Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Breuer, Goth, Moll, Roussel ( HRSG. ) – DIE SIEBEN TODSÜNDEN
Morphomata
Herausgegeben von Günter Blamberger
und Dietrich Boschung
Band 27
Herausgegeben von Ingo Breuer, Sebastian Goth,
Björn Moll und Martin Roussel
DIE SIEBEN TODSÜNDEN
Wilhelm Fink
unter dem Förderkennzeichen 01UK0905. Die Verantwortung für den Inhalt
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© 2015 Wilhelm Fink, Paderborn
Wilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn
Internet: www.fink.de
Lektorat: Ingo Breuer, Charlotte Coch, Sebastian Goth, Björn Moll, Martin Roussel
Gestaltung und Satz: Kathrin Roussel, Sichtvermerk
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978 - 3 -7705 - 5816 - 2
Inhalt
Vorwort
Ingo Breuer, Sebastian Goth, Björn Moll, Martin Roussel
Einleitung: Die Sieben Todsünden
9
11
Sünde und Todsünde
Ursula Peters
Sündentheologie und Rosenroman-Kritik.
Variationen der Sündenordnung im Pèlerinage-Corpus
des Guillaume de Déguileville
31
Rudolf Drux
Im Zeichen der Sieben. Zur Mehrsinnigkeit der
Courasche-Figur und ihrer »Lebensbeschreibung« in
Grimmelshausens simplicianischem Romanzyklus
61
Björn Moll
Das Instrument der Sünde. Jean Pauls Texte zur »Dumheit«
77
Martin Roussel
»gardez-vous comme de péché mortel de dire la moindre
vérité.« Anmerkungen zu einer Populärgeschichte
der Todsünden im Ausgang von Stendhal
101
Thomas Macho
Totentänze im Dom von Metropolis
127
Wilhelm VoSSkamp
Moraltheologische Normen und ›politische‹ Lebenskunst.
Bertolt Brechts Die sieben Todsünden der Kleinbürger
137
Alison Lewis
Zu einer Topologie des Bösen. Die Kollaboration mit
der Stasi und das postkommunistische Sündenregister
von Lüge und Verrat
151
Patrick Hohlweck
Jordan Belforts Yacht. Zur Genealogie maritimer
Entgrenzung
179
Superbia
Dietrich Boschung
Hybris. Die eine Todsünde und ihre Ahndung
215
Klaus Müller-Salget
Adrians Lachen. Leidende superbia in Thomas Manns
Doktor Faustus
233
Invidia
Bernhard J. Dotzler
Das siebte Übel. Der Neid, die Werbung und das Aufgebot
der Medien
245
Ira
Rüdiger Görner
Hölderlins heiliger Zorn
271
Acedia
Anja Lemke
Handeln ›in effigie‹. Büchners melancholischer Realismus
285
Hanjo Berressem
The Acedia Squad. Thomas Pynchon, die Trägheit
und die Medien
303
Avaritia
Claudia Liebrand
In Greed We Trust. Oliver Stones Wall-Street-Filme
321
Gula
Ingo Breuer
Die Kreativität der Saufteufel. Über einige
kulturgeschichtliche Wirkungen des Alkohols in der
Frühen Neuzeit (Abraham a Santa Clara u. a.)
343
Luxuria
Ulrich Port
»Augenhuren«. Die Bildkünste und die luxuria
bei Wilhelm Heinse
379
Sebastian Goth
Venus als Muse. Für eine Poetik der Wollust
405
Beiträgerinnen und Beiträger
433
Vorwort
Die Faszination für die Sieben Todsünden als Reflexionsmoment der äs­
thetischen Moderne haben wir in Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen
Günter Blambergers kennengelernt. Wie die Beiträgerinnen und Beiträger
des Bandes auf die eine oder andere Weise mit Günter Blamberger und
seinem Werk verflochten sind, steht denn auch seine Analyse des Wirk­
moments im Vordergrund, mit dem die Sieben Todsünden zum Spiegel
und zur Faszinationsfigur des irdischen Lebens, der Körperlichkeit und
des Menschlich-Allzumenschlichen werden. Im Zeichen der Melancholie
stand schon seine Dissertation über den deutschen Roman in der zweiten
Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zu den Fort- und Umschreibungen älterer
Melancholietraditionen, zu denen eben auch die Todsünde der acedia
gehört, hat er in seiner 2011er Kleist-Biographie Passendes bemerkt,
wenn er von der »gegenwärtigsten aller Todsünden […], der Coolness, der
Trägheit des Herzens und des Kopfes« spricht. Kleist, der Hitzkopf, Pro­
jektemacher und agonale Gesprächspartner, war ihr gewiss nie verfallen.
Es sind gerade solche Fragen der überdauernden Einflussfähigkeit
des tradierten Todsündenmusters, der Latenz der Form, der Umcodie­
rung alter Inhalte, die sich in den Beiträgen dieses Bandes artikulieren.
Es geht um die Filiationen, in denen sich die Geschichte des Septenars
und der Todsündenmetaphorik nachzeichnen lassen, und die hyperbo­
lische Rhetorik, mit der die sieben – oder acht oder mehr – Todsünden
(wahlweise der Menschheit, der Ökonomie, des Managements usw.) die
Matrize für Kulturkritik überhaupt abgeben. Die vielen Traditions­linien,
Brüche und wechselnden Rekurrenzen in der Geschichte der Sieben
Todsünden geben eine Geschichte kulturellen Wandels im Ausgang von
einer spezifischen kulturellen Figuration zu lesen. Damit fügt sich dieser
Band in die Schriftenreihe des Kölner Morphomata-Kollegs, das sich mit
der Dynamik beschäftigt, die von rekurrenten verkörperten Denkformen
ausgeht.
Für die Ermöglichung des Druckes danken wir dem Internationa­
len Kolleg Morphomata und dem Institut für deutsche Sprache und
10
Literatur I der Universität zu Köln. Charlotte Coch gilt unser Dank für
ihre kritische Durchsicht und formale Einrichtung des Manuskripts. Die
Sieben Todsünden sind Günter Blamberger gewidmet.
Ingo Breuer, Sebastian Goth, Björn Moll und Martin Roussel
Ing o Breuer, S e b ast ian G ot h , Bj ö rn Mo l l , Mart in R o us s el
Einleitung: Die Sieben Todsünden
Die Sieben Todsünden haben sich im Laufe der Jahrhunderte zu einer
festen Denkfigur in der abendländischen Kultur entwickelt – und zwar vor
allem in den populären Medien: in Kunst und Literatur, Film und Fernse­
hen, in Populärwissenschaft und Alltagsphilosophie. Zunächst als Leitbild
für Mönche entworfen und in Spätantike und Mittelalter allmählich sys­
tematisiert, wird diese Formel in der Moderne jenseits theologischer Ar­
gumentationen meist als Gemeinplatz benutzt. Sie suggeriert die Existenz
einer uralten religiösen Ordnungsvorstellung und verschleiert dabei eine
wechselvolle und widersprüchliche Geschichte konkurrierender Sündenund Lasterkonzepte. Zudem haben Protestantismus und Aufklärung die
mittelalterlichen Konzeptionen Schritt für Schritt zurücktreten lassen. Die
moderne Wiederentdeckung lebt einerseits vom Reiz der Sieben Todsün­
den als Matrix für das auf die Diesseitigkeit – und nicht das ewige Leben
– ausgerichtete Handeln. Andererseits indiziert der Formelcharakter eine
von metaphorischen Übertragungs- und rhetorischen Überbietungsbewe­
gungen geprägte Geschichte der Siebenzahl weltlicher Laster.
I.
Das Chaos in der Systematik ist entsprechend groß: In den Lexika des 18.
und frühen 19. Jahrhunderts kommen die Todsünden zwar durchgängig
vor, ein Bewusstsein für deren Formelcharakter, für das Septenar, ist
jedoch nicht feststellbar. Die begriffsgeschichtliche Differenz zwischen
den Todsünden (peccata mortalia) der katechetischen Tradition, jenen
schweren Tatsünden, die zur ewigen Verdammnis führen, und den sieben
Hauptlastern (vitia capitalia oder principalia), die tatsächlich erst seit
dem 14. Jahrhundert infolge ihrer Popularisierung in den Vulgärsprachen
als Todsünden bezeichnet wurden, wird erst im Laufe des 19. Jahrhun­
derts historisch erschlossen. Stattdessen überlagern sich verschiedene
12
Ordnungsebenen, inhaltliche und typologische Kriterien sowie ver­
schiedene Traditionsstränge. Die Encyclopédie (1751–1780) beispielsweise
beginnt den Eintrag »péché« – geschrieben von dem Hugenotten Louis de
Jaucourt, einem der Hauptbeiträger – mit einer Unterteilung von Sünden:
erstens »du côté de l’objet«, zweitens »égard aux personnes que le péché
offense« und drittens (in verlegen anmutender Aufzählung) »en péchés
de pensée, de parole, & d’action, en péchés d’ignorance & de foiblesse, &
péchés de malice.« 1
Gleich im folgenden Absatz wird diese aus heutiger Sicht recht
willkürlich anmutende Unterteilung jedoch über Bord geworfen und
grundsätzlicher nach »le péché originel & péché actuel«, der Erbsünde und
den gegenwartsbezogenen Sünden, unterschieden. Erst die péchés actuels
unterteilen sich in »péché mortel & en péché véniel«, wobei der Artikel
es daraufhin offen- oder zumindest einer protestantischen Gewissens­
prüfung überlässt, woher verlässliche Kriterien zur Unterscheidung der
lässlichen von den Todsünden zu gewinnen seien.2 In den folgenden
Unterkapiteln mit Kommentaren zur Bibelkritik bleibt zudem die Dif­
ferenz zwischen péché à mort (der Sünde zum Tod; nach 1 Joh 5, 16–18),
die hier mit Idolatrie gleichgesetzt wird, und péché mortel (der Todsünde)
unklar. Im Falle eines Götzendienstes sei jede Fürbitte Gläubiger für die
Sündenden vergeblich, »parce que c’est-là un péché qui mérite la mort«.3
Innerhalb der protestantisch-aufklärerischen Deutung steht auch
Zedlers Universal-Lexicon (1732–1754), das jedoch immerhin einen
Eintrag »Tod-Sünden« kennt. Todsünden seien solche, die einen Men­
schen »in den geistlichen Tod stürzen, und ihn des geistlichen Lebens
berauben«, während Ungläubige gleichsam automatisch »lauter TodSünden« begingen und damit der ewigen Verdammnis anheimfielen.
Zuletzt deutet Zedlers Universal-Lexicon den wesentlichen Unterschied
zum Todsündenmodell der »Römisch-Catholischen« an, »welche nur
sieben Tod-Sünden glauben, als superbiam, avaritiam, luxuriam, iram,
gulam, invidiam, acediam«.4 Im Verweis auf die Sieben Todsünden als
1 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des mé­
tiers. Texte établi par Diderot et d’Alembert. Bd. 12. Paris 1751, S. 225–227,
hier S. 226.
2 »Il n’est pas facile au reste de décider toujours avec précision quand un
péché est mortel ou véniel.« (Ebd.)
3 Ebd.
4 Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller
Wissenschafften und Künste. Bd. 44. Leipzig 1732–1754, Sp. 826.
E I n l ei t u n g 13
vermeintlich katholischer Reduktion der Todsünden zeigt sich, dass der
Lexikoneintrag nicht differenziert zwischen den peccata mortalia und den
sieben Hauptlastern, obgleich letztere selbst keine Sünden darstellen, son­
dern verderbliche Gedanken oder schlechte Eigenschaften, aus denen ein
sündhaftes Verhalten allererst entspringt. Obwohl die sieben Hauptlaster
seit dem Spätmittelalter immer häufiger auch als Todsünden bezeichnet
wurden, haben sie zunächst nichts mit den peccata mortalia zu tun, die
auch nie in gleicher Weise formalisiert worden sind.5
Die Lehre von den Sieben Todsünden wird als katholisches Spezi­
fikum und als Subsystematik am Rande erwähnt, während eine Reihe
an Belegstellen aus dem Neuen Testament kasuistisch eine Schwelle
zwischen lässlichen Sünden und Todsünden verdeutlichen soll. Der
Artikel schließt relativistisch mit »verschiedene[n] Meynungen« von
»Gottesgelehrten von unserer so wohl als andern Religionen«, um dann –
unkommentiert – die metaphorische Übertragung der Sieben Todsünden
auf die »heutige[ ] Welt« im »Buche de salvandorum paucitate, oder dem
schriftmäßigen Lutherischen Berichte, daß wenig Leute selig werden,« des
evangelischen Theologen und Hofpredigers Martin Nößler (1554–1608)
anzuführen:
Dahin gehören […] die Verachtung der Religion, die Trägheit in der
Liebe, die Menge der Laster, die Freyheit der Bosheiten, die Verstos­
sung der Gottesfurcht, die Vergessenheit des Gerichts und der Hölle,
die Entschuldigung der Unbußfertigkeit.6
Nößlers moralistische Übertragung katholischer Sünden-Dogmatik in
einen Traktat- und Prediger-Stil beschreibt eine Tendenz in der Wir­
kungsgeschichte der Sieben Todsünden. Dass Nößler der Siebenzahl
größere Bedeutung beimisst als den einzelnen Todsünden, kann man als
reformatorischen Eifer werten; die metaphorische Aneignung gibt jedoch
das Modell vor für eine rhetorische, zweckgebundene Umcodierung, die
die Wirkmacht der Formel mit zeitgebundenem Inhalt füllt. Diese Bedeu­
tung Nößlers entgeht dem Verfasser des Eintrags im Universal-Lexicon.
5 Vgl. Marie Gothein: Die Todsünden. In: Archiv für Religionswissenschaft 10
(1907), S. 416–484, hier S. 416 f., 458. Morton W. Bloomfield: The Seven
Deadly Sins. An Introduction to the History of a Religious Concept, with
Special Reference to Medieval English Literature. Michigan 1967, S. vii,
43 f., 57, et passim.
6 Zedlers Universal-Lexicon (wie Anm. 4), Sp. 828.
14
I I.
Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als eine Historisierung der Sieben
Todsünden das Allgemeinwissen zu dominieren beginnt,7 setzt wieder
eine massive Popularisierung des Septenars zu moralischen, ästhetischen
und rhetorischen Zwecken ein. Herders Conversations-Lexikon von 1857
enthält immerhin in der Mitte des Jahrhunderts einen (denkbar knappen)
Eintrag »Todsünden«, der allerdings die eigentlichen Hauptlaster und
deren Siebenzahl ausspart. Das Lexikon kennt die sieben Hauptsünden
allein als eine unter vielen Gattungsvarianten der Sünde; 8 ähnlich verhält
es sich in Pierer’s Universal-Lexikon von 1863.9 Erst seit der Jahrhundert­
schwelle hat sich diese Situation verändert, wie z. B. an Meyers Großem
Konservationslexikon von 1909 abzulesen ist, stets mit Referenz auf die
einschlägigen Arbeiten von Otto Zöckler und Marie Gothein.10 Letztere
spricht den Sieben Todsünden eine herausragende Stellung zu unter
»der Fülle personifizierter Abstrakta, die dem Mittelalter dazu dienten,
seine philosophischen und psychologischen Gedanken anschaulich und
volkstümlich zu machen«.11 Systematisch erschließen die Fachbücher
7 Maßgeblich für die Geschichte des katholischen Sündenkatalogs ist
Otto Zöckler: Das Lehrstück von den sieben Hauptsünden. Beiträge zur
Dogmen- und zur Sittengeschichte, in besonders der vorreformatorischen
Zeit. München 1893. Vgl. Richard Newhauser: Introduction. Cultural Con­
struction and the Vices. In: ders. (Hrsg.): The Seven Deadly Sins. From
Communities to Individuals. Leiden 2007, S. 1–17, hier S. 6 f.
8 Vgl. Herders Conversations-Lexikon. Bd. 5. Freiburg i. Br. 1857, S. 372 f.,
492. Im Eintrag zum »Zorn« wird ferner ausdrücklich auf die Sieben
Haupt- oder Todsünden verwiesen. Die Vorläufer des Brockhaus, das
Conversations-Lexicon oder Encyclopädische Handwörterbuch für gebildete
Stände, kennen zunächst keinen Eintrag zu den Todsünden – so etwa die
zweite Auflage, in der es allerdings einen Eintrag zu »Todesstrafe« und
den »Sieben Weisen« gibt (Conversations-Lexicon oder Encyclopädische
Handwörterbuch für gebildete Stände. Begründet von Renatus Gotthelf
Loebel und Chr. W. Franke. In 8 Bänden. Zweite, ganz umgearbeitete Auf­
lage. Leipzig 1812).
9 Vgl. Pierer’s Universal-Lexikon. Bd. 17. Altenburg 1863, S. 645, 92 f. Der
Eintrag »Todsünde« enthält hier nur einen Verweis auf »Sünde«.
10 Vgl. Meyers Großes Konservationslexikon. Bd. 19. Leipzig 1909, S. 589.
11 Gothein: Die Todsünden (wie Anm. 5), S. 416.
E I n l ei t u n g 15
von hier an die Traditionsbestände vor allem in der Literatur und der
bildenden Kunst.12
Die protestantische Prägung einer Sicht auf die Sieben Todsünden
bleibt vielfältig spürbar. So greift Brockhaus’ Konversationslexikon um
die Jahrhundertwende nur mit kaum verhohlenem Widerwillen die neue
Erschließung katholischer Dogmengeschichte und ihrer künstlerischen
Verarbeitung auf. Im Artikel über den jesuitischen Universalgelehrten
Ägidius Albertinus (1560–1620) beispielsweise, der ein »Vielschreiber«
gewesen sei, geht das Lexikon auf Luzifers Königreich und Seelengejaid
(1616) ein, »eine durch drastische Schilderung der sieben Todsünden
kulturhistorisch wichtige Schrift«, die soeben neu herausgegeben wor­
den war. Albertinus’ Arbeiten spiegelten »ungefähr den Umfang der
Bildungsinteressen im damaligen kath[olischen] Deutschland wider, ein
unerquickliches Gemisch von Halbbildung und Aberglauben.« 13
Dennoch werden die Sieben Todsünden um 1900 verstärkt als wirk­
mächtiges kulturelles Erbe der christlichen Glaubenslehre zu Bewusstsein
gebracht. Selbst nach der weitgehenden Verabschiedung theologischer
Erklärungsmuster durch die Aufklärung können sie derart die Künste
bis heute faszinieren und inspirieren. Nach ihrer Popularisierung im
Spätmittelalter besonders durch Predigt und Bußsakrament und ihrer
breiten Wirkmacht in der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit (z. B. bei
Albrecht Dürer, Hieronymus Bosch, Pieter Brueghel d. Ä., Jacques Callot)
ist mit der abnehmenden Verbindlichkeit christlicher Moraltheologie im
Zeichen der Aufklärung jedoch zunächst ein Verblassen von Anfang des
18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bemerkbar.14 Diese Latenz in der
12 Meyers Konversationslexikon in der vierten Auflage (Leipzig und Wien
1885–1892) zeigt beispielsweise unter dem Eintrag »Todsünden« ein noch
recht neues Interesse am Katalog der Sünden und zitiert den von Petrus
Lombardus. Vgl. Meyers Konversationslexikon. Bd. 15. Leipzig und Wien
4
1885–1892, S. 738.
13 Brockhaus’ Konversationslexikon. Bd. 1. Leipzig, Berlin und Wien 141894–
1896, S. 328.
14 Zumindest in der allegorischen Ausgestaltung der Sieben Todsünden
ist dies zu beobachten, weniger in der Darstellung einzelner Todsünden,
wie der acedia und luxuria. Vgl. Holger Jacob-Friesen: Von der Psychoma­
chie zum Psychothriller. Die Sieben Todsünden in der Kunst. In: Alfred
Bellebaum und Detlef Herbers (Hrsg.): Die sieben Todsünden. Über Las­
ter und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Münster 2007, S. 29–85:
»In den genau zweihundert Jahren, die zwischen Esterbauers Skulpturen
(1712–1714) und Kubins Federlithographien (1914) liegen, sind wohl nur
16
Literatur und bildenden Kunst geht einher mit einer Begriffsverwirrung
bzw. Nicht-Existenz von Einträgen in den Lexika der Zeit. Erst aus der
Distanz, im Zeichen ihrer Ästhetisierung und Historisierung, scheint es
wieder möglich zu sein, die Sieben Todsünden historiographisch (z. B. bei
Zöckler, Gothein, Morton W. Bloomfield) und künstlerisch aufzugreifen
(z. B. bei Alfred Kubin, Marc Chagall, Fritz Lang, Otto Dix, Bertolt Brecht).
Die Tatsache, dass die Sieben Todsünden in der Moderne inhaltlich
zunehmend obsolet und anachronistisch erscheinen (etwa aus Sicht der
modernen Konsumgesellschaft oder der sexuellen Revolution), ja gerade
das Verblassen ihres ursprünglichen Begründungszusammenhangs, lässt
sie wieder anschlussfähig werden für ihre künstlerische Aneignung sowie
für Neudiskursivierungen, wobei sie in ihrer Formelhaftigkeit als Ord­
nungsmuster Bestand haben. Ihre Nachhaltigkeit beruht mithin auf einem
Verhältnis von Kontinuität und Wandel, von Konstanz und Kontingenz.
I II.
Die Popularisierung der Sieben Todsünden in den Künsten der Moder­
ne steht zwar in einer Kontinuität mit künstlerischen Traditionen der
Neuzeit; eine ungebrochene Traditionslinie lässt sich gleichwohl nicht
beschreiben, sondern vielmehr der dezidierte Rückgriff der Modernen
über die Zeit der Aufklärung hinweg. Aus kunsthistorischer Sicht kann es
erscheinen, als lebe die aus dem »religiösen Geist des Mittelalters verbun­
dene Thematik der Sieben Todsünden […] vor allem in den moralisierenddidaktischen Allegorien der graphischen Zyklen« 15 des späten 16. und
frühen 17. Jahrhunderts weiter. Von Bosch, Brueghel d. Ä. und Callot führt
sehr wenige Sündenallegorien entstanden – eine lasterarme Zeit? Das
wohl kaum, jedoch eine Zeit der Krise für die christliche Ikonographie.«
(S. 45) Und: »Der seit der Französischen Revolution fortschreitende Pro­
zess der Säkularisierung, der Verlust an Glaubensgewissheit, vor allem die
schwindende Verbindlichkeit christlicher Moraltheologie – all das hatte
einen spürbaren Einfluss auf die Ikonographie der Sieben Todsünden. Im
19. Jahrhundert wurden sie nur wenig dargestellt, im 20. Jahrhundert wieder
häufiger, jedoch nicht selten mit ironischer Distanz.« (S. 82)
15 Susanne Blöcker: Studien zur Ikonographie der Sieben Todsünden
in der niederländischen und deutschen Malerei und Graphik 1450–1560.
Münster 1993, S. 226. Einen Überblick bietet Liana De Girolami Cheney:
Vices / Deadly Sins. In: Helene E. Roberts (Hrsg.): Encyclopedia of Com­
parative Iconography. 2 Bde. Chicago und London 1998, Bd. 2, S. 891–897.
E I n l ei t u n g
17
dann vermeintlich eine Linie zu James Ensor, Kubin, Chagall, Dix und
weiter bis zu Bruce Nauman, Eva Aeppli und neuerer Videokunst, z. B.
Angel Vergaras medienkritischem Feuilleton – die sieben Todsünden (2011).
Die historische Lücke, die generell in kunsthistorischen Katalogisierun­
gen des Sujets der Sieben Todsünden zu finden ist, ist jedoch instruktiv
und verdeutlicht jeweilige Konjunkturen. Im 20. Jahrhundert folgt die
Auseinandersetzung mit den Sieben Todsünden generell einer medial
breit angelegten Diskursivierung. So waren sie in Filmen stets populär,
sei es in ihrer Gesamtheit wie in Fritz Langs Metropolis (1927), im von
sieben Regisseuren (u. a. Claude Chabrol und Roger Vadim) gedrehten
Episodenfilm Die sieben Todsünden (1961), in David Finchers Thriller Sieben
(1995) und Antoine Roegiers’ medienkritischer Video-Installation Die
sieben Todsünden (2012) oder als Einzelsünden wie in Marco Ferreris Das
große Fressen (1973) und Oliver Stones Wall Street-Filmen (1987, 2010). Sie
durchziehen die Literatur von den religiösen Texten des Mittelalters und
der Frühen Neuzeit, von Dante Aligheri bis Dan Brown, von Sebastian
Brant bis hin zu Thomas Mann, Brecht und Eva Menasse, zu Thomas
Pynchon und Salman Rushdie – nicht zu vergessen unbekanntere Au­
toren wie Franz Kranewitter mit seinem siebenbändigen Dramenzyklus
Die sieben Todsünden (1905–1925) und neuere Unterhaltungsromane, vor
allem natürlich Kriminalromane. Obgleich die Sieben Todsünden in der
Religion nie ganz ihre Verbindlichkeit verloren haben, sind sie doch – in
allerlei Verwandlungen – längst säkularisiert und vielfach metaphorischen
Transformationen unterzogen worden. So finden sich zahlreiche Sach­
bücher, deren Titel sich der Rhetorik des Todsündenregisters bedienen,
etwa Konrad Lorenz’ Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit,16
oder die Sündenzahl inflationär steigern, wie Hans Weigels Die Tausend
Todsünden. Ein lockeres Pandämonium und Andrea Mertens’ Fitnesstraining perfekt: die 50 häufigsten Todsünden vermeiden. Es existieren eine
Möbelserie »SALIGIA – Die sieben Todsünden« (von Andrea Horezky),
Kaugummis, Umhängetaschen, Wandtattoos, T-Shirts und Karnevals­
kostüme mit diesem Titel. Dass Pater Hermann-Josef Zoche mit seinem
Buch Die sieben Todsünden unserer Zeit eine Rückkehr zu einer religiösen
Deutung der Todsünden einleiten kann, ist gleichwohl unwahrscheinlich.17
16 Vgl. Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit.
München 1973.
17 Vgl. Hermann-Josef Zoche: Die sieben Todsünden unserer Zeit. Berlin
2008. Bei den genannten Beispielen handelt es sich nur um einige we­
nige ausgewählte Fälle, in denen meist sehr explizit auf die Todsünden
18
IV.
Die enorme Erfolgsgeschichte der Sieben Todsünden als kulturelle Matrix
ist keineswegs selbstverständlich, denn es lagen zahlreiche Hindernisse
auf diesem Weg. Und dies betrifft nicht erst die Frage, wie eine mittelal­
terliche Denkfigur überhaupt innerhalb eines zunehmend säkularisierten
Kontexts überleben konnte, sondern bereits von Anfang an die Denkkon­
struktion der Sieben Todsünden.
Der katholische Katechismus von 1992 beispielsweise merkt an, dass
es in der Bibel unterschiedliche Sündenregister gebe: Jesus habe laut
Matthäus-Evangelium davon gesprochen, dass das menschliche Herz
nicht nur Ursprung guter Werke sei, sondern dass aus ihm auch »böse
Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsche Zeugenaussa­
gen und Verleumdungen« komme; in Paulus’ Brief an die Galater sei
ausführlicher die Rede von »Unzucht, Unsittlichkeit, ausschweifende[m]
Leben, Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, Streit, Eifersucht, Jähzorn,
Eigennutz, Spaltungen, Parteiungen, Neid und Mißgunst, Trink und
Eßgelage und ähnliche[m] mehr« (Gal 5,19–21).18
Aus diesen unterschiedlichen Strömungen entwickelte sich eine
Gemengelage, die als christliche Lehre von den Hauptlastern im Laufe
ihrer Rezeption zahlreiche Modifikationen erfuhr, etwa hinsichtlich ihrer
genauen Zusammensetzung, der Gewichtung und Anzahl der Laster.
Die Anfänge der Hauptlasterlehre liegen in der ägyptischen Wüste, im
christlichen Mönchswesen des 4. und 5. Jahrhunderts,19 wobei weder
die ursprüngliche Anzahl noch die Reihenfolge mit der heute gängigen
Liste der Sieben Todsünden übereinstimmt. Als ihr Begründer gilt der
Mönch Euagrios Pontikos (etwa 345–399), der in De octo spiritibus malitiae
tractatus jedoch nicht von sieben, sondern von acht schädlichen Gedan­
ken (logismoi) spricht, die den Menschen vom rechten Wege abbringen
verwiesen wird. Zur Rezeption siehe den umfassenden Ausstellungskatalog:
Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul Klee (Hrsg.): Lust und Laster. Die
7 Todsünden von Dürer bis Nauman. Ostfildern 2010.
18 Katechismus der Katholischen Kirche – Weltkatechismus, § 1852 f.
www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/377.html?pagenr=6 (20.8.2014).
19 Ihre Vorgeschichte reicht freilich bis in die vorchristliche Antike zurück.
Vgl. Bloomfield: The Seven Deadly Sins (wie Anm. 5), S. 1–41 (Kap. ›The Pagan
and Jewish Background‹); Gothein: Die Todsünden (wie Anm. 5), S. 421–429.
E I n l ei t u n g 19
können. Zentral für die Vermittlung der Hauptlasterlehre in den Westen
war der Mönch Johannes Cassianus (etwa 360–435), der Anfang des
5. Jahrhunderts nach Marseille zog, um dort Euagrios’ Lehre zu verbreiten
und weiterzuentwickeln. Bei Cassianus findet man ebenfalls noch das
Achtlasterschema; zudem werden die Laster in ihrer Reihenfolge gegen­
über Euagrios nur geringfügig variiert. Bemerkenswert ist der deutliche
Praxisbezug, die Innerweltlichkeit dieser Lehre der alltäglichen Lebens­
führung, dieser christlichen Sorge um das eigene Selbst im Sinne Michel
Foucaults. Die mönchisch-asketischen Praktiken der Selbstbeherrschung
können als Technologien des Selbst verstanden werden,
die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe
anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner
Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise
vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, dass er einen
gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Voll­
kommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.20
Die entscheidende Zäsur für die Ausbildung und Kanonisierung der
Lehre von den sieben Hauptlastern markiert Gregor der Große (etwa
540–604), besonders sein viel rezipierter Hiobkommentar Moralia in
Iob. Gregor nimmt eine Reihe wirkmächtiger Änderungen vor: Er ver­
ändert die cassianische Reihenfolge der Laster, zieht tristitia und acedia
zu einem Laster zusammen, führt die invidia ein und stellt die superbia
als Königin oder Wurzel über die anderen sieben Hauptlaster. So ergibt
sich die folgende neue Anordnung: (superbia,) vana gloria, invidia, ira,
tristitia, avaritia, gula, luxuria. Im weiteren Verlauf des Mittelalters wurde
vana gloria mit superbia gleichgesetzt und tristitia durch acedia ersetzt.
Trotz anhaltender Variationen führte dies allmählich zur Verfestigung
der Siebenzahl und zu jener klassischen Reihenfolge, wie sie in der
Formel SIIAAGL (superbia, invidia, ira, acedia, avaritia, gula, luxuria)
festgehalten wurde.21 Auch der vorliegende Band folgt in der Anordnung
20 Michel Foucault: Technologien des Selbst. Übers. von Michael Bischoff. In:
ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Écrits. Hrsg. von Daniel Defert und
François Ewald. Frankfurt a. M. 2005, S. 966–999, hier S. 968. Zu Foucaults
Verhandlung von Cassianus’ Collationes in Der Kampf um die Keuschheit vgl.
ebd., S. 353–368.
21 Ab dem 13. Jahrhundert wurde hingegen – wohl aus mnemotechni­
schen Gründen – die Formel SALIG IA auch über das Mittelalter hinaus
20
der Beiträge dieser Reihenfolge, obgleich sie (wie die Todsünden selbst)
längst an Verbindlichkeit verloren hat. Ferner ist hinsichtlich der Frage
nach dem Fortwirken der Sieben Todsünden bedeutend, dass die Haupt­
lasterlehre infolge der Popularität und Autorität von Gregors Hiobkom­
mentar erstmals aus ihrem unmittelbar mönchisch-asketischen Kontext
herausgelöst wurde. So wurde das Siebenlasterschema mit Gregor Teil
der theologischen Lehre und kraft seiner bildkünstlerisch-allegorischen
Visualisierung und literarischen Ausgestaltung (etwa in der mittelalter­
lichen Kathedralkunst sowie bei Dante und Geoffrey Chaucer) auch der
nicht-klerikalen Bevölkerung vermittelt, während es zuvor ausschließlich
als Anweisung für die mönchische Lebenspraxis galt. Eine zentrale Rolle
bei der Vermittlung und Verfestigung der Hauptlasterlehre spielten ferner
die Beichtpraxis und die Bußpredigt in den Vulgärsprachen.22
Und doch war die Konkurrenz nicht gering, denn die katechetische Li­
teratur des Mittelalters kannte eine ganze Reihe von Unterscheidungs- und
Gruppierungsmöglichkeiten für gutes und schlechtes Verhalten.23 Neben
den Zehn Geboten und Sieben Hauptsünden existieren ›fremde Sünden‹,
›himmelschreiende Sünden‹ und ›Sünden gegen den Heiligen Geist‹, aber
auch ›lässliche Sünden‹, während die Positivlisten ebenso inflationäre
Ausmaße annehmen: die sieben Gaben des Heiligen Geistes (Weisheit,
Verstand, Rat, Stärke, Wissenschaft, Frömmigkeit, Gottesfurcht), aber
auch die sieben Sakramente (Taufe, Firmung, Eucharistie, Beichte, Ehe,
Priesterweihe, Krankensalbung), die sieben Werke der leiblichen Barmher­
zigkeit (Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte
kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten), die sieben
wirkmächtig. An ihr ist jedoch die von Gregor eingeführte Differenz zwi­
schen geistigen und körperlichen Lastern nicht mehr ablesbar. Vgl. Gothein:
Die Todsünden (wie Anm. 5), S. 456 f.; Bloomfield: The Seven Deadly Sins
(wie Anm. 5), S. 86.
22 Zu den hier skizzierten Anfängen und der frühen Wirkungsgeschichte der
Sieben Todsünden vgl. Gothein: Die Todsünden (wie Anm. 5); Bloomfield:
The Seven Deadly Sins (wie Anm. 5), S. 43–67 (Kap. ›The Origin of the Se­
ven Cardinal Sins‹), S. 69–104 (Kap. ›The Seven Cardinal Sins in Christian
Theology, Early Medieval Latin Literature, and in Art‹); Barbara Müller:
Die sieben Todsünden. Von der frühmonastischen Psychologie zur hoch­
mittelalterlichen Volkstheologie. In: Kunstmuseum Bern und Zentrum Paul
Klee (Hrsg.): Lust und Laster (wie Anm. 17), S. 16–28.
23 Vgl. zum Folgenden Egino Weidenhiller: Untersuchungen zur deutsch­
sprachigen katechetischen Literatur des späten Mittelalters. Nach den
Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek. München 1965.
E I n l ei t u n g
21
Gaben der Seligen, die sieben Schmerzen, sieben Freuden Mariens usw.
Die Siebenzahl verfügt über einen immensen symbolischen Wert innerhalb
des Christentums (aber auch darüber hinaus). Gott schickte den Ägyptern
sieben fette und sieben magere Jahre, Jesus hat sieben Wunder vollbracht
und im Buch der Apokalypse ist die Sieben zentral (heute noch bekannt
sind das ›Buch mit den sieben Siegeln‹ und die sieben Plagen). Auch
die septem artes liberales und die gregorianische Heptatonik in der Musik
verweisen auf die sieben Schöpfungstage und bilden damit die göttliche
Weltordnung ab, die sich in der Siebenzahl verkörpert. Damit wird die
Sieben zum Symbol einer Systematik des Weltlichen nach dem Sündenfall.
Sie setzt sich, anders als die Beispiele suggerieren, als zentrale sym­
bolische Zahl erst allmählich durch. Die sieben Zeichen Jesu tauchen
erst im zuletzt verfassten Johannes-Evangelium auf, und auch der Tod­
sündenkatalog war ja zunächst nicht auf die Zahl Sieben festgelegt. So
existierten generell im Tugend- und Lasterbereich auch andere Zahlen,
z. B. die acht Seligkeiten und sechs Werke der geistlichen Barmherzig­
keit und die sechs Sünden gegen den Heiligen Geist. Zudem existieren
weitere hochgradig symbolisch aufgeladene Zahlen, die Zwölf (Stämme
Israels, Jünger Jesu) und nicht zuletzt die Vier: die vier Elemente, Jah­
reszeiten und Himmelsrichtungen, die vier himmelschreienden Sünden
und die vier christlichen Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung und
Barmherzigkeit. Glaube, Hoffnung, Liebe, die sogenannten göttlichen
Tugenden, sind hierbei auch als Trias wirkmächtig geworden, während auf
dem Neuen Testament aufbauende christliche Ethiken die Liebe (agape/
caritas) als das Schlüsselmoment identifizieren.
Hinzu kommt, dass die Systematik der Sieben Todsünden im Protestan­
tismus – im Zeichen eines moralischen Rigorismus – von Beginn an umstrit­
ten war, insbesondere weil sie im Unterschied zur »Sünde zum Tode« (1 Joh 5,
16) und den Zehn Geboten keine biblische Grundlage hat. Luther verwendet
das Wort »Todsünde« dennoch häufig, u. a. als juristische Unterscheidung:
Verbrechen sind nämlich solche Taten, die man auch vor Menschen
unter Anklage stellen kann, wie z. B. Ehebruch, Diebstahl, Mord,
Verleumdung usw., Todsünden dagegen sind nach außen gut erschei­
nende Taten, die innerlich jedoch aus böser Wurzel kommen und
Früchte eines bösen Baumes sind […].24
24 Martin Luther: Die Heidelberger Disputation. In: Luther deutsch. Die
Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. 1. – 10. Band.
22
Trotz oder gerade wegen dieser ›Verinnerlichung‹ 25 bleiben die Todsünden
– jedoch nicht so sehr als Septenar – auch im Protestantismus virulent
und etwa in der reformatorischen Druckgraphik (z. B. bei Dürer) und
Literatur (z. B. bei Sebastian Brant) geläufig. Luther folgert aus dem Satz
»Vnd wird nicht hin ein gehen jrgend ein Gemeines / vnd das da grewel
thut vnd lügen / Sondern die geschrieben sind in dem lebendigen Buch
des Lambs« im Buch der Offenbarung (Offb 21,27):
Jede Sünde aber, die den Zugang zum Reich hindert, ist darum Tod­
sünde (oder man müßte den Inhalt des Begriffs Todsünde anders
bestimmen). Aber auch die läßliche Sünde hindert dies, denn sie
macht die Seele unrein und hat im Himmelreich keinen Bestand […].26
Folglich kann für ihn jede Sünde zu einer Todsünde werden. Da beim
Jüngsten Gericht letztlich der menschliche Glaube und die göttliche Gnade
entscheiden, wird das katholische Septenar eigentlich außer Kraft gesetzt.
In den berühmten protestantischen Lasterkatalogen finden sich die
Todsünden unterschiedslos und unsystematisch zwischen kleinen Sün­
den und Lastern, aber auch Bestandteilen der Zehn Gebote einsortiert.27
Neben vielen anderen Sünden und Lastern enthält das Narrenschiff
des Lutheraners Sebastian Brant (1457–1521) über den Band verstreut
die Todsünden-Kapitel »Von verachtung gottes« und »Vberhebung der
hochfart« (beides superbia), »Von gytikeyt« (avaritia), »Von wollust« und
»Von buolschafft« (beides luxuria), »Von fullen vnd prassen« (gula), »Von
nyd vnd hasß« (invidia und ira zusammen) und »Von tragkeyt vmd
fulheit« (acedia) mitten zwischen solchen über »Von vil schwätzen« und
Hrsg. von Kurt Aland. Registerband, bearbeitet von Michael Welte. Bd. 1.
Göttingen 1991, S. 381.
25 Die Verinnerlichung beschreibt beispielsweise Adelung, wenn der katho­
lische Gegensatz von Todsünde und Erlasssünde in dem »protestantischen
Lehrbegriffe […] der Bosheitssünden oder vorsetzlichen Sünden« aufgegrif­
fen wird (Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch
der hochdeutschen Mundart. Bd. 3. Wien 1811, Sp. 615).
26 Luther: Die Heidelberger Disputation (wie Anm. 24), S. 383. Als LutherBibelausgabe wurde die Ausgabe Wittenberg 1545 zitiert.
27 Schon für das Spätmittelalter gilt: »Typischerweise enthielten die umfassen­
deren Handbücher viel mehr katechetisches Material« (Richard Newhauser:
alle sunde hant vnterschidunge. Der Tugend- und Lastertraktat als literarische
Gattung im Mittelalter. In: Johannes Janota u. a. [Hrsg.]: Festschrift Walter
Haug und Burghart Wachinger. Bd. 2. Tübingen 1992, S. 287–303, hier S. 300).
E I n l ei t u n g 23
»Von groben narren«, »Von vnnützem studieren« und »Von vnnutzen
buchern«, »Von spielern« und »Vom falsch vnd beschisß«, »Von dantzen«
und »Von faßnacht narren« sowie einer Auswahl der Zehn Gebote (z. B.
»Vom eebruch« und »Ere vatter vnd muoter«). Diese zunächst protestan­
tische Aufweichung der Systematik setzt sich durch die Frühe Neuzeit
fort und affiziert schließlich auch katholische Autoren wie Abraham a
Santa Clara (1644–1709). Dies dokumentiert, dass die Sieben Todsünden
in beiden Konfessionen niemals ganz von den übrigen Sünden und Las­
tern zu trennen waren, u. a. da die Sünden für Gregor den Großen selbst
noch zum Lasterkatalog zählten, aber doch als Oberbegriffe für zentrale
Negativeigenschaften und Verfehlungen geeignet schienen.
Der Gegensatz zwischen (protestantischer) Glaubenslehre und
(katholischer) Systematik und Hierarchie der Todsünden steuert grund­
sätzlich die weitere (christliche) Rezeption, die sich zwischen einer eher
allgemeinen Deutung, einer Individualisierung der Todsünden und einer
konkreten Auseinandersetzung mit dem Gregorianischen Septenar be­
wegt. Damit erhält das Todsündenkonzept insgesamt eine Offenheit, die
es für unterschiedlichste Deutungsansätze anschlussfähig macht, obgleich
die Todsünden ursprünglich mit einer feststehenden Systematik und alles
andere als allgemeingültig gedacht waren.
Das weitaus größte Hindernis für die Durchschlagkraft des Todsün­
denkonzepts hätte in der Tatsache bestehen müssen, dass dieses morali­
sche Ordnungsmuster selbst nie an erster Stelle stand. An oberster Stelle
aller moralischen Leitlinien stehen im jüdischen und christlichen Glau­
ben bekanntlich die Zehn Gebote, die der alttestamentarische Gott Jahwe
Mose gegeben hat. Sie sind auch in künstlerischen Anverwandlungen
durchaus eigenwertig fortgeschrieben worden, wie noch der Filmzyklus
Dekalog (1988/89) von Krzysztof Kieślowski belegt. Dennoch haben sie
niemals die kulturgeschichtlich einschlägige und in der Fortschreibung
eigenmächtige Bedeutung der Todsünden erhalten; stets blieb das Buch
Deuteronomium in seiner alttestamentarischen Dignität unmittelbar prä­
senter Prätext, die Formel damit wenig wandlungsfähig und durch die
unstrittige Schriftquelle selbst quasi gesetzesförmig.
V.
Dass in der Neuzeit die Todsünden – und sei es lediglich als Topologie
des Weltlichen – relevanter zu sein scheinen als die Zehn Gebote, kann
man schon daran verdeutlichen, wie Vilém Flusser in seiner Geschichte
24
des Teufels (1965) zuspitzt, dass man »alles, was aus der Zeit hinausweist,
›göttlichen Einfluß‹ nennen, und alles zeitlich Gebundene dem Teufel
zuschreiben« kann.28 »Der Teufel [jedoch], so lehrt man uns« in der ka­
tholischen Kirche, »bedient sich der sieben Todsünden, um die Seelen
an sich zu reißen.« 29 Damit kann man das Prinzip der Innerweltlichkeit
und der Geschichte diesseits der Heilsgeschichte als eine Art Erfolgsge­
schichte des Teufels beschreiben, als eine Invisibilisierung des Prinzips
(Teufel) zugunsten seiner Effekte. Entsprechend war die Todsündenlehre
im Kampf gegen böse Gedanken und Dämonen von Beginn an weniger
auf das Metaphysische als auf die Lebenspraxis ausgerichtet. Es ist im
Zeichen ihrer Säkularisierung in der Moderne entsprechend
nicht schwer, den Todsünden neutralere Namen zu geben, welche verhü­
ten, daß wir die Wege des Teufels von vornherein verwerfen. Statt Hoffart
kann man Selbstbewußtsein sagen, statt Geiz Wirtschaft, statt Wollust
Instinkt (oder Lebensfreude), statt Völlerei Heben des Lebensstandards,
statt Neid Kampf um soziale Gerechtigkeit und politische Freiheit, statt
Zorn Entrüstung über die Welt und die Grenzen des menschlichen Wil­
lens und statt Trägheit und Trauer des Herzens philosophische Ruhe.30
Die jeweiligen Wertumkehrungen bleiben dabei notwendigerweise zeit­
gebunden. Neben Flusser nimmt auch Michel Foucault auf die christ­
liche Hauptlasterlehre Bezug, wobei deren spezifische Transformation
in der Moderne im Zeichen der Biopolitik erscheint. Spätestens mit
der zunehmenden Ausdifferenzierung der Diskurse in den modernen
Wissenschaften vom Menschen verliert der moraltheologische Diskurs
seine normative Funktion, sodass andere Diskurse (der ökonomische,
biologische, juristische etc.) die ehemals christliche Praxis der Selbstkon­
trolle als Funktionsäquivalent ersetzen. So werden den Sieben Todsünden
zeitgemäße Namen gegeben, sie werden zeittypisch umgedeutet, teils ins
Positive gewendet (gerade im Zeichen der disziplinierenden Subjekti­
vierung, des Individualismus und des Kapitalismus). Diese Anschluss­
fähigkeit an moderne Diskurse ist eine entscheidende Voraussetzung
für das Fortwirken der Sieben Todsünden in der Moderne jenseits ihrer
christlichen Wirkungsgeschichte. Gedroht wird nicht mehr mit ewiger
Verdammnis, sondern mit gesellschaftlichem Ausschluss.
28 Vilém Flusser: Die Geschichte des Teufels. Berlin 32006, S. 9.
29 Ebd., S. 11.
30 Ebd., S. 11 f.
E I n l ei t u n g 25
An der Geschichte der acedia, die von der Geschichte der Melancholie aus
als Vorgeschichte in Betracht kommt, kann man einen solchen Wandel
paradigmatisch studieren, d. h. den Wandel von einer sündhaften Trägheit
des Geistes zum Indiz genieverdächtiger Innerlichkeit.31 Wenn derart die
schöpferische Welt im Zeichen einer Todsünde gegen die alte Ordnung
aufbegehrt, kann die moralische bzw. die Geisteswelt im Zeichen eines
Niedergangs ihrer Ordnungen gleichsam als letztes Ordnungsphantasma
einer tief empfundenen Décadence die Sieben Todsünden für sich entde­
cken. Dabei geht von den Todsünden eine anhaltende Faszination aus,
die sich aus ihrem Potenzial zum Regelbruch ergibt (etwa im Zeichen
moderner Autonomisierungs- und Individualisierungstendenzen). Sie
bieten jenseits ihrer rein affirmativen Fortschreibung die Möglichkeit
einer subversiven Umdeutung, Aufwertung oder Verkehrung. So kann
im Namen einzelner Todsünden gegen bestehende Ordnungen verstoßen
werden – seien diese gesellschaftlich oder künstlerisch-poetologisch. Fer­
ner können die Sieben Todsünden im produktiven Rückgriff der künstle­
rischen Selbstdarstellung dienen, was ihren Aufgriff zur zeitgebundenen
Projektion macht, ihn als teils ironisch-gebrochene Selbstreflexion in der
Anverwandlung der Thematik erscheinen lässt.32 Das ist die Situation
um die Jahrhundertwende 1900, wo die Sieben Todsünden primär als
ästhetizistische Vokabel die Traditionsbestände erschließen.
Für eine solche Neuperspektivierung im Zeichen eines radikalen Werte­
wandels kann man einen jahrhundertelangen latenten Erosionsprozess
– des christlichen Weltbildes – beschreiben, der unterschwellig den Boden
bereitet hat für eine Wiederkehr des mittelalterlichen Ordnungsdenkens;
dieses kann nun zunehmend dem Ist-Zustand der Welt, einer Phänomeno­
logie des Irdischen eine Matrix geben, die es von sich her qua definitionem
31 Zur Invisibilisierung, die als wahlweise diabolisches (negativ) oder in­
dividual-ingeniöses (positiv) Anti-Ordnungs-Moment den Genie-Diskurs
prägt, vgl. Günter Blamberger: Das Geheimnis des Schöpferischen oder:
Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität
zwischen Goethezeit und Moderne. Stuttgart 1991.
32 Siehe Marc Chagalls Illustration zum 1926 erschienenen Buch Les sept
péchés capitaux, die einen Maler zeigt, aus dessen Kopf die Sieben Tod­
sünden als Imagination zu entsteigen scheinen (ein Wortspiel mit dem
französischen capitaux) und die ihn zugleich zum Malen inspirieren, sowie
Salvador Dalís Le Péché Dalinien (1966/67) als achte neben den sieben kano­
nischen Todsünden in einer Serie von Farbradierungen. Vgl. Jacob-Friesen:
Von der Psychomachie zum Psychothriller (wie Anm. 14), S. 46, 72 f.
26
des zerstreuten In-der-Welt-Seins nicht besitzt. Wie in einem Hohlspiegel
kehren die Sieben Todsünden nach jahrhundertelanger Wanderung unter
umgekehrten Vorzeichen zurück. So jedenfalls könnte man den Diskurs
in Charles Asselineaus Essai Les sept péchés capitaux de la littérature et le
paradis des gens de lettres (1872) bündeln. Diese lange Phase der Latenz fasst
Asselineau als Heraufkunft der Literatur und des gens de lettres, dessen Wich­
tigkeit er mit dem Staatsmann, dem Redner und dem Publizisten gleichsetzt:
C’est dans ce siècle en effet, après trois cents ans de pratique de la
typographie, après cent ans de journalisme, que la littérature est de­
venue véritablement une fonction et qu’elle a pris un rôle non moins
important dans la société que le rôle politique de l’homme d’État, de
l’orateur et du publiciste.33
In seiner Charakteristik des Literaten steht die superbia naturgemäß am
Anfang, der Stolz des Schriftstellers. Nachdem Asselineau das gesamte
Septenar durchdekliniert hat, berichtet er am Ende von der Begegnung
mit einem Engel, der ihn berührt (»m’ayant touché«) und ihm verkündet
habe: »Retourne dans le monde où tu habites, et tu diras que tu as vu ›le
paradis des gens de lettres.‹« 34
Demnach reicht das Schrifttum, die Literatur, von der Welt des Para­
dieses bis zur sündhaften Welt – als Spiegel der gesamten Weltgeschichte,
an der die Literatur ebenso teilhat wie an der Sphäre des göttlichen Geis­
tes. Die gens de lettres werden damit zur Instanz, die in ihrem Schreiben
der sündhaften Welt, die sie selbst verkörpern, die Ordnung einschreiben,
und diese Ordnung trägt den Titel der sept péchés capitaux.
Die Gründe, weshalb die Sieben Todsünden in der Populärkultur un­
gleich attraktiver nachgewirkt haben als die Zehn Gebote, liegen demnach
in ihrer Affinität zum Weltlich-Geschichtlichen. Ferner sind die Sieben
Todsünden einerseits vage genug für Imaginationen, weil sie, anders als
33 Charles Asselineau: Les sept péchés capitaux de la littérature et le paradis
des gens de lettres. Paris 1872, S. V. Übersetzung: »Tatsächlich ist unser
Jahrhundert dasjenige, in dem die Literatur, nach drei Jahrhunderten Er­
fahrung mit der Typographie, nach hundert Jahren Journalismus, wirklich
eine Institution geworden ist und sie eine nicht weniger wichtige Funkti­
on in der Gesellschaft eingenommen hat als die politische Funktion des
Staatsmannes, des Redners und des Publizisten.«
34 Ebd., S. 203. Übersetzung: »Kehre in die Welt zurück, in der du wohnst,
und sprich, dass du ›das Paradies der Literaten‹ gesehen hast.«
E I n l ei t u n g
27
die Zehn Gebote, keine unmittelbare biblische Basis besitzen,35 anderer­
seits konkret genug für breite Anknüpfungsmöglichkeiten, sodass die sie­
ben Eigenschaften auch nicht-religiös verstanden werden konnten. Darin
begründet sich wohl auch die frühe allegorische Ausgestaltung der Laster
(zu der sich einzelne Eigenschaften zudem eher anbieten als Gebote), die
prägend für die künstlerische Darstellung der Sieben Todsünden war.
Es ist aus Sicht der Moderne kein Zufall, dass historische Arbeiten zu
den Sieben Todsünden sich neben der kirchengeschichtlichen Dimension
vor allem der bildenden Kunst und der Literatur gewidmet haben. Die
Struktur dieser Nicht-Zufälligkeit bedingt die eigentümliche säkulare
Wirkungsgeschichte der Formel von den Sieben Todsünden. Unabding­
bar ist damit auch die Breite und Heterogenität des Forschungsfeldes.
Das Spektrum unterschiedlicher Künste und Traditionslinien ermöglicht
einen medial und disziplinär breit angelegten Zugang. So versammelt der
vorliegende Band Studien, die sich aus literatur-, medien- und kulturwis­
senschaftlicher Perspektive sowohl den einzelnen Todsünden als auch dem
Septenar insgesamt widmen. Ein solcher Sammelband, der die künstleri­
schen Auseinandersetzungen mit den Sieben Todsünden im dezidierten
Fokus auf ihre modernen Um- und Fortschreibungen aufgreift und dabei
einen weit gefächerten Beobachtungsrahmen bietet, stellt ein Forschungs­
desiderat dar. Der Band zielt entsprechend nicht auf die geschlossene
Darstellung einer Wirkungsgeschichte, sondern auf die Erschließung je
zeitgebundener Sündenregister, auf Fortschreibungen von Sündenge­
schichten, auf Ein- und Umschreibungen der Traditionsbestände. Neben
der Einteilung in Kapitel zu den einzelnen Todsünden gibt es deshalb eine
Reihe an Artikeln, die sich mit der Virulenz der Todsünden – als Begriff,
Metapher oder Indiz – beschäftigen. Insgesamt soll so zweierlei geleistet
werden: die Identifizierung von Wirkmomenten der mittelalterlichen
Todsündenlehre vor dem Horizont der Säkularisierung und Adaptation
in den Künsten einerseits, die Gegenzeichnung der ›Geschichte‹ der
Sieben Todsünden von ihrer Verfertigung als kulturelle Matrix Ende des
19. Jahrhunderts in einer Art »preposterous history« andererseits.36 Leitend
35 Das hat Versuche der Herleitung einzelner Todsünden aus der Bibel, wie
der superbia als Wurzelsünde (Sir 10,15), freilich nicht verhindert.
36 Der Begriff geht auf Mieke Bal zurück, vgl. etwa Quoting Caravaggio.
Contemporary Art, Preposterous History. Chicago 1999. Siehe auch dies.:
Kulturanalyse. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Hrsg. und mit
einem Nachwort versehen von Thomas Fechner-Smarsly und Sonja Neef.
Frankfurt a. M. 2006.
28
ist die Frage nach einer Unterscheidung von Fortwirkung bzw. Einfluss
(der Dogmatik) und einer Umkehrung der Logik, die die Semantik der
Todsünde einer Intensivierung des Lebens verschreibt und ein spezifisch
ästhetizistisches Interesse an der Formel der Sieben Todsünden ausprägt.
Sünde und Todsünde

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