Interview mit Paul McCartney aus der Juni
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Interview mit Paul McCartney aus der Juni
Audienz bei Sir Paul V0N LINE ABRAHAMIAN „Wer weiß, mit 40 wissen wir vielleicht nicht mehr, wie man Songs schreibt“, antwortete der 21jährige Paul McCartney 1963 einem BBC-Reporter auf die Frage, wie sich die Beatles ihre Zukunft vorstellten. 42 Jahre später sitzt der Ex-Beatle in seinem schicken New Yorker Büro und spricht mit uns über seine neue Musik, John Lennon und seinen Song „When I’m Sixty-Four“, dessen Titel ihn am 18. Juni einholt: Dann wird Sir Paul 64. RD Wort für Wort Paul McCartney 34 CREDIT FOTO:TO © COME MPL 35 I JUNI 2006 Der mittlerweile fast 64-jährige Paul McCartney trägt die braune Mähne jetzt zwar dezent gestutzt. Für freche Antworten ist er indes noch immer gut. Heute äußert sich McCartney offener über seine Vergangenheit. In herzlichem Ton erzählt er Geschichten über sich und „Johnny“ Lennon, als die beiden in den Kneipen von Hamburg und Liverpool spielten. McCartney ist zufriedener, dank seiner zweijährigen Tochter Beatrice – sie wirkt fast wie eine Miniaturausgabe ihres Papas – und seiner Frau Heather Mills. Er hat sie vor drei Jahren geehelicht, nach dem Tod von Linda, mit der er fast 30 Jahre verheiratet gewesen war. Er ist offener geworden und gewährt uns mit seinem neuen und persönlichen Album einen Blick auf den Mann hinter der Legende. „Wenn mich jemand verletzt, schluck’ ich es normalerweise hinun- ter, oder ich schreibe ein heiteres Lied, um darüber hinwegzukommen“, sagt er. „Doch bei diesem Album habe ich öfter gedacht: Verdränge deine Gefühle nicht, komponiere ein Lied.“ Das Ergebnis ist ein lebendiges, beatle-nahes Album von einem „reiferen“ McCartney, wie er von sich selbst behauptet. Im nächsten Augenblick drückt er die Brust heraus und spricht mit vornehmem Akzent. McCartneys Schauspieltalent und seine unerschrockene Art lassen einen vergessen, dass man sich in der Gesellschaft eines Weltstars befindet. Er ist ein ganz normaler Mann, der einem die Hälfte seines Sandwichs anbietet und selbst ein Stück in den Mund schiebt, das ihm gerade vom Teller gefallen war. „Gut für mein Immunsystem!“ Vielleicht verdankt es Paul McCartney dieser Fröhlichkeit, dass er – ein Viertel jener „Fab Four“, die uns in einer verrückten Zeit heilsame Songs wie All You Need Is Love und Give Peace a Chance geschenkt haben – einen Hoffnungsschimmer sieht in einer von Gewalt, Hunger und Armut geplagten Welt. McCartney ist ein eifriger Anhänger der „Macht Armut zur Geschichte“-Kampagne und hat beim „Live 8“ in London gerockt, einer Veranstaltung in einer Konzertreihe, die ein Ende der Armut fordert. RD: Geben Sie in Ihrem neuesten Album noch mehr von sich preis? McCartney: Wahrscheinlich ja. Was hab’ ich da angestellt! [Lacht] Aber ich glaube, als Künstler sollte man sich das nicht zur Regel machen. Anders Paul mit seiner Frau Heather 2004 McCartney mit Mariah Carey beim Live-8-Konzert im Juli 2005 FOTOS: (LINKS) © PAUL FENTON/ZUMA/KEYSTONE PRESS; (RECHTS) © REX FEATURES/CP RD als beim Umgang mit Paparazzi, bei dem ich meine Grundsätze habe. Oder, wenn ich in einem Restaurant bei einem romantischen Dinner gestört werde. Dann sage ich: „Entschuldigt, das ist privat.“ Die Leute verstehen das. Ich rede mit ihnen, aber ich möchte vielleicht kein Autogramm geben, während ich esse. Heather meint: „Das Autogramm hätte dich eine Sekunde gekostet; so hast du dich dem Verehrer fünf Minuten lang gewidmet.“ Mir gefällt das aber. Ich hab’ dann das Gefühl, ich bin noch ich selber, das Monster Berühmtheit hat mich noch nicht aufgefressen. In meinen Liedern spielt das keine so große Rolle, da kann ich mich also ruhig offener geben. RD: Zwinkern Sie in Ihrem Album den Beatles zu? McCartney: Bei Friends to Go war mir, als ob ich George Harrison spielte. Wären es die Beatles gewesen, hätte ich mir vorstellen können, wie George einsteigt; die Melodie ähnelte unserer damaligen Musik. Ich hab’ einen Akkord geklimpert, und dann kam mir der Gedanke: „I’ve been waiting on the other side, but I want to go over to see my friend.“ (Ich warte auf der anderen Seite, möchte aber rüber zu meinem Freund.) Die andere Seite wovon? Von der Straße? Der Welt? Die andere geistige Seite? Einem Psychiater würde das gefallen. Mein Gedanke war: Ich warte, ich bin allein, aber macht euch keine Sorgen, mir geht es gut. Und das Analysieren überlasse ich Ihnen. 37 I JUNI 2006 RD: Könnte es also sein, dass ... McCartney: … ich etwas eigenartig bin? [Lacht] RD: Vielleicht schauen Sie zu George, Linda oder John hinüber, die auf der anderen Seite sind? McCartney: Die Analyse führen Sie durch; verraten Sie’s mir. RD: Wollen Sie vielleicht sagen, dass jetzt noch nicht die richtige Zeit ist? Man muss sich entscheiden zwischen Gut und Böse. Vor Jahren hab ich mir überlegt, dass „God“ (Gott) das Wort „good“ (gut) ohne das zweite „o“ ist und dass „devil“ (Teufel) das Wort „evil“ (böse) mit einem „d“ davor ist. Es geht also um die Verkörperung von Macht. Ich gehöre keiner bestimmten Religion an und doch fühle ich mich im Einklang mit einem Geist der Güte. Ob es einen alten Mann mit Bart im Himmel gibt, weiß ich aber nicht. FOTO: © PWI/UPPA/ZUMA/KEYSTONE PRESS RD McCartney: Kann sein. [Grinst] ich in allerlei Schwierigkeiten, wahrscheinlich, weil alles um mich herum verrückt war. Einmal ist sie mir im Traum erschienen, und sie sagte: „Keine Angst, mein Junge, es wird schon werden.“ Ich dachte: Sie will mir sagen, beruhige dich. Und als ich aufwachte, schrieb ich: „... in times of trouble, mother Mary comes to me“ (In schwierigen Zeiten kommt Mutter Mary zu mir). Für Katholiken ist Mary natürlich die Jungfrau Maria. RD: Haben Sie in den 60ern so geRD: Sie haben gesagt, Ihr neuer Song dacht? Follow Me sei „religiös“. In den 60ern glaubten Sie nicht an Gott. Gehören Sie inzwischen einer Religion an? McCartney: Ich glaube an den Geist der Güte, so kann ich mit Christen, Juden, Buddhisten, Moslems mitfühlen. Ich finde, alle wollen dasselbe: McCartney: Das hat sich schon verändert. Wenn man älter wird, braucht man eher einen Glauben, weil einem mehr zustößt. Und die Kinder fragen: „Papa, wie ist das mit dem Glauben?“ Und man muss sich eine Meinung bilden. Komisch, dass Let It Be fast zur religiösen Hymne geworden ist. Meine Mutter hieß Mary. Sie starb, als ich Teenager war, und in den 60ern geriet FOTO: © KPA/ZUMA/KEYSTONE PRESS Paul (links) und John spielten zu Beginn ihrer Karriere in Kneipen RD: Woran dachten Sie, als Sie Too Much Rain geschrieben haben? McCartney: Ich dachte an meine Frau Heather. Sie hatte eine schwere Kindheit, dann verlor sie ein Bein. Und jetzt sehe ich, wie grausam die Medien sie behandeln. Nun, wahrscheinlich hätte das jede durchmachen müssen, die ich heirate. Ich möchte ihr ein schönes Leben bieten nach ihrer furchtbaren Kindheit und allem, was sie ausgestanden hat. Das Lied basiert auf Charlie Chaplins Lied Smile, though your heart is aching (Lächle, auch wenn dein Herz schmerzt). Bei mir wird es zu Laugh when your eyes are burning. Das gilt natürlich auch für mich. RD: Man hat bei Ihrem neuen Album den Eindruck, dass die Liebe Sie überraschte und dass es Ihnen anfangs schwer fiel, sie zu akzeptieren, aber nun haben Sie sie zugelassen? McCartney: Ja, stimmt. Und wahrscheinlich liegt es mir mehr, etwas zu komponieren, was mir gefällt. Ich mag die positive Energie. Paul und George 1967, als das Album „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ erschien RD: Ist Rock für Sie jemals ein Ventil für Schmerz und Zorn gewesen? Damals, als Ihre Mutter starb? McCartney: Natürlich hörte ich Elvis Presleys Don’t Be Cruel oder Hound Dog. Das waren klasse Texte, guter Beat. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass mir das über meinen Zorn hinweghalf. Seltsamerweise half mir sein All Shook Up einmal, meine Kopfschmerzen loszuwerden. RD: Sie glauben, dass Worte dazu beitragen können, dass man sich besser fühlt. Sind Sie mit Here Today über den Tod von John Lennon weggekommen? Sie schreiben: „I am holding back the tears no more“ (Ich unterdrücke die Tränen nicht mehr). Warum hat sich Ihre Trauer so lange hingezogen? McCartney: Weil ich ein Mann bin. RD: Das kann doch nicht alles sein. McCartney: Aber sicher. Außerdem bin ich aus Liverpool. Wir weinen dort 39 A U D I E N Z B E I S I R PA U L viel gebechert. Eines Abends war John total betrunken. Wir anderen waren direkt nüchtern im Vergleich zu ihm. John erschien lediglich mit einer Unterhose bekleidet im Studio, und eine Klobrille hing ihm um den Hals. Später konnte er nur im Liegen singen. [Lacht] Wir haben damals ordentlich auf den Putz gehauen. Manchmal denke ich an die Zeit, als John und ich durch die Straßen von Liverpool schlenderten, ganz in Schwarz, in knallengen Röhrenhosen, die Gitarre über der Schulter. Wir hatten keine Ahnung, dass wir als Beatles einmal so berühmt sein würden. Wir waren damals zwei Jungs ohne Geld. Einmal kaufte Johnny eine Tafel Schokolade. Er fragte mich: „Willst du die Hälfte?“ Darauf ich: „Du willst deine Schokolade mit mir teilen?“ So ein Kerl! [Lacht] An solche kleinen Begebenheiten kann ich mich am besten erinnern. Die Gruppe U2 und Paul McCartney beim Live-8-Konzert in London im Juli 2005 RD: Aber bei Lindas Tod haben Sie Ihren Tränen freien Lauf gelassen. McCartney: Ja, ich war reifer geworden. Heute kann ich meine Gefühle rauslassen. Als ich jünger war, konnte ich das nicht. Ich bin Engländer, vergessen Sie das nicht. Immer leicht reserviert. Selbst wenn ein Film rührend war, haben nur die Mädchen geweint. RD: Beim Tod Ihrer Mutter haben Sie nicht geweint? McCartney: Doch, im stillen Kämmerlein. So war das damals. Selbst heute begegnet man Leuten, die würden niemals vor anderen weinen. Gott hätte uns doch keine Tränen gegeben, wenn er nicht wollte, dass wir weinen. RD: Inzwischen scheinen Sie mit Ihrer Vergangenheit und der der Beatles offener umzugehen. Woran liegt das? 40 McCartney: Als wir auseinander gingen, war das natürlich ein wenig bitter, aber eher bittersüß. Wir blieben immer in Kontakt. Jetzt erinnere ich mich sehr gern an damals: Ich denke oft an John und finde es traurig, dass er nicht mehr da ist und George auch nicht. Aber ich kann heute offener darüber sprechen als früher, weil ich reifer geworden bin. RD: Haben Sie Kontakt zu Yoko Ono? McCartney: Ab und zu. Aber wir sind RD: Das betonen Sie häufig. McCartney: Bin ich doch auch! keine dicken Freunde. Ich bin jetzt in New York, aber ich würde sie nicht anrufen. Wenn sie in London ist, sie mich auch nicht. Übrigens gibt es acht Millionen Menschen in New York, die ich auch nie anrufen würde. Sie ist eine große Künstlerin. John hat sie ge- [Schaut ernst] Ich glaube, wenn man Glück hat, wird man erwachsen, geistig und gefühlsmäßig. Am wichtigsten ist das Gefühl. RD: Gibt es eine lustige Geschichte über John Lennon, die Sie noch nie erzählt haben? McCartney: Hmmm, Johnny. Das Meiste war total verrückt. [Lächelt] Es war bei Plattenaufnahmen in Hamburg. Wir hatten alle schon ziemlich FOTO: © GETTY IMAGES nicht, dazu sind wir zu stark. Wir sprechen nicht über so was. liebt, und das habe ich zu respektieren. So ist das nun mal. RD: Sie werden demnächst 64, wie in dem Lied When I’m Sixty-Four, das Sie als Teenager verfasst haben. Wie denken Sie jetzt darüber? McCartney: Als ich mir das Lied ausdachte, war ich 16. Es war einer der ersten Songs, die ich geschrieben habe, und ich dachte nicht im Traum daran, dass ich jemals 64 sein und mich der Titel einholen würde. Neulich haben meine Kinder zu mir gesagt: „Papa, demnächst solltest du besser mal eine Weile von der Bildfläche verschwinden!“ Worauf ich antwortete: „Oder ich bleibe einfach mittendrin!“ [Lacht] Eine Urlauberin hat mich einmal mit den Worten angesprochen: „Ich bin Pianistin und spiele Ihr Lied im Altersheim meiner Heimatgemeinde. Alle sind begeistert.“ Ich hab’ sie gefragt: „Tatsächlich? Welches denn?“ Darauf sie: „Am liebsten When I’m Sixty-Four. Ich habe allerdings den Text ein bisschen verändert. Aus ‚64‘ habe ich ‚84‘ gemacht, denn 64 ist etwas zu jung für die meisten der Menschen, die dort wohnen.“ [Lacht] Das gefällt mir. [Singt:] Will you still need me ... when I’m eightyfour! (Wirst du mich noch brauchen, wenn ich 84 bin.) AC H JA? Während unseres Italienurlaubs erkundeten wir Pesaro, die Hafenstadt nahe San Marino. Da sagte mein Schwager: „Hier kenn’ ich mich aus. Hier habe ich mich mal verfahren.“ STEFAN HECK, Schwandorf 41