergangen war.70
[Rz 57] Das Urteil ist insofern positiv aufgenommen worden, als dass das Bundesgericht seine
aus kommerziellen Verfahren bekannte schiedsgerichtsfreundliche (zurückhaltende) Einstellung
auch auf die Investitionsschiedsgerichtsbarkeit angewendet hat.71
8.
Abschliessende Bemerkungen
[Rz 58] Das Bundesgericht hat in den Jahren 2014 und 2015 einige bemerkenswerte Entscheide
im Bereich der Schiedsgerichtsbarkeit gefällt. Besonders hervorzuheben sind zum einen die «Trilogie» zum Thema res judicata. Hier hat sich das Bundesgericht durch die Anwendung des lex fori
und die strikte Beschränkung der Rechtskraftwirkung wenig aufgeschlossen gegenüber ggf. der
internationalen Schiedsgerichtsbarkeit eher angemessenen supranationalen Konzepten gezeigt.
Eine ebenso durch die staatliche Gerichtspraxis geprägt Einstellung widerspiegelt der Entscheid
zu Assistenten des Schiedsgerichts. Hier setzt das Bundesgericht international ein (inhaltlich
berechtigtes) Ausrufezeichen, als dass es, genügende Beaufsichtigung vorausgesetzt, einen umfangreichen und über administrative Belange hinausgehenden Einsatz von Sekretären gutheisst.
Der FIDIC Entscheid enthält wichtige Leitfäden zur Auslegung der in der Praxis und gerade in
68
BGE 141 III 495 E. 3.5.4.1 und 3.5.4.1.
69
Ibid. E. 5.3.2.1 und 5.3.2.2.
70
Ibid. E. 3.5.4.2 und 3.5.4.3.
71
Siehe Alison Ross, Award against Hungary upheld in Switzerland, Global Arbitration Review, 20. Oktober
2015, abrufbar unter: http://globalarbitrationreview.com/news/article/34241/award-against-hungary-upheldswitzerland/.
16
James Menz, Die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Schiedsgerichtsbarkeit 2014/2015, in: Jusletter 4. April 2016
Bauverträgen weit verbreiteten mehrstufigen Streitbeilegungsklauseln. Dabei entspricht die Anerkennung der FIDIC DABs als grundsätzlich zwingende Vorstufe zum nachfolgenden Schiedsverfahren sicherlich dem Sinn und Zweck dieses internationalen Regelwerks. Im Übrigen klären
die besprochenen Entscheide wichtige dogmatische Fragen, etwa zum Umfang der Rügegründe
gegen Zwischenentscheide, und erlauben für die Praxis wichtige Hinweise betreffend Verträgen,
in die Konzerngesellschaften involviert sind, pathologische Streitbeilegungsklauseln und zur Gehörsverletzung durch Nichtbeachtung zentraler Argumente.
James Menz, J.D., Counsel bei Schellenberg Wittmer AG, Zürich. Der Autor dankt Herrn Matthieu Gueissaz, MLaw, Substitut bei Schellenberg Wittmer AG, Zürich, für seine wertvolle Unterstützung bei der Ausarbeitung dieses Beitrags.
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