Antonio Tabucchi 1943-2012 - Bayerische Akademie der Schönen

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Antonio Tabucchi 1943-2012 - Bayerische Akademie der Schönen
Nachruf auf Antonio Tabucchi
Antonio Tabucchi kam aus einer ländlichen Gegend der Toscana, dem kleinen Ort
Vecchiano zwischen Pisa und Lucca. Er studierte romanische Literaturen in Pisa und
Portugiesisch in Bologna und war bis zu seiner Emeritierung Professor für
Portugiesische Literatur in Siena. Sein Buch über die letzten Tage von Fernando
Pessoa – eine Fiktion – hat er portugiesisch geschrieben, es mußte ins Italienische
übersetzt werden. Dieses Spiel mit Sprachen und Identitäten - »man kann in einer
Sprache vergessen und sich in einer anderen erinnern« – hat diesen HOMO
MELANCHOLICUS zeitlebens fasziniert und umgetrieben. »Das Leben ist eine
Musikpartitur«, hat er einmal geschrieben, »die wir ausführen, vielleicht ohne die
Musik zu kennen. Die Partitur ist nicht bekannt. Man versteht sie erst im Nachhinein,
wenn die Musik bereits zu Ende ist...Um die Wahrheit zu sagen, habe ich noch nicht
verstanden, ob wir durch die Zeit hindurchgehen oder ob die Zeit durch uns
hindurchgeht. Ich meine, ob wir vergehen und die Zeit stillsteht oder ob die Zeit
vergeht und wir stillstehen.« Dieses mystisch-paradoxale Denken, das sich mit
größter Klarheit verbindet, erinnert an den von ihm verehrten Argentinier Jorge Luis
Borges – und an Fernando Pessoa, dessen Werk er schon ab 1960 übersetzt,
kommentiert und herausgegeben hat. Er gilt als der eigentliche Entdecker dieses für
die Geistes- und Literaturgeschichte Europas einzigartigen Werkes des
portugiesischen Dichters. Es hat mich keineswegs erstaunt, daß Antonio Tabucchi
sogar im Tod Fernando Pessoa nahebleiben wollte – der leidenschaftliche Raucher ist
in Lissabon gestorben.
Wenn Pessoa seine Ideen auf viele Heteronyme verteilt hat, so war Tabucchi
immer bestrebt, seine erfundenen Personen sprechen zu lassen. Er schreibt:
»Nehmen wir die großen Autoren des letzten Jahrhunderts: Balzac, Flaubert. Worin
besteht ihre eigentliche Leistung? Sie haben die Welt mit fremden Augen gesehen.
Sie haben Figuren erfunden, die mit ihnen nicht viel gemein hatten. Und sie haben
die Welt mit den Augen ihrer Protagonisten geschildert. Vielleicht ist dies der einzige
Weg, um die Welt zu verstehen. Indem man seinen Blickwinkel verändert, ist man
fähig zu begreifen. Diese Methode sollte auch heute die Literatur anwenden. Sonst
verkommt sie zu einer Art Tribunal, dessen oberster Richter der Schriftsteller ist,
umgeben von Geschworenen, den Lesern.«
Alles, was auch nur von weitem als fix und fertige Meinung über die Welt und
die Menschen und die Kunst klang, hat er mißtrauisch gemieden. Sein Charakter war
zu komplex, um sich in einer einzigen Anschauung zu äußern. »Ich glaube, daß nur
diejenigen, die in sich gegensätzliche Utopien vereinen können, uns etwas beibringen
können. Ich habe Angst vor Menschen, die sich nie widersprechen. Sie können
gefährlich werden. «Kein Wunder, daß unter den Schriftstellern und Intellektuellen
Italiens Tabucchi – neben Umberto Eco und Claudio Magris – den hartnäckigsten
Kampf gegen den Rechtsbeuger und Demokratiewächter Berlusconi geführt hat, auch
wenn er von einem Erfolg seiner publizistischen Kampagnen für die Rechtsordnung
nichts wissen wollte. Als Melancholiker war ihm sogar der politische Erfolg
verdächtig. »Hätten die verantwortlichen Politiker auf die Ratschläge und
Mahnungen dieser großen Schriftsteller gehört – Pasolini, Moravia, Sciascia -, würde
Italien sich vielleicht nicht in diesem desolaten Zustand befinden«, sagte er 1996 in
einem Gespräch mit Antonio Pellegrini, das der Bayerische Rundfunk gesendet hat.
Tabucchi hat eine Reihe von schillernden Erzählungsbänden, viele kluge und
fragende Essays und mehrere Romane geschrieben, um seinen Teil zur Erforschung
der in Verruf geratenen Seele im 20. Jahrhundert beizutragen. Am bekanntesten
wurde sein Roman Erklärt Pereira (1995), der von Roberto Faenza mit Marcello
Mastroianni in der Hauptrolle verfilmt wurde. Dieser Dr. Pereira, »fett, herzkrank und
offenkundig unglücklich«, ein Kulturjournalist, der sich im 19. Jahrhundert zu Hause
fühlt und am liebsten Nachrufe auf noch lebende Personen schreibt, macht im August
1938, also während des Salazar-Regimes, die Bekanntschaft mit einem jungen
Antifaschisten italienischer Herkunft, die sein lethargisches Leben umkrempelt – und
zu diesem Buch führt, erklärt Pereira.
»Meine Figuren sind sehr unsicher«, sagt Tabucchi. »Sie verfügen nicht über
viele Gewißheiten. Sie sind orientierungslos und ständig auf der Suche. Aber weder
sie noch ich wissen, was sie suchen... Sie
sind oft, wie ich auch, verwirrt. Diese Typologie spiegelt meine Weltanschauung
wieder.«
Sein neues Buch, an dem er arbeitete, sollte zu großen Teilen in Berlin
spielen, Walter Benjamin war eine entscheidende Rolle zugedacht. Als ich von
Tabucchis Tod hörte – wir sind beide 1943 geboren, was ihm stets zu einigen
Frotzeleien verleitete -, sah ich vor mir, wie der somnambule Blick Benjamins mit dem
träumenden Blick Tabucchis verschmolz zu einer seiner großen Erzählungen, die fast
alle von der Vergeblichkeit handeln.
Die grenzenlose Neugier dieses gebildeten, freundlichen Melancholikers ist
nun an ein Ende gekommen, die europäische Literatur verliert mit ihm einen ihrer
besten Autoren. »Wenn ich einen Wunsch äußern könnte?« fragt er in dem
erwähnten Interview und gibt selbst die paradoxe Antwort: »Wenn die Welt
untergeht, möchte ich mit ihr gehen.«
Antonio Tabucchi mußte gehen, die Welt – wenn wir uns nicht täuschen – besteht
immer noch. Aber sie ist spürbar ärmer geworden.
Michael Krüger